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Das Jahr 2113: Auf der Erde und den Welten der Terranischen Union leben die Menschen in Frieden und Freiheit. Gemeinsam arbeitet man am Aufbau einer positiven Zukunft. Doch alle wissen: In der fernen Galaxis M 87 lauert eine feindliche Macht, die jederzeit angreifen kann. Ihr Name ist Catron. Mit dem riesigen Raumschiff BASIS sind Perry Rhodan und eine wagemutige Besatzung nach M 87 aufgebrochen. Dort haben sie bereits erste Erkenntnisse gewinnen können und wissen nun mehr über die Machtverhältnisse. Viele Dinge sind noch unklar – so hat man zwar von den Konstrukteuren des Zentrums gehört, weiß aber nicht, um wen es sich dabei handelt. Leider ist die BASIS nach dem Transport so stark beschädigt, dass eine Rückreise in die Milchstraße unmöglich ist. Man braucht technische Hilfe, und um diese zu bekommen, horchen sich die Menschen um. Rhodan erkennt, dass es in der fernen Sterneninsel offenbar jemanden gibt, den er kennt. Eine Erkundungsmission bricht zu einer fremden Welt auf – sie erweist sich als DER SCHLAMMPLANET ...
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Seitenzahl: 222
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Band 322
Der Schlammplanet
Marie Erikson
Cover
Vorspann
1. Schuldgefühle
2. Ein neuer Patient
3. Mutterliebe
4. Eine vergessene Mission
5. Ein unerwartetes Geschenk
6. Ungemütlich
7. Plane mit Hindernissen!
8. Gezwickt und angespuckt
9. Ehrengäste
10. Einer für alle
11. Todesurteil
12. Schlamm drüber
13. Ein Ilt geht baden
14. Die Hoffnung sinkt
15. Am Ende der Kraft
16. Ein zu rettender Retter
17. Wiedersehen macht Freunde
18. Freunde?
19. Dumfries an Bord
20. Verschwunden
21. Am falschen Ort
22. Wütende und Verletzte
23. Manöver
Impressum
Das Jahr 2113: Auf der Erde und den Welten der Terranischen Union leben die Menschen in Frieden und Freiheit. Gemeinsam arbeitet man am Aufbau einer positiven Zukunft. Doch alle wissen: In der fernen Galaxis M 87 lauert eine feindliche Macht, die jederzeit angreifen kann. Ihr Name ist Catron.
Mit dem riesigen Raumschiff BASIS sind Perry Rhodan und eine wagemutige Besatzung nach M 87 aufgebrochen. Dort haben sie bereits erste Erkenntnisse gewinnen können und wissen nun mehr über die Machtverhältnisse. Viele Dinge sind noch unklar – so hat man zwar von den Konstrukteuren des Zentrums gehört, weiß aber nicht, um wen es sich dabei handelt.
Leider ist die BASIS nach dem Transport so stark beschädigt, dass eine Rückreise in die Milchstraße unmöglich ist. Man braucht technische Hilfe, und um diese zu bekommen, horchen sich die Menschen um.
Rhodan erkennt, dass es in der fernen Sterneninsel offenbar jemanden gibt, den er kennt. Eine Erkundungsmission bricht zu einer fremden Welt auf – sie erweist sich als DER SCHLAMMPLANET ...
1.
Schuldgefühle
Thomas Rhodan da Zoltral
Ich muss es wissen! Ich muss zurück zur Erde.
Thomas Reginald Rhodan da Zoltral starrte auf den Becher in seiner Hand. Das Wasser darin schwappte hin und her. Nicht weil Thomas auf unruhigem Untergrund gestanden hätte – die BASIS glitt ruhig dahin wie eh und je –, sondern weil seine Hand zitterte.
Nicht immer kündigten sich seine Episoden so an, aber oft. Die Episoden. Die anderen nannten sie so. Er fand das Wort abschätzig, wusste aber kein besseres für die Phasen, in denen er die Kontrolle über seinen Körper verlor.
Wenn er sich zusammenkauerte und im Schrank versteckte wie ein kleines Kind.
Wenn er stundenlang auf einen Löffel starrte, unfähig zu erfassen, welchen Gegenstand er betrachtete.
Wenn er krampfte, was glücklicherweise überwiegend nachts in seinem Bett geschah.
Wenn er irgendwo saß und den ganzen Vormittag über nichts tat, als den Oberkörper vor und zurück zu wiegen.
Das mochte befremdlich auf andere wirken. Aber viele Leute taten seltsame Dinge, um sich besser zu fühlen: ungesundes Essen in sich hineinstopfen, exzessiven Sport treiben oder zu Krach tanzen.
Und er fühlte sich gerade dadurch besser, dass er in diesen Momenten die Kontrolle verlor. Es war, als pausiere das Leben dann kurz. Als säße er unter einer Kuppel, die ihn von allem abschirmte, was ihm zusetzte. Und das war eine Menge.
Er war das Licht der Vernunft gewesen. Der oberste Aphiliker. Er hatte seinen Patenonkel Reginald Bull belogen. Genau wie seine Mutter Thora Rhodan da Zoltral und seinen Vater Perry Rhodan. Hatte sich ihnen gegenüber als Immuner ausgegeben. Am Ende war es doch zur Konfrontation gekommen. Er hatte seine Mutter vergiftet und war drauf und dran gewesen, seinen eigenen Vater zu töten – alles nur, um das Jungbrunnen-Medikament, das die Aphilie heilte, nicht nehmen zu müssen.
Stella Michelsen, Bulls Ehefrau, hatte auf ihre Dosis zu Toms Gunsten verzichtet. Und was hatte er seinem Vater auf dieses Geschenk entgegnet? Er hatte von seinem überragenden und vernunftbasierten freien Verstand geschwärmt. »Gegen die Vernunft gibt es keine Heilung«, hatte er gesagt, »denn Vernunft ist keine Krankheit.«
So formuliert, stimmte der Satz sogar. Das eigentliche Problem war jedoch nicht die Vernunft gewesen, sondern die Abwesenheit jeglichen Gefühls. Denn wie sollte man eine für das Zusammenleben und das Miteinander vernünftige Entscheidung treffen, wenn die Entscheidung nur auf Grundlage kalter Fakten erfolgte, Faktoren wie Liebe, Freundschaft, Fürsorge und Mitleid aber nicht berücksichtigt wurden?
Die Menschen hatten gesehen, wohin das führte. Mehr als ein halbes Jahrhundert lang. Wie mit Kindern, mit Kranken, mit Alten umgegangen worden war. Und Thomas hatte in der ersten Reihe gestanden und den Takt vorgegeben.
Wünschte er sich, dass das Medikament nicht nur die Aphilie geheilt, sondern auch sein Gedächtnis gelöscht hätte? Ja und nein.
Ja, weil er das Wissen um das, was er getan hatte, kaum zu ertragen vermochte. Nein, weil es eine angemessene Strafe war, sich zu erinnern.
Er hatte den gesamten Vorrat des Jungbrunnen-Medikaments unter seiner persönlichen Kontrolle gehortet. Weil er geglaubt hatte, es sei schädlich für Aphiliker. Aber er hätte es ausprobieren können, es besser erforschen müssen. Es wäre ihm dann jederzeit möglich gewesen, sich das Heilmittel zu spritzen. Aber nein, er hatte sich jeden einzelnen Tag dagegen entschieden. War stattdessen lieber immer wieder durch den schwarzen Sperrschirm, der das Solsystem von Rest des Universums abgeschottet hatte, nach draußen geflogen, um sich jung zu halten.
Nun bestand sein Leben daraus, mit den Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen fertigzuwerden.
Und dabei halfen ihm die Anfälle. Diese Oasen der Ruhe, wenn sein Verstand in einen Leerlauf schaltete. Ja – Oasen. Dieses Wort gefiel ihm viel besser als »Episoden«.
Doch seine Eltern waren stets in großer Sorge, wenn sie ihn in einer seiner Oasen erlebten. Seine Eltern, die während der Aphilie nicht da gewesen waren. Wieder so ein Gedanke, der für ihn schwierig einzuordnen war. War er deswegen wütend auf sie? Wohl nein, denn was hätten sie tun können? Onkel Reg hatte zwar eine Widerstandsorganisation gegründet, aber selbst ihm war es nicht gelungen, die Aphilie aufzuhalten. Erst nachdem Perry Rhodan zurückgekehrt war. Wäre er früher gekommen, hätte er dann auch früher für ein Ende gesorgt? Vielleicht war Tom doch ein wenig wütend.
Immer wieder überkamen ihn Erinnerungen. Die Bilder, die sich dann vor seinen Augen abspielten, waren bereits für sich genommen schrecklich genug. Unerträglich aber war, dass er exakt wusste, wie er sich damals gefühlt – vielmehr, was er alles nicht gefühlt – und was er gedacht hatte. Er konnte seine Entscheidungen, die er als Licht der Vernunft getroffen hatte, noch immer ... nachvollziehen. Und alles fühlte sich weiterhin furchtbar nah an. So, als könnte es jederzeit wieder passieren.
Aus diesem Grund musste er zurück nach Terra. Sofort! Um zu sehen, ob dort alles in Ordnung war. Ob die Menschen wieder menschlich waren. Vielleicht wäre sonst dieses Mal er derjenige, der nicht zur Stelle war. Der einen Unterschied gemacht hätte, wenn er eher zurückgekehrt wäre.
Non, ce sont des conneries.
Die Stimme in seinem Kopf war nicht seine eigene. Jedenfalls nicht nach der ursprünglich für ihn geltenden Definition. Sie gehörte dem Zweitbewusstsein, mit dem Thomas sich seinen Körper mittlerweile teilte. Das war auch etwas, mit dem er sich auseinandersetzen musste. Er war nicht mehr nur Thomas Rhodan da Zoltral, er war außerdem gleichzeitig Roi Danton. Rhodanton, gewissermaßen. Und Danton hatte seine ganz eigene Bürde zu tragen. Er war von den Schwestern der Tiefe programmiert worden wie ein Virus, wie Gift. Seither konnte Danton nicht mehr auseinanderhalten, welche Gedanken wirklich seine eigenen und welche ihm eingepflanzt worden waren.
Was für eine Ironie! Der eine, der nur zu gut über seine Vergangenheit Bescheid wusste, und der andere, der verzweifelt darum kämpfte, seine Erinnerungen zu finden. Es klang wie der Anfang eines Witzes: Treffen sich zwei verwirrte Bewusstseine in einem Körper ...
Die Chefmedizinerin Lia Tifflor und vor allem das Mentamalgam Sud bedrängten ihn – sie –, eine Gesprächstherapie zu machen.
Sie habe das ebenfalls durchgemacht, sagte Sud dann immer. Von wegen! Bei ihr waren zwei Bewusstseine verschmolzen. Das von Sid González und Sue Mirafiore. Sid und Sue waren zu Sud geworden. Zwei mal eins gleich eins. Somit hatten sie sich nur einmal aufeinander einschwingen müssen, und fertig. Bei Danton und ihm war es hingegen eins plus eins gleich zwei.
Wobei das zweite Bewusstsein im Grunde das geringste Problem war. Das Entscheidendere war, dass Thomas in der Vergangenheit getan hatte, was er getan hatte. Und dass es sich nicht wiederholen durfte. Aber vielleicht tat es das! In genau diesem Moment.
Er musste sofort etwas unternehmen.
Non! Wir sind in der Galaxis M Siebenundachtzig! Wie willst du da zur Erde kommen?
Der Franzose hatte recht. Die Riesengalaxis war 55 Millionen Lichtjahre von der Milchstraße entfernt. Es brauchte ein besonderes Raumschiff, um diese gewaltige Distanz zu überwinden, das von der lunaren Hyperinpotronik NATHAN gemeinsam mit den Posbis eigens für diesen Zweck gebaut worden war: die BASIS. Und auf diesem Fernraumschiff befanden sie sich nun!
Richtig, mon ami. Aber der Tesserakt wurde beschädigt, eine Rückkehr nach Terra ist also nicht möglich ...
Thomas schob Dantons Bewusstsein in den Hintergrund. Das gelang ihm nicht immer. Besonders wenn er müde, hungrig oder traurig war, hatte er oft nicht die Kraft für ein mentales Armdrücken. Manchmal kam es sogar dem Ausflug auf eine Oase gleich, Danton das Ruder ganz zu überlassen. Selbst wenn der Franzose mit seinen eigenen Dämonen kämpfte.
Gegenwärtig indes war Thomas geistig vollkommen bei sich und klar. Deshalb schaffte er es, den Franzosen verstummen zu lassen.
Als Tom sich in Bewegung setzte, knackten seine Gelenke. Offenbar hatte er länger auf dem Flur verharrt, als ihm bewusst gewesen war. Aber das machte nichts. Ein kluger Plan musste gut durchdacht werden.
Er trank das Wasser leer und ließ den Becher fallen. Scheppernd fiel er zu Boden. Ein Reinigungsroboter würde ihn später wegräumen. Thomas hatte für solche Nebensächlichkeiten gerade keinen Kopf.
Denn er musste den Tesserakt reparieren.
Der Tesserakt war im Heck der BASIS installiert. Um dort hinzugelangen, musste Tom die großteils luftleere Hangarsektion durchqueren, weshalb er sich einen Raumanzug überstreifte.
Je näher er seinem Ziel kam, desto weniger Personal traf er.
Das ärgerte ihn. Wenn es sich alle in der Humansektion gemütlich machten, war es ja kein Wunder, dass die Reparatur nicht voranschritt.
Andererseits hatte er etwas, das andere nicht hatten. Er strich sich über die Stelle im Nacken an der Schädelbasis, wo das Implantat saß, das er von Leibnitz übernommen hatte. Damit würde er mit Monade kommunizieren können. Und weil der Tesserakt von Posbis erschaffen worden war, würde Monade die positronisch-biologischen Roboter in seinem Namen anweisen, die Reparatur endlich voranzutreiben. Der Plan war perfekt.
Je näher Thomas dem Heck kam, desto mehr strengten ihn die Schritte an. Sein Kopf dröhnte. Hätte er mehr Wasser trinken sollen? Wann hatte er zuletzt gegessen? Irrelevant. Es mussten Prioritäten gesetzt werden. Essen, trinken, schlafen, all das konnte er erledigen, sobald die BASIS auf dem Rückflug nach Terra war.
Vielleicht wurden seine Kopfschmerzen aber auch von dem Rauschen verursacht, das vom Tesserakt ausging. Er musste schon ziemlich nah sein. Das Geräusch hatte Ähnlichkeit mit einem Reinigungsroboter in der Saugeinstellung. Eines Roboters, der offenbar groß genug war, um die Wüste Gobi aufsaugen zu können. Denn es war nicht das eigentliche Brummen und Surren, es war die Lautstärke, die so erdrückend war.
Thomas fasste sich wieder in den Nacken. Zwar war das unnötig, um das Implantat zu aktivieren, aber es fiel ihm leichter, sich auf die Stelle zu konzentrieren, wenn er sie haptisch spürte. Monade gab durch nichts zu erkennen, dass die Verbindung hergestellt war, aber er wusste es.
»Monade, repariere mit deinen Posbis den Tesserakt!« Bei dem Dröhnen ringsum hätte vermutlich sogar jemand, der direkt neben Thomas gestanden hätte, keins dieser Worte gehört. Aber wenn Tom sie aussprach, fühlte es sich mehr so an, als würde er wirklich etwas tun.
Wieder antwortete Monade nicht direkt. Aber er wusste, dass die Posbis bereits mit Hochdruck daran arbeiteten, die Schäden am Tesserakt zu beheben – und es angeblich nicht schafften.
Zorn wallte in ihm hoch. Seine Beine kribbelten unangenehm, sein Herzschlag beschleunigte sich und er biss die Kiefer so fest aufeinander, dass die Gesichtsmuskulatur schmerzte. Er musste sich beruhigen.
Aber nur so weit, dass er bei klarem Verstand blieb. Er durfte die Zügel nicht so sehr lockern, dass der Franzose die Oberhand gewann. Thomas spürte, wie Danton es versuchte. Als würde jemand am anderen Ende des Flurs hinter einer verschlossenen Tür kratzen.
Thomas eilte außen an einem Abschnitt der zweieinhalbtausend Meter durchmessenden Kugel von HAMILLER entlang. Das war die Künstliche Intelligenz der BASIS, die fast alles an Bord steuerte, auch das komplexe Hyperenergie-Management des Tesserakts. Außerdem erhielt die KI Schirmfelder aufrecht, um die Strahlung abzufangen, die vom Tesserakt ausging. Was konnte die Strahlung des Hyperwürfels noch gleich anrichten? Schlimme Schäden. Aber welche genau? Tom wusste es nicht mehr. Bestimmt galt das nicht für ihn. Er hatte besondere Gene.
Die Kopfschmerzen wurden schlimmer. Er fühlte sich erschöpft, beinahe fiebrig. Dennoch lief er weiter auf den Tesserakt zu.
Du wirst sterben!
Thomas blieb stehen, presste die Finger gegen die Schläfen. Woher war dieser Gedanke gekommen? Von ihm selbst? Versuchte Danton, ihm das einzuflüstern, weil der Franzose nicht zurück nach Terra wollte? Oder war es Monade, die den Tesserakt eifersüchtig hegte? Aber sie würde schon noch sehen, wer der Stärkere war! Er hatte das Implantat. Und er würde Monade genauso in ihre Schranken weisen wie Danton.
Das Schott vor ihm glitt widerstandslos zur Seite. Was er in der hohen Halle dahinter sah, erinnerte Thomas an ein riesiges Sportstadion. Auf den Rängen des weit geschwungenen Halbovals saßen jedoch keine Zuschauer, sondern Posbis werkelten an mobilen Arbeitsstationen. Einige wurden mittels ausfahrbarer Gelenkarme auf Arbeitsbühnen in die Höhe gehoben, andere betätigten vom Boden aus lange Tentakel mit diversen Werkzeugen am vorderen Ende, deren Zweck für Thomas nicht erkennbar war.
Der Tesserakt befand sich hinter der gegenüberliegenden, komplett offenen Hallenseite. Starke, transparente Energieschirme trennten das lokale Kontroll- und Wartungsareal von der eigentlichen Tesseraktkaverne. Sehen konnte Thomas von dem Hyperwürfel allerdings nur den Teil, der an die im unteren Bereich halbamphitheaterartig gestaltete Hochmulde grenzte, in der er stand.
Schon dieser Anblick war gigantisch. Wie mochte es erst wirken, wenn man das Gebilde mit seiner Kantenlänge von fünftausend Metern in Gänze sah? Legenden behaupteten, der Tesserakt bestünde zu großen Teilen aus Zinn, Selen und Quecksilber. Das erschien Thomas nicht unplausibel, denn seine Oberfläche schimmerte silbern und wirkte mit endlos geschmeidigen, sich immer wieder selbst verschlingenden Bewegungen beinahe flüssig.
Nein, nicht beinahe, entschied er. Die Oberfläche verflüssigt sich stellenweise tatsächlich immer wieder für ein paar Sekunden.
Die Posbis passten diese Zeitpunkte ab und ließen die seltsamen, langen Tentakel quer durch korrespondierende Sperrschirmsegmente ins Innere des Tesserakts gleiten. Dann verfestigte sich das Gebilde wieder und zerrte die schlangengleichen Werkzeuge mit sich fort.
Die ständige Neuformung mit ihrer changierenden Silberanmutung entfaltete eine hypnotische Wirkung. Erst nach der dritten oder vierten Iteration fiel Thomas auf, dass die Bewegungen doch nicht so geschmeidig waren, wie er zuerst gedacht hatte. Zuweilen stockte die repetitive Transformation für einen winzigen Augenblick. Das ging so schnell, dass er es allein optisch vielleicht gar nicht bemerkt hätte. Aber in diesen Momenten wurde das allgegenwärtige monotone Brummen von einem metallischen Knirschen untermalt.
Er musste sich zwingen, die Augen abzuwenden. Sein Mund fühlte sich trocken an. Eigentlich sogar sein ganzer Körper. Als würde er verwelken. Sein Bedürfnis nach Nahrung und Flüssigkeit war wohl doch stärker, als er angenommen hatte. Sogar seine Knochen schmerzten.
Aber das war ihm zurzeit egal. Eins nach dem anderen. Er blendete den Schmerz und die beginnende Übelkeit aus. Jedenfalls so gut es eben ging. Leider ging es mit jedem Atemzug schlechter.
Wie der Tesserakt funktionierte, wussten nur die Posbis und NATHAN. Bisher. Monade würde es ihm verraten, da war sich Tom sicher. Sie waren schließlich miteinander verbunden. Abermals hob er einen Arm, um nach dem Implantat zu tasten. Er erschrak, als er seine Hand sah. Die Haut wirkte aufgedunsen und faltig. Ganz als habe er eine Stunde in warmem Badewasser verbracht.
Wieder das metallische Knirschen.
2.
Ein neuer Patient
Lia Tifflor
Lia Tifflor saß in ihrem Büro und zupfte an einer ihrer widerspenstigen Haarsträhnen. Was hätte die Chefärztin der BASIS darum gegeben, ein paar Stunden zu schlafen. Aber das konnte sie sich aktuell kaum leisten.
Ihre Finger wanderten zur Schublade ihres Arbeitstischs. Sie entriegelte den Verschluss mit ihrem Daumenabdruck und zog eine Ampulle Vitostat daraus hervor. Ähnliche hochwirksame Stimulanzen auf Amphetaminbasis waren auf Terra früher auch illegal als Drogen gehandelt worden.
Aber sie hatte ihren Konsum unter Kontrolle. Schließlich nahm sie die Substanz unter ärztlicher Aufsicht – nämlich ihrer eigenen. Und nur so lange, wie es unbedingt notwendig war.
In diesem Moment zum Beispiel. Denn sie musste dringend die Patientenakten auf den neuesten Stand bringen. Die Dokumentation war eigentlich der langweiligste Teil ihrer Arbeit. Derzeit indes half ihr die schriftliche Fixierung, über die Patienten nachzudenken. Anfangs hatte sie sich von ihrem Patenonkel Perry Rhodan in den Job hineingequatscht gefühlt. Mittlerweile jedoch genoss sie es, auf dieser Fernexpedition dabei zu sein. Als Spezialistin für Mehrfachpersönlichkeiten hatte sie an Bord der BASIS sogar gleich mehrere faszinierende Studienobjekte. Wer hätte das gedacht?
Da gab es zum einen Sarah Maas, die zwar keine Mehrfachpersönlichkeit war, aber nach der Flucht vor der Aphilie mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu kämpfen hatte. Als sie in M 87 Zeugin der Vernichtung von Flüchtlingsschiffen geworden war, hatten die Erinnerungen sie eingeholt. Nun wurde sie therapiert, wobei John Marshall ihre größte Stütze war. Aber auch Gucky half, wo er konnte, und das machte er wirklich gut.
Onkel Gucky. Tifflor kicherte leise. Reginald Bull hatte ihr als Kind beigebracht, Gucky so zu nennen – und der Mausbiber hasste es.
Außerdem hatte die BASIS vor einiger Zeit den Außerirdischen Douc Langur aufgenommen, nachdem dessen Raumschiff havariert war. Er war ein interessanter Charakter, mit dem sich Tifflor gern unterhielt. In den Gesprächen hatte sie beinahe das Gefühl, dass nicht nur sie ihn studierte, sondern er auch sie.
Immer wenn sie etwas über sich erzählte, öffnete er sich ebenfalls, erzählte ihr von seiner Unsicherheit. Dass er sich laufend fragte, ob er ein künstliches Wesen war oder nicht. Er hatte ihr sogar in Aussicht gestellt, seine sogenannte Grotte mit einer Sonde erkunden zu dürfen. Das war sein persönliches Domizil auf der BASIS, in das er sich zur Erholung und für seine Schlafphasen zurückzog. Er hatte es gemeinsam mit HAMILLER außerhalb der Humansektion gebaut, um dort die besonderen Umweltbedingungen herstellen zu können, die seine Spezies benötigte. Ohne die ...
Tifflors Bürotür schwang auf. Zwei Posbis hielten mit ihren Greifarmen eine Person untergehakt. Der Körper hatte selbst keinerlei Muskelspannung, weshalb die Maschinenwesen ihn hinter sich her schleiften.
»Bitte legt ihn auf die Liege dort.«
Die Posbis befolgten Tifflors Anweisung wortlos und schwebten danach sirrend davon.
Der Patient war in einem schlimmen Zustand, sodass sie Mühe hatte, ihn zu erkennen. Sein Gesicht war derart blass, dass es auf den eingefallenen Wangen bläulich wirkte. Schwarze Ringe lagen um tief in den Höhlen liegende Augen. Die Haut spannte sich über den Schädelknochen, als wäre der Mann ... leer gesaugt worden. Tifflor wusste, dass dies keine valide medizinische Diagnose war. Trotzdem konnte sie sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dem Patienten das Leben aus dem Körper gezogen worden war. Er wirkte wie ein Greis und jung zugleich. Wie war das möglich?
Die Medizinerin prüfte den Puls der Halsschlagader. Er war schwach, aber vorhanden. Ebenso wie die Atmung. Sie zog ein Augenlid des Patienten in die Höhe, um die Reaktion der Pupillen zu testen. Als sie die rötlichen Iriden sah, hatte sie keine Zweifel mehr.
»Thomas! Tom! Kannst du mich hören?«
Thomas Rhodan da Zoltral reagierte nicht, atmete nur rasselnd.
Um ihm das Luftholen zu erleichtern, gab sie ihm eine Injektion Beta-2-Sympathomimetika.
Erst am Tag zuvor hatte sie ihn untersucht, wie so oft in den vergangenen sechs Monaten. Da war er noch wohlauf gewesen. Was war ihm nur zugestoßen, dass er sich in weniger als zwanzig Stunden so sehr verändert hatte? Er war kaum wiederzuerkennen.
Er stöhnte. Sein ganzer Körper fing an zu zittern.
Schnell bereitete Tifflor eine intravenöse Verabreichung von Adrenalin und Dobutamin vor. Als sie auf den Handrücken drückte, blieb eine Kuhle, wie wenn man in festen Teig drückte. Nachdem sie die Infusionen gelegt hatte, betrachtete sie Toms Handinnenfläche. Die Finger waren schrumpelig, als wäre die Haut in Wasser aufgedunsen. Gleichzeitig waren die Furchen auf den Fingerkuppen hart, wie aus Ton geformt.
Die ursprünglich dunkelblonden, fast braunen Haare waren flächig grau durchsetzt. Sie fasste nach einer Strähne, um ihre Struktur zu fühlen und sich die Beschaffenheit der Kopfhaut anzusehen, schon hatte sie ein ganzes Büschel in der Hand.
Sie öffnete Toms Mund. Die Mundschleimhaut war beige und wirkte verwelkt, beinahe wie bei einer Mumifizierung. Vorsichtig ruckelte sie an einem der Zähne, er gab unter dem Druck nach und wackelte hin und her. Wenn sie sich nicht beeilte, würde er seine Zähne verlieren.
Thomas röchelte, tat einen längeren Atemzug.
»Kannst du mich hören? Ich bin es, Tifflor. Was ist geschehen?«
Einen Moment lang geschah nichts. Dann schlug er die Lider auf. Er starrte geradeaus, es war geradezu unheimlich. Aber als Ärztin durfte sie sich nicht einschüchtern lassen. Er war ihr Patient.
Thomas biss die Kiefer aufeinander. Tifflor fürchtete, er könnte dadurch die locker sitzenden Zähne verlieren, und drückte ihm den Mund auf. Ein wenig dickflüssiges Blut quoll aus seinem Lippenwinkel. Es war so dunkelrot, dass es an Schwarz grenzte. Sie suchte mit dem Finger die Mundhöhle ab, damit er nicht womöglich an einem ausgefallenen Zahn erstickte. Die Zähne waren jedoch alle noch an Ort und Stelle. Offenbar hatte er sich nur auf die Zunge gebissen. Aber warum war das Blut dann so zäh?
Sie zog die Hand zurück und drehte ihn auf die Seite, damit er ausspuckte und sich nicht verschluckte.
Sie rieb Zeigefinger und Daumen aneinander. Das Blut fühlte sich an, als wäre es schon im Körper halb geronnen. Thomas wirkte, als wäre er auf dem Weg, mumifiziert zu werden.
Plötzlich spannte er sich an, versuchte sich aufzurichten. Mit blutverschmiertem Mund starrte er sie an, krächzende Laute entwichen seiner Kehle. Sie klangen wie extrem gedehnte Vokale. Er stieß mehrere dieser Tonfolgen aus, dann erschlaffte sein Körper wieder in ihren Armen.
Lia Tifflor verlor keine Zeit, weil Thomas Rhodan da Zoltral keine zu verlieren hatte.
3.
Mutterliebe
Thora Rhodan da Zoltral
Thora Rhodan da Zoltral stürzte an den Heiltank. Als sie ihren Sohn Thomas in dem durchsichtigen Gel schweben sah, traten ihr Tränen in die Augen.
Schon wieder die Krankenstation, schon wieder ihr Sohn, der intensivmedizinisch behandelt wurde, schon wieder sie, die nur hilflos danebenstehen konnte.
Wie viel schon wieder konnte sie noch ertragen?
Sie wusste die Antwort: Als Mutter würde sie es ertragen, solang ihr Sohn es ertragen musste.
»Das Heilgel nährt die Zellen und erhöht deren Teilungsrate«, erläuterte Lia Tifflor. »Ich konnte auch Organschäden feststellen, vor allem an der Leber. Unsere medizinischen Nanoroboter kümmern sich bereits darum.«
Thora war der Chefärztin dankbar. Zum einen, weil sie sich so vorbildlich um ihren Sohn kümmerte. Zum anderen, weil sie Thora und Perry Rhodan sofort kontaktiert hatte.
Rhodan war gerade im Begriff gewesen, sich mit Gucky zu ihrem neuesten Passagier Oogh at Tarkan zu begeben. Der Kartane war im Dewellsystem kurz vor der Fluchttransition der BASIS überraschend an Bord gekommen. Rhodan hatte dieses Vorhaben sofort auf später vertagt und war stattdessen mit Thora in die Medostation geeilt.
Tifflor war eine äußerst empathische Frau, was das Zittern in ihrer Stimme erklärte. Ihr war es mit Sicherheit nicht leichtgefallen, ihrem Patenonkel, dem sie die Berufung auf die BASIS verdankte, die Neuigkeiten mitteilen zu müssen.
»Er war nicht bei Bewusstsein, als die Posbis ihn brachten.« Tifflor rief Toms Vitaldaten in einem Holo auf. »Aber die Werte stabilisieren sich. Ich werde ihn vorsichtshalber ein paar Tage im Heilschlaf belassen. Ich rechne damit, dass er sich vollständig erholt. Wegen der guten Anlagen.« Bei den letzten Worten sah sie zu Rhodan und Thora.
Natürlich war Thomas etwas Besonderes. Er war ihr Sohn! Und was hatte er nicht alles durchmachen müssen. Aber Thora war klar, dass Tifflor nicht das meinte. Sie meinte seine biologische Besonderheit: Tom war das Kind eines relativ unsterblichen Terraners und Zeitträgers sowie einer inzwischen ebenfalls biologisch unsterblichen Arkonidin.
Thora legte die Hand auf die Scheibe des Heiltanks. Er sieht aus wie eine männliche Form von Schneewittchen, dachte sie. Das war eins dieser terranischen Märchen, die sie ihren Kindern früher vorgelesen hatten. Es fühlte sich an, als wäre es gleichzeitig gestern gewesen und eintausend Jahre her.
Ebenfalls erschreckend klar war die Erinnerung, wie Perry und sie vor nicht allzu langer Zeit schon mal am Krankenbett ihres Sohns gestanden hatten. Als Tom durch die Injektion mit Jungbrunnen von der Aphilie geheilt worden war. Er war schwach, aber ansprechbar gewesen.
Sie betrachtete sein Gesicht. Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle, sodass das Schlucken schmerzte. Was war Tom nur zugestoßen? Was war passiert?
Als habe er ihre Gedanken lesen können, fragte Rhodan die Ärztin: »Weißt du, was der Auslöser war?«
Thora warf ihrem Ehemann einen Seitenblick zu. Äußerlich wirkte er gefasst. Aber sie kannte ihn genau. Seine Stimme klang belegt, also kämpfte auch er mit den Tränen.
»Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Tifflor, »und im Grunde fällt mir nur ein Ort auf der BASIS ein, der Gewebe zersetzt und solche Schäden hervorrufen kann.«
»Der Tesserakt!« Rhodan formulierte es nicht als Frage. Er betätigte sein Multifunktionsarmband. »Ich rufe die relevanten Überwachungsaufzeichnungen ab.«
Ein Hologramm leuchtete zwischen ihnen auf, und tatsächlich zeigte es Tom in einer Vorhalle der Tesseraktkaverne. Mit offenem Mund und großen Augen betrachtete er den dort zugänglichen Teil des Hyperwürfels, der für die Funktion des intergalaktischen Dimetransantriebs der BASIS unabdingbar war. Dann sah es aus, als altere Thomas im Zeitraffer, bis er schließlich zusammenbrach. Thora wandte die Augen ab. Sie konnte den Anblick, wie die Strahlung ihrem Sohn zusetzte, nicht ertragen.
»Das Eindringen in den Hochsicherheitsbereich des Tesserakts hätte sofort Alarm auslösen müssen«, wunderte sich Rhodan. »Ich glaube nicht, dass Tom in der Verfassung war, diese Schutzsysteme zu umgehen oder zu desaktivieren.«
»Aber wer könnte es sonst gewesen sein?«, fragte Thora.
»Ich vermute, dass Monade etwas damit zu tun hatte. Aus welchem Grund auch immer.«
»Glaubst du, Monade wollte Tom ...« Wieder stiegen Thora Tränen in die Augen. Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende denken.
»Nein, ich glaube nicht, dass Monade ihm schaden wollte. Vielleicht hat Tom sie von seinem Vorhaben irgendwie überzeugt?«
»Warum hat er das getan?« Thoras Stimme war nur ein Flüstern. Und sie war nicht sicher, ob sie die Antwort wissen wollte. Denn was sagte das über den Geisteszustand ihres Sohns aus? Diese Sache hätte ihn umbringen können! Jeden anderen, ohne die genetischen Voraussetzungen, wie Tom sie hatte, hätte die Strahlung des Tesserakts trotz der zahlreichen Abschirmungen fraglos sofort getötet.
War er nicht klar bei Verstand und hatte das nicht gewusst? Oder noch schlimmer: War er bei klarem Verstand und hatte genau das beabsichtigt?