John Sinclair 2372 - Marie Erikson - E-Book

John Sinclair 2372 E-Book

Marie Erikson

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Beschreibung

Eine Pension, in der Mädchen untergebracht waren, die in der nahe gelegenen Klinik eine Drogentherapie machten! Doch einige der Unglücklichen, die ihr Leben wieder auf die Reihe bekommen wollten, verschwanden spurlos, ohne dass es jemanden zu kümmern schien!
Durch eine alte Bekannte, eine Geisterbeschwörerin, wurde ich hinzugezogen. Denn in der Pension sollte es spuken, und angeblich waren übernatürliche Mächte für das Verschwinden der Mädchen verantwortlich!
Damit begann für mich nicht nur eine Geisterjagd, sondern auch der Kampf um das Schicksal einer unschuldigen jungen Frau ...


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Seitenzahl: 138

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Inhalt

Cover

Warnung aus dem Jenseits

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Warnung ausdem Jenseits

Von Marie Erikson und Oliver Fröhlich

Die Welt um Cindy Rupert verschwand hinter einem Schleier aus Tränen. Im Augenblick bestand diese Welt zwar nur aus Lavendelduft und einem kleinen rosa-plüschigen Zimmer in einer kleinen rosa-plüschigen Pension, aber in den vergangenen Monaten hatte ihr diese Umgebung Sicherheit gegeben. Einen Halt in einem verkorksten Leben, das allmählich besser wurde.

Doch das hatte sich geändert. Inzwischen kam ihr der Raum wie ein Gefängnis vor, in dem kein Schritt unbeobachtet blieb.

Ja, Cindy hatte Angst vor dem Leben, das sie erwartete, wenn sie die Pension verließ. Noch mehr fürchtete sie allerdings die Person jenseits ihrer Zimmertür.

Die Wärterin dieses Gefängnisses!

Dabei konnte Cindy nicht einmal sagen, warum ihr die Pensionswirtin so große Angst einjagte. Wenn sie sich auf dem Flur oder im Frühstücksraum begegneten, war die alte Dame stets freundlich und zuvorkommend. Sie lächelte viel und war immer für ein nettes, mütterliches Wort gut.

Aber es gab eben auch die andere Seite. Sobald sie sich nämlich unbeobachtet wähnte, verschwand das Lächeln. Es nahm nicht etwa langsam ab, bis es einem normalen Gesichtsausdruck Platz machte. Nein, es war eher, als legte jemand einen Schalter um, knips, und das Lächeln war erloschen. Als hätte es bis zu diesem Moment den Beobachter geblendet, trat plötzlich das wahre Wesen der Hausdame zutage. Misstrauisch, verschlagen, hinterhältig, lauernd.

Natürlich war es denkbar, dass sich Cindy das nur einbildete. Während der Therapie hatte sie schließlich auch viel über Selbstwahrnehmung und darüber gelernt, dass man sich stets auch mit den eigenen Augen betrachten sollte, nicht nur mit denen anderer.

Dennoch ... konnte es Zufall sein, dass ihr die Dame des Hauses beinahe jedes Mal über den Weg lief, sobald sie ihr Zimmer verließ? Dass sie ausgerechnet immer mit einigen gefalteten Laken über dem Arm oder einem Tablett in den Händen ums Eck kam, wenn sich Cindy mit Matthew unterhielt? Dass sie ihrem Sohn dann jedes Mal auch gleich einen Arbeitsauftrag erteilte, der das weitere Gespräch unterband?

»Matthew, das neue Toilettenpapier ist eingetroffen. Räum es doch bitte in die Kammer.«

»Matthew, sei so nett und bezahl die Gärtnerrechnung. Ja, gleich. Du weißt doch, was man heute erledigt, kann man morgen nicht vergessen.«

Matthew dies, Matthew das.

Und jedes Mal trat dieses abschätzige Funkeln in die Augen der Wirtin, als missbillige sie, wenn sich ihr Sprössling mit einer gestrandeten Existenz wie Cindy unterhielt.

Wie konnte ein so netter junger Mann nur eine so schreckliche Mutter haben, hinter deren Fassade – einem Stuck aus Lächeln und aufgesetzter Freundlichkeit – offenbar viele dunkle, geradezu düstere Zimmer lagen?

Cindy seufzte, setzte sich auf die Bettkante und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie würde Matthew vermissen, wenn sie auszog. Oh, und sie würde »Supernatural« vermissen. Denn anders als bei ihren Eltern empfing sie in der Pension den amerikanischen Network-Sender The CW, auf dem nächste Woche die letzte Folge der aktuellen siebten Staffel laufen würde.

Insgesamt gefiel ihr der Handlungsbogen um die Leviathane zwar nicht besonders gut, dafür gefiel ihr Jensen Ackles umso besser. Könnte sie sich einen Mann schnitzen, sähe er genauso aus. Sie und Dean Winchester, das wäre schon was.

Sie schüttelte den spätpubertären Gedanken ab, mit dem sie sich nur von dem ablenken wollte, was sich nicht länger aufschieben ließ. Und wen interessierte, ob ihre Eltern The CW empfingen? Zu denen würde sie ohnehin nicht zurückkehren.

Wie sie sich eingestehen musste, war das der wahre Grund, warum sie weinte. Nicht weil sie auszog und Matthew oder Jensen Ackles hinter sich ließ, sondern weil sie nicht wusste, wo sie hinsollte. Selten hatte sie sich so einsam gefühlt.

Aber so ging es auch nicht weiter. Die Ärzte und Therapeuten fielen ihr auf die Nerven. Jeden Tag die gleiche Leier. Sie hatte es so satt. Und dann diese Gruppensitzungen, mit all den richtig Abgestürzten, für die doch ehrlicherweise gar keine Hoffnung bestand. Außerdem konnte sie mit der Wirtin nicht länger unter einem Dach leben. Erst mal musste sie raus hier, alles andere würde sich weisen.

Sie sah zu dem kleinen roten Lederköfferchen, das gepackt auf dem Tisch mit dem Häkeldeckchen stand. Noch einmal nickte sie sich selbst aufmunternd zu. Inzwischen dürften alle schlafen.

Also los jetzt!

Gerade als sie aufstehen wollte, hörte sie Stimmen auf dem Flur. Gedämpft nur, trotzdem intensiv. Als würden sich – was für eine Vorstellung! – zwei Menschen flüsternd anschreien. Obwohl sie wenig verstand, erkannte Cindy sofort, dass es sich um Matthew und seine Mutter handelte. Sie stritten sich und waren vergeblich darum bemüht, dass kein Gast etwas davon mitbekam.

»... machst dich lächerlich mit deinem ...« Das war Matthew.

»... nichts für dich ... immer wieder das Gleiche ...« Die Wirtin.

Gut, sollten sie sich streiten. Cindy würde einfach noch ein oder zwei Stündchen länger warten, ehe sie verschwand.

Ein metallischer Laut von der Tür, leise nur. Als würde jemand behutsam einen Schlüssel ins Schloss schieben.

Cindy erstarrte. Das konnte nicht sein. Das durfte nicht sein! Dennoch war sie nicht fähig, sich zu rühren.

Ein Sperrgeräusch.

Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie zur Tür, wartete mit angehaltenem Atem. Wartete, ob die Stimmen zurückkehrten.

Nichts geschah.

Endlich konnte sie sich dazu aufraffen, von der Bettkante aufzustehen und zur Tür zu schleichen. Vorsichtig drückte sie die Klinke und zog.

Tatsächlich. Die Tür war verschlossen.

Eine Welle der Übelkeit überrollte Cindy. Das gefühlte Gefängnis war zu einem wirklichen geworden!

Die Wirtin hatte sie eingesperrt!

Aber warum? Es war in der Pension strengstens untersagt, die Türen abzusperren, wenn sich Gäste in den Zimmern aufhielten. Sicherheitsvorschriften, Therapieauflagen und so weiter. Bei ihrem Einzug bekamen sie ja nicht einmal Schlüssel ausgehändigt.

Warum, um Himmels willen, verstieß nun ausgerechnet die Wirtin dagegen?

Was heißt hier »ausgerechnet«?, fragte eine kleine boshafte Stimme in ihr. Die Stimme, die sie besiegt zu haben glaubte. Die, die ihr jahrelang eingeredet hatte, sich mit den Augen der anderen zu sehen statt mit den eigenen. Die, die sie dazu ermutigt hatte, das dadurch entstehende Gefühl der Unzulänglichkeit zu betäuben. Wer sonst als die alte Schachtel würde so etwas tun? Sie verabscheut dich. Sie traut dir nicht.

Aber deshalb muss sie mich doch nicht einsperren!

Nein? Und wenn sie glaubt, du wolltest bei Nacht und Nebel verschwinden? Läge sie damit so falsch?

Panik erfasste Cindy. Tief in sich drin spürte sie, wie widersprüchlich ihre Gedanken waren und dass sie überreagierte, aber sie konnte es nicht verhindern.

Sie musste raus hier. Jetzt erst recht – und dringender als zuvor!

Mit vier schnellen Schritten erreichte sie das Fenster, öffnete es, bemühte sich, dabei kein Geräusch zu verursachen, das die Wirtin hören könnte.

Sie schaute hinaus. Ihr Zimmer lag zwar in der ersten Etage, doch in diesem alten Gebäude mit den hohen Räumen bedeutete das, dass mindestens drei Meter die Fensterbank vom Asphalt trennten.

Sollte sie springen? Könnte ihr ausgezehrter Körper das schadlos überstehen? Aber was, wenn sie sich den Knöchel oder das Bein brach und hilflos in der Auffahrt lag?

Klettern war auch ausgeschlossen. Weder verlief neben ihrem Fenster ein Regenrohr, noch gab es Rankhilfen für die Kletterrosen.

Sie könnte um Hilfe rufen.

Aber es war mitten in der Nacht. Der Mond stand hinter einer dicken Wolkenschicht. Auf der Straße fuhren keine Autos, auf den nächsten Fußgänger hätte sie ohne Weiteres bis zum Morgen warten können. Wenn sie schrie, wäre der einzige Mensch, der sie hören würde, ihre Hauswirtin. Oder Matthew. Aber was sollte der schon gegen seine Mutter ausrichten?

Wieder stiegen Cindy Tränen in die Augen.

Sie musste sich dazu zwingen, zur Tür zurückzukehren. Sie kniete sich hin, lugte durchs Schlüsselloch.

Der Flur lag im Halbdunkel. Kein Geräusch erklang von dort. Eigentlich wäre der Weg frei, wenn es diese verdammte Tür nicht gäbe.

Denk nach! Was würde Dean Winchester tun?

Auf seinen Bruder Sam warten, der ihn befreite. Keine reale Option für sie, auf Hilfe einer Serienfigur zu hoffen.

Das Schloss sah alt aus. Vielleicht könnte sie ...

Kurzerhand zog sie sich eine Haarspange aus der Frisur, bog sie auf und fummelte damit im Schloss herum. Ergebnislos. Was hatte sie auch erwartet? Dass es in Filmen oder Serien immer so einfach aussah, bedeutete nicht, dass es jemand wie sie ebenfalls schaffte. Außerdem war das Metall zu dünn, zu biegsam, zu ...

Hektisch sah sie sich im Raum um. Die Kleiderbügel! Die waren stabiler.

Sie eilte zum mittlerweile leeren Kleiderschrank und nahm einen Bügel heraus. Er bestand aus nicht mehr als einem zu einem Dreieck gebogenen und oben verdrillten dicken Draht, der in einem geschwungenen Haken auslief. Gab es für diese Hängevorrichtung eigentlich einen Namen? Und warum fiel ihr diese Frage ausgerechnet jetzt ein?

Cindy mühte sich, das namenlose Hängedings erst irgendwie gerade zu bekommen und anschließend den vordersten Zentimeter im rechten Winkel abknicken zu lassen. Vollständig gelang es ihr nicht, aber immerhin hielt sie nun etwas in Händen, das einem Dietrich ähnelte.

Sie führte den Draht ins Schloss und versuchte es erneut. Und tatsächlich, anders als die Haarspange ließ sich das Bügelende nicht widerstandslos drehen. Bereits nach wenigen Millimetern traf es auf ... etwas. Die Schließvorrichtung? Oder auf ein starres Stück Metall, das sich schon alleine deshalb nicht bewegen ließ, weil es dafür nicht vorgesehen war?

Woher soll ich das wissen? Ich bin schließlich kein Profieinbrecher oder Mitarbeiter vom Schlüsseldienst!

Vorsichtig drückte sie gegen den Widerstand. Ihre Fantasie – oder war es die besiegt geglaubte Stimme in ihrem Inneren? – gaukelte ihr Bilder vor, wie der Bügeldraht die Sperrvorrichtung zur Seite schob, im letzten Moment abbrach und das Schloss für immer blockierte. Cindy Rupert, verhungert hinter der vorschriftswidrig versperrten Tür einer Pension.

Nicht hilfreich, Cindy. Gar nicht hilfreich.

Sie verstärkte den Druck. Erst ein bisschen, dann etwas mehr. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, aber auch ihre Hände wurden feucht. Immer wieder musste sie sie an der Hose trockenreiben, damit sie den Bügeldraht fest im Griff behalten konnte.

Und dann, endlich, als sie schon fast nicht mehr daran glaubte, vernahm sie ein Klicken. Der Behelfsdietrich vollzog eine vollständige Drehung.

War's das?

Sie wagte es kaum aufzustehen, und als sie es tat, schmerzten die Oberschenkel und die Knie.

Cindy drückte die Klinke nach unten, hielt die Luft an – und öffnete die Tür. Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Freudenschrei.

Rasch holte sie ihr Köfferchen, schob den Kopf durch den Türspalt vorsichtig in den Flur, schaute nach links und rechts. Lauschte. Nichts.

Auf Zehenspitzen schlich sie hinaus ...

Cindy schlich den Flur entlang, blieb vor Schreck stehen, als Dielen unter ihren Füßen knarrten, schlich weiter, erreichte schließlich die Treppe und ging hinunter.

Dort! Die Haustür. Egal, dass dahinter eine ungewisse Zukunft auf sie wartete, jetzt musste sie nur noch ...

Was? Einfach rausgehen? Glaubst du ernsthaft, diese Tür wäre nicht abgeschlossen? Mit einem Kleiderbügel wirst du hier nicht weit kommen.

Darüber würde sie sich Gedanken machen, wenn die Tür wirklich versperrt war. Falls sie es war!

Sie passierte den Frühstücksraum, ihr Ziel fest im Blick. Nur noch drei Schritte, dann ...

»Du willst einfach so gehen?«

Cindy erstarrte. Trotzdem gelang es ihr irgendwie, sich zum Frühstücksraum zu drehen.

Dort saß Matthew an einem Tisch. Alleine, wie Cindy erleichtert feststellte. Vor sich eine dampfende Tasse Tee, die Augen gerötet. Offenbar hatte er nach dem Streit mit seiner Mutter geweint. Er bot ein Bild des Elends.

»Ich muss«, flüsterte Cindy, ohne sich vom Fleck zu rühren.

»Meine Mutter, nicht wahr?« Falls das überhaupt möglich war, sah er noch ein wenig trauriger aus.

»Ich halte es mit ihr nicht mehr aus.«

Matthew lächelte gequält. »Geht mir genauso. Leider kann ich nicht einfach gehen.«

»Dann verstehst du mich?«

»Natürlich verstehe ich dich. Es tut mir so leid, aber manchmal kann Mutter sehr ...« Er sprach den Satz nicht zu Ende. »Sie meint es ja nur gut mit mir. Trotzdem könnte sie sich etwas mehr ... Egal. Willst du es dir nicht noch einmal überlegen?«

»Ich kann nicht, Matthew.«

»Eigentlich ist sie ganz harmlos, glaub mir. Das mit der Tür ... na ja, es tut mir leid. Ich werde morgen mit ihr sprechen.«

Das hast du doch vorhin schon getan, und es hat nicht geholfen. »Warum hast du mein Zimmer nicht wieder aufgesperrt?«

Ein verlegenes, scheues Lächeln. »Weil sie mir offenbar nicht genug traut. Ich habe keine Schlüssel für die Gästezimmer.«

»Oh. Das ... äh ... tut mir leid.« Wofür entschuldigte sie sich da eigentlich gerade? »Wie auch immer, ich muss gehen.«

»Aber du bist mit deiner Therapie auf einem so guten Weg. Willst du das alles riskieren?«

Und wieder schossen ihr diese verdammten Tränen in die Augen. Sie nickte mit verschleiertem Blick.

»Wenigstens noch einen Tee zum Abschied?«, fragte Matthew.

Cindy schüttelte den Kopf.

»Wo willst du hin? Zurück zu deinen Eltern?«

»Bloß nicht!«, entfuhr es ihr. »Die machen mir die Hölle heiß, wenn ich die Therapie abbreche. Ich komme schon irgendwo unter.«

»Ich werde dich vermissen.«

»Ich dich auch.« Nicht ganz so sehr wie Jensen Ackles, aber doch. »Matthew?«

»Hm?«

»Die Haustür. Ist sie offen?«

»Oh, nein. Warte. Ich lass dich raus.«

»Du bist der Beste.«

Matthew stand auf, zog einen Schlüssel aus der Hosentasche und begleitete Cindy zur Tür.

Weder er noch sie bemerkten die alte Dame, die sie mit verschränkten Armen vom oberen Ende der Treppe aus beobachtete.

Elisabeth Frost stand im Schein des Mondlichts, das durch das Flurfenster fiel, und fürchtete sich. In ihrer eigenen Pension.

Außer ihr war wahrscheinlich niemand wach. Allerdings war außer ihr auch kaum jemand hier, weil in der letzten Zeit die Gäste ausblieben. Sie seufzte innerlich und dachte zurück an bessere Zeiten.

Lisbeths verstorbener Mann hatte die Villa vor etwa fünfzig Jahren von einer wohlhabenden Tante geerbt. Nicht, dass er bis dahin etwas von ihr gewusst hätte. Seine Mutter und ihre Schwester hatten sich als junge Frauen so zerstritten, dass sie zeitlebens nicht mehr miteinander sprachen. Die Tante starb kinder-‍, aber nicht mittellos, und da Archies Mutter auch nicht mehr lebte, erbte er das große Haus.

Ihre erste Intention als junges Paar war gewesen, die Villa zu verkaufen. Aber dann besichtigten sie das Haus und verliebten sich in das romantische Gebäude. Der gotische Stil, die kleinen Türme, die Rosenranken über dem Eingang, der verwunschene Garten, in dem im Sommer die Bienen summten. Lisbeth hatte die Türschwelle gar nicht übertreten müssen, um zu wissen, dass sie hier leben wollte. Für immer.

Es blieb die Frage, wie sie das finanzieren und was sie mit all den Zimmern machen sollten.

Abermals kam ihnen das Schicksal zur Hilfe, nämlich als sie am nächsten Morgen die Umgebung begutachteten. In unmittelbarer Nachbarschaft lag eine Klinik, die sich auf den Drogenentzug junger Frauen spezialisiert hatte. Anfang der Siebzigerjahre war die Drogenabhängigkeit von Minderjährigen zwar in der Gesellschaft ein Tabu-Thema, in der Realität jedoch ein Problem, wie ihnen die Leiterin erzählte, mit der sie ins Gespräch kamen. Sie erzählte auch, dass die Mütter die Mädchen oft begleiteten, aber dann keine Unterkunft hätten, weil in der Klinik nur die Abhängigen ein Zimmer bekämen.

Archie und Lisbeth hatten sich angesehen, waren in den nächsten Laden für Heimwerkerbedarf gefahren und hatten Wandfarben passend zu den Rosen im Garten ausgesucht. Rot, Rosa und Weiß.

Ein halbes Jahr später eröffneten sie die Pension. Vom ersten Tag an waren sie dank der freundlichen Weiterempfehlung der Klinikleiterin ausgebucht gewesen. Lisbeth sprach gern mit den Gästen. Meistens waren es Mütter, die sich unentwegt fragten, was sie so falsch gemacht hatten, dass ihre Töchter abhängig geworden waren.

Manchmal nahmen auch die Drogenabhängigen selbst ein Zimmer, wenn ihr Therapiefortschritt das zuließ. Sie erzählten Lisbeth, dass sie das romantische Ambiente der Pension »Rosengarten« schätzten, das im so krassen Gegensatz zu der sterilen Atmosphäre der Klinik stand.

Anders als in Urlaubshotels kamen die Gäste nicht miteinander ins Gespräch. Obwohl sie oft die gleichen Themen plagten, handelte es sich um Probleme, über die man nicht gerne sprach. Und so unterhielten sie sich lieber mit Archie und Lisbeth.

Als ihr Sohn Matthew zur Welt kam, war er es, dem die Herzen zuflogen. Er störte sich nicht an den leidenden Frauen, die während des Entzugs von Stimmungsschwankungen geplagt wurden. Er war einfach ein Kind, das in einem Haus lebte, in dem ihn jeder mochte. Nicht selten saß er auf einem der Zimmer und sah sich eine Komödie gemeinsam mit einer Dame an, die eine schwere Zeit durchmachte und die er zu einem ersten Lächeln seit Langem brachte.

Lisbeth glaubte, dass kein Kind eine schönere Jugend gehabt hatte. Allerdings hoffte sie, dass Matthew seine künftige Ehefrau nicht hier kennenlernen würde. Sie wollte keine Frau als Schwiegertochter, die ihr Leben lang gegen die Drogensucht würde kämpfen müssen. So eine Frau wäre schließlich unter diesen Gästen schlecht aufgehoben, und so könnten sie und Matthew die Pension nicht weiterführen.