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John Coltrane und Miles Davis sind die Säulenheiligen des modernen Jazz - ein ungleiches Paar: Des einen Musik lässt sich nur durch sein Leben erklären, des anderen Leben nur durch seine Musik. John Coltranes Leben war Jazz spielen. Niemand erkundete sein Instrument so tief und so besessen wie der Saxophonist aus North Carolina in den nur zwölf Jahren seiner beispiellosen Karriere. Als er 1967 mit 40 Jahren starb, hinterließ er ein musikalisches Universum, dessen Faszination bis heute ungebrochen ist. Coltranes Einfluss beschränkte sich nicht nur auf den Jazz, sondern erfasste auch große Teile der progressiven Rockmusik: Bands wie Cream und Grateful Dead fühlten sich durch ihn zu langen kollektiven Improvisationen animiert. Karl Lippegaus zeichnet in seinem Buch das Porträt des größten Saxophonisten im Jazz anhand seiner musikalischen Entwicklung nach: vom schüchternen Sideman im Quintett von Miles Davis bis zum Künder einer spirituellen "höchsten Liebe" - der Love Supreme, nach der er sein bedeutendstes, heute millionenfach verkauftes Album benannte. Der Autor erkundet den Kosmos Coltrane, verführt zum Hören seiner Musik und erzählt nebenher zahllose Geschichten vom Jazz.
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INTRO
»Bird Lives!« verkündeten einst die Graffitis, die der Dichter Ted Joans auf den Mauern New Yorks hinterließ. Doch Anspruch auf Unsterblichkeit kann eigentlich nur der Geist John Coltranes erheben, denn bis heute ist Trane der einzige Jazzmusiker, der nicht nur im übertragenen Sinne als Heiliger verehrt wird und nach dem sogar eine Kirche benannt ist: die »Saint John Will-I-Am Coltrane African Orthodox Church« in der Fillmore Street in San Francisco, wo Erzbischof Franzo King Zeugnis ablegt von der »Klangtaufe«, die ihm als Zuhörer eines Coltrane-Konzerts widerfuhr - dieser Mann, erkannte er schlagartig, spielte nicht nur Jazz, sondern war ein Erwählter, der Menschen den Weg zurück zu Gott wies. Coltranes Familie reagierte auf die Kirchengründung mit dem Versuch einer Klage auf Verletzung des Urheberrechts. Was den europäischen Leser in beiden Fällen zu einem kopfschüttelnden »Das gibts nur in Amerika !« veranlassen dürfte.
Natürlich, Coltrane hat den Jazz transzendiert und sein musikalischer Einfluss ist überall spürbar, auch in Gefilden, für die er selbst wenig Sympathie hegte. A Love Supreme gibt es heute in einer Fassung für Streichquartett zu kaufen, obwohl John Coltrane die genreverbindende Third-Stream-Bewegung als Zwangsehe betrachtete. Ebenso wenig lässt sein Spätwerk erkennen, dass er Miles Davis und Co. in die Jazz-Rock-Fusion der Siebzigerjahre gefolgt wäre. Im Gegenteil, in seinen letzten Jahren bewegte sich Coltrane immer weiter weg von festen Rhythmen. »Ich brauche schon einen Beat, irgendwo, aber ein schnurgerader Viervierteltakt interessiert mich nicht«, sagte er einmal. Coltrane war mitunter ein Revolutionär wider Willen, dessen Beschwerden über die aus seiner Sicht exzessive Verwendung von Verstärkern in der Rockmusik einen gewissen Konservatismus ebenso erkennen lassen wie die Klage, niemand schreibe mehr Popsongs wie Richard Rodgers. Und doch ist das ColtraneQuartett mit seiner Energie, seiner Freiheit und Leidenschaft bis heute ein Orientierungspunkt für unzählige »jammende« Rockbands wie Warren Haynes' Gov't Mule und die Derek Trucks Band, die nicht selten auch »Afro Blue« im Repertoire haben.
Wann immer jedoch vom »späten Coltrane« gesprochen wird, um den musikalischen Lavastrom der Jahre 1966/67 zu benennen, sollte uns bewusst sein, dass dies nur ein Kürzel der Musikkritiker ist. »Später Coltrane« hat nichts mit der Schwelle des Todes zu tun, an der man beispielsweise den »späten Brahms« stehen sieht. Für Coltrane, der seine Musik direkt auf der Bühne schuf, gab es keine melancholischen Reflexionen über gelebtes Leben und die Sterblichkeit allen Seins. Dafür hatte er keine Zeit. Vielleicht wäre es passender, seine Entwicklung vom »werdenden Coltrane« zum »unvollendeten Coltrane« verlaufen zu lassen, denn trotz der wuchernden Diskografie und epischen Soli war alles viel zu schnell vorbei, von der Hitze verzehrt. Noch zwei Monate vor seinem Tod experimentierte der Saxophonist mit neuen musikalischen Richtungen. Eines seiner vielen posthum veröffentlichten Alben heißt Transition, ein Titel, den eigentlich so gut wie jede seiner Platten tragen könnte. Für den selbstkritischen Coltrane waren alle seine Aufnahmen »vorübergehend«. Viele von ihnen zählen heute zu den Referenzwerken des modernen Jazzkanons, doch ihr Schöpfer war nie zufrieden, sondern eilte bereits rastlos und manchmal ohne Rücksicht auf Verluste der nächsten Station seiner musikalischen Entwicklung ent gegen.
Coltrane auf Tonträger ist ein unfertiges Projekt, die Suche eines neugierigen, genialen Geistes nach dem erfüllenden Kontext. Bis 1961 praktisch nur Solist, hatte er die ganz unterschiedlichen Räume in der Musik von Miles Davis und Thelonious Monk mit seinen Soundkaskaden und Stream-of-Consciousness-Soli gefüllt, hyperwach für alles, was um ihn herum geschah. Monks Ehefrau Nellie erinnerte sich, dass Coltrane sogar den Lärm von der Straße in seine Improvisationen integrierte: »Coltrane spielt die Geräusche der Straßenbahnen draußen, das Quietschen der Autoreifen und Töne, die es gar nicht gibt.«
Auf den ersten Platten unter eigener Regie, mehr oder weniger noch als Hardbop erkennbar und aufgenommen mit dem Personal, das gerade greifbar war, dokumentierte Coltrane, was Evan Parker »Etüden für Studio« genannt hat. Während Coltranes System der superimposed chords heute essenzieller Bestandteil einer ordentlichen Jazzausbildung ist - wer »Giant Steps« spielt, hat das Diplom so gut wie in der Tasche -, begann Coltrane schon vor fünfzig Jahren, den starren Blick auf Akkorde mit dem berühmt gewordenen Ausspruch infrage zu stellen, das sei »wie durch das falsche Ende des Fernglases auf die Musik zu schauen«. Auch brillante Parforceritte wie »Countdown« und »Giant Steps« können nicht verdecken, dass das Festhalten an den eigenen komplexen Akkordfolgen seinen Blick auf die ganze Weite des musikalischen Terrains ebenso beschränkte wie die Freiheit, sich darin zu bewegen. Etwas musste anders werden.
Ab 1961 hatte Coltrane dann endlich eine eigene Band, obwohl das »klassische« Quartett mit McCoy Tyner, Elvin Jones und Jimmy Garrison erst Ende des Jahres vollständig war. Unbestritten ist, dass sie die Messlatte für das, was im Jazz (ein Begriff, für den Coltrane wenig übrig hatte) möglich war, höher legten - und zwar auf die altmodische Art, mit einer Hingabe und Leidenschaft, der man heute kaum noch begegnet.
Coltrane musste lernen, sich mit dem Festival- und Konzertparcours zu arrangieren: Er betrachtete größere Räumlichkeiten als suboptimal für das Spielen und Hören kreativer Improvisation und wehrte sich gegen die leidigen Zeitvorgaben bei Festivals. (»Es erscheint mir unlogisch und unvernünftig, unsere Soli abzukürzen. Ideen müssen sich natürlich entfalten können.«) In der Regel fanden die musikalischen Forschungsarbeiten des Quartetts vor dem Hintergrund klirrender Gläser und Stimmengewirrs in den Clubs von Amerika statt -nicht nur in denen, die jeder kannte, wie das Village Vanguard und das Birdland in Manhattan, sondern auch im Jazz Temple in Cleveland, dem Pink Poodle in Indianapolis und dem Showboat in Philadelphia, wo das Quartett besonders oft gastierte. Vor Kurzem aufgetauchte Bootlegs aus dem Showboat offenbaren eine bemerkenswerte Mischung aus Lässigkeit und Intensität. Nichts und niemand kann Coltrane auf seinem Weg zum innersten Kern der Musik aufhalten. Elvin sitzt im Knast, sagst du? Wir nehmen Roy Haynes. McCoy hat sich noch nicht blicken lassen? Wir spielen als Trio. (Einmal übernimmt Coltrane auf den Showboat-Aufnahmen sogar selbst das Klavier.)
Vermutlich hat jeder Leser und jede Leserin dieses Buchs seinen oder ihren »Lieblings-Coltrane«, genug Perioden stehen ja zur Auswahl. Für mich ist er am besten, wenn er das tut, was ein Zeitgenosse - war es Freddie Hubbard? -»blowin' past the money« nannte, wenn er seine Soli derart ausdehnt, dass sie jeder kommerziellen Vernunft spotten. Seine philosophische wie musikalische Verbundenheit mit der improvisierenden Avantgarde ist beeindruckend und berührend zugleich. Anfang der Sechzigerjahre bezahlte der technisch versierteste Saxophonist seiner Generation die Musikstunden von Ornette Coleman. Mit Eric Dolphy nahm er einen Musiker in seine Band auf, von dem Miles Davis, Coltranes ehemaliger Chef, gegenüber Down Beat behauptete, er spiele, als trete er sich selbst auf den Fuß. Er förderte Albert Ayler, Archie Shepp und Pharoah Sanders und verhalf ihnen zu Plattenverträgen bei Impulse! Records. In Interviews sang er Loblieder auf John Gilmore. Zeitweilig übernahm er sogar die Miete für Marion Browns Wohnung. Auf Ascension umgab er sich mit jüngeren Saxophonisten - Shepp, Sanders, Brown, John Tchicai. Der Jazz, geprägt von cutting contests und Territorialkämpfen, kann eine kleine Welt voller Engstirnigkeit und Eifersüchteleien sein, aber zu Coltranes Lebzeiten war er es nicht. Es dürfte schwerfallen, in der Geschichte dieser Musik einen Menschen von ähnlicher Großzügigkeit gegenüber den Protagonisten seines eigenen Instruments zu finden. Die heranstürmende Phalanx der »New Thing«-Saxophonisten sah er nicht als Bedrohung oder Konkurrenz, sondern als eine Bewegung, von der er lernen konnte.
Es gibt Maler, die im Laufe ihrer Entwicklung Technik irgendwann wie überflüssigen Ballast über Bord werfen. Picasso gehörte zu ihnen, Paul Klee ebenfalls. Für beide blieb Volkskunst immer eine Inspirationsquelle. Coltranes Fall ist ähnlich gelagert. Für ihn war klar, dass es Musik gibt, bei der es auf die Perfektionierung der Technik ankommt, und Musik, die unmittelbarer in Lebenserfahrung wurzelt. Hier spricht der Kopf, dort das Herz. Bereits sterbenskrank, wollte er auf der Seite des Lebens stehen, auf der Seite einer Sprache der Klänge, nicht der Noten, für die Albert Ayler so leidenschaftlich eintrat. Für Coltrane war es keine neue Sprache, aber eine, der er sich aus der Perspektive der Erfahrung neu nähern musste. Natürlich wies die Ekstase von Ascension nach vorne, in eine der Richtungen, in die sich der Jazz entwickeln sollte, aber sie führte auch zurück zur »schwarzen« Kirche, in der seine beiden Großväter gepredigt hatten. Und der Blues, elementarer Bestandteil von Coltranes Sound seit den ersten Auftritten mit Big Maybelle in den 1940 ern, schwang selbst in der Schlussmusik von Stellar Regions noch mit, nun zur Begleitung dahinziehender Planeten.
Welch unvergänglicher Einfluss. Wenn ich an Coltrane denke, erinnere ich mich auch an ein Gespräch mit dem Saxophonisten Charles Gayle vor zwanzig Jahren. Gayle, der sein Tenorsax in einen Flammenwerfer verwandeln konnte, hatte gerade die Luft in dem L-förmigen Raum der alten Münchner Unterfahrt mit einer reinigenden Stoßwelle guter alter Feuermusik zum Sieden gebracht. Wir sprachen über sein Album Touchin' on Trane, aufgenommen mit Coltranes letztem Schlagzeuger, Rashied Ali, der sich auch den Titel ausgedacht hatte. Gayle war das ein bisschen peinlich. »Ein Stück weit heranzukommen an das, was Trane ausmachte - mehr konntest du nicht erhoffen«, sagte er. »An Trane kommt keiner vorbei! Ain't no-one ever gone beyond John Coltrane.«
Karl Lippegaus' kluges Buch nähert sich auf seine eigene Art dem, was Trane ausmachte. Es untersucht die Entwicklung seines großartigen Sounds, den wechselnden kulturellen Kontext, in dem sie stattfand, und führt uns zurück zu einer Musik, von der wir immer noch viel lernen können, auf mehr als einer Ebene. ~ STEVE LAKE
Few ensembles have ever made such lasting music.~ STANLEY CROUCH
You know, that sound. That soul crying out with each note! ~ FRANK MORGAN
I wish I could walk up to my music as if for the first time, as if I had never heard it before. ~ JOHN COLTRANE
Jazz is only what you are. ~ LOUIS ARMSTRONG
When you go looking for what is lost, everything is a sign. ~ EUDORA WELTY
The main thing a musician would like to do is to give a picture to the listener of the many wonderful things he knows of and senses in the universe. ~ JOHN COLTRANE
Coltrane. What can I say?~ JACK BRUCE
DER SCHREI
Als ich die alte verkratzte LP Live at the Village Vanguard Again! noch mal auflegte, an jenem kühlen Frühlingsmorgen in einem Dorf in Südfrankreich, und sie bei offenem Fenster laut hörte, krakeelte der stolze Hahn des Nachbarn exakt in dem Moment, als Pharoah Sanders mit seinem Solo loslegte. Und ich schwöre: Der Hahn und dieses verrückte Saxophon kreischten um die Wette, dass man kaum noch unterscheiden konnte, was Tier und was Instrument war. Es fiel mir auf, wie gut die beiden zusammen klangen, und ich ging nach draußen, um diesem Höllenspektakel zu lauschen. Dann bekam ich Besuch und das Erste, was mein Gast tat, war, wortlos zum Plattenspieler zu rennen und die Musik auf minimale Lautstärke herunterzudrehen. Ich sagte nichts, aber als die Musik schwieg, hatte auch der Hahn ausgekräht und widmete sich wieder seinen drei Hühnern. Abends, endlich allein, legte ich die verstaubte Platte erneut auf, das knisternde Kaminfeuer wärmte mir den Rücken an diesem nasskalten Aprilabend in der Provence, die eigentliche Wärme jedoch strahlte dieses Solo von Pharoah Sanders ab, für das man Coltranes Band seinerzeit so attackiert hatte. Nach Pharoah, dem Enfant terrible, kommt Trane wieder ans Mikrofon, so konzentriert und motiviert, als hätte er die ganze Zeit innerlich weitergespielt. Mit noch kraftvolleren Gesten knüpft er an Sanders' Botschaft an und verwebt alles kunstvoll miteinander. Wieder ertönt »Naima«, das er für seine erste Liebe geschrieben hatte, jetzt variiert er den Song in alle Richtungen und Johns Horn hat jenen besonderen Klang, der entsteht, wenn einfach alles stimmt - das Blatt, das Mundstück, die perfekte Symbiose von Körper und Instrument. Rudy Van Gelder saß am Mischpult und fing das Ereignis ein: John Coltrane - live at The Village Vanguard, 28. Mai 1966. (Jeder Toningenieur weiß, dass es nicht die schönen Mikrofone, sondern erst mal die Musiker selbst sind, die einen solchen Sound hervorbringen.) Ein Jahr später, am 17. Juli 1967, einem Montag, stirbt John Coltrane um vier Uhr morgens, zwei Monate vor seinem 41. Geburtstag, im Huntington Hospital in New York City.
1. KAPITEL
BLAME IT ON MY YOUTH
John William Coltrane kam als einziges Kind von Alice Blair (1898 - 1977) und John R. Coltrane (1901 - 1939) am 23. September 1926 in Hamlet, North Carolina, zur Welt. Die Vorfahren seines Vaters waren Sklaven, die wie allgemein üblich den alten schottischen Namen ihres »Besitzers« Coltrane bekommen hatten. Noch heute leben mehr Coltranes in diesem US-Staat als in allen anderen zusammen und auch die Blairs sollen noch bis zu den Großeltern von Johns Mutter Sklaven gewesen sein. Alice war eine sehr religiöse Frau, nicht sehr gesprächig, groß und von dunklem Teint. Sie hatte sieben Geschwister, war eine ausgezeichnete Sängerin, zeigte lebhaftes Interesse an Oper und begleitete den Chor am Klavier, der bei den Gottesdiensten ihres Vaters Reverend William W. Blair sang. John erzählte: »Sie wäre gerne Konzertsängerin geworden. Aber ihr Vater war dagegen, dass junge Frauen vor ihrer Heirat das Elternhaus verlassen, also musste sie diesen Plan aufgeben« (DeVi, 37).
Um 1920 machten die Blairs Bekanntschaft mit den Coltranes, der Familie eines anderen Geistlichen der AME-(African Methodist Episcopal)-Zion-Kirche. Alice schloss Freundschaft mit John R. Coltrane, dessen Vater Pastor in Sanford, North Carolina, war, und 1925 heirateten die beiden. Ein Jahr später brachte Alice ihr einziges Kind zur Welt. Niemand aus seiner direkten Umgebung wäre auf den Gedanken gekommen, dass aus dem stillen und schüchternen Jungen einmal einer der großen Künstler des 20. Jahrhunderts würde. Der Vater hatte einen kleinen Schneiderladen, spielte nach Feierabend Ukulele und Violine und beide Eltern sangen viel. In jeder freien Minute griff sich »JR«, wie später sein Sohn John, irgendein Musikinstrument. Ein paar Monate nach der Geburt des Sohnes zogen die Coltranes mit der Blair-Familie von Hamlet, wo die Bürgersteige abrupt dort endeten, wo die Schwarzen lebten, ins nahe gelegene, größere High Point, das in den Zwanzigerjahren etwa 6000 Schwarze und 24 000 Weiße zählte. Dort wuchs ihr Kind in einer Familie auf, die weder wohlhabend noch in sehr ärmlichen Verhältnissen lebte. Die Schwarzen in High Point legten großen Wert auf Erziehung und waren sehr mit ihrem Glauben verbunden. Rassenkonflikte wie in den benachbarten Städten waren kaum bekannt. Trotzdem verlief eine deutliche Trennungslinie zwischen Schwarzen und Weißen, etwa in den öffentlichen Parks, wo die Brunnen für Afroamerikaner mit Colored (Farbige) markiert waren. Zeitweise lebten bei den Blairs acht Personen gemeinsam unter einem Dach. Alice und John liebten ihr Zuhause. Jeden Tag ging der kleine John mit seiner Mutter abends Hand in Hand in den Laden des Vaters, um ihm sein Abendessen zu bringen, und stundenlang hörten sie ihm danach zu, wenn er Countrysongs sang.
»Es fing damit an, dass ständig diese Musik um mich herum war. Wie jeder in diesem Land wächst du auf und hörst dauernd diese Musik und sie ist ein Teil von dir, vom Babyalter an, weil sie jeden Tag anders gespielt wird. Erst war es zufällig etwas, das mir gefiel. Bis mir klar wurde, dass ich etwas in mir hatte, das mich dazu befähigte, weißt du. Dann kams an den Punkt, wo ich mich fragte: ›Was bedeutet das? ‹ Sollte ich mich wirklich da hineinvertiefen und zeigen, was ich ehrlich empfinde? Es hat alles damit zu tun, wie ich Musik verstehe und was sie mir bedeutet. Sie ist meine einzige Ausdrucksform. Ich sage kaum meine Meinung zu anderen Dingen, meist stecke ich zu tief da drin. Zerbreche mir über nichts groß den Kopf, so bin ich eben, außer über Musik -und manchmal schwanke ich auch dabei. Musikalisch habe ich jedoch was zu sagen und werde es auch auf die Reihe kriegen und rauskommen und es tun. Ich weiß nicht, aber eines Tages werde ich die Antwort haben.«
Vor der Schulklasse stellte der stille, nachdenkliche Junge dem Lehrer gerne Fragen über Gott. Und sonntags in der Kirche erlebte er den Großvater vor der Gemeinde. Reverend Blair war zwar kein shouter wie die Baptistenprediger, doch sozial und politisch engagiert, »ziemlich radikal«. Vom Großvater mag John seine Passion für Bücher, vor allem über afroamerikanische Geschichte und Religion, geerbt haben. Viel Zeit verbrachte er mit seiner geliebten Cousine Mary, einem lebhaften Mädchen, das für ihn wie eine Schwester war; das berühmte Stück »Cousin Mary«, eine seiner schönsten Kompositionen, ist ihr gewidmet. Der Schüler zeigte früh eine überdurchschnittliche Begabung und als Zwölfjähriger bekam er eine Klarinette aus dem Pfandhaus geschenkt. 1939 gab es eine Band an der Schule, John wurde ihr Klarinettist und spielte auch Althorn. Schulfreunde berichteten, er habe Tag und Nacht geübt; es war ein vertrauter Klang, der vom Schulhof durch die geöffneten Fenster der Klassenzimmer drang: Aha, das ist John!
Dann wurde die relative Idylle in der Familie durch eine Serie von Todesfällen erschüttert. Eine Schwester seiner Mutter starb, wenige Monate nach ihr sein Großvater Reverend Blair und nur drei Wochen später erlag Johns Vater mit nur 38 Jahren einer Krebserkrankung. Das harmonische Band um die Großfamilie war plötzlich gerissen. John litt schwer unter den Verlusten und fiel in eine tiefe Krise. »Mein Vater starb, als ich um die zwölf Jahre alt war. Meine Mutter opferte sich sehr dafür auf, dass ich Musikunterricht bekam. Sie hat nie wieder geheiratet. Ich ging durch eine depressive Phase und hätte fast aufgegeben. Ich danke Gott, dass er mir die Kraft gab, mich da wieder herauszuziehen« (DeVi, 45 f.).
Alice sah sich gezwungen, Untermieter ins Haus zu nehmen, was der Junge nur schwer ertrug. Mit seinen schulischen Leistungen ging es rapide bergab; währenddessen vertiefte er sich mehr und mehr in die Musik. »Für eine Weile schien es so, als habe er nichts als sein Instrument«, erzählte ein Freund -eine Beobachtung, die sich geradezu leitmotivisch durch die gesamte Literatur über John Coltrane zieht. Sein intimes Verhältnis zur Musik - genauer zu einem Blasinstrument, das wie die Verlängerung der eigenen Stimme ist - blieb zeitlebens prägend.
Sie erinnerte sich noch, dass sie mit dem schweren John auf dem Arm die Treppe hinaufgestiegen war und beim Eintreten von irgendwoher Musik gehört hatte, die sofort leiser wurde, als Florence die Tür hinter ihr zumachte. Auch John hatte die Musik gehört und er fing an zu zappeln, fuhr mit den Händen in der Luft herum und stieß Laute aus, die wohl ein Lied sein sollten. »Ich merk schon, du bist ein richtiger Nigger«, dachte sie amüsiert, aber auch gereizt -denn es war ein Grammophon, das in einem der unteren Stockwerke spielte, und es erfüllte das ganze Haus mit den getragenen, klagenden Tönen eines langsamen Blues.
Aus dem fernen Grammophon drang dann ein monotoner, durchdringender, klagender, quälender Trompetenton; dieser unartikulierte, hässliche Laut füllte für einen Augenblick das ganze Zimmer. Sie sah auf John hinunter. Irgendeine Hand stieß gegen den Arm des Grammophons und die Stahlnadel setzte ihre Reise durch den Reigen der schwarzen Rillen fort, wie ein Stück schlingerndes Treibgut auf dem Meer. ~ JAMES BALDWIN (GEHE HIN UND VERKÜNDE ES VOM BERGE, 227 F./9)
Im Herbst 1940 tauschte John seine Klarinette gegen ein gebrauchtes Saxophon ein, ein Altsaxophon, obwohl er zu der Zeit besonders den Tenorsaxophonisten Lester Young bewunderte. Er abonnierte das Jazzmagazin Down Beat, das damals kaum über schwarze Musiker berichtete und »echten« Jazz vor allem als weiße Errungenschaft darstellte. »Weiße Bands dominierten die Leserpolls, obwohl Schwarze die Musik erschaffen hatten. Ein unbedeutendes Akkordeonduo bekam mehr Aufmerksamkeit als die wichtigen Experimente der schwarzen Bands von Kansas City«, schrieb der Coltrane-Biograf C. O. Simpkins (Simp, 12).
John gehörte zur selben Generation wie Dr. Martin Luther King, der schon als 17-Jähriger seine Stimme als Prediger erhob. Dem unzertrennlichen Kinderpaar John und Mary war die Rassentrennung ständig vor Augen, dafür brauchten sie nur auf die abgegriffenen Schulbücher und ihre Sportkleidung aus zweiter Hand zu schauen. Die Diskriminierung der Afroamerikaner zog sich wie eine tiefe Wunde durch sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens, die noch bis 1964 wirksamen Jim-Crow-Gesetze zur Rassentrennung betrafen das Schulsystem und die Trennung nach Hautfarben nicht nur in öffentlichen Bussen, sondern auch auf Bahnhöfen, in Bars und Restaurants, in Aufzügen und Toiletten. Der Trompeter Roy Eldridge, einer der ersten Afroamerikaner, die in weißen Bands spielten, war so angewidert von der ständigen Repression, dass er die Flucht ergriff und eine Zeit lang in Europa mit Hauptwohnsitz in Paris lebte. »Europa war wie frische Luft für uns«, sagte der Schlagzeuger Max Roach. Durch eine Reform »von oben« wurde Druck auf die Südstaaten ausgeübt, die seit Rosa Parks' legendärem »Montgomery Bus Boycott« Stück für Stück aufgehobene Segregation zu beseitigen. In den Südstaaten blieb sie jedoch bis weit in die Sechzigerjahre virulent und Afroamerikaner wurden weiter wie Bürger zweiter Klasse behandelt - auch wenn den schwarzen Bewohnern von High Point die schlimmsten Repressionen erspart blieben. Noch als international gefragter Künstler spielte John höchst ungern im Süden, weil es zu viele unangenehme Erinnerungen in ihm wachrief. Und nie wieder kehrt er in seinem späteren Leben nach High Point zurück.
In seiner Kindheit hatten die Wärme und Solidarität innerhalb der Community einen lebenswichtigen Schutz geboten, der ihn die plötzliche Armut psychisch ertragen ließ, in die die Familie abgeglitten war. Seine Mutter Alice ging wie viele aus dem Süden nordwärts und fand in Philadelphia Arbeit. Als er die Highschool beendet hatte, schrieb er seiner Mutter auf einer der seltenen Postkarten an sie: »Ich wünschte, ihr würdet alle wieder nach Hause kommen. Ich vermisse euch.« Nach der Highschool, kurz vor seinem 17. Geburtstag, zog John 1943 zu Alice nach Philly, Pennsylvania, wo er in der Campbell Soup Factory jobbte. An der Granoff School of Music, wo Coltrane 1944 Saxophonunterricht erhielt, wurde man auf sein Talent aufmerksam und förderte ihn; er galt als brillant und sehr sensibel, war bei den Mitschülern beliebt und verbrachte oft zehn, zwölf Stunden täglich dort. 1958 erzählte Trane während eines Dinners in Baltimore, ohne zu wissen, dass sein Freund August Blume das Gespräch aufzeichnete: »Um diese Zeit brach ich mit vielen Dingen. Ich stellte unter anderem auch infrage, was man in der Religion findet. Ich begann zu zweifeln. Als ich 22, 23 war, kam dieses Muslimding auf. Ich geriet damit in Kontakt. Und irgendwie hat mich das erschüttert. Viele meiner Freunde wurden Muslime. Ich dachte darüber nach und es führte mich zu etwas, über das ich mir noch nie richtig bewusst geworden war - weißt du, eine andere Religion. Das beschäftigte mich. Aber ich habe nie was daraus gemacht. Ich dachte nur nach. Damals war ich zu sehr mit anderen Dingen befasst und habs erst mal wieder vergessen« (DeVi, 12).
Sein Leben lang fühlte Trane sich besonders den Leuten verbunden, die aus North Carolina und aus Philadelphia stammten: Naima (seiner ersten Frau), Thelonious Monk, Jimmy Heath, McCoy Tyner und Dizzy Gillespie. In der »Stadt der brüderlichen Liebe«, die für ihn bereits eine nördliche war, nur i50 Kilometer südwestlich von New York, bekam er das Gefühl, endlich freier atmen zu können, und immer wieder holte er Musiker von dort in seine Band.
2. KAPITEL
LEARNING THE GAME
So much soul, yeah. A whole lotta soul.~ COLTRANE ÜBER JOHNNY HODGES
Practicing is like praying. You don't just pray one day a week. ~ MILES DAVIS
Junge Menschen aller Hautfarben amüsierten sich in den Nightclubs, wo Louis Jordan und Lionel Hampton den altmodischen Swing in härteren Rhythm and Blues verwandelten. Erleichterung über das Ende des Zweiten Weltkriegs schwang darin mit. Bebop hieß ein anspruchsvoller neuer Jazzstil, ein seltsamer Name für die raffinierte, betont solistische Kunst der Improvisation, deren Ikonen »Bird« (Charlie Parker) und »Diz« (Dizzy Gillespie) waren. Die »heilige Dreifaltigkeit«, so der Schlagzeuger Max Roach, komplettierte der als »Hohepriester des Bop« bekannte Pianist Thelonious Monk, der Hauspianist in Min-ton's Playhouse in New York war und in Coltranes Leben eine zentrale Rolle spielen sollte. »Es lag so viel Schönheit in dieser Musik«, erinnerte sich John an die Anfänge jener musikalischen Revolution, deren Signale er von Philadelphia aus vernahm. Schon seit 1940 soll er einige der großartigsten Bigbands live erlebt haben, das Orchester von Jimmy Lunceford sowie Count Basies Band mit dem charismat ischen Saxophonisten Lester Young. Und Duke Ellington, bei dem Coltranes Idol Johnny Hodges als Starsolist am Altsaxophon agierte. Es heißt, er habe zu Hause vor dem Spiegel gestanden, auf Fotos von Hodges geschaut und versucht, seine Körperhaltung mit dem Horn derjenigen Hodges' anzupassen. John wählte wie »Rabbit« später - vielleicht um Hodges noch näher zu rücken - das Sopransaxophon als Zweitinstrument.
1940 veröffentlicht Richard Wright seinen Roman Native Son, eines der wichtigsten Werke der afroamerikanischen Literatur ~ Im Sommer 1941 kündigt A. Philip Randolph die Marsch-auf-Washington-Bewegung an, um Präsident Roosevelt zu einer fairen Behandlung schwarzer Bürger zu zwingen ~ Im Dezember greifen die USA in den Zweiten Weltkrieg ein ~ Im Juni 1943 brechen Rassenunruhen in Detroit aus, bei denen 9 Weiße und 25 Schwarze sterben. Kurz darauf kommt es auch in Harlem zu Protesten, bei denen 6 Afroamerikaner sterben und 185 Menschen verletzt werden ~ Im selben Jahr feiern schwarze Künstler Erfolge im all black cast von Vincente Minnellis Musical Cabin in the Sky mit einem Auftritt von Duke Ellington ~
1944, als Coltrane an der Granoff School Saxophon lernte, spielte der nur vier Monate ältere Trompeter Miles Davis bereits in der Band von Billy Eckstine mit Charlie Parker. Unermüdlich versuchte John, den souligen Ton von Johnny Hodges in »On the Sunny Side of the Street« zu treffen. Populäre Balladen wie »Ev'ry Time We Say Goodbye«, »I Want to Talk About You« und »Like Some-one in Love« lagen damals förmlich in der Luft. Solche »erinnerten« Melodien wurden Teil seiner »tönenden Autobiografie«. Für immer erinnerte er sich an diese Songs, die er irgendwo aufschnappte, um sie Jahre später auf berühmten Alben wie Ballads oder mit dem Sänger Johnny Hartman zu »reaktivieren«.
3. KAPITEL
BIRD
Vergessene Namen kamen mir in den Sinn, wie vergessene Teile eines Traumes. Ich bewegte mich mit der Menge, war wie in Schweiß gebadet, lauschte auf den mahlenden Lärm des Verkehrs, das anschwellende Plärren aus dem Lautsprecher eines Plattenladens, wo ein schwermütiger Blues gespielt wurde. Ich blieb stehen. War das alles, was Geschichte wurde? War das die einzig wahre Geschichte der Zeit, die Stimmung, die von Trompeten, Posaunen, Saxophonen und Trommeln geplärrt wurde, ein Lied mit schwülstigen, unpassenden Worten? Mein Geist arbeitete nicht mehr genau. (...) Niemand sah mich an. Ich ging einher in fieberhafter Einsamkeit.~ RALPH ELLISON (DER UNSICHTBARE MANN)
Die Rassentrennung zog sich auch durch die meisten Jazzbands in Philadelphia, als John Coltrane sich dort zu etablieren versuchte. Für die Bigbands, in denen junge Spieler Erfahrungen sammeln konnten, wurde das Überleben nach dem Abflauen der Swing-Ära immer schwerer. Man traf sich zu Jamsessions in kleineren Formationen. 1945 schloss Coltrane mit dem zwei Jahre jüngeren Saxophonisten Benny Golson Freundschaft fürs Leben. Das gemeinsame Schlüsselerlebnis hatten sie am 5. Juni 1945 in der Academy of Music, als sie das Quintett von Dizzy Gillespie mit Charlie Parker erlebten. Sie waren völlig überwältigt von Yardbird und ihnen wurde bewusst, dass sie ihre theoretischen Kenntnisse drastisch erweitern und ihr Übungspensum gnadenlos hochschrauben mussten. Zwei Monate nach dieser ersten Begegnung mit dem Genie des Bebop wurde John - der Weltkrieg in Europa war vorüber, doch die USA standen noch im Krieg mit Japan - für ein Jahr zum Militärdienst bei der US-Marine eingezogen und spielte eine Zeit lang Altsaxophon in einer Navyband in Honolulu. »Ich war in Übersee, aber wir hörten immer noch Birds Platten und ich kopierte wie verrückt seine Soli, um zu sehen, was er machte« (Port, 44). Mit den Melody Masters entstanden die ersten Plattenaufnahmen des 19-Jährigen. Am 13. Juli 1946 nahmen sie in Oahu, Hawaii, acht Stücke auf, davon die Hälfte aus Parkers Repertoire, außerdem »Hot House« von Tadd Dameron. Auf verschlungenen Wegen gelangten diese Aufnahmen zu Miles Davis, der sich verblüfft zeigte über Coltranes Können. Lewis Porter schrieb über diese privaten »Testplatten«: »Er spielt in jedem Stück ein Solo, diese neue Hörerfahrung verändert unsere Sicht auf seine Entwicklung. Er war nicht, wie man hätte meinen können, ein großes Talent, das lange Zeit darauf warten musste, um endlich entdeckt zu werden. Vielmehr trat er offensichtlich nicht mit einem außergewöhnlichen Talent an und das macht seinen Fall umso interessanter: Jemand kann einer der großen Musiker aller Zeiten werden und muss dennoch nicht verheißungsvoll starten. Diese Aufnahmen enthüllen, dass der Prozess der Entwicklung und Erziehung für Leute mit besonderem Talent - Genies, wenn man so will - der gleiche ist wie für alle anderen. Auch sie tauschen sich mit Freunden und Kollegen aus und entwickeln erst allmählich ihre eigenen Ideen. Coltrane war kein isoliertes Genie mit Geistesblitzen der Inspiration wie in einem Hollywoodfilm, sondern ein normaler Mensch, der in einen inspirierten Kreis von Musikern hineinwuchs und darin groß wurde« (Port, 44).
Am 14. August 1945 endete der Zweite Weltkrieg nach dem Abwurf von Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Im August 1946 wurde John, von seinen Freunden offenbar damals schon Trane genannt, aus der Armee entlassen. Die Melody Masters, eine Band aus schwarzen und weißen Musikern, lösten sich auf. Sofort kehrte Coltrane nach Philadelphia zurück mit dem festen Vorsatz, Profimusiker zu werden. In Gedanken spielte er bereits mit gewagten neuen Ideen, wenngleich seine Finger sie noch nicht umsetzen konnten, jedenfalls nicht so rasch, wie sie ihm durch den Kopf schossen. Er nahm sein Studium wieder auf und absorbierte Musiktheorie, Harmonielehre, Gehörbildung und Tonleitern. Er übte Violinetüden auf dem Saxophon und lernte besser vom Blatt zu spielen, grübelte über eigenen Stücken, die er seinen Lehrern zur Diskussion vorlegte. Um die Nachbarn nicht zu stören, probte er nachts ohne ins Saxophon zu blasen, nur die Hände bewegend.
Am 7. Dezember 1947 sollte sich für Coltrane noch einmal die Gelegenheit ergeben, den legendären Bird aus nächster Nähe bei seinen Höhenflügen zu erleben. Von jenem Abend existiert ein Foto, das Coltrane zeigt, wie er direkt hinter Parker sitzend mit offenem Mund gebannt dessen Spiel verfolgt. Dabei vergisst er sogar die Zigarette, die ihm fast die Hand verbrennt. Trane ist zu der Zeit Altsaxophonist in der Bigband seines Freundes Jimmy Heath, von der leider keine Plattenaufnahmen existieren. Im Oktober 1948 soll er mit Jimmys Band nach New York gefahren sein, für ein Konzert vor dem äußerst kritischen und gefürchteten Publikum im Apollo-Theater an Harlems 125. Straße. »Ab und zu konnte ich ein Solo bringen und ich muss sagen, die Publikumsreaktion war begeistert, wenn wir sehr modern spielten« (Port, 61).
Ein Problem, das ihn schon damals und noch viele Jahre ständig begleitete, waren die starken Zahnschmerzen, unter denen er litt, vermutlich bedingt durch Kettenrauchen und einen lebenslangen Heißhunger auf Süßigkeiten. Die für einen Saxophonisten besonders fatalen Schmerzen versuchte er zuerst mit viel Alkohol und ab 1948 durch Heroin zu lindern. Zudem war er nikotinsüchtig mit einem Tageskonsum von zwei Päckchen und mehr. Drogen und Alkohol konnte er später abschwören, die Sucht nach Tabak wurde er nie mehr los. Schon auf frühen Fotos sieht man, dass er immer etwas im Mund haben musste: Wenn es nicht das Saxophon war, dann Zigaretten oder - besonders deutlich auf den Covern der Impulse/-Alben zu sehen - Zigarren, Zigarillos oder auch mal eine Meerschaumpfeife. Der destruktive Lebensstil Charlie Parkers, dessen Kerze an beiden Enden brannte, färbte auf viele ihn verehrende junge Jazzmusiker ab. Jimmy Heath vermutet, John habe beim endlosen Üben mit dem Heroin seine innere Konzentration steigern wollen, den mörderischen Trainingsrhythmus bis zur Erschöpfung ständig höherschraubend.
Als Trane erfuhr, dass Bird den »Feuervogel« und »Le Sacre du Printemps« sehr schätzte, vertieften er und sein Freund Jimmy sich in die Partituren Strawins-kys. Danach meinte Coltrane, in Strawinsky den universellen Musiker schlechthin gefunden zu haben. Stundenlang schlug er sich mit komplizierten musikalischen Fragen herum und quälte sich durch Transkriptionen der Soli Birds. Dafür wechselte er erst einmal nur für sich vom Altsaxophon zum Tenor. Beim Üben blies er die Melodien und sogar komplette Soli durch sämtliche Tonarten und spielte direkt gegen die Wand, um den eigenen Sound besser kontrollieren zu können. Auf engem Raum lebte er mit Alice, Mary und Tante Betty, in einer Ecke stand sein karges Bett, daneben ein Plattenspieler und an der Wand ein einziges Foto von Charlie Parker. Jimmy Heath beschrieb, wie der etwa 90 Kilo schwere Trane mitten im Sommer zu Hause in seinen Boxershorts schweißüberströmt - Klimaanlagen gab es nicht - abwechselnd Saxophon blies, rauchte und grübelte. Seine langen Finger schienen wie geschaffen für das Tenorhorn, das sie ständig umschlossen, allzeit bereit, eine eben ersonnene Idee augenblicklich umzusetzen. John vergötterte Parker, versuchte jedoch nicht seine Klischees nachzuahmen, sondern feilte an einem eigenen Stil aus vielerlei Einflüssen.
1947 wird Jackie Robinson der erste schwarze Sportler, der in der US-Baseball-Oberliga bei den Brooklyn Dodgers spielt ~ Der US-Präsident Harry Truman ordnet 1948 an, die Rassentrennung in der amerikanischen Armee aufzuheben ~ Im Prozess Shelly gegen Kramer erklärt das Oberste Gericht des Landes rassisch restriktive Mietabkommen für verfassungswidrig ~
4. KAPITEL
DRIFTIN'
Im Winter 1948 trat John Coltrane als Altsaxophonist der R 'n' B-Band von Eddie »Cleanhead« Vinson bei. Biografien von Jazzmusikern erwecken oft den Eindruck, als hätten diese Leute ihr ganzes Leben lang nur Jazz gespielt, doch viele mussten ihren Lebensunterhalt zunächst mit populärer Musik verdienen. Die Fünfzigerjahre in den USA waren keine glorreiche Dekade für den Jazz. Ornette Coleman erzählte, er habe das Wort Jazz erstmals gehört, als er vom Süden nach Los Angeles umgezogen sei. Vor dem Siegeszug des Rock 'n' Roll war der Rhythm 'n' Blues der populärste Stil, die Jobs in den Bands wurden relativ gut bezahlt, und der raue R 'n' B-Sound dominierte die schwarze Clubszene. Auch Musiker wie der Vibraphonist Milt Jackson und der Trompeter Clifford Brown waren in dieser Szene aktiv: R 'n' B, Blues, Jazz, Mambo und Calypso: Ein buntes Potpourri an Stilen und Genres hatten die Bands auf Lager, ständig im ganzen Land auf Tour. Das war das Umfeld, aus dem Coltrane kam. Mit Eddie »Cleanhead« Vinson legte er oft weite Strecken von einem Gig zum anderen zurück und trat im Süden vor allem auf großen Partys auf, oft in umfunktionierten Lagerhäusern. Die Band des Glatzkopfs lieferte dem tanzenden Volk, wonach es am Wochenende verlangte. Irgendwann gab es immer Zoff und Eifersuchtsdramen waren an der Tagesordnung, Klappmesser blitzten auf und Blut floss. Eddie war ein Entertainer par excellence, ein guter Sänger und passabler Saxophonist. Er sprach selbst reichlich dem billigen Fusel zu und wusste stets, wonach seine Klientel verlangte. Ab und zu ließ er einen Set mit einem Stück aus dem Repertoire Charlie Parkers ausklingen. In der Band lernte Trane auch, wie man am Saxophon Sänger begleitet. Neben ihm stand ein gewisser William »Red« Garland auf seiner Gehaltliste, ein Exprofiboxer und Klavierspieler, mit dem Coltrane später im ersten Miles-Davis-Quintett arbeitete und bei vielen Prestige-Sessions in den Jahren 1957 - 58.
In seiner Zeit bei Vinson verlegte John sich bald ganz aufs Tenorsaxophon. Bei einem ihrer Auftritte hatte Eddie nach einem enttäuschenden Solo seines Tenoristen den jungen Altisten gedrängt, sich dessen Horn zu schnappen und rasch ein Solo zu spielen: »Pick up the horn, pick up the horn, man ! « Das Resultat klang noch sehr nach anderen Tenoristen, aber das Publikum war begeistert und die Feuertaufe bestanden. »Auf dem Alt stand ich völlig unter dem Einfluss Birds«, sagte Coltrane, »aber beim Tenor gab es keinen, dessen Ideen so dominant waren wie die Charlie Parkers auf dem Alt; darum setzte ich mich in dieser Periode mit allen Tenoristen, die ich hörte, auseinander - besonders mit Lester Young und seiner melodischen Phrasierung. Erst danach stieß ich auf Coleman Hawkins und war fasziniert von seinen Arpeggios. Ich besorgte mir seine Platte ›Body and Soul‹ und befasste mich sehr intensiv damit« (Thom, 40/9).
»Vieles in diesem Spiel«, schrieb der Kritiker Robert Palmer, »wurde als neu begriffen, nachdem Coltrane es in einen neuen Kontext verlagerte: das Horn überblasend, um einen verzerrten Ton zu erzeugen, auf das Blatt beißend, um schrille Quietscher zu erzielen, lange Soli spielend, heißer und heißer, bis das Ganze an Hysterie grenzte - das kam alles direkt aus der R 'n' B-SaxophonTradition« (Kahn/Sup, 13). Durch den coole Linien malenden Lester Young und Coleman Hawkins, genannt Prez, den Übervater am Tenor, und natürlich durch Bird wurde der moderne Jazz eine Saxophonmusik. John lernte von jedem Tenorgiganten, sogar von weniger bekannten Größen wie Jimmy Oliver, der eine Platte machte und zeitlebens in Philadelphia blieb. An Hawk schätzte John dessen stilistische Offenheit und Modernität, die unbegleiteten Soli, wie etwa das epochale »Picasso«, und sein ›vertikales Denken‹, das Wissen über Harmonik, das Prez fehlte. Coltrane wurde oft vorgeworfen, er spiele zu lange Soli - aber hatten nicht bereits Coleman Hawkins, Lester Young und Roy Eldridge in den Afterhours-Clubs bis zu anderthalb Stunden über ein einziges Thema improvisiert? Als Hawkins in den Dreißigerjahren fünf Jahre in Europa gelebt hatte, war er viel in Paris aufgetreten. Django Reinhardt und sein Geiger Stephane Grappelli hatten erlebt, wie er durch ein 45-minütiges Solo über »Sweet Sue« segelte, ohne sich zu wiederholen. John hörte den sagenumwobenen Pianisten Art Tatum (»God is in the house«, raunten sich die Fans zu, wenn Tatum einen Club betrat) eines Nachts zufällig in Cleveland und erzählte danach, er habe noch nie so viel Musik auf einmal erlebt.
Nach Hawkins' Arpeggios, einer direkten Inspiration für seine berühmten sheets of sound, wurde Trane neugierig auf Dexter Gordon und Wardell Gray, die sich heftige Tenor-Battles lieferten. Irgendwann landete er bei Sonny Stitt, von vielen als bloßer Parker-Epigone abgetan. »Sonnys Spiel klang nach dem, das ich anstrebte. Er bewegte sich irgendwo zwischen Dexter und Wardell, wie aus beiden entsprungen. Die ganze Zeit hatte ich nach etwas Bestimmtem gesucht und dann hörte ich Sonny Stitt und sagte mir: ›Verdammt! Da ist es doch! Ja, das ist das Ding!‹« (Port, 72).
5. KAPITEL
DIZZY ATMOSPHERE
Im Januar und April 1949 war Miles Davis mit seinem revolutionären neuen Nonett im Studio und spielte für Capitol Kompositionen und Arrangements von Gil Evans, John Lewis und Gerry Mulligan ein. In mehreren Etappen entstand so das epochale Birth of the Cool-Material. Obwohl sich Stücke wie »Move« und »Boplicity« nur schlecht verkauften, übte die neue Musik großen Einfluss auf den sogenannten Cool oder West-Coast-Jazz aus. Der charismatische Trompeter wurde zum Wegbereiter des neuen Trends, den er später vehement kritisierte und dem er den raueren, stärker bluesbeeinflussten Hardbop entgegensetzte. Im Mai trat er mit dem Pianisten Tadd Dameron beim Paris International Jazz Festival auf, wo er der bildschönen Sängerin Juliette Greco und dem Philosophen Jean-Paul Sartre begegnete. Mit Juliette begann eine Liebesaffäre, die viele Jahre anhielt. In New York holte Miles die Realität eines Lebens als afroamerikanischer Künstler jedoch bald wieder ein; er fand kaum Jobs und geriet ans Heroin, als die Mafia die Ghettos mit billigen Drogen regelrecht überschwemmte. In Peekskill, New York, kam es zu Rassenunruhen, als der afroamerikanische Sänger Paul Robeson ein Konzert geben wollte - zuvor hatte er öffentlich erklärt, er halte es für undenkbar, dass Schwarze sich an einem Krieg gegen die Sowjetunion beteiligten.
Für Coltrane, der noch 1948 in der Band von Jimmy Heath aktiv war, wurde im September 1949 ein Wunschtraum wahr, als er für achtzehn Monate in Dizzy Gillespies Band spielen konnte. In dem neuen Job musste er allerdings wieder aufs Altsaxophon zurückgreifen, die erste Stimme im Saxophonsatz übernehmen und er durfte kaum ein Solo spielen. Dizzy kämpfte zu jener Zeit hartnäckig ums Überleben seiner grandiosen Bigband, deren Repertoire mit seinen stark kubanischen Einflüssen er allmählich auf ein deutlich kommerzielleres Niveau brachte. Der Bebop war eigentlich eine Musik für kleine Combos, Dizzys Schritt zur Bigband galt als mutige Pioniertat. Unglaublich - wie Diz seine Bigband dirigierte, indem er vor ihr tanzte! Um ein neues Publikum zu erreichen, hatte er den etwas albernen Sänger Joe Carroll engagiert. »'Round Midnight« und »A Night in Tunisia«, die Trane besonders mochte, blieben ein zentraler Teil des Repertoires und Gillespie erstaunte alle mit seinen Schnellfeuerattacken auf der Trompete, aber die seichtere Latinmusic und der Scat-gesang von Joe Carroll wirkten flach. Und Trane musste hart ran, viel vom Blatt spielen, was ihn auf die Dauer frustrierte.
Für seine Marathonübungen am Saxophon griff er zu den bei Klavierschülern verhassten Etüden Hanons und denen aus Carl Czernys (Horror-)-»Schule der Geläufigkeit«, und bis an die Grenzen des Spielbaren jagte er sein Horn stundenlang durch sämtliche Dur- und Mollskalen. Am 21. November 1949 fand eine Plattensession für Capitol in New York statt; auch mit dem Sänger Billy Valentine entstanden nach drei Jahren Funkstille einige obskure Platten. Das Ende des vermeintlichen Traumjobs bei Dizzy nahte, als dieser sich im Juni 1950 wegen finanzieller Probleme gezwungen sah, seinen Traum eines Orchesters für die nächsten Jahre zu begraben. Zwei Monate später war Diz auf Tour mit einer auf Combogröße geschrumpften Truppe, zu der John Coltrane und Jimmy Heath gehörten. Beide waren stark vom Heroin abhängig, ohne dass ihr Bandleader davon wusste; nahm Trane mal keinen Stoff, soff er wahllos Wein und Bier durcheinander und aß viel süßes Zeug, das seine ohnehin schlechten Zähne ruinierte (vielleicht sieht man ihn deshalb auf Fotos so selten lächeln?). Sein destruktiver Lebensstil kostete Trane fast die Karriere, bevor sie richtig begonnen hatte. Gillespie dämmerte irgendwann, was bei John und Jimmy ablief. Von seinen Mitspielern erwartete er die gleiche volle Leistung, die er sich selbst Abend für Abend abverlangte, doch Ende des Jahres brach diese Formation auseinander. Auf der Coltrane-Anthologie The Last Giant ist das Gillespie-Sextett mit John in »Good Groove« aus dem Birdland zu hören; zwar hat Tranes Tenorsolo in diesem Stück noch nicht seinen unverwechselbaren Sound, hebt sich aber bereits deutlich von den anderen spärlichen frühen Aufnahmen ab. Wie ein Schwarzweißfoto aus dem Entwicklerbad tritt hier erstmals, gleichsam aus dem Halbdunkel der Zeiten, der magische Coltrane-Sound hervor - eine Musik, »die man nicht bloß zur Kenntnis nehmen, sondern mit der man Zeit verbringen wollte«, wie Ben Ratliff schreibt.
1950 überfällt Nordkorea den Süden des Landes, was eine Intervention von US-Truppen zur Folge hat, bei der zum ersten Mal schwarze und weiße US-Soldaten nach der offiziellen Aufhebung der Rassentrennung in der US-Armee gleichberechtigt kämpfen ~ Der schwarze Schauspieler Sidney Poitier hat seinen Durchbruch in dem Film No Way Out unter der Regie von Joseph Mankie-wicz ~ Die afroamerikanische Lyrikerin Gwendolyn Brooks erhält den Pulitzer-Preis für ihren Gedichtband Annie Allen ~ Der Diplomat und Bürgerrechtler Ralph Bunche erhält als erster farbiger US-Bürger den Friedensnobelpreis ~
1951 gewinnt Miles Davis' Box-Idol Sugar Ray Robinson den Mittelgewichtstitel, worauf das Time-Magazin ihm eine Titelstory widmet ~
Bereits 1948 sollen sich Tranes und Miles' Wege nach einem Konzert von Charlie Parker kurz gekreuzt haben. Während eines letzten gemeinsamen Gastspiels mit Dizzy Gillespie im Birdland im Januar 1951, von einem Radiosender für die Nachwelt dokumentiert, schloss Trane Freundschaft mit Sonny Rollins, der für kurze Zeit im neuen Quintett von Miles Davis aktiv war. Im selben Monat war Sonny mit Miles im Studio, der sich damals infolge seiner Heroinsucht am Tiefpunkt seiner Karriere befand.
Was die Anfänge seiner Plattenkarriere betrifft, war Trane alles andere als ein Senkrechtstarter, sondern mehr ein late bloomer, ein Spätentwickler, der aus einem Kreis von vermutlich ebenso begabten Leuten heraustrat durch eine immense geistige Anstrengung sowie ein selbst auferlegtes, wahnwitziges Trainingspensum. Angefangen mit Louis Armstrong, Jahrgang 1901, waren alle großen Jazzmusiker ständig bemüht, das Ausdrucksspektrum auf ihren Instrumenten zu erweitern und die Grenzen des Spielbaren zu transzendieren; durch eigenes Erfinden und Experimentieren fanden sie Sounds, die in keinem Lehrbuch standen und nirgendwo gelehrt wurden. Das bahnte sich jetzt auch bei Coltrane an. Sein Job bei Dizzy Gillespie hatte aus ihm jedoch noch keinen gefeierten Newcomer gemacht. Dem französischen Journalisten Francois Postif machte er dieses Geständnis: »Ich blieb lange im Verborgenen, weil ich einfach spielte, was andere von mir erwarteten, ohne zu versuchen, dem etwas Originelles hinzuzufügen. Ich erlebte mit, wie so viele Kerle aus der Band gefeuert wurden, weil sie innovativ sein wollten, dass mich das etwas entmutigte, ihnen nachzueifern!« (Port, 88).
1952 veröffentlicht Ralph Ellison seinen epochalen Roman Invisible Man, eines der größten Werke der afroamerikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, für das er den National Book Award erhält ~ Chester Himes publiziert Cast the First Stone, einen Roman über eine Haftanstalt ~
Die nächste Etappe nach Dizzy Gillespie markierte ein kurzes Gastspiel in der R 'n' B-Band von Earl Bostic. Über diesen Saxophonisten und Entertainer sagte der Schlagzeuger Art Blakey: »Als Coltrane bei Bostic gespielt hat, lernte er eine ganze Menge von ihm, denn technisch gesehen wusste niemand so viel über das Saxophon wie Bostic, nicht mal Bird. Earl konnte dir von jedem Modell die Vorzüge und Nachteile aufzählen. Mit ihm zu arbeiten war, als besuche man eine Saxophonuniversität« (Thom, 52/5).
Im April 1952 begann Coltranes sechs- oder siebenmonatiges Engagement bei Bostic. Ihm fiel auf, welch fleißiger Arbeiter und guter Techniker sein neuer Boss war, wie geschickt er sich weit hinauf ins hohe Register seines Horns hocharbeiten konnte. Nach dem Engagement bei Bostic arbeitete er kurz bei der Showband von Gay Crosse, mit der er in Nashville ins Studio ging, um dann wieder ziellos zwei Jahre lang von einer Band zur anderen zu tingeln. Die meisten dieser Acts waren simple Showbands - wie etwa die Hep Cats, deren Gitarrist angeblich den »verlorenen Akkord« gefunden hatte und ständig einen einzigen Akkord spielte, zu dem alles passen musste, was die Band gerade abspulte, während seine Frau im Glitzerkostüm vor ihm tanzte.
1953 endet der Korea-Krieg mit der Teilung des Landes ~ James Baldwin veröffentlicht seinen ersten Roman Go Tell It on the Mountain und Richard Wright publiziert nach dreizehn Jahren wieder einen Roman, The Outsider ~ Miles Davis startet mit seinem Erfolgsalbum Walkin' für Prestige einen neuen Trend im Jazz, der Hardbop ist funky, deutlich aggressiver als der zahme Cool Jazz à la Chet Baker ~
Wenn es zutrifft, dass jede Epoche die folgende träumt, wie Michelet meinte, dann ist noch offenkundiger, dass jede Epoche in einer nostalgischen Sicht auf die vorangehende lebt. Walter Benjamin hat darauf hingewiesen, dass nicht nur jede Epoche die folgende träumt, sondern auch versuche, beim Träumen zu sich zu kommen. ~ ERIC HAZAN (DIE ERFINDUNG VON PARIS, 577)
Nach der Zeit bei Dizzy konnte Trane erneut ein Engagement bei einem Idol seiner Jugend ergattern. Der legendäre Ellington-Solist Johnny »Rabbit« Hodges hatte beschlossen, sich einen längeren Urlaub von Dukes Orchester zu genehmigen. Bis Hodges wie so viele Abtrünnige aus Dukes Orchester reumütig zu Ellington zurückkehrte, bekam Trane einen Platz in dessen neuer zehn- bis zwölfköpfiger Band. »Wir spielten ehrliche Musik in dieser Band. Es war meine Erziehung durch die ältere Generation« (DeVi, 42). Ein paar Wochen lang konnte er im März 1954 bekannte Sänger wie Billy Eckstine, Ruth Brown und The Clovers begleiten. Ihre gemeinsame Aufnahme vom Sommer 1954 enthält zwar kein Solo von Coltrane, den großen Stilisten aus nächster Nähe auf dem Bandstand zu erleben fand er jedoch aufregend. »Ich hatte wirklich Spaß an diesem Job. Jedes Stück im Repertoire dieser Band hab ich sehr geliebt. Nichts war oberflächlich. Alles hatte seine Bedeutung und es swingte. Und dann dieses Selbstvertrauen, mit dem Rabbit spielt; ich wünsche mir etwas davon für mein eigenes Spiel. Abgesehen von dem Spaß, den wir hatten, bekam ich auch Informationen aus erster Hand über eine Musik, die vor meiner Zeit lag« (Port, 94). Noch im Jahr 1961, als Trane bei einem Gastspiel in London gefragt wurde, wer sein Lieblingsmusiker sei, antwortete er, ohne zu zögern: »Johnny Hodges, the world's greatest saxophone player.« Der Kritiker Nat Hentoff zitiert ihn mit einem Satz über Hodges, der seine Bewunderung auf die kürzeste Formel brachte: »He still kills me.« Die Art, wie Johnny Hodges mit dem Orchester von Duke Ellington das berühmte »Warm Valley« spielte, lässt eine enge Verwandtschaft mit dem Sound erkennen, der Coltrane vorschwebte. Hodges' Altsaxophon gleitet mit seinen deep notes durch dieses »warme Tal«, das der große Porträtmaler und Womanizer Ellington vertonte - gleichsam ein jazziges Pendant zu Courbets berühmtem Skandalgemälde LOrigine du monde.
Wie schon bei Dizzy wurde Coltrane auch jetzt sein Drogenkonsum, mit dem er Schüchternheit und Lampenfieber zu kompensieren versuchte, zum Verhängnis. Bereits im September musste er sich nach einem neuen Job umsehen. Zu Hause in Philadelphia trat er mit einem Orgeltrio auf, Bill Carneys Hi-Tones, und egal wie betrunken er manchmal war, er konnte trotzdem feurig spielen und blieb sehr gefragt. Shirley Scott war die Organistin. »She swung me out of the place sometimes. Al Heath war an den Drums und wir hatten eine wunderbare Gruppe. Ich war der einzige Bläser und so konnte ich mich ausbreiten, auf dem Horn weiterkommen. Das war es, was ich wollte. In dieser Gruppe zu sein half mir sehr« (DeVi, 63). Um diese Zeit strandete der verschlossene und physisch geschwächte Coltrane in Los Angeles und begegnete dort Eric Dolphy. Der stets hilfsbereite, obwohl selber oft am Hungertuch nagende Dolphy lieh (oder besser gesagt schenkte) anderen Musikern oft Geld oder verschaffte ihnen Jobs. Eric bezahlte John die Rückfahrt zu seiner Mutter nach Philadelphia. Ein solcher Gefallen wird in Jazzerkreisen gewöhnlich mit der Einladung zu einem Gig oder einer Plattensession erwidert. Trane und Dolphy wurden Freunde fürs Leben und Eric einer der wichtigsten Begleiter seiner gesamten Karriere.
6. KAPITEL
MILES
Miles became our greatest innovator, more than even Bird.~ RED RODNEY (SIDR, 48/2)
I just pick up my horn and play the hell out of it.~ MILES DAVIS
In der Welt Marlon Brandos und John Osbornes war Miles der zornige junge Trompeter, attraktiv, unvorhersehbar und smart. Miles brauchte keinen Nachnamen.~ GARY GIDDINS
Coltranes Melancholie war durch all die Erfolglosigkeit, Entschlusslosigkeit und Mittellosigkeit immer stärker geworden. Monatelang ohne festes Engagement, stieg er bei einer x-beliebigen Band ein, nur um ein paar Blues-Chorusse blasen zu können. Bis ihn eines Tages sein Freund Philly Joe Jones, der Schlagzeuger, einem neuen Arbeitgeber empfahl. »Ich hatte 1949 mit Philly Joe Jones gearbeitet und kannte Miles, und als er sich entschloss, ein Quintett zu formieren, machte ich mit. Immer habe ich gespürt, dass ich mit Miles spielen wollte. Er brachte mich wirklich ans Arbeiten. Alles, was ich bei ihm 1955 probierte, hätte ich eigentlich schon um 47/48 anpacken sollen. Zehn Jahre später war ich also endlich wieder im Geschäft. Ich versuchte, sehr vieles aufeinander-zupacken in diesen fünf Jahren, und strengte mich an, mich wieder hochzurappeln« (DeVi, 64). Der Trompeter hatte seinen Lieblingssaxophonisten Sonny Rollins verabschieden müssen. Der seinerzeit als Geheimtipp gehandelte Saxophonist John Gilmore aus Sun Ras Band kam ins Gespräch, schien Miles aber kein gleichwertiger Ersatz für Sonny. Dann lud er Trane nach New York ein, man probte ein paar Tage zusammen, doch weder musikalisch noch menschlich funkte es bei diesem ersten Treffen, worauf John erst einmal wieder nach Philadelphia zurückfuhr. Später fragte ihn ein Journalist, ob Miles ihm gesagt habe, was er hören wollte, und Trane lachte: »Miles? Mir was sagen? Das find ich gut! Nein, Miles hat mir nie was gesagt. Ich spielte immer genau so, wie ich das wollte« (Port, 100).
1955 singt Marian Anderson als erste schwarze Opernsängerin an der New Yorker Metropolitan Opera ~ Sugar Ray Robinson, ein Idol der Schwarzamerikaner, feiert nach einer dreijährigen Pause, in der er sich als Tänzer versucht hat, ein Comeback im Boxring ~
Dem Mentor von Miles und Idol Coltranes, Charlie Parker, hatten die Ärzte jahrelang ein frühes Ende prophezeit, sollte er seinen selbstzerstörerischen Lebensstil nicht drastisch ändern. Bird starb am 12. März 1955 in New York im Alter von nur 34 Jahren vor dem Fernseher in der Wohnung der Jazzmäzenin Pannonica de Koenigswarter. Er hatte den Jazz entscheidend verändert und miterleben müssen, wie sein Expartner Dizzy Gillespie zum Publikumsliebling avancierte, während er selbst - ähnlich wie das Mastermind des modernen Jazz, Thelonious Monk - letztlich ein Außenseiter blieb. Im dritten Buch seines großen Roman du Jazz - Les Modernes erzählt Philippe Gumplowicz vom Aufstieg und Fall dieses Genies der Bebopgeneration und rekonstruiert minutiös die vielen Stationen seines kurzen, bewegten Lebens.
Im September trat John Coltrane einen Job beim aufsteigenden Hammond-orgelstar Jimmy Smith in Spiders Kelly in Philadelphia an, aber auch das nur für einige Wochen. John hatte bald genug von dessen Sound: »Wow! Ich wachte mitten in der Nacht auf, Mann, und hörte diese Orgel. Ja, diese Akkorde schrien mich förmlich an« (Port, 95). Jimmy hätte ihn gerne in seiner Band behalten, doch in New York begann Miles wieder Pläne mit ihm zu haben. Im Juli 1955 wurde Miles Davis für sein Solo in »Walkin'«, einem down home swingenden Blues, beim zweiten Newport Jazz Festival im Juli begeistert gefeiert. Damit hat er nach seinem Drogenentzug ein Comeback auf einer großen Bühne. Fest entschlossen, nun eine eigene Band auf die Beine zu stellen, war es dem Trompeter auf der Suche nach einem Plattenlabel endlich gelungen, seinen Wunschpartner Columbia für sich zu interessieren. Der Produzent George Avakian hatte seinem Freund versichert: »Wenn du eine Gruppe findest und sie zusammenhalten kannst, nehme ich dich auf.« Avakian ließ das auch gleich Miles' Agenten Jack Whittemore wissen, der sich daraufhin für die neue Band mächtig ins Zeug legte. Sechs Monate war Miles jetzt »nach einer vierjährigen Horrorshow« clean; mittlerweile hatte er seinen eigenen Ton gefunden, jenen »Allein-in-Alaska-Sound«, wie ihn der Saxophonist Jackie McLean nannte. Sonny Rollins fiel als Saxophonist an seiner Seite erneut aus, er hatte sich zu einer Entziehungskur nach Kentucky in eine Suchtklinik mit vergitterten Fenstern zurückziehen müssen. So fanden Miles und Trane endlich zusammen und es begann eine der intensivsten und fruchtbarsten Beziehungen der Jazzgeschichte, die insgesamt fünf Jahre halten sollte.
Als Trane am 27. September 1955 im Club Las Vegas in Baltimore seinen Einstand in der Band von Miles gab, sprang der berühmte Funke über - wie so oft im Jazz nicht im Studio, sondern vor Publikum. »Schneller, als ich es mir vorstellen konnte, spielten wir eine unglaubliche Musik«, resümiert Miles Davis in seinen Memoiren die erste Zeit mit Coltrane. »Trane war der Einzige, der alle Stücke kannte, deshalb brauchte ich ihn. Außerdem wusste ich, dass dieser Typ unglaublich war, dass er auf dem Tenor genau den Sound brachte, der meinen Ton hervorhob ... Coltrane und ich wurden durch diese Band zur Legende« (Port, 98). Nach dem Gig in Baltimore traten sie zwei Wochen lang im New Yorker Birdland auf, dem berühmten, nach Charlie Parker benannten Club. Rasch wuchs nun die neue Gruppe zusammen und wurde bald so populär, dass ihr Agent einen prall gefüllten Terminkalender vorweisen konnte. Miles rief Avakian bei Columbia an, er solle sich die Band live anhören, und fügte noch hinzu: »Coltrane schafft sich wirklich toll rein!« Es war eine junge Formation, mit dem erst 20-jährigen Bassisten Paul Chambers, von Miles als Ersatz für Oscar Pettiford angeheuert, mit Red Garland am Klavier und dem in New York noch relativ unbekannten, enorm swingenden Schlagzeuger Philly Joe Jones, Jahrgang 1923. Garlands Blockakkorde pushten die Gruppe, während Paul Chambers - wie alle großen Instrumentalisten im Jazz an praktisch jedem Ton erkennbar - wunderbare Soli mit dem Bogen spielte und mit der Zeit das Bassspiel revolutionierte. Seine gesamte Karriere hindurch war Miles ein talent spotter, der instinktiv und früher als andere erkannte, wo die Stärken eines Spielers lagen und ob er reif für seine Band war.
Das später so genannte »erste Quintett« von Miles sollte zunächst nur bis zum Frühjahr 1957 halten. In musikalischer Hinsicht begann das neue Team zu funktionieren, rein menschlich lagen noch Welten zwischen Miles und Trane. Und während der eine seine Heroinsucht überwunden hatte, steckte der andere noch mittendrin.
Um diese Zeit erlebte der afroamerikanische Dichter Michael S. Harper den Saxophonisten zum ersten Mal live. Harper hatte gerade die Highschool beendet und versuchte eine Unterhaltung mit ihm zu führen, fand Trane aber nicht sehr gesprächig; zwar sei er freundlich gewesen, aber ganz in seine Musik vertieft. Harper, der mit viel schwarzer Musik aufgewachsen war und sich schon früh für Avantgardejazz interessierte, hatte in Los Angeles dieselbe Schule besucht wie Eric Dolphy. Eine unsichtbare Trennlinie zwischen Schwarzen und Weißen sei damals mitten durch Los Angeles verlaufen, entlang der LaBrea Avenue, erzählt er. Der Romancier Christopher Isherwood motivierte ihn zum Schreiben; später veröffentlichte er seinen Lyrikband Dear John, Dear Coltrane, der für den National Book Award nominiert wurde. 1964 unterrichtete er in San Francisco und als Coltrane in der Stadt gastierte, besuchte Michael S. Harper zwei Wochen lang Abend für Abend sämtliche Auftritte der Band i nklusive der Matineekonzerte. »Was ich an Coltrane sehr mochte, war, dass er nie die Leute runtermachte, von denen er gelernt hatte; er spielte die Stücke von Lester Young und Coleman Hawkins immer mit großem Respekt. Er huldigte ihnen, was nicht die Regel ist in einer Welt, die so stark vom Wettbewerb geprägt ist und wo jeder sich seinen Anteil holen will. (.) Bei uns kursierte dieser Witz über Coltrane. Er spielte so intensiv und seine Musik stellte so hohe Ansprüche, dass er immer schlagartig sämtliche Türen eintrat, wissen Sie. Und die Leute sagten dann: ›Mann, wir haben dich gar nicht klopfen gehört. Hättest du einfach angeklopft, hätten wir die Tür geöffnet‹« (Lock, 92).
7. KAPITEL
NAIMA
The more ways you have of thinking about music,
the more things you have to play in your solos.~ BARRY HARRIS
Das Gedächtnis ist es, das überall etwas Unwandelbares entdeckt. Und der Gesang ist ein Refrain.~ LOUIS PAUWELS
The best players are in a way everything from hot to cool.~ GUNTHER SCHULLER
It bugs me when people try to analyze jazz as an intellectual theorem. It's not. It's feeling.~ BILL EVANS
Gestärkt von seinen vielversprechenden Treffen mit Miles, schöpfte Trane auch privat neue Hoffnung durch Juanita (»Naima«) Austin, die er 1954 kennenlernte und für die er später eine seiner schönsten Kompositionen schrieb. Beide stammten aus North Carolina, waren 1926 geboren und entdeckten viele weitere Gemeinsamkeiten, besonders auf spirituellem Gebiet. Am 3. Oktober 1955 fand die Hochzeit statt und Naima brachte aus einer früheren Verbindung ihre Tochter Saeeda, die John sehr mochte, in die Ehe mit. Auch dieser Name wurde in einer Komposition verewigt, »Syeeda's Song Flute«, die 1960 auf Giant Steps erschien und etwas vom lebenslustigen und positiven Charakter Saeedas hat.