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Wer ist das größere Monster: der Vampir – oder der Mensch? London 1888: Kurz vor ihrer Hochzeit mit einem Anwalt erfährt Elisabeth, dass ihr bester Freund Ferenc ein Vampir ist. Zuerst ist sie entsetzt, doch dann zeigt Ferenc ihr seine Welt. Eine Welt, in der sich die Vampire ihre beinahe unerschöpfliche Zeit mit Wissenschaft und Forschung vertreiben. Dabei stellt sie fest, dass nicht alle Vampire so bedrohlich sind, wie sie dachte … und dass das wahre Monster womöglich längst unter einem Dach mit ihr lebt.
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Seitenzahl: 480
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Copyright © 2024 by
Lektorat: Isabel Dinies – Phantastismus
Korrektorat: Lillith Korn
Layout Ebook: Stephan Bellem
Umschlag- und Farbschnittdesign:
Hannah Sternjakob Design
Bildmaterial: Shutterstock
ISBN 978-3-95991-754-4
Alle Rechte vorbehalten
Vorwort
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Nachwort
Danksagung
Drachenpost
Für Mutti
Danke für alles
In meiner Jugend hätte ich nicht gedacht, dass sich mein gewöhnliches Leben einmal in eines wandeln würde, das man aufschreiben müsste. Doch genauer betrachtet: Was weiß man in der Jugend überhaupt?
Rückblickend kann ich ohne jede Anmaßung behaupten, dass mein Leben einzigartig war. Ich war Zeugin von mehr als nur einem Ereignis, das es bis in die Geschichtsbücher geschafft hat. Und daher denke ich, dass meine Aufzeichnungen für Sie von Interesse sein dürften, auch wenn die Geschehnisse lange zurückliegen.
Die einzig sinnvolle Struktur scheint mir die chronologische Reihenfolge. Auch wenn ich heutzutage klüger bin, als es einstmals der Fall war – meine Güte, wie naiv ich war! – so sind meine Handlungen und Gefühle nur aus der damaligen Sicht heraus nachvollziehbar. Ich bemühe mich daher, die Geschehnisse so wiederzugeben, wie sie sich damals für mich darstellten, obgleich sich eine subjektive Färbung über die Jahre hinweg eingeschlichen haben könnte.
Ich möchte so ehrlich sein, wie es mir nur möglich ist. Schonungslos ehrlich. Das bin ich den Verstorbenen schuldig. Ich fürchte, diese Aufzeichnungen werden mich viel Kraft kosten. Ich habe lange über die Ereignisse geschwiegen.
Es wird auch nur ein Exemplar dieses, sagen wir, Geständnisses geben und nur ein einziger Mensch wird es aus meinen Händen zu Gesicht bekommen. Und wenn Sie diese Zeilen lesen, wissen Sie, dass ich mich für Sie entschieden habe.
An dem Tag, an dem ich aus meiner heilen Welt geschubst werden sollte, hatte ich bis spät in die Nacht in Alices Abenteuer im Wunderland gelesen.
Sonst bevorzugte ich Jane Austen. Mir war bewusst, dass diese Geschichten der Fantasie und nicht der Realität entsprangen. Aber ich konnte nicht umhin, mir manchmal vorzustellen, meinen eigenen Mr. Darcy zu treffen – natürlich gleich die liebenswerte Version am Ende des Buches, nicht den arroganten Widerling vom Anfang. Eben einen Gentleman, der mich umschwärmte und umschmeichelte und durch tollkühne Handlungen mein Herz im Sturm zu erobern versuchte.
Alice war zu meinen Sehnsüchten eine nette Abwechslung. Ich ahnte ja nicht, dass ich selbst bald in einer schaurigen Version eines Wunderlands leben sollte.
Als die Sonne schon hoch über London stand, stürmte Annie in mein Gemach. Sie zog die schweren, dunkelgrünen Vorhänge zur Seite und öffnete das Fenster, um die frische Februarluft hineinzulassen und den Schlaf zu vertreiben.
»Hast du gut geschlafen, Kindchen?«, fragte Annie.
An diesem Vormittag war ich nicht ausreichend erholt. Doch einerlei, wie sehr ich mir wünschte, mich noch einmal umzudrehen und weiterzuschlafen, Annie verhinderte es. Mit Schwung zog sie mir die Bettdecke weg. Sie tat das jedes Mal, wenn sie mich weckte, und da ich schlaftrunken langsamer reagierte, bekam ich die Decke nur selten schnell genug zu fassen.
Wenn das Oberbett erst einmal zum Lüften aus dem Fenster baumelte, hatte ich keine andere Wahl, als mich gähnend zu strecken und träge aufzusetzen. An Sommertagen hatte ich durchaus versucht, es mir ohne Decke weiter gemütlich zu machen, doch Annie brachte es fertig, mir im Liegen das Nachthemd auszuziehen. Widerstand war zwecklos.
Vater hatte Annie ursprünglich als mein Kindermädchen angestellt. An meine Mutter konnte ich mich nicht erinnern. Sie starb, als ich ein Baby war. Danach zog Vater mit mir von Wien nach London. Dort stieß Annie zu uns, die sich rasch zu meiner Ersatzmutter entwickelte. Sie half mir, meine Haare zu flechten und mich anzukleiden. Sie selbst war in einem bessergestellten Haushalt aufgewachsen und erzog mich nach allen Regeln der Kunst zu einer Dame. Das war wichtig, denn Vater war ein geschäftstüchtiger Erfinder und bewegte sich in der gehobenen Gesellschaft. Bei ausgewählten Abendveranstaltungen begleitete ich ihn und musste mich zu benehmen wissen.
Annie verstand es, die Aufgaben einer Mutter zu übernehmen, ohne die Grenzen dessen zu überschreiten, was sich eine Angestellte erlauben durfte.
Vater hatte eine zweite Hochzeit nach Mutters Tod nicht einmal in Erwägung gezogen. Somit war Annie die einzige Person, der ich mich anvertraute, als ich vom Mädchen zur Frau wurde. Vater und ich sprachen nie darüber, aber ich bin mir sicher, dass ihm klar war, welchen Stellenwert Annie in meinem Leben einnahm. Vater war für sein sorgfältiges Wirtschaften bekannt und achtete penibel darauf, wofür er sein Geld ausgab. Als ich kein Kindermädchen mehr brauchte, hatte Annie mehr oder weniger die Pflichten eines Dienstmädchens übernommen. Jedenfalls bezahlten wir sie so, als hätte sie es getan. Trotzdem hörte ich nie die kleinste Andeutung von Vater darüber, dass es an der Zeit sei, Annie gegen ein Dienstmädchen auszutauschen, das die Aufgaben effektiver und besser oder wenigstens mit weniger Murren ausführen würde.
Annie hatte inzwischen den Raum durchquert und prüfte, ob meine Kleider für den Tag korrekt vorbereitet waren. Sie strich nicht vorhandene Falten glatt, was sie normalerweise nur tat, wenn sie nervös war. Sie prüfte auch, ob das rote Taschentuch, das Vater aus dem Orient mitgebracht hatte, parfümiert war. Ich rollte mich derweil bockig auf dem Bett hin und her.
»Ich mag nicht aufstehen.«
»Du musst aber, Kindchen«, erwiderte Annie. Als meine Garderobe ihren Ansprüchen genügte, warf sie mir einen bedeutungsschwangeren Blick zu. »Dein Vater erwartet dich zum Mittagessen.«
Sofort war ich hellwach.
Es war etwas Besonderes, wenn Vater mittags nicht in seiner Fabrik war, in seinem Büro arbeitete, Rechnungen ausstellte oder mit Kunden auf der ganzen Welt endlose Geschäftsbriefe austauschte. Selbst an Sonntagen fand ich ihn die meiste Zeit des Tages in seinem Schreibzimmer.
Nach dem Tod meiner Mutter hatte er sich in die Arbeit gestürzt. Mit dem Fleiß kam der Erfolg. Er hatte Kunden auf der ganzen Welt und besuchte die meisten von ihnen in ihren Heimatländern.
Ich dagegen blieb lieber zu Hause in meiner gewohnten Umgebung und erlebte Abenteuer durch meine Bücher. Sie gaben mir die Sicherheit, die ich brauchte. Ein vertrautes, beständiges Umfeld. Manchmal las ich bis spät in die Nacht. Es kam sogar vor, dass ich die Morgendämmerung sah, bevor ich mich zur Ruhe legte. Dafür schlief ich dann bis weit in den Tag hinein, bis Annie mich zum Mittagessen weckte. Dass ich nach solchen Nächten die erste Tageshälfte verpasste, kümmerte mich nicht.
Elektrisiert von der Nachricht eines gemeinsamen Mittagessens schnellte ich hoch, stolperte beim Aufstehen über den Saum meines Nachthemdes und fiel der Länge nach hin.
»O weh, o weh. Ich werde viel zu spät kommen«, zitierte ich das weiße Kaninchen aus Alices Abenteuer im Wunderland und rieb mir das Knie.
»Fort augenblicklich, entweder mit Ihnen oder mit Ihrem Kopfe!«, ahmte Annie mit strenger Miene die Herzkönigin nach. Sie half mir hoch.
Wir lachten beide und beeilten uns, mich anzukleiden, um Vater nicht warten zu lassen.
Nachdem ich mich angezogen und Annie mir die Haare seitlich über die Schulter geflochten hatte, ging ich nach unten. Der Flur war gesäumt mit einer Ansammlung verschiedenster Gemälde. Vater bekam diese Bilder und andere Gegenstände, wie Rüstungen, Masken, Krummsäbel und Teppiche, von Kunden aus fernen Ländern geschenkt und betrachtete es als Ehrensache, sie aufzuhängen oder auszustellen, gleichgültig, wie scheußlich sie waren. Die fürchterlichsten Stücke waren die ersten, die durch neue Exponate ersetzt wurden, da uns der Platz ausging. Sein ganzer Stolz hing am Ende des Flurs. Es war ein Gemälde von einer Feuerprobe, die er in Konstantinopel durchgeführt hatte, um seine bisher erfolgreichste Erfindung vorzustellen: einen feuerfesten Tresor.
Im Esszimmer empfing mich der Duft frisch gerösteten Toasts und dampfender Suppe.
Vater saß gegenüber der Tür am Kopf des dunklen Holztisches, an dem bequem bis zu acht Personen sitzen konnten, obgleich wir selten so viele Essensgäste hatten. Im Kamin brannte ein Feuer, das nicht nur Wärme spendete, sondern auch eine gemütliche Stimmung verbreitete. Ich mochte diese Atmosphäre und bis heute muss in meinem Zuhause für mein Wohlbefinden ein Kamin vorhanden sein.
Ich betrat den Raum. Vater stand auf und kam auf mich zu. Er gab mir links und rechts einen Kuss auf die Wange. »Guten Tag, Elisabeth. Schön, dich zu sehen, mein Kind. Hattest du eine gute Nacht? Ich nehme an, Annie musste dich wecken? Du siehst noch ganz verschlafen aus.«
Verlegen rieb ich mir die Augen. »Ich habe noch in meinem Buch gelesen und es ist spät geworden.«
»Es soll Menschen geben, die die Stunden des Tages zum Lesen nutzen. Das spart auch Geld, weil die Beleuchtung dann umsonst ist.«
»Aber nachts werden die Geschichten lebendig.«
Vater lächelte nachsichtig. »Ich weiß, ich weiß, Liebes.«
Wir hatten dieses Gespräch schon oft geführt. Seine Lektüre beschränkte sich auf wissenschaftliche Artikel und seine Geschäftsbücher, sodass er den Zauber, den eine Geschichte in der Nacht entfaltete, nicht kannte.
Vater bedeutete mir, zuerst von der Suppe zu nehmen. »Wie du dir denken kannst, gibt es einen Grund dafür, dass wir heute gemeinsam zu Mittag essen.«
Er kam immer schnell zur Sache, denn sein Leitsatz war: Zeit ist kostbar. Und das nahm er nicht nur für die eigene Zeit an, sondern auch für die seiner Geschäftspartner und Kunden. Er war daher stets um Pünktlichkeit und Effektivität bemüht.
»Ist der Grund der, dass du deine Tochter so gernhast?«
Er lachte. »Das ist der vorrangige Grund. Meine wunderschöne Tochter zu sehen. Du wirst deiner Mutter immer ähnlicher.«
Das Kompliment hörte ich gern. Von ihrem Gemälde in Vaters Zimmer wusste ich, dass sie eine schöne Frau gewesen war. Gleichmäßige, scharfe Gesichtszüge. Aufmerksame, grüne Augen. Langes, rotbraunes Haar.
»Ich möchte etwas sehr Wichtiges mit dir besprechen. Es liegt mir schon länger auf dem Herzen. Aber ich wollte dich damit nicht belasten, ehe die Pläne konkrete Formen angenommen haben.«
»Planst du eine neue Reise, um deine Arbeit vorzustellen?«
»Etwas in der Art, ja. Du hast sicher mitbekommen, dass es immer mehr Menschen gibt, die nach Amerika auswandern. Hauptsächlich sind dies junge Arbeiter, die von einem besseren Leben träumen.«
Ich nickte. Es war kein Thema, das ich aufmerksam verfolgte, aber da es hin und wieder Gegenstand von Zeitungsartikeln war, war mir diese Bewegung nicht vollkommen unbekannt.
»Die Auswanderer sind jung, arbeitswillig und stecken voller Ideen. Daher gründen sich viele Unternehmen in der Neuen Welt und die Industrie schreitet voran. Überleg nur, was uns die industrielle Revolution für Möglichkeiten beschert hat! Davon konnten die Menschen Anfang des neunzehnten Jahrhunderts nur träumen. Und nun, knapp 90 Jahre später, scheint in Amerika alles möglich zu sein. Das Potential ist enorm.«
Vaters Augen funkelten vor Begeisterung. Und ich verstand ihn. Auch mich faszinierten die neuesten Fortschritte der Wissenschaft. Klatsch und Tratsch hingegen interessierten mich nicht.
»Du willst also nach Amerika gehen?«, fragte ich.
»Ich muss, Elisabeth! Ich will dabei sein. Ich will Teil dessen sein, was dort entsteht. Der Markt für meine Tresore ist riesig. Und ich kann die Produktion ganz neu aufstellen.«
»Wie lange dieses Mal?« Ich nahm einen Löffel Suppe.
»Ich denke, es ist für immer.«
Ich verschluckte mich an der Suppe und hustete.
»Wie bitte? Ist das dein Ernst? Du willst England verlassen?«
»Ich weiß, dass dies deine Heimat ist, Elisabeth. Aber es ist nicht meine. Du warst damals noch zu klein, als dass du dich erinnern könntest. Wien ist meine Heimat und ich habe sie nach dem Tod deiner Mutter mit dir verlassen, weil ich dort nicht mehr sein wollte. Nicht mehr sein konnte.«
»Dann weißt du, wie es sich anfühlt, entwurzelt zu werden. Und jetzt willst du mir das Gleiche zumuten?«
»Nein.«
»Wie meinst du das?« Ich ließ den Löffel fallen. Suppe spritzte auf die Tischdecke.
»Ich weiß, dass dir Veränderungen nicht liegen. Denk nur an deine Zimmerfarbe. Aber das Leben geht nur durch Veränderungen weiter. Und ich kann sie dir nicht ersparen.«
Als Vater kürzlich Elektrizität in unserem Haus installieren ließ – wir waren damit eines der ersten nicht öffentlichen Gebäude, die so ausgestattet waren – mussten die Wände nach Verlegen der Leitungen neu tapeziert werden. Vater schlug vor, dass ich doch einmal eine andere Farbe ausprobieren könne. Nach langen Diskussionen ließ ich mich überzeugen und entschied mich gegen das gewohnte Türkis und für ein frisches Hellgrün.
»Doch, du kannst es mir ersparen. Gehe nicht nach Amerika!« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.
»Elisabeth, mein Kind.« Vater sah mir tief in die Augen. »In meinem Leben hattest du stets die oberste Priorität.«
Ich schnaufte. »Ja, während du auf deinen Reisen warst und mich und meinen Hund Rabe hier zurückgelassen hast.«
»Aber ich bin jedes Mal zurückgekommen, nicht wahr? Und ich habe sie so kurz wie möglich gehalten und in meiner Abwesenheit war bestens für dich gesorgt. Doch bald wirst du 21 Jahre alt und bist damit in einem Alter, in dem du auf eigenen Beinen stehen kannst. Gleichzeitig bleibt mir in meinem Leben nicht mehr allzu viel Zeit für entscheidende Veränderungen. Vielleicht ist das meine letzte Gelegenheit. Und ich möchte dieses Abenteuer wagen.«
»So wie du immer Abenteuer gewagt hast, während ich allein zurückgeblieben bin? Ich durfte ja weder aus dem Haus, geschweige denn, dich auf den Reisen begleiten, weil es deiner Meinung nach zu gefährlich sei. Und jetzt setzt du mich einfach so vor die Tür?!«
Ich wusste, dass meine Worte ungerecht waren. Nach Mutters Tod hatte Vater Angst gehabt, mich auch noch zu verlieren, und mich wie ein rohes Ei behandelt. Aber als ich herangewachsen war, ermutigte er mich durchaus, mal etwas zu unternehmen, beispielsweise einem Buchclub beizutreten. Nur hatte ich es mir in meiner kleinen, zurückgezogenen Welt mittlerweile gemütlich eingerichtet. Mauern, die einengen, geben auch Halt. Und ich sah keine Notwendigkeit, etwas zu verändern.
Vater wartete einen Moment und fragte dann mit ruhiger Stimme: »Möchtest du mit mir nach Amerika gehen?«
»Dein Entschluss steht also fest?«
»Ja, das tut er.«
»Dürften Annie und ich in dem Haus wohnen bleiben, wenn ich mich für London entscheide?«
Vater sah mich durchdringend an. »Annie wird mich begleiten.«
Seine Worte trafen mich wie ein Streifschuss.
»Wir kennen uns schon sehr lange und hegen, nun ja, eine gewisse Zuneigung füreinander. Hier in London ist Annie meine Angestellte. Deshalb wollen wir herausfinden, was passiert, wenn sie es auf der anderen Seite der Welt nicht mehr ist.«
Ich war sprachlos. In jedem anderen Moment hätte ich mich über die Nachricht gefreut, dass Vater versuchte, sein Herz wieder für eine Frau zu öffnen. Dass er diese Art der Liebe empfand. Und vor allem, dass Annie diese Frau war. Annie, mit der wir, seit ich denken konnte, wie eine Familie zusammenlebten. Aber der Umstand, dass Vater und Annie nach Amerika gehen wollten, überschattete für mich alles. Ich war verletzt, weil sie das hinter meinem Rücken geplant hatten. Und ich war wütend, dass sie auswandern wollten. Das Geschäft dort mochte verlockend sein. Aber hätte Vater nicht einen Stellvertreter schicken können?
»Elisabeth, ich lasse dir die Wahl: Du kannst mitkommen oder aber hierbleiben – wenn ich dich in sicheren Händen weiß.«
»Und was für Hände sollen das sein?«
»Die eines Ehemannes.«
Ich warf meine Serviette auf den Teller. »Mir ist der Appetit vergangen.«
Natürlich wartete ich schon sehnsüchtig auf meinen Mr. Darcy. Ich wollte heiraten. Aber ich konnte doch nichts dafür, dass ich ihn noch nicht getroffen hatte. Und erzwingen konnte ich es auch nicht. Was also sollte ich tun, um nicht mit nach Amerika zu müssen? Der perfekte Mann würde mir ja kaum vor die Füße fallen.
Ich stürmte in den Flur, zerrte meinen Mantel von der Garderobe und zog die Haustür hinter mir ins Schloss.
Unser Haus stand auf einem Sockel und so musste ich einige Stufen hinabsteigen, um auf den Bürgersteig zu gelangen. Die Wut und Verzweiflung trieben mir die Tränen in die Augen. Trotzig wie ein Kind versuchte ich, mir die Tränen abzuwischen und gleichzeitig in den Mantel zu schlüpfen. Das Ergebnis war, dass ich mich verhedderte und auf der vorletzten Stufe ins Straucheln geriet.
Ich stolperte auf das Kopfsteinpflaster der Straße, direkt vor eine Droschke. Die Pferde erschraken und bäumten sich auf, doch der Kutscher konnte die Tiere zügeln.
»Alles in Ordnung, Madam?«, fragte er.
»Ja«, sagte ich. »Sind Sie gerade frei?«
Der Kutscher schüttelte den Kopf. Das wäre ja auch zu schön gewesen.
Unsere Straße war eher ruhig gelegen, daher musste ich bis zur nächsten Kreuzung laufen. Ich überholte ein elegant gekleidetes Paar, die Dame mit einer ausladenden Tournüre und einem Schirm aus Spitze und der Herr mit einer Melone und einem auf Hochglanz polierten Gehstock. Und ich hatte in der Eile noch nicht einmal meine Handschuhe ganz bis zum Ellenbogen gezogen.
Als ich in die nächste Straße einbog, summte alles vor Energie. Hier gab es viele Spaziergänger. Einige schlenderten, viele waren von Eile getrieben. Fuhrwerke ratterten über das Kopfsteinpflaster. Holzkisten wurden von schwitzenden Männern mühsam in Karren zu ihrem Bestimmungsort geschoben.
Ich sah, wie ein Herr nur wenige Schritte von mir entfernt eine Droschke verließ, und stürmte auf sie zu. »Sind Sie frei oder haben Sie einen weiteren Fahrgast?«, fragte ich zum Kutscher hinauf.
»Ich bin frei, Miss.«
Ich atmete erleichtert auf. »Zum Hyde-Park-Hundefriedhof, bitte.« Ich bestieg die Droschke.
Wie immer, wenn ich Trost brauchte, besuchte ich das Grab von Rabe, meinem Englischen Cocker Spaniel. Diesen Namen hatte ich ihm aufgrund seines pechschwarzen Fells gegeben. Er war ein Geschenk Vaters kurz nach unserem Umzug von Wien nach London gewesen, damit ich mich nicht so allein fühlte, wenn Vater seine Dienstreisen unternahm. Und tatsächlich wurde Rabe mein bester Freund. Ich beschäftigte mich stundenlang mit ihm. Als ich später von Privatlehrern unterrichtet wurde, lag er geduldig zu meinen Füßen, bis die Stunde vorbei war und wir in der Pause spielen konnten.
Als er nach einem langen Leben friedlich in meinen Armen gestorben war, hatte ich nicht aufgehört, zu weinen. Vater hatte sich daraufhin erweichen lassen, ihm ein Grab auf dem neuen, erst 1881 eröffneten, Hyde Park-Hundefriedhof zu kaufen. Er hatte sogar einen Grabstein erworben.
Der Friedhof lag in einer einsamen Ecke des Hyde Parks. Nur selten traf ich auf andere trauernde Hundebesitzer. Meistens handelte es sich um gut betuchte Damen, denn die Bestattung von Haustieren galt als Luxus.
Ich stieg aus der Droschke und sah kurz hinauf zur Sonne, vor die sich langsam eine dunkle Wolkendecke schob, doch das kümmerte mich nicht. Ich musste bei Rabe sein. Auf dem schnellsten Weg lief ich zu seinem Grab, froh, dass niemand außer mir hier zu sein schien. Im Schutz der Einsamkeit weinte ich.
»Oh, Rabe, was soll ich bloß tun? Ich kann dich doch nicht verlassen und den Kontinent wechseln. Wem sollte ich jemals so offen von meinen Gefühlen und Sorgen erzählen können wie dir? Es soll sich gar nichts verändern. Niemand soll gehen. Ich bin zufrieden, so wie es ist. Ich habe die Personen um mich, die ich liebe und die mich lieben und denen ich vertraue.«
Ein paar Minuten lang gab ich mich meinen Tränen hin und ließ meinen Emotionen freien Lauf, wissend, dass ich danach imstande wäre, die Situation wieder besonnener zu betrachten. Weinen hatte für mich die Wirkung eines reinigenden Gewitters. Als würde der Himmel mich bemitleiden, regnete er plötzlich zaghafte Tropfen auf mich. Nebel zog von der Themse her auf.
»Na, was ist denn, Püppchen?« Die Stimme kam von links.
Durch den Tränenschleier sah ich den Mann zuerst verschwommen. Er wankte direkt auf mich zu und lächelte ein braunes Kautabak-Lächeln. Wahrscheinlich ein Seemann. Auf See war Kautabak beliebt, weil er im Gegensatz zu den Rauchwaren keine Brandgefahr darstellte.
»Was kann ich für Sie tun, Sir?«, fragte ich mit mulmigem Gefühl.
»Nicht so förmlich, Püppchen«, antwortete der Mann. Ich wich vor dem unappetitlichen Grinsen und dem beißenden Alkoholgeruch zurück. »Schöne Ohrringe hast du da.«
Mein Puls beschleunigte sich. »Danke. Sie waren ein Geschenk von meinem Vater. Sie haben meiner Mutter gehört, bevor sie starb«, sagte ich, um ein unaufgeregtes Auftreten bemüht und setzte einen weiteren Schritt zurück. War jemand da, der mir helfen konnte? Zu meinem Entsetzen sah ich rechts von mir einen weiteren verlumpten Mann auf mich zukommen. Mit seinem spitzen Gesicht erinnerte er an einen Marder. Er war schmächtiger als der erste. Sein anzügliches Grinsen ließ mich wissen, dass von ihm keine Hilfe zu erwarten war. Die beiden kesselten mich ein, sodass mir kein Fluchtweg von dem Friedhof blieb. Panik stieg in mir auf und schnürte mir die Luft ab. Im zunehmenden Regen zog ich meinen Mantel enger um die Schultern. Ich hoffte, damit die zu den Ohrringen passende Kette zu verbergen.
»Nun gib schon her, Püppchen, oder muss ich mir die Dinger nehmen? Dann will ich aber auch gleich noch ein Küsschen dazu.« Der Mann leckte sich über die Lippen und lachte unflätig. Hinter mir fiel sein Kumpan keckernd ein.
»Nein, nein. Ich mache ja schon.« Mit zitternden Fingern löste ich die Stecker, und hielt dem Mann die Ohrringe hin. Der Regen prasselte auf die Juwelen, die ich wohl nie wieder sehen würde. Doch mein einziger Wunsch war es, dass die beiden Kerle verschwanden und ich unversehrt nach Hause in Sicherheit konnte. Der Mann streckte die Hand aus, um nach dem Schmuck zu greifen. An seinem Handgelenk sah ich eine Tätowierung. Ein Anker. Tatsächlich ein Seemann.
»Na, geht doch, Püppchen.«
»Und jetzt noch die Kette«, sagte der Marder rechts von mir.
»Welche Kette?« Verzweifelt zog ich den Kragen enger um meinen Hals, um wenigstens den Anhänger zu retten.
»Muss ich deutlicher werden?«, fragte der Marder und zog ein Messer mit rostiger Klinge aus seiner Tasche. »Wenn ich sie losschneiden muss, mache ich bei deinem Hals vielleicht gleich weiter.«
Mein Herz pochte wie wild und Schweiß brach mir aus. Noch nie hatte mich jemand bedroht. Und schon gar nicht mit einem Messer. Die Tränen der Trauer wandelten sich in Tränen der Angst.
Die beiden Männer lachten obszön. Sie genossen es ganz offenbar, dass ich ihnen wehrlos ausgeliefert war. Ich schickte ein Stoßgebet in den Himmel, dass die beiden tatsächlich nur meinen Schmuck nehmen würden. Ich hatte meine Unschuld schließlich für meinen Ehemann aufbewahrt – nicht für diese Widerlinge.
Um die Angreifer schnellstmöglich loszuwerden, versuchte ich, den Verschluss der Kette zu öffnen. Doch der schwere Stoff meines Mantels machte mich ungelenk und meine Finger zitterten so stark, dass ich die kleine Öse nicht zu fassen bekam.
Der Marder verlor die Geduld und riss an der Kette. Mit einem Ruck hatte er sie in der Hand und hielt sie triumphierend hoch. Regen tropfte an ihr hinab.
Hinter mir hörte ich schmatzende Schritte. Ein weiterer Angreifer? Ich hatte doch nichts mehr zu geben! Was, wenn der Dritte nun an mir interessiert war? Nein, das durfte nicht passieren!
Ich nahm meine ganze Kraft zusammen und schrie, so laut ich konnte. Ich hatte das Gefühl, der Regen und der Nebel arbeiteten gegen mich und schluckten meinen Hilferuf, und so stieß ich einen weiteren Schrei aus.
Die Schritte beschleunigten sich. Ich hatte keine Chance. All mein Mut verließ mich, ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.
Der Neuankömmling ließ seinen Regenschirm fallen und packte den Marder am Kragen. »Sie lassen sofort die Dame in Ruhe!«
»Vorsicht, er hat ein Messer!«, rief ich.
Der Mann reagierte sofort und bevor der Marder wusste, wie ihm geschah, wurde er per Faustschlag niedergestreckt. Er sank zu Boden und regte sich nicht mehr.
»Das war ein Fehler, Freundchen«, knurrte der Seemann und zückte ebenfalls ein Messer.
Der Marder hatte seines fallen lassen, als er zu Boden gegangen war. Dem Mann gelang es in einer geschmeidigen Bewegung, die Klinge aus dem Matsch zu bergen.
Nun umkreisten sich die beiden Männer mit je einer Waffe in der Hand. Hochkonzentriert sahen sie einander an. Lauerten auf jede Regung des anderen.
In diesem Moment hätte ich fliehen können, aber ich gebe zu, ich war von dem Anblick zu fasziniert. So etwas hatte ich noch nie erlebt.
Der Nebel verzog sich und wurde von einsetzendem Starkregen abgelöst. Der Boden durchweichte zunehmend.
Plötzlich erhellte ein Blitz den Himmel, gefolgt von einem Donnergrollen, so nah und laut, dass es mir durch Mark und Bein ging.
Unwillkürlich sah ich nach oben, voller Angst, dass der Blitz gleich in die umstehenden Bäume einschlagen könnte. Er hatte sich so nah angehört.
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass der Seemann ebenfalls zusammenzuckte und in den Himmel sah.
Mein Retter ließ sich nicht so leicht ablenken und stürmte auf meinen Angreifer zu und rang diesen zu Boden. Eine Weile rollten die beiden im Matsch hin und her, bis mein Retter die Oberhand gewann und auf dem Seemann zu sitzen kam. Selbst durch den Mantel zeichnete sich sein muskulöser Rücken ab. Der korpulente Seemann hatte dem nichts entgegenzusetzen.
Mein Retter erhob das Messer des Marders, bereit, auf den Angreifer einzustechen, wenn nötig. Über die Schulter rief er mir zu: »Fliehen Sie. Zum Haupteingang. Dort wartet meine Droschke.«
Schnell raffte ich meinen Rock und stürmte los, vorbei an dem bewusstlos daliegenden Marder. Ich folgte dem vom Regen aufgeweichten Pfad und spürte, wie Matsch gegen meine Beine schlug. Doch es kümmerte mich nicht.
Wie der Mann gesagt hatte, wartete am Ende des Weges eine Droschke.
Der Kutscher sah mich durch den Regen auf sich zulaufen und beeilte sich, mir die Tür zu öffnen. Vollkommen durch den Wind ließ ich mich auf die Sitzbank fallen, mein Herz klopfte mir bis zum Hals.
Noch ehe sich meine Atmung normalisiert hatte, tauchte mein Retter zwischen den Bäumen auf. Mit einem Satz sprang er zu mir in die Kabine. »Fahren Sie los. Nur weg von hier!«, rief er dem Kutscher zu.
Sofort setzte sich die Droschke in Bewegung.
Der Mann nahm gegenüber von mir Platz, sodass er mit dem Rücken zum Kutscher saß. Er atmete zweimal tief durch. Er blickte noch einmal zufrieden lächelnd auf das Messer des Marders, ließ es dann mit der blutigen Klinge in seine Aktentasche fallen und verschloss diese.
Unter seinem Mantel verdeckt versuchte er, seine Hände zu säubern.
Als ich sah, dass Blut an ihnen klebte, zog ich mein rotes Taschentuch hervor und hielt es ihm hin.
Er nahm es entgegen und konnte damit den gröbsten Schmutz entfernen. Von seiner Hutkrempe tropfte es. Der Mann griff in seine Tasche und zog einen Ohrstecker und meine Kette hervor.
»Es tut mir leid, Miss. Aber den anderen Ohrring konnte ich nicht finden. Ich hoffe, das war alles, was die Gauner erbeutet haben?«
Staunend nahm ich meinen Schmuck entgegen. Dass er in einer blutigen Kampfsituation, in diesem Regen und bei den Bodenverhältnissen überhaupt einen Stecker und die Kette entdeckt hatte, erschien mir wie ein Wunder. »Ja, das ist mein Schmuck. Wie ist es Ihnen gelungen, den zu finden?«
»Schönheit kann sich nie verbergen«, sagte er geheimnisvoll und nahm seinen Hut ab.
Zum ersten Mal sah ich das Gesicht des Mannes und mein Herz setzte einen Schlag aus.
Dieser Gentleman verschlug mir den Atem.
Obwohl er über und über mit Matsch bedeckt war, erkannte ich, wie elegant und geschmackvoll er gekleidet war. Die dunkle Weste hatte er passend zu der Hose und dem Sakko gewählt. Wie es der aktuellen Mode entsprach, trug er unter der Weste eine Ascot-Krawatte, bestehend aus einem Halsband mit breiten Flügeln. Sein Haar war mittig gescheitelt und vor dem Kampf sicher akkurat hinter die Ohren gekämmt gewesen. Unter der markanten Nase befand sich ein gepflegter Schnauzbart. Seine dunklen Augen musterten mich und ich verlor mich in ihnen. Mein Retter. Mein Held.
»Sie haben zumindest keine offensichtlichen Verletzungen«, sagte er und musterte mich fürsorglich. »Geht es Ihnen gut? Ich kann Sie auch zu einem Arzt bringen, wenn Sie es wünschen.«
Ich schüttelte den Kopf.
»Vielleicht darf ich mich erst mal vorstellen. Mein Name ist Montague John Druitt. Es ist mir eine Freude, Sie kennenzulernen.«
Er neigte seinen Kopf und deutete eine Verbeugung an.
»Elisabeth Stark«, presste ich mühsam hervor. Ich hielt ihm meine Hand entgegen. Er nahm sie und hauchte einen Kuss darauf. Sogar durch den Handschuh hindurch kribbelte meine Haut bis hinauf zur Schulter.
»Miss Stark, darf ich Sie nach Hause begleiten?« Mr. Druitt lächelte.
Ich musste mich daran erinnern, zu atmen.
Erst als er mich fragend ansah, dachte ich daran, seine Frage durch ein Nicken zu beantworten.
Auf der Fahrt erzählte Mr. Druitt mir, dass er das Grab von seinem geliebten Chester hatte besuchen wollen. Ein Yorkshire-Terrier, der ihm in seiner Jugend Halt gegeben hatte, als er sich von niemandem verstanden gefühlt hatte. Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte! Ein gutaussehender, tapferer Mann, der seinen Hund aus Liebe ebenso bestattet hatte wie ich!
»Ich danke Ihnen für diese erstaunliche Rettung, Mr. Druitt.«
»Vielleicht kann ich Ihnen noch mehr helfen, Miss Stark. Ich bin Anwalt. Wenn Sie wollen, hole ich Sie morgen ab, wenn Sie sich etwas beruhigt haben, und wir erstatten gemeinsam Anzeige. Es wäre mir eine Ehre. Was sagen Sie?«
»Das wäre schön.« Ich lächelte. »Außerdem schulde ich Ihnen einen Regenschirm.«
Montague John Druitt. Ich würde diesen gutaussehenden Hundefreund und vollendeten Gentleman wiedersehen.
Was für ein Lichtblick an diesem so düsteren Tag.
Vielleicht ein Lichtblick für mein ganzes Leben?
Mir steckte der Schreck des Überfalls noch in den Knochen, aber die Vorfreude auf das Wiedersehen mit Mr. Druitt überwog deutlich.
Vater verkraftete den Verlust des Ohrsteckers gut. »Es ist schade, weil er deiner Mutter gehört hat. Aber die Hauptsache ist doch, dass es dir gut geht, mein Kind. Vielleicht solltest du einfach mitkommen nach Amerika. Was meinst du?«
»Ich weiß es noch nicht, Vater. Ich kann doch Rabe hier nicht zurücklassen. Und ich liebe London.«
»Auch, wenn du hier überfallen wirst?«
»Das war das einzige Mal! Und ich habe gehört, dass viele Sträflinge nach Amerika auswandern. Morgen kommt der Anwalt, den ich kennengelernt habe. Er hat mich nicht nur gerettet, er hilft mir auch noch, die Anzeige zu erstatten. Vielleicht werden die Räuber sogar gefasst.«
»Ein Anwalt, ja? Soso.« Ein Lächeln umspielte Vaters Mundwinkel.
Den Vormittag des folgenden Tages nutzte ich dazu, mit Albert, dem Hund des Buchhändlers, spazieren zu gehen. Was zuerst eine Maßnahme der Trauerbewältigung nach Rabes Tod für mich gewesen war, entwickelte sich mit der Zeit zu einer vorteilhaften Gewohnheit für beide Seiten. Der Buchhändler mit dem steifen Bein musste seinen Laden nicht schließen, um Albert Gassi zu führen, und ich hatte nicht nur die Möglichkeit, mir einen Hund zu borgen, sondern auch stets einen Vorwand, um die Buchhandlung zu besuchen. Wie meist kam ich mit einem neuen Buch nach Hause.
Annie half mir, eine passende Garderobe für das Treffen mit Mr. Druitt zu wählen und meine Frisur zu richten. Nach dem ersten Eindruck im Regen und voller Schlamm wollte ich besonders gut aussehen.
»Kindchen, es tut mir leid, dass ich dir nichts über Amerika gesagt habe. Glaub mir, ich hätte es gern gemacht. Aber ich fand, es stand mir nicht zu. Das war ein Thema, das dein Vater mit dir besprechen musste.«
»Ich freue mich für dich, Annie.« Ich sah sie direkt an. Mir war es wichtig, dass sie wusste, dass ich jedes Wort ernst meinte. »Für dich und Vater. Ihr beide habt es verdient, glücklich zu sein, und ich glaube, dass ihr es miteinander sein könnt. Ihr müsst es jedenfalls versuchen. Und mir ist auch klar, dass ihr das nicht hier in London tun könnt. Aber ich fühle mich betrogen, weil ich erst davon erfahren habe, als euer Entschluss bereits feststand.«
»Das verstehe ich, Elisabeth. Ich glaube, dein Vater wollte die Entscheidung erst für sich selbst treffen. Er hat lang gezögert.«
»Ich hätte ihm doch helfen können«, wandte ich ein.
Annie legte den Kopf schief.
»Hättest du ihm helfen wollen? Oder hättest du lieber versucht, ihn umzustimmen?«
Damit traf sie den Nagel auf den Kopf. Natürlich hätte ich versucht, ihn dazu zu bringen, hierzubleiben. Und damit hätte ich Annie und Vater bei dem im Weg gestanden, was immer sich zwischen ihnen entwickeln mochte.
»Hätte ich nicht«, war meine erste trotzige Reaktion. Ich fühlte mich ungern ertappt. »Na ja, vielleicht zuerst. Aber dann sicher nicht mehr.«
»Wirst du mit uns kommen?«
»Ich weiß es nicht. Aber wenn ich keinen Ehemann finde, muss ich es ja wohl.«
Mein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Ich hing an London. Die Themse, die Tower Bridge, das Museum, die Theater. Es war meine Heimat. Ich hatte keine Ambitionen, wegzuziehen. Ich war das Klima hier gewohnt und die Menschen. Vor allem aber war Rabe hier. Nur hier konnte ich ihm noch nahe sein. Und natürlich die Buchhandlung mit Albert.
Auf der anderen Seite verkraftete ich Veränderungen nicht gut, wie Vater richtig bemerkte. Allein der Umstand, dass Vater und Annie wegziehen würden, würde mein Leben komplett umkrempeln. Sie bildeten zusammen mit meinem Freund Ferenc den Hauptteil meines sozialen Umgangs.
Ich war schon immer gern allein gewesen. Nach Mutters Tod war Vaters größte Angst, er könnte auch mich verlieren. Gleichzeitig stürzte er sich in seine Arbeit, um sich von der Trauer abzulenken, und war deshalb selten zu Hause. Umgekehrt sah er es jedoch nicht gern, wenn ich das Haus verließ. Vielleicht, weil er nicht da war, um mich zu beschützen. Vielleicht, weil er generell das Haus für sicherer erachtete. Ich hatte somit schon als Kind gelernt, mich stundenlang allein mit Rabe zu beschäftigen, denn er war immer für mich da gewesen. Ich lebte durch die Geschichten in den Büchern und vergaß dabei ganz, dass ich keine eigenen erlebte. Die Liste derer, die mir in meinem Leben wichtig waren, blieb daher kurz: Vater, Annie, Rabe und Ferenc. Vielleicht noch meine Brieffreundin Martha aus meinen Kindertagen in Wien, obwohl der Briefwechsel manchmal monatelang ruhte, weil ich nichts zu erzählen wusste.
Annie steckte die letzte Haarnadel fest. »Es wird schon alles werden. Bei uns hast du jedenfalls immer einen Platz.«
Ich nahm sie in den Arm und drückte sie an mich. Annie und Vater. Ich hatte ein gutes Bauchgefühl, was die beiden anging.
Annie ging in die Küche und bereitete den Nachmittagstee zu. Ich lief ungeduldig im Flur auf und ab, bis es an der Tür klingelte. Da Annie gerade die Teeblätter aus dem Wasser nahm, öffnete ich selbst.
Auf dem Absatz stand Ferenc. Er war vollkommen durchnässt und hatte seinen Kragen hochgeklappt. Seine braunen Haare waren gerade so lang, dass er sie hinter das Ohr klemmen konnte. Wenn die Haare trocken waren, sprangen die leichten Locken immer wieder dahinter hervor, sodass er sie erneut zurückstreichen musste. Der Mode entsprechend hätte er die Haare streng nach hinten kämmen müssen, so wie Mr. Druitt die Frisur trug. Aber mir gefiel, dass er das nicht tat.
»Miss Elisabeth, was für eine Freude, Sie zu sehen.«
Er strahlte über das ganze Gesicht, obwohl es weiterhin in seinen Nacken regnete.
Kennengelernt hatte ich Ferenc als einen Geschäftspartner meines Vaters. Die beiden hatten jahrelang an einem großen Projekt zusammengearbeitet. In dieser Zeit war er häufig bei uns zu Besuch gewesen und hatte schließlich an unseren gemeinsamen Mahlzeiten teilgenommen. So war er zu einem Freund unserer Familie und einem gerngesehenen Gast geworden. Auch Rabe liebte ihn und rollte sich beim Essen stets zu seinen Füßen ein. Wenn Vater auf langen Reisen war, kam Ferenc häufig zu Besuch und verbrachte Zeit mit mir. Wir unterhielten uns oft über Bücher. Ich wusste, dass Vater ihn darum bat, nach mir zu sehen. Aber ich glaubte trotzdem, dass er die Besuche ebenso genossen hatte wie ich.
Als Kind war er mir alt erschienen, etwa wie Vater. Um ehrlich zu sein, waren mir alle Erwachsenen so alt wie Vater erschienen – also uralt.
Doch als ich älter wurde, stellte ich fest, dass Ferenc und mich gar nicht so viele Jahre trennten, wie ich angenommen hatte. Sein Haar war noch immer braun und voll, wohingegen das von Vater langsam grau wurde. Und die Falten um Ferencs grüne Augen, die sich beim Lachen bildeten, glätteten sich anschließend wieder, während sie sich bei Vater eingeschrieben hatten. Ich mochte das. Die Lachfalten ließen ihn freundlicher wirken.
»Ich habe Ihnen etwas aus Paris mitgebracht«, sagte Ferenc und zog ein eingeschlagenes Buch aus seiner Innentasche. Der Regen tropfte aus seinem Mantel, aber das Geschenk war trocken geblieben.
Aufgeregt wickelte ich das Buch aus.
»Sie haben doch nicht etwa …?«
Doch, er hatte. In der Hand hielt ich das kleine Büchlein Les Aventures d’Alice au pays des merveilles. Glücklich drückte ich es an meine Brust.
»Tausend Dank! Die französische Ausgabe fehlte mir noch. Ich freue mich so!«
Er war von dem Schlag Menschen, die glücklich sind, wenn sie anderen eine Freude machen. Wir strahlten daher um die Wette.
»Wollen Sie reinkommen? Ich werde zwar bald abgeholt, aber Annie hat gerade Tee aufgesetzt. Sie könnten mir von Paris erzählen.« Ich wusste, dass Ferenc dort den Bau eines Theaters oder etwas in der Art beaufsichtigte. Aber ich hatte Paris noch nie gesehen und war neugierig auf seinen Bericht. »Und ich könnte Ihnen davon erzählen, wie ich gestern überfallen wurde.«
Ferenc hatte ohnehin einen blassen Hauttyp und nun wich ihm auch die restliche Farbe aus dem Gesicht. »Sie sind überfallen worden? Ist Ihnen etwas passiert? Geht es Ihnen gut?«
»Zugegeben, es war beängstigend. Ich war im Hyde Park.«
»Bei Rabe?«
»Ja.« Ich erzählte Ferenc die Einzelheiten des Angriffs und wie ich gerettet worden war.
»Den Stecker kann ein guter Juwelier ersetzen. Ich bin nur froh, dass Ihnen nichts geschehen ist.«
»Ein kleiner Kratzer am Hals, dort, wo mir die Kette vom Hals gerissen wurde. Nicht der Rede wert. Der Schreck war schlimmer. Aber das Ganze hat auch etwas Gutes. Denn besagter Gentleman und Retter ist Anwalt und wird mich zur Polizei begleiten, um mit mir Anzeige zu erstatten.« Ich strahlte über das ganze Gesicht.
Ferenc räusperte sich. »Es freut mich zu hören, dass es Ihnen gut geht. Gehen Sie bitte nicht mehr allein auf den Friedhof. Ich begleite Sie. Jederzeit.« Er sah hinter mir auf die Standuhr. »Miss Elisabeth, Sie wissen, wie sehr ich Ihre Gegenwart genieße, aber ich wollte nur ein paar Dokumente abholen, die Ihr Vater für mich bereitgelegt hat.«
Wir gingen durch den Flur. Ich nestelte an meinem Kleid. Unsicher, ob ich mit ihm über Vaters Pläne sprechen sollte oder nicht.
Hinter der Treppe befand sich die Ablage, auf der wir all das sammelten, was verschickt werden sollte. Dort lag auch die Mappe für Ferenc. Er nahm sie, sah auf meine Hände und legte den Kopf schief.
»Ist sonst alles in Ordnung? Oder haben Sie noch etwas auf dem Herzen, Miss Elisabeth?«
Es war schön, dass mich die Menschen, die ich als Freunde betrachtete, so gut kannten. Auch wenn ich dadurch kaum je etwas geheim halten konnte. In diesem Fall kam es mir gelegen.
»Wissen Sie von Vaters Plänen mit Amerika?«, platzte es aus mir heraus.
»Ja«, sagte er schlicht. Ich wusste es zu schätzen, dass Ferenc mich nie anlog, ganz gleich, wie unangenehm die Wahrheit war.
»Was ist Ihre Meinung dazu?«
Er legte die Stirn in Falten und überlegte. »Nun, meine sehr persönliche Meinung ist, dass zwischen Annie und Mr. Stark über die Jahre ein respektvolles Verhältnis entstanden ist. Ob es mehr als das ist, können die beiden nur herausfinden, wenn sie sich selbst die Erlaubnis dazu geben, es auszuprobieren. Und da die gesellschaftlichen Strukturen festgefahren sind, verstehe ich, dass es ihnen in London nicht möglich sein wird. Sie brauchen die Veränderung und den Abstand zu England.«
Er betrachtete mich wieder. Dann verengten sich seine Augen. »Das ist es nicht, was Sie wirklich beschäftigt, richtig?«
Erwischt.
»Ja.« Ich schluckte und atmete durch. Ich wollte mich nicht anhören wie ein trotziges Kind. Gerade, weil Ferenc mich von klein auf kannte, war es mir wichtig, mich in seiner Gegenwart nicht wie ein kleines Mädchen zu verhalten, sondern ihm zu zeigen, dass ich erwachsen geworden war.
»Ich möchte Vaters Glück nicht im Weg stehen. Es ist nur …« Ich rang nach Worten.
»Dass er Sie nicht in seine Gedanken eingebunden hat?«, bot Ferenc an.
»Ja, das ist es. Er behandelt mich noch immer wie ein Kind und hat mich gar nicht als Gesprächspartnerin in Betracht gezogen. Und das, obwohl ihm die Entscheidung sicherlich nicht leicht gefallen ist. Aber er hatte offenbar nicht den Eindruck, dass ich ihm helfen könnte. Und gleichzeitig sagt er aber, ich sei erwachsen genug, um zu heiraten.« Eine Träne rollte meine Wange hinab. Das waren zu viel Gefühle auf einmal. Ich fühlte mich gleichzeitig von Vater hintergangen und überfordert.
»Heiraten?« Ferenc sah mich erstaunt an.
»Wissen Sie es nicht? Vater sagt, ich kann nur hierbleiben, wenn ich heirate.« Eine weitere Träne lief mir über das Gesicht. Wo war mein Mr. Darcy? »Ich liebe London, ich liebe Europa. Ich würde so gern hierbleiben. Aber wie soll ich in so kurzer Zeit einen Ehemann finden?«
Ferenc runzelte die Stirn. »Elisabeth, Sie sind eine wundervolle Frau. Ich …«
In diesem Moment klingelte es erneut an der Tür und sofort breitete sich wieder das aufgeregte Kribbeln in mir aus. »Er ist da!«
Erst, als ich schon neben Mr. Druitt in der Droschke saß, fiel mir ein, dass ich mich von Ferenc in der plötzlichen Aufregung gar nicht richtig verabschiedet hatte. Aber als Freund hatte er dafür sicherlich Verständnis.
Mr. Druitt und ich fuhren zur Polizeidienststelle und erstatteten eine Anzeige. Viel mehr, als die Beute der Diebe und dass einer vermutlich zur See fuhr, konnte ich nicht zu Protokoll geben. Daher machte mir der Konstabler wenig Hoffnung, dass man die Täter schnappen würde. Der einzig nützliche Hinweis schien die Anker-Tätowierung zu sein. Mr. Druitt gab lediglich an, dass er die Angreifer in die Flucht geschlagen hatte. Dass ein Messer involviert war, kam nicht zur Sprache und er übergab es auch nicht der Polizei. Vielleicht hätte er kein Beweismittel vom Tatort entfernen dürfen und ich wollte meinen Retter nicht in Schwierigkeiten bringen. Außerdem war ich schon geflohen und hatte daher nicht genau gesehen, was sich am Ende zugetragen hatte. Ich nahm also an, dass Mr. Druitt dafür als Anwalt seine Gründe hatte und so schwieg ich darüber ebenfalls.
»Das haben Sie gut gemacht«, sagte Mr. Druitt, als wir wieder auf der Straße standen.
»Ich war ganz schön nervös. Es war das erste Mal, dass ich ein Polizeigebäude betreten habe. Und besonders viel konnte ich nicht zu Protokoll geben.«
»Sie haben klar geantwortet, soweit es Ihnen möglich war. Sie glauben nicht, wie es mir mit manchen Mandanten geht. Entweder geben sie verwirrende Auskünfte oder erfinden sogar etwas bei der Täterbeschreibung dazu, weil sie glauben, die Polizisten mit ihrem Gedächtnis beeindrucken zu müssen.«
Mr. Druitt winkte eine Droschke heran und wir nahmen in ihr Platz.
»Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe. Es ist eine Genugtuung, den Fall der Polizei gemeldet zu haben. Und wenn die Patrouillen im Hyde Park verstärkt werden, kann ich auch wieder unbesorgt meinen Hund besuchen.«
Er nickte. »Ich auch.«
Eine Zeitlang sagte keiner von uns etwas. Wir kamen meinem Zuhause immer näher und ich wusste, wenn ich jetzt nichts unternehmen würde, würde ich Mr. Druitt nie wieder sehen. Die Chance, sich zufällig auf dem Friedhof zu begegnen, war zu gering.
»Sie sagten, Sie arbeiten als Anwalt, richtig? Dann haben Sie bestimmt viele wichtige Akten, die Sie gut verwahren müssen?«
Erstaunt sah Mr. Druitt mich an. »Ja, natürlich. Vor allem vertrauliche Unterlagen. Aber wie kommen Sie darauf?«
»Mein Vater ist Mr. Stark. Er baut die feuerfesten Tresore.«
Mr. Druitts Augen weiteten sich. »Ich habe davon gehört. Eine unglaubliche Erfindung.« Dann schluckte er. »Aber wissen Sie, Miss Stark, ich baue meine Kanzlei gerade erst auf. Mir fehlen die finanziellen Mittel, um eine solche Anschaffung zu tätigen.«
Ich winkte ab. »Sie sind doch mein Retter in der Not. Vater wird Ihnen einen guten Preis machen. Und ein Beratungsgespräch ist kostenlos.«
»Gut. Wenn Ihr Vater zustimmt, vereinbaren Sie einen Termin.«
Mein Herz hüpfte. Ich würde Mr. Druitt wiedersehen.
Mit einem Blick, den Rabe immer erfolgreich gegen mich eingesetzt hatte, überredete ich Vater, mit Mr. Druitt einen Termin zu vereinbaren. Dieser sollte bei uns zu Hause stattfinden, damit ich ihn wiedersah.
An dem Tag des Termins ging ich zum Friseur. Ich wollte besonders gut aussehen. Als ich zurückkehrte, hörte ich, wie die Tür von Vaters Arbeitszimmer aufgeschoben wurde. Durch die schalldichte Verkleidung auf der Innenseite war die Tür so schwer, dass sie immer ein wenig auf dem Boden schliff und ein unverwechselbares Geräusch erzeugte. Für mich als Tochter häufig ein unbezahlbares Alarmsignal.
Heraus kamen Vater und Mr. Druitt.
Er setzte im Gehen seinen Hut auf. »Vielen Dank für das Gespräch, Mr. Stark. Ich melde mich nach Rücksprache mit meinem Finanzberater bei Ihnen. Guten Tag.«
Mr. Druitt drehte sich um und sah mich an. Ich winkte unbeholfen. Er tippte an seinen Hut, nickte mir zu und ging.
Enttäuscht sah ich ihm hinterher. Ich war zu spät zurückgekehrt. Nicht einmal meine Haube hatte ich absetzen können, um meine Frisur zu präsentieren.
Bei Jane Austen hätte es eine große Geste gegeben. Doch mein Mr. Darcy verschwand sang- und klanglos durch die Haustür.
Was hatte ich auch erwartet? Ich hatte keine Erfahrung in diesen Angelegenheiten und mich daher nicht geschickt angestellt. Aber ein richtiger Mr. Darcy hätte selbst die Initiative ergriffen.
»Ein netter junger Mann«.« Vater kam auf mich zu. »Die Welt ist klein. Bei dem Projekt im Krankenhaus habe ich seinen Vater kennengelernt. Er war Chirurg. Leider starb er vor drei Jahren an einem Herzinfarkt.«
»Das tut mir leid«, sagte ich und senkte den Kopf.
»Ihm war wichtig, dass sein Sohn eine gute Ausbildung genießt. Und heute baut Montague Druitt seine eigene Anwaltskanzlei auf und unterrichtet zur Finanzierung nebenbei in einem Internat.«
Ich hörte aufmerksam zu und versuchte, mir jedes Detail zu merken. Ein Mann zum Verlieben. So vielseitig und fleißig. Und als Lehrer mit Sicherheit kinderlieb und darüber hinaus der Sohn eines angesehenen Arztes. Schmollend schob ich die Unterlippe vor, weil Mr. Druitt so schnell gegangen war. Das hatte ich schon als Kind getan, wenn mir etwas nicht gepasst hatte. Eine Eigenart, die ich mir nie richtig abgewöhnt hatte.
»Mr. Druitt hatte es eilig. Wir hatten nicht einmal genug Zeit, Tee zu trinken. Möchtest du eine Tasse?«, fragte Vater.
»Na gut. Aber wir reden nicht über Amerika!«
»Einverstanden. Ich lasse das Thema ruhen. Sag mir Bescheid, wenn du so weit bist. Und Elisabeth«, er sah mich über die Brille hinweg an, »verdrängen hilft nicht.«
In der Ecke gegenüber von Vaters Schreibtisch befanden sich zwei Ledersessel. Der eine war rot, hatte goldene Stickereien, die wie Rosenranken wirkten, und war eigentlich zu verspielt für ein Arbeitszimmer. Er hatte Mutter gehört und stand direkt unter ihrem Bild. Ich liebte diese Ecke als kleine Hommage an sie.
Wir setzten uns und ich knabberte an einem Keks, dessen Geschmack ich aber nicht wahrnahm.
Vater beobachtete mich eine Zeit lang. Er schmunzelte unter seinem Schnurrbart. Aus irgendeinem Grund vergnügte ihn die Situation.
»Was?«, fragte ich.
»Du bist nicht nur beleidigt wegen Amerika, nicht wahr?«
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, also nahm ich einen Schluck Tee.
»Mr. Druitt fragte nach dir.«
Ich verschluckte mich an dem Tee und hustete. »Er hat was?«
Vater schmunzelte. »Ich dachte mir schon, dass dich das interessiert.«
»Was hat er gefragt?«
»So dies und das.«
»Nun lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen!«
Vater legte den Kopf in den Nacken und lachte. »Die Jugend. Hat einfach keine Geduld.«
Ich rollte mit den Augen und er lachte umso mehr.
»Der junge Mr. Druitt würde dich gern wiedersehen. Er bat um meine Erlaubnis für eine Verabredung mit dir.«
Gespannt lehnte ich mich vor. »Was hast du geantwortet?«
»Was denkst du denn, was ich geantwortet habe? Ich habe den Blick meiner Tochter gesehen, wie sie mich anbettelte, mich mit Mr. Druitt wegen der Tresore zu treffen. Und er ist der Sohn eines angesehenen Chirurgen, den ich flüchtig kannte. Natürlich habe ich zugestimmt.«
Ich fiel Vater um den Hals und küsste ihn auf die Wange.
Die nächsten Tage hielt ich mich in der Nähe der Fenster auf, die zur Straße führten. Immer, wenn sich jemand der Haustür näherte, beobachtete ich gespannt, ob die Person einen Brief für mich abgeben würde.
Die ersten Tage war der Gedanke an Mr. Druitt aufregend gewesen. Ich hatte Tagträume von unseren Initialen, die nebeneinander in Handtücher gestickt waren. Eine willkommene Ablenkung von der Frage, die ich mir in Bezug auf Amerika zu stellen hatte.
Doch als die Tage ohne eine Nachricht von Mr. Druitt verstrichen, wurde mir das Herz schwer. Ich begann zu glauben, dass er bei mir einen größeren Eindruck hinterlassen hatte als ich bei ihm. Und so wurde meine Stimmung zunehmend missmutiger. Ich machte mich sogar darauf gefasst, dass Mr. Druitt mir den Gang zur Polizei im Rahmen seiner anwaltlichen Tätigkeit in Rechnung stellen könnte.
Vater und Annie vermieden es auf meinen Wunsch hin, mich auf ihren bevorstehenden Umzug anzusprechen. Aber hin und wieder ertappte ich sie dabei, wie sie die Köpfe zusammensteckten und tuschelten. Sie gingen gelöst miteinander um. Ich freute mich für sie, aber es schmerzte auch. Sie führten mir ihr Glück so deutlich vor Augen, während Mr. Druitt sich nicht meldete. Und es erinnerte mich daran, dass die beiden weggehen würden – oder daran, dass wir gemeinsam weggehen würden?
Ich hatte den Morgen auf der Fensterbank in meinem Zimmer verbracht. Der Regen prasselte an die Scheibe. Auf meinem Schoß lag die französische Ausgabe von Alice, die Ferenc mir aus Paris mitgebracht hatte. Es war ein schönes Exemplar, in Leinen gebunden. Ich beherrschte die französische Sprache nicht fließend, aber da ich mit der Geschichte bestens vertraut war, reichten meine Kenntnisse aus, um mich zu orientieren. Und es machte mir Freude, zu lernen, wie die Figuren in den anderen Sprachen hießen. Le Chapelier fou, der verrückte Hutmacher. Oder la Reine Rouge, die Herzkönigin.
Der Wind nahm einen neuen Anlauf und drückte den Regen unbarmherzig gegen die Scheibe, als sich eine Gestalt die Straße hinunterkämpfte und auf unser Haus zuhielt. Kurze Zeit später hörte ich die Postklappe und konnte die Treppe gar nicht schnell genug hinunterlaufen. Im Flur unter der Klappe lag ein kleiner, vollkommen durchweichter Umschlag. Ungeduldig öffnete ich ihn. Die rote Tinte war leicht verschmiert, die Handschrift die eines Mannes, der beruflich viel notiert. Er schrieb, er würde meinem Vater am Nachmittag des nächsten Tages einige Unterlagen vorbeibringen und mich anschließend gern zu einem Spaziergang einladen. Ich jauchzte vor Glück und lief zu Annie, um ihr von der großartigen Neuigkeit zu berichten.
Sie freute sich mit mir und zögerte keine Sekunde, den Abwasch des großen Suppentopfes zu unterbrechen, um mit mir ausgiebig darüber zu beraten, welche Garderobe ich für die Verabredung wählen sollte.
In dieser Nacht wälzte ich mich hin und her und stand entgegen meinen sonstigen Gewohnheiten früh auf. Enttäuscht zog ich die Vorhänge beiseite. Es war ein weiterer wolkenverhangener, trüber Tag. Ich hoffte nur, es würde nicht regnen während unseres Spaziergangs. Ich wollte für Mr. Druitt gut aussehen und nicht wie ein begossener Pudel.
Den Vormittag verbrachte ich im Grunde damit, auf die Uhr zu starren, um ihre Zeiger durch Willenskraft voranzutreiben. Nach dem Mittagessen, das ich vor Aufregung kaum anrührte, begleitete Annie mich in mein Zimmer. Wir hatten knapp zwei Stunden. Das sollte genug Zeit sein, um mich herauszuputzen und es gleichzeitig so aussehen zu lassen, als hätte ich keine besondere Mühe investiert.
Tags zuvor hatten Annie und ich uns nach einigem Hin und Her für ein leuchtend grünes Kleid entschieden. Die Farbe entsprach der meiner Augen und setzte einen reizvollen Kontrast zu meinen braunen Haaren mit dem rötlichen Schimmer.
Die Farbe war sowohl der Trumpf dieses Kleides als auch sein größter Nachteil. Meine Freundin Martha aus Wien hatte mir berichtet, dass auf dem Festland heftig über grüne Kleider diskutiert wurde. Der Grund dafür war, dass die grandios grüne Farbe nur unter Zuhilfenahme von Arsen erreicht werden konnte. Dies war insbesondere auf Bällen ein Problem, wenn die Damen dort tanzten und durch Hüpfer das Arsen in die Luft abgaben. Es hatte einige Berichte gegeben, dass neben der jeweiligen Trägerin des Kleides, auch ihre Tanzpartner sich nach den Bällen kränklich fühlen würden. Da ich aber nicht vorhatte, zu tanzen, sondern nur an der frischen Luft spazieren gehen wollte, war ich bereit, das Risiko eines leichten Unwohlseins im Gegenzug für eine ansprechende Erscheinung in Kauf zu nehmen.
Wir waren gerade fertig geworden, als die Türglocke erklang.
»Schnell, schnell«, wies ich Annie an. Hastig zupfte sie noch einmal alles nach und prüfte ein letztes Mal den Halt meines Dutts.
Von unten hörte ich schon Mr. Druitts sanften Bariton.
»Hier, Mr. Stark, Sir, sind alle Unterlagen und Baupläne der Kanzlei. Es eilt nicht sonderlich, aber ich würde es durchaus begrüßen, wenn das Angebot mit einer gewissen Priorität erstellt werden könnte.«
»Wie Sie vielleicht wissen,«, antwortete mein Vater, »war ich mit Ihrem Vater bekannt. Es ist mir daher eine besondere Freude, seinem Sohn einen Gefallen erweisen zu können. Ich denke, ich kann davon ausgehen, dass meine Rechnungen später ebenfalls mit einer gewissen Priorität beglichen werden?«
Ich stand oben an der Treppe und beobachtete, wie sich die beiden die Hand gaben. Vater sah mich zuerst, dann drehte auch Mr. Druitt seinen Kopf in meine Richtung. Er lächelte mich an. Als ich die Stufen hinab ging, fühlte ich mich wie eine Prinzessin. Wie eine Prinzessin, die unablässig hofft, nicht zu fallen. Aber wie eine Prinzessin.
Unten angekommen nahm Mr. Druitt meine Hand und hauchte einen Kuss darauf. Unter Aufbietung all meiner Willensstärke vermied ich es, vor Freude zu kichern, und knickste stattdessen.
»Sir, die Unterhaltungen mit Ihnen sind anregend und lehrreich. Doch nun würde ich Ihre Tochter gern auf einen Spaziergang in den Park ausführen.« Mr. Druitt räusperte sich kurz. »Vorausgesetzt, Sie widerrufen Ihre Erlaubnis nicht.«
Spätestens jetzt wäre mir durch die juristische Formulierung klar geworden, dass ich es mit einem waschechten Rechtsgelehrten zu tun hatte.
Vater nickte. »Aber natürlich. Vor mir liegt heute ohnehin noch einiges an Arbeit. Elisabeth, ich bitte dich, pünktlich zum Abendessen zurück zu sein.«
Das bedeutete, dass wir zwei Stunden hatten. »Natürlich, Vater.«
»Würden Sie gern einen Spaziergang mit mir unternehmen?«, wandte sich Mr. Druitt mit einer leichten Verbeugung an mich.
»Ja.« Ich erwiderte sein Lächeln.
Er bot mir seinen Arm an. Einen Moment lang stand ich unsicher da. Dann überwand ich meine Schüchternheit und hakte mich ein.
Draußen überquerten wir die Straße zwischen zwei Droschken und steuerten dann den Pfad an, der inmitten von Hecken direkt in den Park führte.
Mr. Druitt sah sich um.
»Es ist schön hier. Ich muss zugeben, vorher noch nie in diesem Teil der Stadt gewesen zu sein. Heute Morgen dachte ich noch, es könnte regnen. Aber ich bin froh, dass es aufgeklart hat.«
Mir fiel nichts Kluges ein und so blieb ich lieber stumm und lächelte. Ich klammerte mich an seinen Arm, in den ich eingehakt war. Mr. Druitt roch gut.
»Elisabeth, ich darf Sie doch Elisabeth nennen, nicht wahr?«
Wie waren die gesellschaftlichen Regeln dazu? Ich mochte es, wie mein Name aus seinem Mund klang. Aber durfte ich dieser Vertrautheit zustimmen oder machte ich mich dadurch zu einem leichten Mädchen? Mr. Druitt ersparte mir die Antwort, indem er gleich weitersprach.
»Elisabeth, was machen Sie so zu Ihrem Zeitvertreib? Nun, wie ich ja schon gesagt habe, ich bin Rechtsanwalt und Lehrer. Aber ich denke, eine junge Dame hat mit der Juristerei nichts am Hut. Meine Schüler zeigen auch keinerlei Interesse daran. Ich werde Ihnen daher die Einzelheiten ersparen. Nur so viel: Ich baue gerade meine eigene Kanzlei auf. Und wenn die erst einmal Profit bringt, werde ich die Stelle als Lehrer an den Nagel hängen. Die Kinder von heute sind ganz anders. Als ich damals Schüler war …«
Tatsächlich interessierte mich seine Arbeit als Lehrer mehr. Ich hörte aufmerksam zu, wie er von seinen Schülern sprach. Auch wenn er den Lehrberuf nur zum vorübergehenden Broterwerb ausübte, schienen ihm seine Schüler am Herzen zu liegen. Er machte sich Gedanken darum, das Wissen auf eine lebendige Art und Weise zu vermitteln.
Noch leidenschaftlicher wurde er, als er vom Cricket sprach. Er und seine Mannschaft trainierten diszipliniert und schienen einen außergewöhnlichen Zusammenhalt zu haben. Dem harten Training hatte Mr. Druitt auch seine Sportlichkeit zu verdanken, wodurch er meine Angreifer hatte überwältigen können.
Obwohl ich dem Spiel nicht sonderlich zugeneigt war, hätte ich ihm stundenlang zuhören können. Er hatte die Gabe, seine Begeisterung auf seinen Gesprächspartner zu übertragen. Ich stellte mir vor, dass er ein beliebter Lehrer war.
Und zumindest mit dieser Einschätzung lag ich richtig.
Ich war zu eingeschüchtert, um während des Spaziergangs auch nur einen Ton von mir zu geben. Aber ich hörte Mr. Druitt gern zu. Er hatte ein bemerkenswertes Leben. Zwei angesehene Berufe, Sport in der Freizeit, perfekte Manieren und einen tadellosen Kleidungsstil. Daneben kam ich mir klein und unbedeutend vor. Da ich meist im Haus blieb, von den gelegentlichen Spaziergängen mit Albert mal abgesehen, erlebte ich wenig, von dem ich hätte berichten können. Aber er machte es mir leicht und übernahm die Konversation.
Es war angenehm in seiner Gegenwart. Und ich fühlte mich geehrt, dass jemand wie er Zeit mit mir verbrachte. Trotz seines ausgelasteten Terminkalenders.
Mr. Druitt achtete penibel darauf, dass ich pünktlich nach Hause kam und versicherte mir, dass es ein schöner Nachmittag gewesen sei. Er habe den Spaziergang genossen und würde dies gern wiederholen. Dabei hatte ich nicht einen Satz gesagt.