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Ihre Vergangenheit ist sein Verderben: ein atmosphärischer Roman mit einer unkonventionellen Heldin Eine geheimnisvolle Fremde im Zug, eine leidenschaftliche, aber auch verstörende Nacht – mehr braucht es nicht, um den erfolgreichen Evolutionsbiologen Adrian aus der Bahn zu werfen. Entgegen alle Vernunft folgt er der rätselhaften Johanna, wohin sie ihn auch führt. Doch je mehr er in den Bann ihrer verhängnisvollen Vergangenheit gerät, desto mehr geraten die Prämissen seines eigenen Lebens ins Wanken. Als er erkennt, dass Johanna auf einem unbarmherzigen Rachefeldzug ist, muss er eine Entscheidung treffen: Will er ihr Werkzeug sein – oder sein eigenes Leben retten? Ein sinnlicher Roman, dessen Atmosphäre unterschwelliger Bedrohung von der ersten Seite an fesselt. Adrian und Johanna werden noch lange im Gedächtnis bleiben.
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Seitenzahl: 429
Jens J. Kramer
Johannas Rache
Roman
Knaur e-books
Eine geheimnisvolle Fremde im Zug, eine leidenschaftliche, aber auch verstörende Nacht – mehr braucht es nicht, um den erfolgreichen Evolutionsbiologen Adrian aus der Bahn zu werfen. Entgegen alle Vernunft folgt er der rätselhaften Johanna, wohin sie ihn auch führt. Doch je mehr er in den Bann ihrer verhängnisvollen Vergangenheit gerät, desto mehr geraten die Prämissen seines eigenen Lebens ins Wanken. Als er erkennt, dass Johanna auf einem unbarmherzigen Rachefeldzug ist, muss er eine Entscheidung treffen: Will er ihr Werkzeug sein – oder sein eigenes Leben retten?
Sie stand vor der Abteiltür, als wartete sie darauf, dass jemand ihr öffnete. Eine Frau mit kurzen Haaren in einem grauen Trenchcoat, die eine etwas unförmige Reisetasche über der Schulter trug. Schließlich – es waren vielleicht drei Sekunden gewesen, die mir aber länger vorkamen – fasste sie nach dem Griff und schob die Tür entschlossen auf.
Ein Blick aus graublauen Augen traf mich, kurz und kühl. Kein »Guten Tag«, kein Lächeln, nicht einmal ein Nicken. Ich erhob mich dennoch, als sie Anstalten machte, ihre Tasche ins Gepäckfach zu hieven.
»Sie erlauben?«
Wieder schaute sie mich an, diesmal etwas forschender. Fast erwartete ich, dass sie ablehnte. Dann aber überließ sie mir die Tasche. Sie war nicht schwer, sie hätte es wahrscheinlich mühelos allein geschafft. Auch jetzt kein Wort, kein Dank. Ich setzte mich wieder an meinen Fensterplatz, während die Fremde sich mir gegenüber niederließ, ohne den Mantel auszuziehen. Mit einem Blick unter den Tisch vergewisserte ich mich, dass ich ihr nicht in die Quere kam. Dabei fielen mir ihre flachen, etwas abgetragenen Schuhe auf. Vor allem aber, dass sie keine Strümpfe trug. Es war ein wenig zu kalt für nackte Beine, aber das ging mich nichts an.
Kurz fragte ich mich, ob sie sich wohl zu unterhalten wünschte. Was mir nicht recht gewesen wäre, da ich arbeiten wollte. Aber die Frau schaute einfach nur aus dem Fenster und schien mich bereits vollkommen vergessen zu haben. Der Zug rollte an, und ich vertiefte mich wieder in mein Vortragsmanuskript. Doch es gelang mir nicht recht, mich auf den Text zu konzentrieren. Meine Gedanken versuchten, eine bestimmte Wahrnehmung zu fassen zu kriegen, die mich irritiert hatte. Aber es war nicht wirklich eine Wahrnehmung, sondern eher ihr Mangel. Es dauerte einen Moment, ehe ich die Leerstelle erkannte Es war der Geruch der Frau mir gegenüber.
Für ein paar Sekunden hatten wir ziemlich nah beieinandergestanden. Ich hatte es mir angewöhnt, auf das Parfüm einer Frau zu achten. Der Geruch oder, besser, die Mischung der Gerüche sagt eine Menge über einen Menschen aus. Die Fremde, der ich den Koffer ins Gepäckfach gehoben hatte, war, olfaktorisch gesehen, ziemlich einsilbig. Ich hatte keinerlei Parfüm wahrgenommen, nur einen Hauch Seife, der mit dem leicht muffigen Aroma des Mantels kämpfte, als ob der zu lange in einem Schrank gehangen hatte. Der Geruch der Frau blieb darunter fast verborgen. Fast. Denn einige Aromamoleküle hatten meine Geruchsrezeptoren erreicht, die diese Information unverzüglich an mein Gehirn weiterleiteten und dort, in den tiefer liegenden Regionen, ein Programm aktivierten, das mich in den Fortpflanzungsmodus versetzen wollte. Mein Großhirn widerstand dem Impuls, dieses Programm unverzüglich umzusetzen, konnte sich aber nicht dagegen wehren, dass mein Interesse geweckt war.
Ich spähte verstohlen zu der Frau mir gegenüber, die immer noch aus dem Fenster schaute. Nicht nur schaute, sie war geradezu gebannt von der Szenerie, die der Zug durchfuhr. Es war auch kein gedankenverlorenes Starren, denn ihre Pupillen blieben immer wieder an einem Detail hängen, bevor sie wieder vorzuckten. Jetzt fiel mir auf, dass sie gänzlich ungeschminkt war. Ihr Haarschnitt war ordentlich, aber ohne jegliche Finesse. Ähnlich sahen ihre Fingernägel aus, kurz geschnitten, aber nicht manikürt. Das alles wäre nicht seltsam gewesen, aber sie fuhr in der ersten Klasse. Und das mit gelassener Selbstverständlichkeit.
Ich verdrängte das aufkeimende Schuldgefühl wegen dieser snobistischen Betrachtung. Aber es war eine legitime Beobachtung, und das Verhalten der Menschen gehörte nun einmal zu meinem Forschungsgebiet. Jedenfalls im weitesten Sinne.
Dennoch hatte ich das Gefühl, dass ein weiteres Inspizieren der Frau indiskret wäre. Es ging mich nichts an, wie sie herumlief. Vielleicht hatte sie ja nur ein paar Allergien gegen Parfüm, Mottenkugeln und schwatzhafte Friseure. Und herrje, bis zu meiner Ankunft hatte ich noch reichlich Text zu bearbeiten. Mit gezücktem Stift las ich weiter.
Der größte Fehler der Menschheit – anders kann man diesen tragischen Vorfall nicht nennen. Alle Übel, mit denen der Homo sapiens in den folgenden elf- bis zwölftausend Jahren zu kämpfen hatte, Hunger, Epidemien, Kriege, Büstenhalter, sind auf die verhängnisvolle Entscheidung zur Sesshaftigkeit zurückzuführen.
Was glauben Sie, meine Damen, wann es anfing mit dem Patriarchat? Und lassen wir jetzt mal die lustige Geschichte mit der Rippe und dem Apfel beiseite. Ja, genau: mit der landwirtschaftlichen Revolution. Die einherging mit Landbesitz und dessen Vererbung, natürlich in männlicher Linie. Auch das Diktat der Jungfräulichkeit hat hier seinen Ursprung. Übrigens möchte ich Sie hier auf eine amüsante Deutung des Sündenfallmythos hinweisen, die nämlich besagt, dass …
»Was lesen Sie da?«
Mit einem Schlag war ich wieder in dem Abteil. Ihre Stimme klang dunkler, als ich erwartet hatte.
»Es ist ein Vortrag, den ich heute Abend halte«, antwortete ich.
Wieder fiel mir der intensive Blick ihrer graublauen Augen auf. Katzen schauen manchmal so, dachte ich. Und andere Raubtiere.
Sie lächelte nicht, schon gar nicht entschuldigend, wie es naheliegend wäre, wenn man jemanden in seiner Lektüre stört.
»Worüber?«
»Über die Evolution.«
»Des Menschen?«
»Ja, ich bin Evolutionsbiologe und schreibe Bücher über dieses Thema. Interessieren Sie sich für die Geschichte des Homo sapiens?«
»Wir haben die Neandertaler ausgerottet, nicht wahr?«
Ich wiegte den Kopf. »Vermutlich. Aber sie haben uns einen Teil ihres Erbgutes hinterlassen. Zwischen zwei und vier Prozent.«
Das wäre jetzt eine Gelegenheit gewesen, das Gespräch in eine amüsante, vielleicht sogar kokette Richtung zu drehen, etwa in der Art: »Bei so manch einem Zeitgenossen tippe ich eher auf zehn Prozent.« Oder: »Wie hoch schätzen Sie meinen Prozentteil?« Doch nichts dergleichen schien ihr in den Sinn zu kommen. Sie schaute mich nur unverwandt an, so als ob sie erwartete, dass ich meiner letzten Bemerkung noch etwas hinzufügte. Eigenartigerweise hatte ich das Bedürfnis, unser Gespräch fortzusetzen, und da ich befürchtete, sie könnte sich im nächsten Moment wieder abwenden, fragte ich: »Was machen Sie so im Leben?«
Ich erreichte genau das, was ich vermeiden wollte: Sie wandte sich ab. Ob ihr diese Frage zu oberflächlich vorkam? Doch da richteten sich die graublauen Scheinwerfer wieder auf mich.
»Ich würde lieber Ihnen zuhören.«
»Was soll ich denn erzählen?«
»Erzählen Sie mir mehr von Ihrer Arbeit.«
»Das ist das, was Männer immer tun und was Frauen normalerweise entsetzlich anödet.«
»Mich nicht.«
Wollte ich das? Was sollte ich erzählen? Von meinen Reisen? Den Büchern? Den Vorträgen? Von den Sälen, die ich füllte? Den Menschen, die Schlange standen, um sich Bücher signieren zu lassen? Oder von den einsamen Abenden in irgendeinem Hotelzimmer? Den Bars mit mittelmäßiger Musik? Von den Stunden in meinem Arbeitszimmer oder in den Bibliotheken? Der schrittweisen Entfremdung von meinem Sohn oder dem Schweigen zwischen mir und meiner Frau ? Ich merkte, wie mich diese einfache Frage in gefährliche Gewässer führte. Um dem zu entgehen, suchte ich in meinem Standardrepertoire nach etwas, was ich erzählen konnte. Wenn mir Fragen gestellt werden wie: Wie sind Sie zum Schreiben gekommen? Oder: Was fasziniert Sie am Leben unserer Vorfahren? Auf diese Fragen wusste ich ungefährliche und unterhaltsame Antworten. Doch als ich nun in diese Augen schaute, die nicht die geringste Ungeduld erkennen ließen, begriff ich, dass diese vorgefertigten Antworten vor ihnen keinen Bestand haben würden.
Im Nachhinein fragte ich mich, ob ich nicht längst auf einen solchen Moment gewartet hatte. Anders kann ich mir nicht erklären, was dann geschah. Eigentlich hatte ich vor, ihr von den vielfältigen Gesellschaftsformen der Jäger und Sammler zu erzählen. Doch sehr schnell landete ich bei dem Unwohlsein, das mich mein Leben lang begleitet hatte. Dessen Gründe ich anfangs bei mir suchte, bis ich bemerkte, dass es die Welt war, in der etwas nicht stimmte. Ich erzählte von meiner Suche nach Antworten, die mich an Universitäten und in Gelehrtenzirkel führte. Bis ich schließlich in Israel auf den Mann traf, der mich auf die richtige Spur setzte. Ich erzählte von den Stunden, die wir in den Cafés von Tel Aviv verbracht hatten. Unseren endlosen Gesprächen an Stätten voller Erinnerung und schwerer Vergangenheit. Ich erzählte vom Himmel, dem Duft der Nacht und den rauen Steinen, vor denen schon Kaiser gebetet hatten.
Als ich schließlich erschöpft innehielt, hatte ich das Gefühl, meine Seele preisgegeben zu haben. Gleichzeitig aber erfüllte mich eine lange nicht mehr erlebte Befriedigung. Immer noch ruhte ihr Blick auf mir. Offen, neugierig, ohne etwas von sich preiszugeben. Eine Frau sollte so nicht schauen, zuckte es durch meinen Kopf.
»Das war schön«, sagte sie leise und wandte sich ab. Mit der gleichen Absolutheit, mit der sie mir bis eben ihre Aufmerksamkeit geschenkt hatte, entzog sie sie mir wieder. Erst jetzt begriff ich, dass es dieser Blick war, der mich zum Redenden gemacht hatte. Und dass sein Fehlen an meiner nackten Seele zerrte. Ich wollte mehr von ihrer Zugewandtheit. Doch nichts schien die neuerliche Distanz zwischen uns überbrücken zu können.
Ich wandte mich wieder meinem Manuskript zu, aber die Worte vor meinen Augen wollten sich nicht zu sinnvollen Sätzen fügen. Immer wieder schaute ich zu ihr hinüber und wartete auf ein Zeichen, dass unsere Unterhaltung fortgesetzt werden könnte. Als das nicht geschah, musste ich mit meinem anwachsenden Ärger kämpfen. Wieso Ärger? Das war doch Unsinn. Sie war nur eine Reisende, eine zufällige Bekanntschaft. Wir würden uns nie wiedersehen. Und das war auch gut so. Ich konnte beileibe keine Komplikationen in meinem Leben gebrauchen.
Komplikationen? Wie kam ich darauf? Hatte ich mir etwa schon eine amouröse Fortsetzung dieser Begegnung vorgestellt? Die Frage war nicht unberechtigt, schließlich wusste ich um unser genetisches Erbe. Die Evolution kannte nur eine Währung, und das war Fortpflanzung. Ich massierte mir die Schläfen. Vielleicht war es besser, nicht jedes Verhalten der Steinzeitmenschen auf gegenwärtige Ereignisse zu übertragen. Aber ging es nicht genau darum bei meiner Forschung?
Ich war es nicht gewohnt, diese Erkenntnis bei mir selbst anzuwenden. Wenn ich das bei anderen tat, war das etwas anderes.
Eine weibliche Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Leider war es nur die Durchsage, die uns mitteilte, dass wir in Kürze Köln erreichen würden. Wir überfuhren bereits den Rhein. Das hieß, dass ich gleich aussteigen müsste. Was würde meine Reisebekanntschaft tun? Fuhr sie weiter? Es drängte mich, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen. Denn in dem Fall hatte ich nur noch wenige Minuten, um …
Um was? Ihre Telefonnummer zu erfragen oder ihr meine zu geben? Das schien mir vollkommen unpassend. Ich war mir mit einem Mal sicher, dass der offene, interessierte Blick sich in Gletschermaterial verwandeln würde, wenn ich mit einem solchen Ansinnen käme. Im gleichen Moment ärgerte ich mich über mich selbst, dass ich eine doch unbedeutende Abfuhr fürchtete. Was war nur mit mir los?
Ich verstaute mein Manuskript in der Tasche, erhob mich, um den Mantel anzuziehen und den Koffer aus der Gepäckablage zu holen. All das geschah sehr betont, damit sie auch wirklich verstand, dass ich aussteigen wollte. Jetzt könnte sie mir ihr Interesse signalisieren. Nur ein Blick, ein Lächeln vielleicht. Doch nichts dergleichen geschah.
Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, brachte ich nur ein frustriertes »Auf Wiedersehen« heraus und öffnete die Abteiltür.
»Wie heißen Sie?«, fragte sie.
Ich wandte mich um. Sie schaute mich an, offen und so bedingungslos wie ein Raubtier.
»Adrian Kayser.«
Noch während sie sprach, drehte sie den Kopf schon wieder zum Fenster. »Ich bin Johanna.«
Es klang endgültig.
So stand ich kurz darauf auf dem Bahnsteig und schaute dem Zug hinterher. Johanna? Johanna was? Hätte ich sie fragen sollen? Warum habe ich es nicht getan?
Der Zug verschwand um eine Kurve. Ich schnallte meine Umhängetasche an den Rollkoffer und machte mich auf dem Weg Richtung Hotel. In der Brust das schmerzhafte Gefühl eines Verlustes. Ich wusste noch nicht einmal, wovon.
Die Stadt lag fünf Stockwerke unter mir. Mit dem Champagnerglas in der Hand stand ich vor der Glasfront meines Hotelzimmers und gab mich dem leichten Sog hin, den die Tiefe in mir auslöste. Der Veranstalter hatte sich Mühe gegeben. Eine Suite in einem Fünfsternehotel war nicht die Regel bei meinen Vorträgen. Ebenso wenig die Flasche Ruinart im Eiskühler. Ich sollte es genießen. Stattdessen dachte ich an graublaue Augen, die jetzt wahrscheinlich durch ein fernes Zugfenster in die Dunkelheit starrten.
Vielleicht ist es besser so, dachte ich. So wird mir die Begegnung im Zug vermutlich immer mit einem Hauch Melancholie im Gedächtnis bleiben. Ich dachte an die Frauen, in deren Augen ein Angebot gestanden hatte, wenn sie nach den Vorträgen und Lesungen um eine Signierung baten. Ich hatte dem nie nachgegeben. Denn entweder stand eine Sehnsucht dahinter, von der ich wusste, dass ich sie nicht würde erfüllen können. Oder sie suchten ein Erlebnis, um sich damit zu schmücken. Beides hatte nichts mit mir zu tun.
In den Jahren vor Clarissa hatte es viele Abende gegeben, in denen aus einem Blick, einem Lächeln, einem Gespräch eine gemeinsame Nacht wurde. Manchmal waren diese Nächte schön gewesen, meist aber enttäuschend. So waren sie dann auch in den Teil der Erinnerung versunken, in dem sich die Belanglosigkeiten anhäuften. Das zumindest würde mit Johanna nicht geschehen.
Mir fiel auf, dass ich mein Handy immer noch in der linken Hand hielt. Ich hatte es hervorgeholt, weil ich Clarissa eine Nachricht schicken wollte. »Bin gut angekommen« oder »Das Hotel ist hervorragend« oder »Habe im Zug eine Frau von faszinierender Unscheinbarkeit kennengelernt«. Na ja, Letzteres sicherlich nicht. Aber auch das einfache »Gut angekommen« wollte mir nicht gelingen. Ich spürte, wie sich unter diesem Nicht-Gelingen ein feiner Riss zeigte, aus dem Verzweiflung hervorzuquellen drohte. Eine Beziehung bestand vor allem aus kleinen Gesten der Zugewandtheit. Sie waren der Klebstoff, der die winzigen Leerstellen im gemeinsamen Leben zweier Menschen überbrücken und das Ganze zusammenhalten konnte. Aber wenn die Leerstellen größer wurden, reichten diese Gesten als Flickstoff nicht mehr aus. Ich hatte mir angewöhnt, über diese rissigen Zonen hinwegzusehen. Das war leichter, als sich ihnen zu stellen. Heute wollte mir das aber nicht gelingen. Also tat ich das, was schon lange unser Schweigen ersetzte: Ich schickte unserem Sohn eine Nachricht.
— Hallo, mein Großer, was machst du?
Die Antwort kam prompt. Er hatte darauf gewartet.
— Hi, Dad, mache Hausaufgaben.
— Schwindler.
Er schickte einen grinsenden Smiley.
— Erzählst du heute wieder von der Steinzeit?
— Und wie. Danach fangen wir ein Mammut und schlachten es.
— Und grillen es.
— Und dann gibt’s Ketchup drauf.
— Augenverdreh-Smiley.
— Also, was spielst du gerade?
— Heiligenschein-Smiley.
— Komm schon!
— Monument Valley.
— Du bist die Prinzessin?
— Was sonst?
— Bleib nicht zu lange auf.
— Kommst du morgen zum Fußball?
— Das werde ich nicht schaffen.
— Bye.
— Gib Mum einen Kuss.
— Augenverdreh-Smiley.
Ich steckte das Handy weg. Philipp war gerade zwölf geworden. Er war das Beste, was Clarissa und ich zustande gebracht hatten. Ich leerte das Glas und machte mich auf den Weg. Ich hatte an diesem Abend noch eine Show zu liefern. Und das beherrschte ich gut: So tun, als ob.
Ein letztes Mal dachte ich an graublaue Augen, die darüber nicht lachen wollten.
»… darum haben die Menschen sich nicht als Individuum gesehen. Etwas, das für uns heute ganz selbstverständlich ist. Aber unsere frühen Vorfahren sahen sich immer als Teil einer Gruppe, einer Familie, eines Clans oder eines größeren Verbundes. Allein war der Mensch nichts, und die schlimmste Strafe war die Verbannung. Das war gleichbedeutend mit einem grausamen Tod, der – soweit wir wissen – den Verbannten auch im Jenseits von der Gemeinschaft der Ahnen ausschloss.«
Ich machte eine Pause und ließ meinen Blick über das Publikum wandern. Folgten sie interessiert meinen Ausführungen? Ich war mir nicht sicher. Die Gesichter zeigten kaum Regung. Aber das war es nicht allein. Normalerweise habe ich ein Gefühl für die Stimmung des Publikums. An meinen besten Abenden konnte ich sie mit Worten und Gesten dirigieren wie ein Orchester. Heute aber wollte sich keine Verbindung herstellen.
Ich kämpfte einen kleinen Anflug von Panik nieder und versuchte es mit einem Trick. Ich hielt, noch während ich weitersprach, nach einzelnen Gesichtern Ausschau, die Interesse zeigten und die ich direkt ansprechen könnte. Das würde mir die nötige Sicherheit geben, die ich dann auf andere übertragen könnte. Doch keines der Gesichter zeigte die Aufmerksamkeit und die Offenheit, die ich brauchte. Es war, als würde ich gegen eine Wand aus Porträts anreden. Ich merkte die unangenehme Hitze im Hals, die der Verzweiflung vorausging, und legte unwillkürlich mehr Kraft in die Stimme. Ich kämpfte an gegen die Gleichgültigkeit dieser starren Gesichter. Schon befürchtete ich das, was jeder Vortragende hasste: dass einzelne Zuhörer aufstanden und einfach den Saal verließen.
Jetzt hatte ich auch noch den Faden verloren. Ich suchte in meinem Manuskript nach dem letzten Satz. Doch was hatte ich überhaupt zuletzt gesagt? Hitze stieg in meine Wangen. Da vernahm ich das Öffnen der Saaltür. Es war also so weit, die Ersten verschwanden. Ich schaute auf und sah, dass ich mich geirrt hatte. Es war niemand gegangen. Es war jemand gekommen!
Sie trug immer noch den grauen Trenchcoat, mit einem Gürtel in der Taille. Einige Zuhörer wandten sich um, wohl auch, weil ich schwieg, während sie in der hintersten Reihe Platz nahm. Und als ob ihr Eintreffen den Bann gebrochen hätte, überkamen mich mit einem Mal die Ruhe und Sicherheit, die ich vermisst hatte.
»Das Überleben der Gemeinschaft«, sagte ich langsam, ohne auf mein Manuskript zu schauen, »beruhte auf dem Prinzip der Kooperation.« Ich führte aus, wie diese Prämisse das Verhalten der Menschen formte. Wie Abweichler unerbittlich bestraft wurden. Aber auch, dass es Ungleichheit und Unterdrückung verhinderte.
»Wem können Sie in einer gefährlichen Situation, wie es sie ständig gab, mehr vertrauen? Einem Freund und Partner oder einem, den Sie geknechtet haben? Sicher gab es auch in den Gemeinschaften der Jäger und Sammler Ungerechtigkeiten. Aber die hielten selten lange an, wenn ein jeder auf den anderen angewiesen war.«
Ich brauchte nicht andauernd zu ihr hinschauen, so gewiss war ich mir ihrer Aufmerksamkeit. Sie war wie ein Leuchtturm, dessen Licht mich aus der schweigenden Menge traf und mich befeuerte. Längst war ich in meinen Ausführungen über mein Manuskript hinausgegangen, zog klare Linien aus dem in Jahrtausenden erlernten Verhalten jener Urgesellschaften und führte sie bis in die Gegenwart, in der sie uns einen Spiegel vorhielten und uns zeigten, was unser Verstand vermag und wogegen er sich sträubt. Worunter er leidet und das moderne Leben vergiftet.
Längst war das Publikum keine schweigende Wand mehr, sondern ein lebendiger Organismus, der meine Gedanken aufnahm und die Kraft vielfach zurückgab. Selten traf der Satz mehr zu, dass der Zuhörer den Redenden gebiert.
Als ich am Ende angelangt war und mich beim Publikum bedankte, herrschte eine Sekunde lang Stille. Dann, in einer rasch anschwellenden Woge, kam der Applaus. Ich genoss ihn aus vollem Herzen. Dabei suchte ich wieder ihr Gesicht in der letzten Reihe, aber mittlerweile erhoben sich einige Zuhörer von ihren Stühlen und verwehrten mir den Blick. Ich hatte den Drang, zu ihr zu gehen, um sie zu begrüßen. Aber nun kam die Veranstalterin mit einem Blumenstrauß auf die Bühne, und am Büchertisch bildete sich bereits eine Schlange. Es würde noch einiges zu signieren geben.
Ich beruhigte mich damit, dass Johanna sicherlich nicht gekommen wäre, wenn sie gleich wieder verschwinden wollte. Trotzdem blieb ein Zweifel, und obwohl ich mir Zeit für jeden einzelnen Leser nahm, ihm zuhörte, nachfragte, um schließlich eine persönliche Signierung in sein Buch zu schreiben, konnte ich die Unruhe nicht loswerden. Immer wieder hielt ich nach ihr Ausschau. Würde auch sie vor dem kleinen Tisch auftauchen, an dem ich signierte, mit einem Buch in der Hand? Doch ich konnte sie nirgendwo entdecken. Die Schlange wurde kürzer, der Saal leerte sich. Sie war nicht da. Das konnte doch nicht sein. Sie war erst im Zug geblieben und weitergefahren. Also musste sie irgendwann ausgestiegen und umgekehrt sein. Das machte man doch nicht, nur um sich dann wieder davonzustehlen.
Hier versagte mein Verstand. Ich begriff es nicht.
Als die letzte Besucherin abgefertigt war, raffte ich meine Sachen zusammen. Die Veranstalterin reagierte sichtlich enttäuscht, als ich ablehnte, mit ihr und ihren Kollegen noch essen zu gehen. Aber ich hatte es eilig, wegzukommen. Der Gedanke, dass Johanna die Geduld verloren hatte, nicht mehr warten wollte und zum Bahnhof zurückging, war mir unerträglich.
In beinah unhöflicher Kürze verabschiedete ich mich und lief nach draußen. Im Vorraum war sie nicht. Ich trat durch die Glastür ins Freie, schaute nach rechts, nach links, in alle Richtungen. Niemand zu sehen. Wohin konnte sie gegangen sein? Der Bahnhof! Ich versuchte, mich zu orientieren. Dort entlang. Ich lief los.
Ich war noch keine fünfzig Meter weit gekommen, als sich einer der Schatten zwischen den Laternen zu bewegen begann. Sie trug die Umhängetasche über der Schulter und kam direkt auf mich zu.
»Hey«, sagte ich, als sie vor mir stehen blieb. Ich konnte meine Freude nicht verbergen.
»Hey«, gab sie zurück, ohne zu lächeln. Aber das musste sie auch nicht. Sie war da.
Mir fiel nichts ein, was ich sagen könnte.
»Ich glaube, ich habe gerade alle Worte verbraucht«, sagte ich also.
»Ja, das waren viele Worte.«
Lag es am ungewissen Laternenlicht, oder war da ein amüsiertes Funkeln in ihren Augen.
»Gehen wir ein Stück?«, fragte sie.
»Ja, gerne. Soll ich Ihnen die Tasche abnehmen?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf.
Es hatte geregnet, und das Pflaster glänzte vor Nässe. Wir gingen rechts und links an einer Pfütze vorbei und trafen uns auf der anderen Seite wieder. Ich überlegte, was ich jetzt mit ihr machen sollte. Zum Essen einladen? Ich war nicht sehr hungrig, und es war schon spät. Außerdem hatte die Veranstalterin mit ihren Leuten hier irgendwo einen Tisch reserviert, an dem auch ich hätte sitzen sollen. Wenn wir nun per Zufall genau in dieses Lokal gerieten, wäre die Situation etwas peinlich.
Vielleicht sollte ich sie einfach nur zu einem Drink einladen. Aber wo? Nach irgendeiner Kneipe stand mir nicht der Sinn. Es hätte auch die Atmosphäre gestört. Wobei eine kleine Stimme in meinem Kopf sofort misstrauisch nach der Art der Atmosphäre fragte. Ich reagierte nicht darauf.
In meinem Hotel gab es eine sehr schöne Bar. Atmosphärisch war da alles im grünen Bereich. Aber eine Hotelbar? Zudem die Bar meines Hotels? War das nicht schon eine versteckte Einladung? Wollte ich sie einladen? Würde sie sich einladen lassen?
Gerade als meine Gedanken sich komplett zu verheddern begannen, sagte sie: »Ich habe Hunger.«
»Äh, ja.« Bevor ich fragen konnte, ob sie italienisch, asiatisch oder etwas anderes bevorzugen würde, fügte sie an: »Ich hätte gerne eine Currywurst mit Pommes.«
Ich blieb stehen, sie ebenfalls.
»Okay«, sagte ich.
»Mit Mayonnaise.« Sie dachte kurz nach. »Oder einen Cheeseburger mit Pommes.«
Ich musste lachen.
»Mit Mayonnaise.«
»Genau.«
»Darf ich Sie einladen?«
Ich erwartete einen dieser kühl prüfenden Blicke, wie er mich getroffen hatte, als ich ihre Tasche ins Gepäckfach heben wollte. Doch sie sagte nur: »Ja.«
Wir fanden einen vertrauenerweckenden Imbiss an einem kleinen Platz. Vom Fenstertisch konnten wir nach draußen schauen. Johanna bestellte einen Cheeseburger mit Pommes und Mayonnaise und dazu ein Bier. Ich orderte ebenfalls ein Bier, dazu eine Currywurst. Als die Getränke kamen, prosteten wir uns zu. Sie hielt das Bier noch einen Moment in der Hand und schaute drauf, als wollte sie es sich einprägen. Dann trank sie.
Sie trank mit geschlossenen Augen das Glas fast leer. Dann atmete sie einmal tief ein und schaute aus dem Fenster. Die Frau, die aus Fenstern schaut, dachte ich.
Sie begann, über meinen Vortrag zu sprechen. Was ihr aufgefallen war, sowohl inhaltlich als auch in den Reaktionen des Publikums.
»Die Menschen lieben es, wenn Sie ihnen von der Verwandtschaft zu unseren glücklichen Vorfahren erzählen.«
»Na, ich weiß nicht, ob die glücklich waren. Das Glück ist ein ziemlich junges Konzept in der Evolution.«
Inzwischen war das Essen gekommen. Sie hielt den Cheeseburger mit beiden Händen und biss ein ordentliches Stück ab. Kauend betrachtete sie mich.
»Ist das so?«, fragte sie, als sie mit dem ersten Bissen fertig war.
»Ja, sicher«, gab ich zurück und spießte ein Stück Currywurst auf. »Glück ist in der Evolution vollkommen irrelevant.«
Ich bestellte zwei neue Biere. Diese Kölner Gläser waren wirklich ein Witz.
»Das ist aber nicht nett von der Evolution.«
»Die Evolution kennt nur Gewinner und Verlierer. Gewinner sind die, die sich fortpflanzen und als Art überleben.«
»Aber ist das Glück nicht zum Überleben wichtig?«
»Hm, gute Frage. Schauen wir uns doch mal die Schafe an.«
»Die Schafe?«
»Ja, die Schafe. Sie waren eine der ersten Arten, die vom Menschen domestiziert und gezüchtet wurden. Das Schaf, das wahrscheinlich seit Millionen Jahren in relativ kleiner Herdenzahl durch die Welt streifte und nur für sich existierte, wurde zum Nutztier. Evolutionär gesehen war das ein Gewinn. Der Mensch schützte es vor Raubtieren, sorgte für Weidegründe und pflegte den Nachwuchs. Hätten wir die Möglichkeit, ein Interview mit einem der ersten domestizierten Exemplare zu führen, so hätten wir vielleicht zu hören bekommen, dass das doch eine gute Sache wäre. Sie brauchten nachts keine Angst vor Räubern mehr zu haben, sie hatten genug zu fressen und wurden rund und fett. Der Freiheit hätte es wohl kaum hinterhergetrauert. Und hätten Sie sie gefragt, ob sie glücklich wären, hätten sie wahrscheinlich Ja gesagt.«
»Das beweist doch, dass ich recht habe.«
»Nein, das beweist nur, dass die Frage nach dem Glück eine Schimäre ist. Die Schafe wurden mit dem vermeintlichen Glück in die Falle gelockt. Heute werden sie einmal im Jahr zwangsgeschoren. Das ist bestimmt nicht lustig, aber die Alternative ist auch nicht besser. Ihre Wollproduktion ist derart hochgezüchtet, dass sie ohne Schur nicht überleben würden. Sie fristen zwischen diesen Schuren ein Leben als Rasenmäher, bekommen Lämmer, die ihnen nach nur wenigen Monaten genommen werden, um auf dem Delikatessenteller zu landen. Und wenn ihre Wolle nichts mehr taugt, kommen sie zum Abdecker. Nun gut, man könnte sagen, dass sie das ja nicht wissen. Vielleicht sind sie also glücklich. Nur ist das vollkommen irrelevant. Heute gibt es wahrscheinlich mehr Schafe auf der Welt als insgesamt in den fünfhunderttausend Jahren vor der Domestizierung. Das allein zählt. Deswegen sind Schafe Gewinner der Evolution.«
Sie musterte mich nachdenklich.
»Reden wir noch von Schafen oder von Menschen?«, fragte sie.
Ich zuckte mit den Achseln. »Manchmal muss man den Unterschied suchen«, erwiderte ich.
»Trotzdem wollen alle Menschen glücklich sein«, merkte sie an.
»Wirklich? Ich habe den Eindruck, dass die Menschen alles daransetzen, um unglücklich zu sein.«
Sie hatte einen bemerkenswerten Appetit. Von dem Cheeseburger war kaum noch etwas übrig. Jetzt machte sie sich über die Pommes her. Auf meiner letzten Bemerkung schien sie auch noch herumzukauen.
»Sind Sie ein Zyniker?«, fragte sie schließlich.
»Ich fürchte, ja.«
Sie nickte, was alles Mögliche bedeuten konnte. Mir fiel natürlich auf, dass sie immer noch nichts über sich preisgegeben hatte. Wo sie lebte, was sie tat, warum sie nach Köln zurückgekehrt war, um meinen Vortrag zu besuchen. Und warum sie sich von einem Zyniker einen Cheeseburger spendieren ließ.
Eigenartigerweise scheute ich mich, sie darauf anzusprechen.
Ich würde lieber Ihnen zuhören. Der Satz aus dem Zugabteil klang noch in mir nach.
Dennoch stellte sich die logische Anschlussfrage, als wir das Lokal verließen: Was würde jetzt geschehen? Sollte ich sie zum Bahnhof begleiten? Würden wir Telefonnummern tauschen oder Mailadressen? Es war schön, Sie kennengelernt zu haben. Sehen wir uns bald wieder?
Irgendwie zweifelte ich an dieser Variante. Was blieb sonst? Sollte ich sie fragen, ob sie mit ins Hotel wollte? Wollte ich das? Etwa nicht?
»Kann ich heute bei Ihnen bleiben?«, fragte sie mich.
Ich schaute sie verblüfft an. »Ja, sicher.«
Sie runzelte die Stirn, senkte den Blick einen Moment auf das glänzende Pflaster und hob ihn wieder. »Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen schlafen will. Wahrscheinlich nicht. Ist das okay?«
»Äh ja, natürlich.« Verdammt, es war nicht okay.
Den Weg zu meinem Hotel legten wir schweigend zurück. Ich war verwirrt, auch ein wenig unsicher. Nur eines wusste ich: Ich wollte nicht, dass sie in die Nacht verschwand.
Den Luxus des Hotels nahm sie ungerührt hin, als hätte sie es nicht anders erwartet. Auch die Suite musterte sie eher neugierig als bewundernd. Dann entdeckte sie die Badewanne!
Es war eine frei stehende Badewanne mit Klauenfüßen. Sie stand vor der gleichen Glasfront, vor der ich zuvor den Champagner getrunken hatte. Von dem kleinen Salon und dem Schlafzimmer war das Badezimmer durch Milchglasscheiben getrennt.
»Darf ich ein Bad nehmen?«, fragte sie mich mit einer unverhohlenen Inbrunst, der ich nichts entgegenzusetzen hatte.
Ich setzte mich in den Salon. Auf dem Tisch stand immer noch der Kühler mit der Champagnerflasche. Ich schenkte mir ein, während hinter der Milchglasscheibe das Wasser einlief. Fünf Stockwerke unter uns lag die Stadt. Und hinter einer fünf Millimeter dicken, halb durchsichtigen Scheibe zog Johanna sich aus, um ein Bad zu nehmen. Ich war immer noch verblüfft darüber, welche Wendung dieser Abend genommen hatte.
Ein heller Körper hinter dem Milchglas, nur vage als Frau erkennbar. Sie beugte sich vor, um das Wasser abzustellen. Brüste vielleicht. Das Rauschen verstummte. Ich sah sie langsam ins Wasser gleiten. Das Plätschern, ein leises Seufzen. Dann Stille.
Schaute sie über die Stadt? Was dachte sie? War es für sie auch eine seltsame Wendung?
Ich holte ein zweites Glas hervor, schenkte Champagner ein. Vor dem offenen Durchgang zögerte ich kurz. Dann betrat ich einfach das Bad.
»Möchten Sie etwas Champagner?«
»Ja, gerne.« Sie musste den Kopf drehen, weil die Wanne zum Fenster ausgerichtet war. Sie hatte sich etwas Duftendes, Schäumendes ins Wasser getan, aber anders als in alten Hollywoodfilmen verbarg der Schaum nicht viel von ihr.
Ihr Blick hatte sich verändert. Lag es daran, dass sie mich für einen Moment vergessen hatte und in ihrem eigenen Gedankenkosmos unterwegs gewesen war, oder war es die Situation: ein Mann, der sich zu einer nackten Frau herabbeugt? Aber ihr Blick zeigte eine Verletzlichkeit, die widerstrebende Impulse in mir auslöste. Ich wollte sie schützen vor allem, was sie bedrohte. Und gleichzeitig wollte ich sie packen und besitzen. Jetzt. Auf der Stelle.
Ich schaffte es, ihr das Glas zu reichen, ohne auf ihren Körper zu starren. Darum konnte ich auch nicht erkennen, was die Tätowierung auf ihrer Schulter darstellte. Nur dass sie rot und wild war. Und dass mich etwas anzuschauen schien.
»Ich lasse Sie wieder allein.«
»Danke.«
Wieder zurück in dem kleinen Salon, setzte ich mich auf das Sofa, direkt neben ihre Tasche, die sie dort abgestellt hatte. Ich strich mir mit der Hand über das Gesicht, es fühlte sich heiß an. Kein Wunder, etwas in meiner Brust brannte lichterloh. Und war nicht in dem Moment, als ich mich über sie beugte, um ihr das Glas zu reichen, ein leises Knacken in meinem Kopf gewesen. Als ob etwas aufbräche?
Oder zerbräche.
Ich weiß nicht, ob ich mit Ihnen schlafen will. Wahrscheinlich nicht.
Ich sah auf die Tasche herab, eine Louis Vuitton, die aber eindeutig schon bessere Zeiten gesehen hatte. Ein Gedanke schlich sich durch mein inneres Chaos an mein Bewusstsein, leise, fast heimtückisch: Was weiß ich denn von ihr?
Dass sie Johanna heißt, aber nicht einmal das ist sicher. Sie hat nichts von sich preisgegeben, weder ihren Nachnamen noch woher sie kommt oder was sie tut. Ich wusste nicht einmal, wohin sie eigentlich fahren wollte.
Meine Finger strichen über das raue Material der Tasche. Dabei schaute ich zu der Milchglaswand. Die helle Kontur der Wanne war zu sehen, verschwommen der Kopf, der darüber hinwegragte, der Arm, der auf dem Wannenrand lag. Von mir würde sie noch weniger sehen können.
Behutsam öffnete ich den Reißverschluss der Tasche. Was mir zuerst auffiel, war das Buch, es war neu. Es war mein Buch. Sie hatte es offenbar gerade gekauft, vielleicht sogar bei der Veranstaltung, während ich signierte. Aber sie war nicht an meinen Tisch gekommen.
Darunter T-Shirts, ein Kleid, Blusen, Unterwäsche, alles sauber zusammengelegt. Ich hatte ein mieses Gefühl, weil ich in ihren Sachen herumschnüffelte, aber die Neugier siegte. An der Seite steckte ein rotes Portemonnaie, das groß genug war, um auch Ausweis und Karten unterzubringen. Als ich es öffnete, blickte sie mir auch prompt auf einem der alten Ausweise entgegen. Er war ausgestellt in Saarlouis und würde im kommenden Jahr ablaufen.
Johanna van Bergen.
Ich betrachtete das Foto der jüngeren Johanna. Das Haar war länger und umrahmte ein klares, offenes Gesicht. Sie lächelte, es stand ihr gut.
Wann hast du das Lächeln verloren, Johanna?, dachte ich.
Ich fand noch einen Führerschein mit dem gleichen Foto wie auf dem Ausweis, eine Bankkarte der Sparkasse Saarlouis, die allerdings nicht mehr gültig war, und eine American Express. Auch sie war nicht erneuert worden. Seltsam.
Ein Fünfziger, ein Zehner, ein wenig Kleingeld, das war alles. Ziemlich wenig für ein Leben.
Ich steckte das Portemonnaie zurück. Dabei entdeckte ich das ausgedruckte Bahnticket. Ihr Fahrtziel war tatsächlich Saarlouis, sie hatte also nach Hause gewollt. Zu ihrer Familie? Ihrem Freund? Einen Ring hatte ich nicht an ihrem Finger gesehen. Dann aber war sie umgekehrt, um meinen Vortrag zu besuchen. Warum?
Ich wollte die Tasche schon wieder schließen, als mir das offene Kuvert auffiel. Ich zog es nur hervor, um nichts auszulassen. Darauf stand nur ihr Name und eine achtstellige Nummer. Dann fiel mein Blick auf den Absender. Benommen starrte ich auf die seltsame Buchstabenfolge. Es dauerte ein paar Herzschläge, ehe ich begriff, was JVA Vechta bedeutete.
Dann spürte ich einen erneuten Hitzeschub in meinem Gesicht.
Ich warf einen Blick zu der Milchglaswand. An den verschwommenen Konturen hatte sich nichts verändert. Ich zog langsam das gefaltete Schreiben aus dem Kuvert und las.
Entlassungsschein. Darunter: Sorgfältig aufbewahren. Zehn Euro Reisekostenzuschuss, zweiundfünfzig Überbrückungshilfe, Stempel und Unterschrift der Anstaltsleitung.
Ich faltete das Schreiben vorsichtig wieder zusammen, steckte es in das Kuvert und verstaute es wieder in der Tasche. Dabei achtete ich darauf, dass alles so aussah, wie ich es vorgefunden hatte. Ein leises Plätschern ließ mich aufschauen. Eine helle Kontur erhob sich aus der Wanne, ein Arm griff nach dem Handtuch. Ich schloss langsam und leise den Reißverschluss der Tasche, nahm einen Schluck Champagner und atmete einmal tief durch.
Jetzt wusste ich, wo Johanna ihr Lächeln verloren hatte.
Ich lag auf dem Rücken unter meiner Decke. Die Tür zum Salon hatte ich offen gelassen, sodass die Lichter der Stadt, die durch die Glasfront fielen, auch das Schlafzimmer ein wenig erhellten. Neben mir, unsichtbar unter der Decke, schlief Johanna. Sie hatte sich vollkommen darin eingewickelt und lag auf der Seite. Nur wenn ich ganz genau hinhörte, konnte ich ihren leisen Atem hören.
Sie war, mit dem Handtuch um den Leib geschlungen, in den Salon gekommen, hatte ihre Tasche geholt und war damit im Schlafzimmer verschwunden. Ich hatte ihr nur einen kurzen Blick zugeworfen. Einerseits um sie nicht zu begaffen, andererseits fürchtete ich aber auch, dass mir der Schreck in den Augen stünde. Immerhin hatte dieser Blick gereicht, um zu erkennen, dass sie das Bild eines großen, ziemlich seltsamen Vogels auf der Schulter trug.
Als ich eine halbe Stunde später nachkam, war das Licht bereits gelöscht, und sie lag im Bett. Seitdem lag ich mit geöffneten Augen im Halbdunkel.
Auf dem Entlassungsschreiben hatte nichts über den Grund ihrer Haft gestanden. Was hatte sie verbrochen? Diebstahl? Betrug? Etwas Schlimmeres?
Auf jeden Fall erklärte dies ihr seltsames Verhalten und ihre Aufmachung. Dass sie nicht über sich hatte sprechen wollen. Die Art, wie sie in die Landschaft gestarrt hatte, durch Fenster, die keine Gitter hatten. Ihr Heißhunger auf so etwas Gewöhnliches wie einen Cheeseburger und Pommes mit Mayo. Das Bad mit Blick über die Stadt, und natürlich wird sie in der JVA Vechta keinen Stylisten für ihre Haare gefunden haben. Doch was bedeutete das alles für mich?
In den ersten Minuten, nachdem ich mich ins Bett gelegt hatte und mir der Duft ihres frisch gebadeten Körpers in die Nase gestiegen war, hatte ich eine heftige Erektion in meinen Boxershorts. Die kehrte auch hartnäckig immer wieder zurück, obwohl meine Überlegungen mittlerweile in eine andere, eher unerotische Richtung führten.
Obwohl ich sicher nicht zu den unattraktivsten Exemplaren meiner Gattung gehörte, bildete ich mir keineswegs ein, der Typ Mann zu sein, bei dessen Anblick eine Frau alles stehen und liegen ließ, um ihm zu folgen. Was also wollte eine frisch entlassene Strafgefangene von mir? Offenbar keinen Sex. Die Suche nach anderen Antworten erbrachte leider nur beunruhigende Resultate. Das war auch der Grund, warum ich nicht einschlafen konnte.
Natürlich rechnete ich nicht wirklich damit, dass sie mir im Schlaf ein Messer oder einen Eispickel in den Hals rammen würde. Aber wenn ich mich in ihre Lage versetzte, erkannte ich mich als durchaus lohnenswertes Ziel. Auch dass sie, die offenbar über keine nennenswerten Mittel verfügte, sich ein Erste-Klasse-Ticket gekauft hatte, machte unter diesem Gesichtspunkt Sinn. Auf der Suche nach einem Opfer geht sie die Abteile ab. Sie findet einen Mann, gut gekleidet, eine Rolex am Handgelenk, mit einem Markenkoffer. Sie weckt mit ihrer spröden Art sein Interesse. Im Nachhinein musste ich sie geradezu bewundern, wie sie mir Informationen über mein Leben entlockt hatte, ohne das Geringste von sich preiszugeben. Der vermeintliche Abschied am Bahnhof war besonders geschickt. Am Abend brauchte sie mich nur noch von der Straße zu pflücken. Mittlerweile war ich mir sicher, dass ihr Schlaf nur vorgetäuscht war. Wäre ich ahnungslos geblieben, wäre sie am Morgen verschwunden, und mit ihr meine Brieftasche und meine Uhr.
Das Risiko, das sie einginge, wäre gering. Natürlich hatte sie meinen Ehering gesehen, und wahrscheinlich setzte sie darauf, dass ich sie nicht anzeigen würde, weil ich dann zugeben müsste, mit ihr die Nacht verbracht zu haben. Ich würde doch nicht wegen einer Uhr und ein wenig Bargeld meine Ehe aufs Spiel setzen.
Nun, die Uhr hatte ich immer noch am Handgelenk. Nur für die Brieftasche musste noch eine Lösung gefunden werden. Ich erhob mich vorsichtig aus dem Bett, um sie nicht zu wecken. Im Bad wartete ich eine Minute, dann betätigte ich die Spülung und ließ das Wasser im Waschbecken laufen. Noch während es lief, schlich ich in den Salon, zog die Brieftasche aus dem Jackett und …
Ja, wo sollte ich sie verstecken? Ich sah mich hektisch um, dann stopfte ich sie in die Ritze der Sofapolster. Zwei Sekunden später war ich wieder im Bad, stellte das Wasser aus und tappte leise zurück zum Bett. Wieder unter der Decke, stellte ich mir vor, wie sie vergeblich nach der Brieftasche suchte. Würde sie trotzdem verschwinden? Wahrscheinlich, ich wäre für sie ja nicht mehr von Nutzen. Ich nahm mir vor, sie dabei zu beobachten. Dafür bräuchte ich nur, so wie sie, den Schlaf vortäuschen, und schon würde sie in Aktion treten. Ich begann tiefer und langsamer zu atmen. Kurz darauf fügte ich noch leise Schnarchgeräusche hinzu. Als erfahrene Diebin würde sie wissen, dass bereits nach kurzer Zeit die Tiefschlafphase erreicht war. Sicherlich bräuchte ich nicht lange zu warten. Wenn nur diese vermaledeite Erektion nicht wäre.
Als ich erwachte, kroch bereits die Dämmerung durch die offene Tür des Salon. Sobald ich begriff, dass ich eingeschlafen war, ruckte mein Kopf zur Seite. Das Bett neben mir war leer. Ich hatte also recht gehabt. Ich stieß langsam die Luft aus. Warum tat es dann weh?
Ich schlug die Decke zurück, setzte mich auf und fühlte mich leer in diesem grauen Luxuszimmer. Nur um etwas zu tun, stand ich auf, um meine Brieftasche wieder aus ihrem Versteck zu holen. Im Durchgang zum Salon erstarrte ich.
Sie trug nur ein knappes, weißes Hemdchen mit dünnen Trägern und einen ebenfalls weißen Slip. Sie saß genau dort, wo zwischen den Polstern die Brieftasche steckte, hatte die Füße auf den niedrigen Tisch gestellt und sah aus dem Fenster.
Alle meine Mutmaßungen zerrannen bei diesem Anblick.
»Es ist so schön still um diese Zeit«, sagte sie leise, ohne mich anzuschauen.
»Ja«, gab ich zurück und merkte, dass ich mich räuspern musste.
Jetzt wandte sie den Kopf. O Gott, werde ich jemals diesen Blick ertragen können, ohne mich nackt zu fühlen.
Sie erhob sich mit einer leichten, fließenden Bewegung und kam langsam auf mich zu. Der Vogel auf ihrer Schulter schaute mich lauernd an. Er hatte die Flügel ausgebreitet, sodass der eine bis über den Oberarm reichte. Der Kopf ragte bis über das Schlüsselbein. Als sie dicht vor mir stehen blieb, stieg mir ihr Duft aus Badeöl und frischem Schlafschweiß, aus Frau und Fruchtbarkeit in die Nase. Er fegte alle Gedanken beiseite und schickte energische Impulse in den Teil meines Körpers, der in den Shorts steckte. Sie legte ihre kleine, warme Hand auf meine Brust, dort, wo mein Herz heftig schlug. Eine kleine senkrechte Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen.
»Ich würde jetzt wirklich«, sagte sie ernsthaft, »wirklich sehr gerne mit dir schlafen.«
Alles Weitere erlebte ich mit einer leichten Benommenheit, nie wich das Gefühl des Unwirklichen gänzlich von mir. Ich sah mich nackt auf dem Bett liegen, sah gleichzeitig sie, die mich betrachtete. Wie sie ihr Hemd auszog und den Slip. Ich sah uns eng umschlungen nebeneinanderliegen, und gleichzeitig fühlte ich ihren wunderbaren Körper in meinen Armen. Sie zuckte leicht zusammen, als meine Finger über ihren Bauch strichen und sich der warmen Region zwischen ihren Schenkeln näherten. Mit geschlossenen Augen genoss sie meine Liebkosungen, wölbte sich mir entgegen und rieb dabei mit entschlossenem Griff meinen prallen Schaft. Ehe ich michs versah, drückte sie mich auf den Rücken und schwang sich über mich. Sie sah mir in die Augen, als sie mich in sich führte – nein, nicht nur sie, auch der Vogel. Sie hatte den Mund leicht geöffnet, die Zungenspitze zuckte zwischen den Zähnen. Ich wollte diesen Mund küssen, diese Zunge mit meiner umspielen. So griff ich in ihren Nacken, um ihren Kopf herabzuziehen. Sie widersetzte sich. Gleichzeitig stieß sie sich fest auf mich. Ich fühlte ihr weiches, warmes Innerstes, das mich fest umschloss. Drängte mich tiefer, als wollte ich sie vollends durchbohren. Doch sie hielt dagegen, glitt dabei vor und zurück. Kleine keuchende Laute kamen aus ihrem Mund, der sich mir immer noch widersetzte. Ich hob den Kopf, um den Kuss zu erzwingen, doch sie stemmte ihre Hände gegen meine Brust. Immer verzweifelter wurde unser Kampf. Unsere Becken stießen und rieben aneinander, während wir darum rangen, den Atem des anderen zu trinken.
Ich fasste nach ihrer Brust, die gerade einmal meine Hand füllte. Sie umschloss meine Hand, forderte mich auf, fester zuzudrücken. Ich tat, wie sie mir befahl. Sie stieß ein Wimmern aus, vögelte mich aber nur umso heftiger weiter. Unsere Haut war nass vor Schweiß, und dort, wo unsere Körper zusammenstießen, gaben sie leise klatschende Geräusche von sich. Da spürte ich ihr Zucken, sie warf den Kopf nach hinten, griff meine beiden Hände und presste sie an ihre Brüste. Sie kam mit einem Laut, der aus Schmerz und Lust geboren war. Etwas zog an meinem Schwanz, als wollte es mich melken. Dann ließ sie sich, immer noch von Lustwellen bebend, auf mich sinken. Und jetzt, jetzt endlich gab sie mir ihren Mund zum Kuss.
Ich fühlte ihre wohlige Erschöpfung, war aber noch nicht bereit, sie freizugeben. So zog ich sie eng an mich, dass ihr Gesicht an meinem Hals lag und ich ihren Atem fühlen konnte. Ich umfasste ihr Gesäß, hob es leicht an, sodass ich Spielraum hatte. Dann begann ich, mich in ihr zu bewegen. Erst langsam und rücksichtsvoll, doch schon bald ergriff mich eine tierhafte Wildheit, die keine Rücksicht mehr kannte. Ich krallte meine Finger in ihren Arsch und pumpte mich unbarmherzig in sie. Ich fühlte ihr Schluchzen an meinem Hals und die Nässe ihrer Tränen. Ich wusste nicht, ob es aus der Qual oder der Lust kam, doch es war mir nicht möglich, irgendetwas daran zu ändern. Immer wieder stieß ich in ihren Leib, bis sich etwas in meinen Lenden mehr und mehr zusammenzog, bis es unerträglich wurde und auch ich die Qual spürte, die nur einen Ausweg kannte.
Als es vorbei war, glitt mein Bewusstsein in einen matten Dämmerzustand. Unsere feuchten Körper klebten aufeinander, unsere Lungen sogen gierig die Luft ein, während ich immer noch in ihr war. Ich hielt sie fest umschlungen, weil alles andere Verrat gewesen wäre.
Ein Sonnenstrahl zeichnete schräg eine leuchtende Bahn in das Viereck. Wo ich wohl bin?, fragte ich mich träge und ließ mich noch ein Weilchen in der wohligen Ungewissheit treiben. Dann schlugen die Worte wie Schüsse ein: Köln, Vortrag, Johanna! Ich ruckte hoch. Das zerwühlte Bett, auf dem ich quer geschlafen hatte, kein anderer Körper neben mir. Wo war Johanna?
»Johanna?«, rief ich, doch da war nur Stille.
Ich wickelte mich aus der Decke. War sie im Bad? Nein, da hätte sie mich gehört, ebenso im Salon. War sie unten, Frühstück besorgen? Ich sprang aus dem Bett. Schaute ins Bad, in den Salon. Wo war ihre Tasche? Mein Blick zuckte zur Garderobe, ihr Mantel war auch fort. Fassungslos stand ich da. Sie war tatsächlich fort. Ohne Abschied, ohne ein Wort.
Vielleicht hatte sie eine Nachricht hinterlassen. Ich suchte auf dem Nachtschrank und neben dem Bett. Ich suchte im Salon, auf dem niedrigen Tisch, dem kleinen Schreibtisch – nichts. Benommen ließ ich mich aufs Sofa sacken. Immer wieder zuckte die gleiche Ein-Wort–Frage durch meinen Kopf: Warum? Warum? Warum?
Ich dachte an den Sex, den wir gehabt hatten. War ich zu hart, zu rücksichtslos gewesen? Hatte ich ihr wehgetan? Als mir nach und nach die Details unserer Liebesnacht wieder einfielen, musste ich mir voller Scham eingestehen, dass ich ihr tatsächlich wehgetan hatte. Nie zuvor hatte ich eine Frau so genommen wie sie. Ich dachte daran, wie ich mich hatte hinreißen lassen. Dachte an ihre Tränen, an ihr Schluchzen. Jetzt war ich mir gar nicht mehr sicher, ob da noch Lust eine Rolle gespielt hatte. Ich schlug die Hand vor den Mund. War sie zur Polizei gegangen und hatte mich wegen Vergewaltigung angeklagt?
Die Ungewissheit machte mich verrückt. Ich rief bei der Rezeption an. »Hat jemand eine Nachricht für mich hinterlassen?« Der Rezeptionist verneinte freundlich. Ich versuchte, mich zu beruhigen. Es war harter Sex gewesen, aber nichts war gegen ihren Willen geschehen. Na ja, ich hatte sie zum Kuss zwingen wollen. Ich lächelte bei der Erinnerung in mich hinein. Das wäre in dieser Situation wohl kaum einen Vergewaltigungsvorwurf wert.
Je mehr ich mich an alles erinnerte, desto mehr wurde mir bewusst, dass dies die erfüllteste Liebesnacht war, die ich je erlebt hatte. Diese Nacht würde in meiner Erinnerung ganz gewiss nicht im Winkel der Belanglosigkeiten versanden. Doch dieser Gedanke führte mich wieder an den Ausgangspunkt zurück. Johanna war fort, ohne einen Gruß, ohne eine Möglichkeit, sich wiederzusehen. Es würde keine Fortsetzung geben.
Ich warf einen Blick auf meine Uhr, die immer noch an meinem Handgelenk hing. Es war Zeit, sich auf den Weg zu machen. Ich duschte, zog mich an, packte meine Sachen. Bevor ich das Zimmer verließ, nahm ich noch einmal alles in mich auf. Das zerwühlte Bett, ich sah uns wieder. Wie sie mich ritt, den Kopf im Nacken, den Mund weit geöffnet. Dann wieder ihre kleine Zunge, die zwischen den Lippen hervorzuckte. Ich sah sie wieder im Bad liegen, so verletzlich, so nackt. Wie ich sie im Morgengrauen vorfand. Es ist so schön still um diese Zeit.
»Leb wohl, Johanna«, sagte ich leise.
Und das Glück?, fragte eine Stimme in meinem Kopf.
»Das ist in der Evolution nicht vorgesehen.«
Bevor ich die Tür schloss, überprüfte ich routinemäßig, ob ich alles dabeihatte: die Uhr, das Handy, die Brieftasche. Die Brieftasche?!
Du meine Güte, beinahe hätte ich die Brieftasche vergessen. Ich eilte in den Salon, griff zwischen die Polster – nichts!
Ich stutzte. Das konnte nicht wahr sein. Hektisch suchte ich die Ritzen ab. Da stießen meine Finger auf einen Widerstand. Ich zog die Brieftasche hervor. Stirnrunzelnd hielt ich sie in der Hand. Ich war mir sicher, dass ich sie an der Stelle deponiert hatte, an der ich zuerst gesucht hatte. Eine böse Ahnung ließ mich den Inhalt überprüfen. Die Karten waren alle noch da, aber sie steckten in den falschen Fächern. Das Bargeld! Mehrere Fünfziger, Zwanziger, Zehner, alle noch da, aber nicht in der Reihenfolge, in der ich Geldscheine einzustecken pflegte.
Ich verzog peinlich berührt das Gesicht, als ich begriff, was das bedeutete: Johanna hatte mir doch eine Nachricht hinterlassen.
Ich wusste, von welchem Gleis mein Zug abfuhr. Ich wusste auch den Wagen und sogar den Sitzplatz. Und dass der Zug in zwanzig Minuten eintreffen würde. Also gab es überhaupt keinen Grund, den Fahrplan zu studieren.
Warum tat ich es dann?
Einfach aus Interesse und weil mir noch Zeit blieb, gab ich mir selbst die Antwort.
Aha, da stand es: Der ICE nach Trier fuhr in einer halben Stunde. Gut, schön zu wissen. Aber was sollte ich in Trier?
Den Regio nach Saarlouis nehmen, antwortete eine Stimme in meinem Kopf.
»Witzbold«, sagte ich, woraufhin mich der Mann, der neben mir den Fahrplan studierte, leicht indigniert ansah. Ich räusperte mich und wandte mich ab.
An meinem Gleis angekommen, holte ich das Handy hervor. Ich hatte keine Nachricht mehr an Clarissa geschickt, und wie ich nun feststellte, hatte sie sich auch nicht gemeldet. Ich brauchte mir die Frage, ob ich ihr von der letzten Nacht erzählen sollte, gar nicht zu stellen. Ich würde es nicht tun. Selbst wenn ich es täte, würde sie mir höchstens höflich zuhören und mich dann fragen, warum ich der Meinung wäre, ihr das berichten zu müssen. Dabei würde sie mich auf eine Weise anschauen, bei der ich mir sehr dumm vorkäme.
Das war aber nicht der einzige Grund, weswegen ich ihr meine Nacht mit Johanna verschweigen würde. Ich würde auch sonst niemandem davon erzählen. Weil ich befürchtete, dass es in dem Moment, da ich es in Worte verpackte, seinen Zauber verlöre.
Als mir bewusst wurde, dass ich das Erlebnis bereits in einen Kokon aus Erinnerungen einzuweben begann, erschrak ich. Wollte ich das wirklich? Wollte ich es auf diese Weise abtun? Die Reise nach Köln, auf der ich diese seltsame Frau kennenlernte! Aber was war denn die Alternative?
Ihr hinterherfahren, sagte die Stimme in meinem Kopf.
Tolle Idee, gab ich genervt zurück, sie hat, glaube ich, ziemlich deutlich klargemacht, dass sie das nicht wünscht.
Nein, sie hat dir lediglich keinen Teppich ausgerollt.
Ich schwieg verstimmt, fragte mich aber dennoch, ob da etwas dran war. Sie hätte mir doch wenigstens ein kleines Zeichen geben können, dass sie mich wiedersehen will.
Sie hat dich halb bewusstlos gebumst, was willst du denn noch?
»Halt endlich den Mund«, rief ich verärgert. Ich schaute mich sofort um, ob jemand sich angesprochen fühlen könnte. Ein paar Meter weiter stand ein Mann, der einen Dialog mit der Luft zu führen schien, bis ich den Hörer in seinem Ohr und das Handy in seiner Hand erblickte. Schizophrenie ließ sich heutzutage ziemlich gut tarnen.
Clarissa und Philipp erwarten mich zu Hause, gab ich meinem inneren Gegenüber Bescheid.
Darf ich lachen?
Clarissa …
Verdammt, er hatte recht. Ob ich nach Hause kam oder nicht, war für Clarissa völlig ohne Belang. Und für mich?
Jahrelang hatte ich den langsamen Verfall unserer Beziehung ignoriert. Mehr noch, ich hatte ihn zugelassen. Es war nicht einmal Clarissas Schuld.
Aber Philipp?, fragte ich schwach.
Nein, sagte die Stimme, nimm deinen Sohn nicht als Ausrede für deine Feigheit.
Und nun soll ich einer Frau hinterherfahren, die gerade aus dem Knast kommt?
Nein! Aber du sollst endlich das Leben anpacken, wenn es dir schon ins Hotelbett springt. Es fiel dir immer leicht, die Menschen für dich einzunehmen. Du hast nie um ihre Sympathie, Freundschaft oder Liebe kämpfen müssen. Oder hast du dich jemals für einen anderen Menschen ins Zeug gelegt? Hast du jemals etwas geopfert?
Willst du, dass ich wegen Johanna meine Familie verlasse?, fragte ich ungläubig. Der Mittvierziger, der mit einer Jüngeren durchbrennt. Das ist kitschig.