John Sinclair 2408 - Marie Erikson - E-Book

John Sinclair 2408 E-Book

Marie Erikson

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Beschreibung

Die alleinerziehende Eve Jacobs war früh am Abend vor Erschöpfung eingeschlafen. Sie hatte ganz vergessen, den ausgefallenen Milchzahn ihres Sohnes und das Bild, das er für die Zahnfee gemalt hatte, unter Matthews Kopfkissen hervorzuholen, sobald er eingeschlummert war.
Und trotzdem überraschte Matthew sie am Morgen mit der Nachricht, dass der Zahn und das Bild verschwunden waren. Dafür waren Worte in sein Bettlaken eingebrannt: Ich danke dir!
Und damit begann für Eve und ihren kleinen Sohn das Grauen! Denn die ›Zahnfee‹, mit der sie es zu tun bekamen, war eine mordende Rächerin aus dem Jenseits!

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Seitenzahl: 139

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

Cover

Zahn um Zahn

Briefe aus der Gruft

Vorschau

Impressum

Zahn um Zahn

von Marie Erikson

»Und jetzt den Mund schön weit aufmachen!«

Dr. Samuel Bain beugte sich über den Zahnarztstuhl, auf dem der sechsjährige Matthew Jacobs saß, die Augen vor Aufregung fast genauso weit geöffnet wie den Mund.

Bevor Bain die Finger in Matthews Mund schieben konnte, hielt seine Arzthelferin Eve ihm ein Paar Gummihandschuhe hin.

Zunächst tat Bain so, als bemerke er es nicht. Aber Eve wedelte so penetrant mit den Dingern vor seiner Nase herum, dass er sie kaum mehr ignorieren konnte.

Sollte er einfach ablehnen?

In den knapp sechs Monaten ihrer Zusammenarbeit müsste sie eigentlich längst gemerkt haben, dass er Handschuhe und dergleichen für ausgemachten Firlefanz hielt, der ihn bei der eigentlichen Arbeit nur ausbremste und ihm das Gefühl in den Fingern nahm. Das bisschen, das er überhaupt noch hatte.

Denn auch wenn er die glänzenden, langen, spitzen und scharfen Werkzeuge mochte, die für seine Profession hergestellt wurden, so schwor er doch auf das Gefühl, das Übel mit den Fingern – Wortspiel beabsichtigt – direkt an der Wurzel zu packen. So wie sein Vater und dessen Vater vor ihm.

Bei diesem Patienten gab es nur ein Problem: Matthew war Eves Sohn.

Und auch wenn sie nicht so renitent war wie ihre Vorgängerin Annie, war sie doch eine sogenannte Löwenmama und würde bei ihrem Sohn kaum Ruhe geben.

In solchen Momenten vermisste er Annie. Ja, sie hatten sich regelmäßig in die Haare bekommen. Aber erstens war er der Chef gewesen und hatte ihr Gehalt bezahlt, womit ihm stets das letzte Wort zustand. Und zweitens hatte sie keine neugierigen Fragen gestellt – zumindest bis zu dem Vorfall, nachdem sie gekündigt hatte, um diesen Pferdehof zu betreiben. Was für eine krasse Veränderung. Andererseits hatte sie es immer noch mit bissigen Geschöpfen zu tun.

Der Vorfall. So nannte er es für sich, weil er ungern darüber nachdachte. Besser, man gab unangenehmen Dingen einen neutralen Namen.

Eve war nicht so kratzbürstig wie Annie. Dafür aber moralisch integer, wie man so schön sagte. Dr. Bain wagte es deshalb nicht einmal, sie auch nur darum zu bitten, bei seinen Geschäften mitzumachen. Denn oftmals fühlten sich diese Gutmenschen ja auch noch dazu verpflichtet, solche Sachen zu melden. Als würde es nicht ausreichen, einfach zu sagen: »Nein, danke. Das ist nichts für mich.«

Gott sei Dank war Eve nur halbtags da. So konnte er allem anderen nachmittags nachgehen. Aber es war nicht mehr so lohnenswert wie früher. Und seit dem Vorfall hatte er dabei auch nicht mehr so ein gutes Bauchgefühl. Er war schließlich auch nicht aus Stein ...

Raschel, raschel.

Eve schwang noch immer die Handschuhe vor seinem Gesicht und lächelte ihn dabei freundlich an. Mit einem resignierten Seufzen nahm er die verfluchten Dinger und streifte sie sich widerwillig über. Sie spannten über die Haut und schränkten seinen Bewegungsradius ein.

»Also noch mal: Bitte den Mund schön weit aufmachen!« Eve sollte ruhig hören, dass er genervt war. Nicht dass ihr das zur Gewohnheit wurde, wenige Jahre vor seiner Rente.

Matthew gab sich Mühe und riss den Mund auf, so weit er konnte. Aber diese Kindermünder waren einfach so verflucht klein.

Dr. Bain legte den Zeigefinger an den linken oberen Schneidezahn und bewegte ihn hin und her. Der Wackelzahn saß so locker, dass er sich in eine beinahe waagerechte Position drücken ließ.

»Na, der wackelt aber schon tüchtig«, sagte Dr. Bain. »Der fällt bestimmt bald raus.«

Matthew nickte etwas unbeholfen.

Immerhin, dachte Dr. Bain. Keiner von den Bengeln, die versuchen zu re‍den, während ich meine Finger bei ih‍nen im Mund habe, und mich dabei fast beißen.

Er packte den Zahn zwischen Zeigefinger und Daumen und drehte ihn. Eine Vierteldrehung machte der Schneidezahn problemlos mit. Erst danach leistete er etwas Widerstand. Dr. Bain drückte weiter, bis es an der Wurzel leise knackte und der Zahn seine letzte Verbindung mit dem Kiefer verlor.

»Da haben wir ihn!«, rief Dr. Bain triumphierend. Er hielt den Zahn in der Hand, und aus dem Loch im Zahnfleisch quoll ein Tropfen Blut.

Matthew verzog die Oberlippe und tastete mit der Zunge in der neu entstandenen Lücke. »Och Menno«, maulte er. »Ich wollte ihn noch behalten. Meine Freunde sind ausgeflippt, wenn ich den so nach vorn gedrückt habe. Damit konnte ich die immer richtig krass erschrecken.«

»Und mich auch.« Eve streichelte ihrem Sohn liebevoll über den Kopf. »Aber du hast ja noch genügend Milchzähne, die wackeln werden.«

»Wirst du dir etwas von der Zahnfee wünschen?«, fragte Dr. Bain.

Matthew sah verlegen zu seiner Mutter. »Ich würde so gern mal Pony reiten.«

»Das sollte kein Problem sein«, sagte Dr. Bain. »Ich bin ein guter Bekannter der Zahnfee und rufe sie gleich mal an.«

Er ging in das kleine Vorzimmer, griff zum Telefon und wählte die Nummer seiner ehemaligen Arzthelferin Annie. Wenn sie schon einen Reiterhof betrieb und der Junge sich das wünschte, warum nicht?

Das Gespräch dauerte nur kurz. Annie hatte etwas übrig für Kinder.

»Morgen kannst du zum Ride-In-Hof fahren und Pony reiten«, verkündete Dr. Bain stolz. »Ich hab das mit der Zahnfee besprochen.«

Matthew grinste breit, wobei seine neue Zahnlücke gut zur Geltung kam. »Das ist ja der Hammer!«

»Und was sagen wir?«, fragte Eve ihren Sohn.

»Danke, Dr. Bain.«

Eve lächelte zufrieden und sah ihn dann ebenfalls an. »Vielen Dank, Dr. Bain.«

Bain nickte und fühlte so etwas wie Zufriedenheit in sich aufsteigen. Eve hatte nicht viel Geld – mehr als das spärliche Gehalt konnte er ihr einfach nicht bezahlen –, und er freute sich, ihr und dem Jungen einen Gefallen getan zu haben. Besonders weil es ihn nichts kostete und er keine weitere Arbeit damit hatte.

Die Uhr über der Tür des Behandlungszimmers gongte zur vollen Stunde. Es war vier Uhr. Schon so spät! Er wollte endlich Feierabend haben, es kamen doch ohnehin keine Patienten mehr.

»Sonst sieht alles gut aus«, sagte er daher schnell. So genau hatte er zwar nicht geguckt, aber was sollte bei Milchzähnen schon groß sein? Sie standen weit auseinander, wurden vollständig mit Speichel umspült und so vor Karies geschützt. Außerdem war Matthews Mutter Zahnarzthelferin! Dr. Bain hätte gewettet, dass der Junge nach einer Drei-Minuten-Sanduhr putzte, die am Badezimmerspiegel klebte.

»Gut gemacht, Matthew. Bis zum nächsten Mal.« Dr. Bain riss sich die Gummihandschuhe von den Händen. Seine Haut darunter fühlte sich schwitzig und trocken zugleich an. Ekelhaft. Er stand auf. »Bis morgen Eve. Machen Sie bitte das Licht aus und schließen ab?«

Bevor sie noch etwas erwidern konnte – Nachfragen der Eltern fraßen bei Terminen mit Kindern immer die meiste Zeit –, schloss er die Verbindungstür hinter sich und stieg die schmale Treppe zu den Wohnräumen seiner Villa empor.

Das in die Jahre gekommene Anwesen der Bains thronte auf dem Hügel über Little Darkwood. Die Zahnarztpraxis lag zwar unmittelbar daneben und war über einen kurzen Gang mit dem Haupthaus verbunden, verfügte aber über eine eigene Zufahrt mit Parkplatz. Es hätte noch gefehlt, wenn sämtliche Patienten ihre Wagen vor der Villa abgestellt hätten. Obwohl, so viele waren es mittlerweile auch nicht mehr.

Bains Urgroßvater hatte noch im Dorfkern praktiziert und war danach meist gleich mit dem letzten Patienten des Tages in das Pub ›The White Hart‹ gegangen. Deshalb war das der beliebteste Termin von allen gewesen: der kurz vor Feierabend. Damals war man als Zahnarzt noch wer. Heute scharten sich die Gäste mit ihrem Bier nur um Constable Williamson, dessen Spürnase lediglich von der Fähigkeit geprägt war, den nächsten Gast auszumachen, der ihm einen Drink spendieren würde.

Bains Vater hatte die Praxis dann neben die Villa verlegen lassen. Er hatte sich den kleinen Anbau und die Gebühren für die zusätzliche Auffahrt ohne Weiteres leisten können. Die gute alte Zeit, als man Dentisten neben der Lizenz zum Praxisbetrieb gleich noch die zum Gelddrucken ausgehändigt hatte.

Seiner Mutter hatten all das Geld, das Haus und der Schmuck nicht gereicht. Sie hatte gewollt, dass ihr Mann zu den Mahlzeiten zu Hause war. Und mehr Kinder hatte sie sich gewünscht, »damit das Haus nicht so leer ist.«

Tja, aber es war bei einem Sohn geblieben. Was hätte sie wohl gesagt, hätte sie die Villa jetzt gesehen? Das Dach über der Bibliothek undicht, an manchen Stellen hing die Tapete in Fetzen von der Wand, all der Schmuck und all die Weine waren längst versetzt und jedes Zimmer still. Totenstill.

Dr. Bain selbst störte es nicht. Im Gegenteil. Er war gern allein. Genau genommen konnte er andere um sich herum kaum ertragen. Er hatte nie geheiratet, geschweige denn Kinder in die Welt gesetzt. Er mochte es ruhig. Und allein konnte er sowohl Heiz- als auch Reparaturkosten sparen. Wobei, der Schaden an dem Dach über der Bibliothek wurde langsam bedenklich.

Ähnlich war es vor drei Jahren mit den Fenstern gewesen. Erst hatte der Wind hindurchgepfiffen, dann hatte es hereingeregnet, und schließlich war eines einfach aus dem Rahmen in das Esszimmer gekippt und dort zerborsten.

Damals hatte er die Katastrophe mit dem Vorfall abwenden und das Geld für die Wiederinstandsetzung aufbringen können. Weil Annie mitgemacht oder zumindest im richtigen Moment weggesehen und weggehört hatte. Auch wenn sie kurz darauf gekündigt hatte.

Mit Eve ginge das nicht so einfach.

Vielleicht würde er das Geld für die Reparaturarbeiten auch gar nicht mehr auftreiben können. Aber was war die Alternative?

Früher war die Villa einiges wert gewesen. Aber das war Jahre her. Wer band sich heutzutage noch so einen Klotz ans Bein? Dazu in einem sterbenden Dorf wie Little Darkwood. Bei dem Renovierungsstau und den ganzen Umweltauflagen würde jeder potenzielle Käufer schreiend die Flucht ergreifen!

Nicht einmal verschenken konnte er das Anwesen. Erstens weil er es sich weder leisten konnte, eine neue Praxis zu kaufen, noch frühzeitig in Ruhestand zu gehen, und zweitens, weil er hier immerhin mietfrei wohnen konnte.

Die Lage war aussichtslos. Dieses Haus würde sein Ruin sein.

Wütend pfefferte Bain den Milchzahn des jungen Matthew in das Glas auf dem Tischchen im Flur. Auf andere hätte so eine Sammlung vielleicht makaber gewirkt, aber das war ihm egal. Noch ein Grund mehr, weshalb er die Einsamkeit vorzog. Er lebte seine ästhetischen Faibles nur in seinen vier Wänden aus, verborgen vor den Blicken der Patienten und Dorfbewohner. Er war Zahnarzt aus Leidenschaft. Weil er Zähne liebte. Nicht unbedingt, solange sie im Mund der Besitzer waren, aber danach.

So einen Zahn in der Hand zu halten, war für ihn immer noch etwas Besonderes. Die glatte Kaufläche im Gegensatz zu der gezackten Unterseite, womit sich der Zahn durch das Zahnfleisch gebohrt und am Kieferknochen festgekrallt hatte. Bei Kindern war der Schmelz noch weich, bei Rauchern braun. Jeder Zahn erzählte seine Geschichte. Und Samuel Bain hatte schon immer das Gefühl gehabt, als speicherten Zähne eine bestimmte Energie, vielleicht sogar die Lebensenergie.

Warum sonst hatten so viele Leute Angst vor dem Zahnarzt? Warum sonst war es einer der schlimmsten Albträume, die Zähne zu verlieren?

Und weil Zähne so etwas Besonderes waren, umgab er sich gern mit ihnen. Nach einem langen Tag steckte er manchmal die Hand in das Glas, wühlte sich durch, bis der ganze Unterarm darin steckte, und zog zwei oder drei von den Zähnen heraus, die er dann den ganzen Abend zwischen den Fingern rotieren ließ.

Als seine Mutter und sein Vater noch lebten, hatte er die Exemplare seiner zahnigen Sammlung, die er liebevoll ›Zahnstücke‹ in Anlehnung an ›Ausstellungsstücke‹ nannte, unter dem Bett oder in seinem Schrank verstecken müssen wie andere Jungen ihre Magazine mit nackten Frauen. Vor seinen Eltern und vor ihrem Besuch, denn ab und zu hatten sie Ehepaare aus dem Dorf zum Abendessen eingeladen. Da war das Haus auch noch vorzeigbar gewesen.

Dr. Samuel Bain lud niemanden ein. Er hatte keine Lust, sich außerhalb der Arbeit mit Menschen zu umgeben, und wollte seine Zahnstücke um sich haben und nicht mehr unter dem Bett verstecken. Außerdem sollte niemand sehen, wie heruntergekommen das Anwesen war. Das letzte bisschen Respekt, das die Dorfbewohner vor ihm als Zahnarzt hatten, sollten sie nicht auch noch verlieren.

Am schlimmsten wäre es, wenn es in Mitleid umschlüge. Dann könnte er sich gleich auf dem kleinen Friedhof auf der anderen Hügelseite begraben lassen. Falls dieser nach der letzten Sturmflut letztes Jahr überhaupt schon wieder freigegeben war. Die Wassermassen hatten die Gräber unterspült und die Särge fortgerissen. An der Flussbiegung hatten sich die neueren, nicht so maroden Totenkisten verhakt, sodass sich ein Staudamm aus Särgen und Leichen aufgetürmt hatte. Ein schauderhaft schöner Anblick, den Bain niemals vergessen würde!

Die Feuerwehr hatte getan, was sie konnte, um den Schaden gering zu halten – und natürlich hatte Dr. Bain sofort seine Hilfe angeboten und in Aussicht gestellt, er könne vielleicht einzelne Leichen anhand ihrer Zähne identifizieren. Schließlich reichte das Archiv der Patientenunterlagen in sei‍ner Praxis über mehrere Generationen.

Und so hatte er die Erlaubnis bekommen, die Schädel aus den Särgen im Fluss zu fischen und sogar lose Kieferknochen mit nach Hause zu nehmen. Einfach in nummerierten Beuteln, so groß waren die Not der Rettungskräfte und das allgemeine Durcheinander gewesen.

Die ganze Sache mit dem Leichen-Damm schlug hohe Wellen. Presse, Hinterbliebene, Dorfbewohner, alle taten ihre Meinung offen und möglichst lautstark kund. Der allgemeine Konsens lautete: So etwas dürfe doch nicht passieren!

Insbesondere der Bürgermeister von Little Darkwood war bemüht, die Sache zu einem schnellen Ende zu bringen, weil das Ganze drohte, seine Wiederwahl ungünstig zu beeinflussen. Eine Identifizierung jeder einzelnen Leiche hätte Unsummen an Steuergeldern verschlungen und viel zu lange – bis nach den Wahlen! – gedauert. Und so wurden am Ende alle Knochen in ein Massengrab geworfen.

Na ja, fast alle. Denn in dem Trubel der ganzen Schnell-Schwamm-Drüber-Aktion vergaß man, die ausgeliehenen Überreste bei Dr. Bain wieder abzuholen. Offenbar achtete niemand auf die angefertigten Listen und die Identifikationsnummern, die extra an Särgen und Knochen angebracht worden waren. Vielleicht wurden sie auch einfach schnell geschreddert, um die Sache ein für alle Mal ... zu begraben. Auch den Bewohnern fiel es bei der Zweitbestattung nicht auf. Wer achtete bei einem riesigen Haufen Gebeinen schon auf das Verhältnis von Schädeln, Zähnen und Kieferknochen?

Ein Glücksfall!

Schließlich waren die Objekte viel zu schade, um unter der Erde zu verrotten.

Bereits in seiner Studentenzeit hatte Samuel Bain gelernt, unauffällige Löcher in die Zähne zu bohren und sie miteinander zu vernähen oder sie in Epoxidharz einzugießen. Jetzt schmückten sie Lampenschirme, Türknäufe und sogar das Treppengeländer.

Ein Anblick, der Dr. Bain nach einem langen Tag noch immer so etwas wie Ruhe und Frieden bescherte. Und noch ein Grund dafür, weshalb er das Haus behalten musste. Um jeden Preis.

»Wir haben ihn vergessen!« Mit aufgerissenen Augen stürmte Matthew aus dem Badezimmer, seine Zahnbürste in der Hand.

»Pass auf, dass du mit der Zahnpasta nicht auf den Boden tropfst.« Eve Jacobs stieg mit dem vollgeladenen Wäschekorb die Treppe rauf. »Was haben wir vergessen?«

»Na, den Zahn! Meinen Milchzahn bei Dr. Pain.«

»Er heißt Bain, und das weißt du auch.« Insgeheim musste Eve aber über den Scherz schmunzeln. Sie ging auch davon aus, dass die meisten Dorfbewohner Dr. Bain hinter seinem Rücken so nannten – Dr. Schmerz. Schließlich wanden sich immer wieder Patienten unter Qualen auf dem Stuhl.

Wenn man es wohlwollend ausdrücken mochte, dann war er noch von der alten Schule. Wenn man es realistisch ausdrücken wollte, dann war er knauserig mit Betäubungsmitteln und den von den Patienten so geliebten Scheiß-egal-Tabletten.

Ihr kam auch der Medikamentenvertreter Paul Davies seltsam vor. Dieser untersetzte Mann, der die drei letzten fettigen Strähnen seines Kopfhaares platt über seine rotgeäderte Glatze presste, als könnten sie so die Illusion einer vollen Haarpracht erzeugen.

Aber es war nicht nur sein Äußeres, das sie stutzen ließ. Davies und Dr. Bain zogen sich immer zurück und wollten nicht gestört werden, wenn sie ihre Geschäfte abwickelten. Einmal hatte sie gefragt, ob sie nicht bei dem Gespräch dabei sein könne. Ihr Gedanke dabei war, dass sie vielleicht bessere Preise hätte herausschlagen können, damit die Patienten besser versorgt würden. Doch seitdem kam Davies nur noch nachmittags, wenn sie schon Feierabend hatte.

Vielleicht gehörte das aber auch einfach noch zur ›alten Schule‹, und Eve war es nur anders gewöhnt. Denn heutzutage achteten sowohl Ärzte als auch Vertreter ihrer Erfahrung nach sehr darauf, dass jeglicher Anschein von Bestechung oder Vetternwirtschaft vermieden wurde.

Doch in Little Darkwood tickten die Uhren eben noch anders. Und Eve wollte sich keinesfalls beschweren. Sie war froh, überhaupt eine Halbtagsarbeit und eine bezahlbare Unterkunft für ihren Sohn und sich bekommen zu haben. Und genau deshalb wollte sie nicht riskieren, den Job zu verlieren oder ihren Arbeitgeber auch nur zu verärgern, indem sich Matthew den Spitznamen Dr. Pain angewöhnte und Dr. Bain dann vielleicht versehentlich tatsächlich einmal so nannte.

»Ich weiß, wie er heißt, Mama.« Matthew zog eine Schnute. »Aber ich mag ihn nicht.«