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Erin Geller war Unterwasserarchäologin und einer Sensation auf der Spur. Mit modernsten Geräten und Unterwasserkameras wollte sie endlich das Rätsel um die 1847 gescheiterte Polarexpedition von Sir John Franklin lösen.
Ein Techniker ihres Teams lenkte den Tauchroboter durch die dunklen Gänge des Schiffswracks. Die Türen zu den davon abzweigenden Offizierskabinen standen offen, sodass man einen Blick auf die Kommoden und Bettgestelle erhaschen konnte.
Erin kaute auf ihrer Unterlippe. Das tat sie, wenn sie konzentriert war. Und ein Wrack war immer etwas Besonderes. Eine Zeitkapsel. Meist das Zeugnis einer Tragödie und ein Massengrab.
Jetzt drückte der Roboterarm das letzte Türblatt auf - und Erin begann zu schreien ...
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Seitenzahl: 142
Veröffentlichungsjahr: 2023
Cover
Die Zombies des Sir Franklin
Briefe aus der Gruft
Vorschau
Impressum
Die Zombiesdes Sir Franklin
von Marie Erikson
Erin Geller war Unterwasserarchäologin und einer Sensation auf der Spur. Mit modernsten Geräten und Unterwasserkameras wollte sie endlich das Rätsel um die 1847 gescheiterte Polarexpedition von Sir John Franklin lösen.
Ein Techniker ihres Teams lenkte den Tauchroboter durch die dunklen Gänge des Schiffswracks. Die Türen zu den davon abzweigenden Offizierskabinen standen offen, sodass man einen Blick auf die Kommoden und Bettgestelle erhaschen konnte.
Erin kaute auf ihrer Unterlippe. Das tat sie, wenn sie konzentriert war. Und ein Wrack war immer etwas Besonderes. Eine Zeitkapsel. Meist das Zeugnis einer Tragödie und ein Massengrab.
Jetzt drückte der Roboterarm das letzte Türblatt auf – und Erin begann zu schreien ...
1845
Aufgebracht wickelte Madame Phoebe das Seidentuch von ihrem Kopf und schleuderte es in die Ecke. Dabei klimperten ihre Armreifen, als empörten sie sich ebenfalls.
Sie ging zu dem kleinen Hängeschrank mit Kräuterölen und Duftstäbchen, schob die erste Reihe auseinander und griff zu dem Likör dahinter. Nach einem großen Schluck direkt aus der Flasche setzte sie sich an den runden Tisch mit roter Samtdecke, auf dessen Mitte ihre Glaskugel thronte. Sie vergrub das Gesicht in den Händen.
Dieser 19. Mai 1845 hätte ihr Tag werden sollen.
Vor ein paar Monaten war Lady Jane Franklin das erste Mal über ihre Schwelle getreten und hatte sie ganz direkt gefragt: »Wird die Expedition meines Mannes erfolgreich sein? Wird John die Nordwestpassage erschließen?«
Nur einen Moment lang war Phoebe verdutzt gewesen. Bisher war sie, wie der Rest Englands, davon überzeugt gewesen, dass es dem britischen Polarforscher selbstverständlich gelingen würde, eine Schiffsroute oberhalb Nordamerikas zu finden, somit den weißen Fleck auf den Seekarten zu tilgen und die Handelsroute um mehrere tausend Seemeilen zu verkürzen.
Aber wenn nun seine resolute Frau Bedenken hatte ...
Madame Phoebe hatte ihre übliche Vorstellung gegeben. Ein abgedunkelter Raum mit stickiger Luft. Energieübertragung durch Handauflegen, Kristalle, Räuchermischungen und alles, was die Kunden sonst noch erwarteten. Dabei brauchte sie im Grunde nur ihre Tarot-Karten. Seltsamerweise hatte sie jedoch die Erfahrung gemacht, dass die Kunden sie umso glaubwürdiger fanden, je dicker sie auftrug. Und Lady Jane bekam die ganz große Darbietung.
Was Phoebe dann sah, schockierte sie zutiefst. Das ganze Vorhaben war dem Untergang geweiht. Wo sie Erfolg, Glück und Freude zu sehen erwartet hatte, blickten ihr Scheitern, Tod und Qual entgegen. Schnell schob sie die Karten noch einmal zusammen, mischte sie und legte sie neu aus. Das Ergebnis war dasselbe.
Unter ihren diversen Stofftüchern brach ihr der Schweiß aus. Zwei Schiffe, 129 Mann Besatzung – und keiner von ihnen würde nach England zurückkehren.
Sie hatte ihren Schock zu verbergen versucht, aber Lady Jane Franklin war eine Frau mit besonderer Beobachtungsgabe. Ganz die Frau eines Wissenschaftlers. Sie hatte ihr angesehen, dass etwas nicht stimmte. Und Madame Phoebe hatte sich dafür entschieden, ihr ohne weitere aufgesetzte Dramatik die Wahrheit zu sagen.
»Weder Ihr Mann noch die Besatzung werden die Reise überstehen.«
Lady Jane zupfte ein Spitzentaschentuch aus dem Dekolleté. Sie atmete zweimal tief durch und schnäuzte dann damenhaft.
»Das war nicht, was ich zu hören gehofft habe«, gab sie zu. »Obgleich mir bewusst ist, wie gefährlich die Reise sein wird. Und ich kenne auch die Lästereien, er sei mit fast sechzig Jahren zu alt und überdies zu beleibt.« Sie tupfte sich noch einmal die Augenwinkel und steckte das Tuch wieder weg. »Aber, wie die britische Marine auch, bin ich davon überzeugt, dass er der Beste für diesen Auftrag ist. Wenn es jemandem gelingt, dann meinem Mann.«
Phoebe hatte geschwiegen. Sie wusste, dass Lady Jane sich selbst überzeugen wollte und nicht ihr Gegenüber.
Schließlich hatte die Gattin des Expeditionsleiters die entscheidende Frage gestellt: »Was können wir tun, um die Katastrophe zu verhindern?«
Und so war Madame Phoebe heute Nacht zu Fuß nach Greenhithe in Kent aufgebrochen, um die Schiffe und deren Besatzung vor der Abfahrt mit einem Schutzzauber zu belegen.
In all dem Trubel hatte sie es geschafft, sich auf den Pier zwischen die beiden Dreimaster, die HMS Terror und die HMS Erebus, zu knien und ihr Ritual durchzuführen. Sie war in sich gegangen, hatte die Energien gebündelt und sich dann mit ausgebreiteten Armen erhoben.
»Mögen Ihre Schiffe unzerstörbar sein«, hatte sie Sir John Franklin oben an der Reling direkt angesprochen. »Und Ihr Leben und das Ihrer Männer ...«
Weiter war sie nicht gekommen. Ein fester Griff hatte sie am Arm gepackt.
»Ma'am, unterlassen Sie das mit sofortiger Wirkung!«
»Ich muss ja wohl sehr bitten!« Sie hatte erfolglos versucht, sich aus dem Griff zu winden. »Ich bin auf Geheiß von Lady Jane Franklin hier! Und wenn Sie mich nicht sofort ...«
Doch der Kerl in Marineuniform, fast noch ein Kind, hatte nur gelacht und den Kopf geschüttelt.
»Das höre ich heute nicht zum ersten Mal.« Seine Miene war ernst geworden. »Entweder entfernen Sie sich, oder ich lasse Sie verhaften.«
Die Schiffsglocken hatten das Ablegen angekündigt, und Phoebe hatte eingesehen, dass sie ihr Ritual nicht würde zu Ende bringen können. Also hatte sie sich ihrem Schicksal gefügt. Aus einiger Entfernung sah sie den Segelschiffen nach, wie sie die Themse entlang ihrem Schicksal entgegenfuhren.
Mehr als sechs Stunden dauerte Phoebes Fußmarsch zurück. In der Zeit hatte sie sich unaufhörlich Gedanken gemacht. Die Schiffe sollten trotz der Unterbrechung sicher sein. Aber galt das auch für das Leben der Männer?
Wie man den Zeitungen entnehmen konnte, war die Besatzung handverlesen. Nur die besten und erfahrensten Freiwilligen waren ausgesucht worden.
Man hatte sie großzügig mit Proviant für zwei Jahre versorgt. Zwei Jahre, in denen jede Menge passieren konnte.
Vielleicht reichte all das aus, dem Schicksal zu trotzen.
Phoebe schwor sich, die Karten nie wieder nach der Franklin Expedition zu befragen.
Was sie gesehen hatte, verfolgte sie in ihren Träumen.
»Mögen Ihre Schiffe unzerstörbar sein. Und Ihr Leben und das Ihrer Männer.«
Gegenwart
Erin Geller fühlte sich unwohl vor der Kamera. Sie war Unterwasserarchäologin und keine Schauspielerin. Dennoch war ihr klar, dass Präsenz in der Öffentlichkeit hilfreich war, um weitere, dringend benötigte Forschungsgelder zu bekommen.
Sie rückte ihre Wollmütze zurecht und nickte zum Zeichen, dass es losgehen konnte.
»Dr. Geller, wir stehen hier an Bord eines Polarforschungsschiffs. Was ist in dem Container neben mir?«
Erin rang sich ein Lächeln ab. »Darin befindet sich ein torpedoähnliches Sonargerät, das uns vom kanadischen Verteidigungsministerium zur Verfügung gestellt wurde. Damit können wir den Meeresboden in der Polarregion genau absuchen. Bisher wissen wir darüber nämlich in etwa so viel wie über die Rückseite des Mondes.«
Der Journalist mit einem Gesicht wie ein Anspitzer, der nicht einmal seinen Namen genannt hatte, hatte sie um solche Vergleiche gebeten, um es für die Zuschauer begreifbarer zu machen.
»Und nach was genau halten Sie Ausschau?«
»In dieser Region vermutet man die HMS Terror. Das zweite gesunkene Schiff der Franklin Expedition.«
»Das Wrack der HMS Erebus ist ja bereits gefunden worden«, ergänzte der Reporter nach einem Blick auf sein Klemmbrett mit den Notizen.
»Richtig. Die britischen Behörden schenkten Kanada die Schiffe. Deshalb hat die kanadische Behörde Mittel zur Verfügung gestellt, um das Rätsel der gescheiterten Expedition zu lösen. Zugleich erfahren wir dadurch mehr über die Polarregion. Allerdings bleibt uns dafür nur ein kurzes Zeitfenster, bis in ein paar Wochen alles wieder unter Eis liegt.«
Der Reporter wischte sich mit der behandschuhten Hand unter der Nase entlang und winkte ab. »Das reicht schon. An der Stelle schneiden wir dann Interviews von Franklin-Experten rein. Erzählen Sie uns noch ein bisschen was zu dem Sonar.«
»Es ist über acht Yards lang, wiegt gut zwei Tonnen und kann auf eine bestimmte Strecke vorprogrammiert werden ...«
Das Interview dauerte noch etwa zehn Minuten, anschließend packten der Journalist und sein Kameramann die Sachen zusammen. Von Anfang an hatten sie deutlich gemacht, dass sie mit dem Auftrag nicht besonders glücklich waren und nicht daran glaubten, dass das Sonar das vermisste Wrack aufspüren könnte.
Umso mehr hoffte Erin, dass es doch so wäre.
Und sie behielt recht.
Nur vier Tage später zeigte der Monitor dunkelbraune Pixel in der sogar für Laien erkennbaren Form eines Schiffsrumpfs. Der Jubel war groß. Mit Tränen in den Augen lagen sich die Wissenschaftler in den Armen.
Das Schiff lag in nur sechsundzwanzig Yards Meerestiefe, sodass sich Erins Team entschloss, das Wrack mittels Tauchroboter zu erkunden.
»Halt die Kamera drauf!« Nun endlich schien auch der Journalist interessiert. »Die Rechte an den Aufnahmen hat sich mein Sender bereits gesichert. Gehen Sie so nah ran wie möglich.«
Erin mochte es nicht, dass der Kerl Kommandos erteilte. Auf der anderen Seite war die Aufmerksamkeit durch eine gute Presse genau das, was sie brauchten, um die Ausgabe der Steuergelder zu rechtfertigen. Der Roboter durfte nur nicht stecken bleiben oder etwas beschädigen.
»Durch das Eiswasser ist das Schiff bemerkenswert gut erhalten«, kommentierte Erin die vom Roboter gesendeten Bilder.
Im trüben Wasser schwammen mehrere Kleinstpartikel, die aussahen wie in der Luft stehende Schneeflocken. Das Wrack selbst war übersäht mit Algen und verschiedenen anderen Pflanzen, die sich gemächlich in der Strömung bewegten. Das Steuerrad ragte noch immer stolz empor, als wartete es nur darauf, wieder in Betrieb genommen zu werden.
Neben dem Hauptschiff lag eines der Beiboote auf dem Meeresboden.
»Steuern Sie den Roboter in das Innere. Ich will die Kabinen sehen.«
Die Arroganz des Journalisten ärgerte Erin. Doch sie durfte sich um ihrer Geldgeber willen nicht den Ruf erarbeiten, der Presse Schwierigkeiten zu machen. Also nickte sie Robert, dem Techniker, zur Bestätigung knapp zu.
Unter Deck war es so dunkel, dass das Wasser schwarz wirkte. Sie sahen nur, was in den Lichtkegel des Roboters fiel. Eine bemerkenswerte Mischung aus Bereichen, die sich die Natur durch Flechten und Schlick bereits zurückerobert hatte, und Regalen, in denen noch Teller standen oder Flaschen lagen.
»Weiter, weiter!«, trieb der Reporter sie an.
Mit einem Seufzen lenkte der Techniker den Tauchroboter in einen schmalen, dunklen Gang. Die Türen zu den davon abzweigenden Offizierskabinen standen offen, sodass man einen Blick auf die Kommoden und Bettgestelle erhaschen konnte.
Erin kaute auf ihrer Unterlippe. Das tat sie, wenn sie konzentriert war. Und ein Wrack war immer etwas Besonderes. Eine Zeitkapsel. Meist das Zeugnis einer Tragödie und ein Massengrab. Und doch so wunderschön. So friedlich.
»Können wir jetzt umdrehen?«, fragte Robert an Erin gewandt. Er hatte einen flehenden Ausdruck in den Augen. »Es ist dunkel und eng, und wir müssen ja auch wieder zurück. Das sollten wir lieber mit menschlichen Tauchern erkunden.«
Der Reporter schüttelte vehement den Kopf. »Kommt gar nicht infrage. Wir gehen noch bis zur Kabine von Kapitän Crozier. Ich will sehen, ob der Schreibtisch intakt ist. Wenn er es ist, finden wir darin vielleicht wichtige Dokumente, die für mehr Aufklärung sorgen.«
»Ja, das sollten wir tun.« Zwar war Erin bewusst, dass sie damit riskierte, die technische Ausrüstung zu beschädigen. Aber sie war Wissenschaftlerin und das hier ein Jahrhundertfund. Sie war neugierig!
Zögerlich schob sich der Roboter weiter durch den engen Gang in die Dunkelheit, weiter an den Offizierskabinen vorbei.
»Halt!«, rief Erin plötzlich.
Der Lichtkegel hatte eine geschlossene Tür gestreift. In einem Wrack, das vor 160 Jahren gesunken war. Das allein war schon ungewöhnlich genug, aber noch seltsamer waren die Zeichen und Symbole, die auf der Tür angebracht waren. Im ersten Moment wirkten sie wie Kritzeleien in Schultoiletten, waren kreuz und quer über das Türblatt verteilt. Die Bruchstücke, die nicht von Flechten überwuchert waren, ließen darauf schließen, dass es nicht nur englische Wörter waren, sondern verschiedene Sprachen und auch Symbole.
Der Techniker verstand sein Handwerk und fuhr die Tür einmal langsam von oben nach unten mit dem Tauchroboter ab.
»Das ist fantastisch«, jubelte der Reporter. »Daraus werden sich im Internet in Windeseile Verschwörungstheorien entwickeln, und unser Artikel mit dem Video wird millionenfach angeklickt.«
Erin biss sich auf die Zunge. Sie teilte seine Begeisterung – wenn auch aus anderen Gründen.
»Hey, was machen Sie denn da?« Der Journalist berührte mittlerweile mit der Nasenspitze fast den Monitor.
»Ich fahre in Richtung von Croziers Kabine, das wollten Sie doch.« Robert klang deutlich verärgert.
»Nichts da. Wir öffnen die Tür.« Der Kerl war kurz davor, eigenmächtig in die Steuerung zu greifen. Er hatte die Augen gierig aufgerissen.
Erin zuckte mit den Schultern. Sie konnte sich ausmalen, was passieren würde, wenn sie ihm das verwehrte.
Eigentlich hätte sie lieber gewartet, bis Taucher vor Ort gewesen wären, die den Fundort noch einmal unberührt hätten dokumentieren können. Andererseits würde die Tür nicht zerstört, sondern lediglich geöffnet werden. Etwas, was ja die originäre Idee von Türen war.
»Ja, bitte, Robert. Versuch es.«
Der Techniker seufzte, ließ den Tauchroboter einen Greifarm ausfahren und die Tür öffnen.
Zu Erins Überraschung schwang das Türblatt nach innen auf, und etwas stürmte aus der Dunkelheit auf die Kamera zu. Das übertragene Bild wurde mehrere Sekunden schwarz. Dann klärte sich die Sicht wieder. Die Partikel im Wasser flirrten durcheinander, aufgewühltes Sediment trübte die Sicht.
Die Gruppe brauchte einen Moment, um sich zu orientieren. Robert schaffte es als Erster.
»Der Roboter liegt auf dem Boden und starrt an die Decke.« Hektisch betätigte er mehrere Knöpfe und den Joystick. »Er startet nicht mehr. Etwas muss ihn umgehauen haben.«
Erins Pulsschlag beschleunigte sich. Es würde eine Menge Papierkram zur Rechtfertigung auf sie zukommen, wenn der Tauchroboter defekt war.
»Was war das? Was hat uns da gerammt?«
Robert rief auf einem zweiten Monitor eine Kopie der Aufnahme auf, spulte zurück und ließ sie in verlangsamter Geschwindigkeit ablaufen. Doch es ging alles so schnell, dass nicht viel mehr als ein schwarzer Schatten zu sehen war.
»Vielleicht ein Rochen oder ein Hai?«, mutmaßte der Reporter.
»Nein.« Erin bemühte sich, keine Arroganz in ihren Tonfall zu legen. »Wegen der kalten Temperaturen und der Nahrungsknappheit leben hier nur Fische mit geringer Körpergröße. Das muss etwas anderes sein.«
Der Techniker startete das Video noch einmal und ließ es Bild für Bild abspielen.
Er stoppte.
Eisblaue Augen starrten sie aus der Dunkelheit an.
1847
Nicht einmal einen Monat war es her, dass Francis Crozier, der Kommandant der HMS Terror, Leutnant Graham Gore beim Ausfüllen des Marine-Formblatts über die Schulter gesehen hatte.
»28. Mai 1847, alle wohlauf.«
So schloss das Dokument, das sie in einem Rohr unter einem Steinhaufen auf der King-Williams-Insel versteckt hatten.
Auch nach zwei Überwinterungen im Eis war das zutreffend gewesen.
Und nun, am 11. Juni 1847, stand er vor der Leiche von Expeditionsleiter Sir John Franklin.
Crozier strich sich über den Backenbart und schritt in der Kapitänskajüte auf und ab.
Sir Franklin war bei allen beliebt gewesen. Sein Führungsstil war, mit gutem Beispiel voranzugehen, und nicht, von oben herab Befehle zu erteilen. Deshalb wären ihm die Männer bis ans Ende der Welt gefolgt – und genau das hatten sie im Grunde auch getan. Bis an den Rand der bekannten Welt und darüber hinaus. Da, wo die Seekarten nur unbeschriebenes Weiß zeigten.
Es hatte Gerüchte gegeben, Sir Franklin sei zu alt für die Expedition. Aber Crozier war fest davon überzeugt, dass nur ein Mann wie Sir Franklin diese Zuversicht für das Gelingen des Vorhabens in den Männern und Geldgebern hatte hervorrufen können.
Und nun war er tot. Was würde das für die Mannschaft bedeuten?
Jetzt musste er, Crozier, die Leitung übernehmen.
Er wischte sich über die Augen. Von Zeit zu Zeit trübten Schlieren sein Sichtfeld.
Auch andere Männer litten an diesem Phänomen. Also wohl nichts, worüber man sich ernsthaft Sorgen machen musste. Das kam vielleicht von der ständigen Kälte.
Was ihm Sorge machte, war, dass es in letzter Zeit bei allen schlimmer geworden war. Und bei Sir Franklin war es irgendwann sogar sichtbar gewesen. Die braunen Augen waren milchig geworden, als würde langsam die Farbe aus ihnen hinausgewaschen und sie das Eisblau ihrer Umgebung annehmen wollen.
Und jetzt war er tot.
Also vielleicht doch etwas, was ihm Sorgen bereiten sollte.
Crozier nahm sich vor, noch einmal den Expeditionsarzt aufzusuchen.
Ebenfalls 1847
Er achtete nicht auf das klobige Ding, das auf den Meeresboden sank.
Das Siegel war gebrochen, und endlich konnte er die Kabine verlassen.
Würdevoll setzte er einen Schritt vor den anderen, verharrte hier und dort, ließ seine eisblauen Augen schweifen, als würde er in Erinnerungen schwelgen.
Dann verließ er das Wrack und stapfte über den Meeresboden auf die King-Williams-Insel zu. Das letzte Land, das er in seinem Leben gesehen hatte.
Er entstieg der eisigen See und richtete die Reste seiner Marineuniform. Dort, wo die Zeit Löcher in den Stoff gefressen hatte, hätte ein Beobachter die grünliche Haut und zum Teil auch algenbewachsene Rippen sehen können. Das Haar hing in langen, grauen Strähnen unter seinem Zweispitz hervor, über dessen hinteren Teil sich schaumartige Flechten zogen.
Und dennoch verrieten Haltung und Gesichtsausdruck, dass er ein Anführer war – immer noch.
Die Hände in die Hüfte gestemmt, blickte er über das Polarmeer. Jene Region, die ihn zu bezwingen versucht hatte. Anders als früher spürte er die Kälte nicht.
Der rechte Nasenflügel und die Wange fehlten, sodass das Gesicht auf dieser Seite um einiges schmaler wirkte. Mit seiner dunkelblauen, fast schwarzen Zunge leckte er sich über die Lippen, die die gleiche Farbe angenommen hatten. Dunkel wie die Tiefsee.
Wind kam auf.
Er zog eine kleine Messing-Pfeife aus einer der noch intakten Innentaschen und blies hinein.
Kein Laut war zu hören.
Ein Lächeln entblößte lange, gelbe Zähne. Zufrieden steckte Sir John Franklin die Pfeife wieder ein.