Judentum. Eine kleine Einführung - Norman Solomon - E-Book

Judentum. Eine kleine Einführung E-Book

Norman Solomon

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Beschreibung

Das Judentum blickt zurück auf eine Tradition von mehr als 3000 Jahren. Diese pointierte Einführung widmet sich vor allem dem jüdischen Glauben, nimmt aber auch die wesentlichen kulturellen Aspekte des Judentums in den Blick. Es geht zudem um die Stellung der Juden in der Welt von gestern und heute und ihr Verhältnis zum Christentum. Nicht zuletzt bildet das Schicksal der Juden im 20. Jahrhundert eines der zentralen Themen dieses Buches.

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Seitenzahl: 190

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Norman Solomon

Das Judentum

Eine kleine EinführungMit 12 Abbildungen

Aus dem Englischen übersetzt von Ekkehard Schöller

Reclam

Titel der englischen Originalausgabe: Judaism. A Very Short Introduction. Oxford / New York: Oxford University Press, 1996.

 

1999, 2022 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Die Übersetzung erscheint mit Genehmigung der Oxford University Press, Oxford. This translation of Judaism originally published in English in 1996 is published by arrangement with Oxford University Press. © 1996 Norman Solomon

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH

Made in Germany 2022

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN 978-3-15-961223-2

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014268-4

www.reclam.de

Inhalt

Einleitung1 Wer sind die Juden?2 Wie kam es zur Spaltung von Judentum und Christentum?3 Wie entwickelte sich das Judentum weiter?4 Jüdischer Kalender und jüdische Feste5 Das spirituelle Leben: Gebet, Meditation, Thora6 Die Gründung eines jüdischen Heims7 Hinaus aus dem Ghetto, hinein in den Sturm8 Das Judentum im 20. Jahrhundert9 »Ewiges Gesetz«, Wandel der ZeitenAnhangDie dreizehn GlaubensgrundsätzeDas »Philadelphia-Programm« des ReformjudentumsVorschläge zur weiteren LektürePersonen-, Orts- und Sachregister

Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften? Mit derselben Speise genährt, mit denselben Waffen verletzt, denselben Krankheiten unterworfen, mit denselben Mitteln geheilt, gewärmt und gekältet von eben dem Winter und Sommer als ein Christ? Wenn ihr uns stecht, bluten wir nicht?

Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig III,1, V. 63(Übersetzung: A. W. Schlegel)

Jüdische Einwanderer in Israel aus verschiedenen Ländern. Auffällig ist die Vielfalt der Gesichtszüge, die eine ganz unterschiedliche ethnische Herkunft zeigen

(Fotos: Werner Braun, Jerusalem)

Einleitung

1Wer sind die Juden?

Gehört die Tomate zum Obst oder Gemüse? Für den Botaniker unzweifelhaft zum Obst, für den Küchenchef zum Gemüse – was aber würde die Tomate selbst sagen? Wenn sie überhaupt über die Sache nachdächte, würde sie wohl die gleiche Identitätskrise erleben, in die Juden leicht geraten, wenn man sie in die Zwangsjacke einer Rasse, einer ethnischen Gruppe oder einer Religion zu stecken versucht. Lässt man sie in Ruhe, sind Tomaten und Juden weder besonders komplizierte noch obskure Wesen. Sie passen aber nicht ohne weiteres in die bequemen Kategorien wie »Obst« oder »Gemüse«, »Nation« oder »Religion«, die zur Klassifizierung anderer Nahrungsmittel und Menschen sonst so nützlich sind.

Woran würden Sie eine Jüdin oder einen Juden erkennen, wenn sie oder er Ihnen auf der Straße begegnete? Es gibt sowohl schwarze wie weiße, orientalische wie okzidentale, konvertierte wie jüdisch geborene, atheistische, agnostische und noch viele andere Typen von religiösen Juden. Ist es da überhaupt möglich, die Juden kollektiv zu beschreiben? Wie viele Juden gibt es? Und wo leben sie?

Wer waren die Juden früher?

Die Frage nach der jüdischen Identität ist überraschend neu. Im Mittelalter etwa sah niemand darin ein Problem. Man wusste, wer die Juden waren. Die Juden waren ein »besonderes Volk«, »das auserwählte Volk«, wie es in der Bibel heißt, auserwählt von Gott zum Träger seiner Offenbarung. Doch sie hatten Jesus verworfen. Sie waren deshalb verflucht und zu einem niederen sozialen Status verdammt, bis sie Jesus anerkennen würden, wenn die Zeit erfüllt sei. Im späten Mittelalter hatte sich die christliche Voraussage erfüllt: die Christen hatten unter Anwendung politischer Macht die Juden tatsächlich in jenen niederen sozialen Status abgedrängt, den sie ihnen prophezeit hatten. Die Juden wurden gezwungen, in Ghettos zu leben, sie mussten besondere Kleidung tragen, waren von Zünften, Berufen und Landbesitz ausgeschlossen, wurden von den Kanzeln als Christusmörder geschmäht, der Brunnenvergiftung (zur Zeit der Pest) beschuldigt, sowie der Hostienschändung, des »Ritualmords« an christlichen Kindern (die sogenannte »Blutanklage«: angeblich benutzten sie ihr Blut für das Pessach) und so gut wie jeder Schandtat, die nur ein verwirrter Geist auf eine fremde Gruppe projizieren konnte.

Es ist aufschlussreich, ja geradezu schockierend, wie die Juden in der christlich religiösen Kunst, besonders des Westens, dargestellt wurden. Vor dem 12. Jahrhundert besaßen sie keine physischen Merkmale, die sie von anderen Menschen unterschieden. Dann erfolgte plötzlich ein Umschlag: die europäischen Juden bekommen Hakennasen, Schwimmfüße und andere Merkmale, mit denen man sich sonst die Physiognomie des Teufels auszumalen pflegte. Selbst im 20. Jahrhundert hält sich noch in Teilen Europas der Volksglaube, die Juden trügen Hörner. Natürlich waren es nicht die Juden, die ihr Äußeres im 12. Jahrhundert auf mysteriöse Weise verändert und in neuerer Zeit zurückverwandelt hatten, sondern es war die christliche Ikonographie, die von nun an den Mythos des jüdischen Bundes mit dem Teufel artikulierte.

Die in der mittelalterlichen »Christenheit« erzeugten Stereotypen waren selbst dann noch virulent, als das System unter dem Einfluss der Aufklärung zusammenbrach. Sogar Voltaire, ein Protagonist der Aufklärung, hielt die Juden für eine verkommene und minderwertige Rasse. Anstelle des theologischen Antijudaismus der Kirchen entwickelte sich ein rassistischer Antisemitismus, der in der »Endlösung« der Nazis, dem Projekt der Erniedrigung und physischen Ausrottung der »jüdischen Rasse«, gipfelte.

Doch die Nazis hatten ein Problem. Spätestens 1933 war es völlig evident, dass die Juden keine Schwänze, Hörner oder irgendwelche anderen anstößigen Züge besaßen, die sie von anderen Deutschen (oder Polen oder wem immer sonst) unterschieden. Als Goebbels und sein Propagandaapparat die mittelalterlichen Karikaturen im Stürmer wiederaufleben ließen, war denn auch die jüdische »Normalität« derart weit vom Hirngespinst der rassischen Verschiedenheit der Juden entfernt, dass die Nürnberger Gesetze geradezu hilflos Juden als Personen definieren mussten, die zumindest von einem jüdischen Urgroßelternteil abstammten, also 121⁄2 Prozent »jüdisches Blut« in sich trugen. Es war ein böses Omen, dass die Nazis ihre ersten antijüdischen Gesetze – unter anderem Boykott, Rassentrennung und besondere Kleidung – just auf jene Dekrete stützten, die Papst Innozenz III. während des 4. Laterankonzils von 1215 erlassen hatte. Ein Hauptziel dieser Gesetzgebung war es, die Juden dadurch zu isolieren, dass sie anders als andere Menschen aussehen sollten – trotz der Tatsache, dass die Natur sie unpassenderweise ungefähr genauso geschaffen hatte wie die anderen auch.

Wie dachten die Juden früher über sich selbst?

Solange die christliche oder muslimische Umwelt die Juden weiter als ein »besonderes Volk« definierte und Gesetze zur Sanktionierung ihres speziellen Status erließ, haben die Juden ihre gesellschaftliche Situation verinnerlicht und ihr Los in den alten biblischen Kategorien interpretiert. Sie sahen sich als Gottes auserwähltes Volk, als eine Nation im Exil. Wie ihre Unterdrücker glaubten sie, Gott habe sie wegen ihrer Sünden verbannt. Doch sie zogen daraus andere Schlüsse als Christen und Muslime. Während die Christen und – in einem geringeren Maße – die Muslime verkündeten, Gott habe die Juden, indem er sie bestrafte, verworfen und fallengelassen, hielten die Juden ihr Los für eine Bestätigung ihres Status der »Auserwähltheit«: »Wen der Herr liebt, den züchtigt er« (Sprüche 3,12). Die Völker, bei denen sie im Exil lebten, glichen den »unreinen« Götzenanbetern von ehedem, deren Schmeicheleien und üblem Einfluss sie um jeden Preis widerstehen mussten – bis zu der Zeit, wo Gott in seiner unendlichen Gnade beschließen würde, sein Volk zu erlösen und unter seinen Schutz zu stellen.

So hatten die Juden im ganzen Mittelalter und bis weit in spätere Zeit überall da, wo mittelalterliche Denkweisen und Gesellschaftsstrukturen fortbestanden, kein ›Identitätsproblem‹. Und da ihre eigenen Traditionen und ihre kulturelle Umwelt sich gegenseitig stabilisierten, war eine klare Trennlinie zwischen ihnen und ihren geographischen Nachbarn gezogen.

Natürlich gab es immer Sonderfälle, doch sie waren gering und ließen sich leicht durch tradierte Regeln entscheiden. Was war etwa der Status eines Kindes jüdischer Eltern, das von einem Feind gefangengenommen, christlich erzogen und später wieder in den Schoß des jüdischen Volkes zurückgekehrt war? Oder was war der Status des Kindes einer jüdischen Frau, die – wie es nicht selten geschehen sein mochte – von einem christlichen Soldaten oder Oberherrn vergewaltigt wurde? Die Regel, die sich zumindest bis in die Römerzeit zurückverfolgen lässt, war klar. Das Kind einer jüdischen Mutter war Jude; das Kind eines jüdischen Vaters mit einer nichtjüdischen Frau war Nichtjude, zumindest so lange, bis es formell konvertiert war. Diese Regel gilt noch immer in den meisten jüdischen Gruppen. In jüngster Zeit jedoch haben Reformkongregationen in den USA, dem Trend zur Geschlechtergleichstellung folgend, entschieden, dass wenn einer der beiden Eltern Jude ist, das Kind die vollen Rechte in der jüdischen Gemeinde besitzt, ohne formell konvertiert sein zu müssen (vgl. S. 137).

Wie sehen sich die Juden heute selbst?

In einem kürzlich erschienenen Buch über jüdische Identität definiert Michael Meyer, Professor für Jüdische Geschichte am Hebrew Union College Jewish Institute of Religion in Cincinnati, im Anschluss an die Forschungen des Soziologen Erik H. Erikson »Identität« als

»die Gesamtheit der Charakteristika, die die Individuen als konstitutiv für ihr Selbst erachten. Die individuelle Identität wurzelt in Identifikationen des Heranwachsenden mit Personen, die ihm nahestehen, mit deren Werten und Verhaltensmustern. Während es zum Erwachsenen heranreift, müssen diese Identifikationen vom Individuum nicht nur aufeinander abgestimmt, sondern auch an die Normen der Gesellschaft, in der es eine Rolle zu spielen hat, angepasst werden. Dieser Prozess repräsentiert die ›Identitätsbildung‹ […].«

Für den Ghettojuden stellte die Anpassung »an die Normen der Gesellschaft, in der das Individuum eine Rolle zu spielen hat«, kein großes Problem dar. Zwischen den Normen und Werten der Gesellschaft, als deren Glied er sich empfand – d. h. der jüdischen Gesellschaft –, und jenen, die er in der Familie, in der er aufgewachsen war, erworben hatte, gab es keine ernsthaften Konflikte. Familie, Gemeinde und die Fremdheit gegenüber dem, was jenseits lag, bildeten das Amalgam, aus dem sich eine klare Identität herauskristallisieren konnte.

Doch als die Juden in Europa und Amerika allmählich die Bürgerrechte erlangten und sich als Bürger der neuen Nationen oder gar der ganzen Welt fühlten, wurden viele mit radikal anderen Normen als jenen, die sie von ihrer Kindheit her kannten, konfrontiert. Ihre Identität wurde weniger klar, weniger sicher.

Meyer behauptet, dass drei Faktoren zur Ausbildung der heutigen jüdischen Identität beitrugen – Aufklärung, Antisemitismus und die Entstehung des Staates Israel. Wir wollen sehen, worin die Wirkung dieser Faktoren bestand.

Als die Juden, befreit von den Beschränkungen des Ghettolebens, durch die Aufklärung selbst einem Anpassungsprozess an die moderne Kultur unterworfen waren, sahen sie sich gezwungen, ihr eigenes Verhalten statt durch Berufung auf irgendeine Autorität, etwa eine spezielle Offenbarung, durch Vernunftgründe – die allen gemeinsame Diskussionsbasis – zu rechtfertigen. Eine zweite Forderung der Aufklärung war, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien. Sie brachte den Juden zwar neue Bürgerrechte, bedeutete aber zugleich eine Absage an ihr Selbstverständnis als ein »besonderes Volk«.

Niemand hat dies wohl schärfer ausgesprochen als Graf Clermont-Tonnerre, der sich vor der Nationalversammlung der Französischen Revolution 1789 für die volle Staatsbürgerschaft der Juden einsetzte: »Als Volk muss man den Juden alles verweigern, als Individuen aber ihnen alles geben. Sie müssen gleichberechtigte Staatsbürger werden.« Mit anderen Worten, den Juden sollten die vollen französischen Staatsbürgerrechte gewährt werden. Dafür mussten sie auf ihre kollektive Sonderstellung und Autonomie verzichten. Die Entscheidung des Individuums sollte an die Stelle der tradierten Gemeindeautorität treten und die Religion zur »Privatsache« werden. Zwar begrüßten viele Juden diesen Wandel, der sich in West- und in Teilen Mitteleuropas rasch vollzog; vehement wurde er indessen von manchen Traditionalisten bekämpft, die befürchteten, er könnte die etablierte Gemeindeautorität mitsamt dem überlieferten Glauben und Ritus bedrohen. Als die »Plausibilitätsstruktur« traditioneller Glaubensformen, wie Peter L. Berger schreibt, fragwürdig wurde und anstelle der unbefragten Hinnahme der Gemeindeautorität die persönliche Entscheidung trat, wurde »der häretische Imperativ zum Grundphänomen der Moderne«.1

Meyer zufolge ist die Wirkung des Antisemitismus auf die jüdische Identität nicht eindeutig gewesen. Einerseits hat die Ablehnung durch die Außenwelt die jüdische Identität neu gestärkt: Religiöse Erneuerungsbewegungen sind oft in Zeiten der Diskriminierung und Verfolgung erblüht, als die Aufklärungsideale der Vernunft und universellen Menschenrechte ihre Strahlkraft eingebüßt hatten. Als Reaktion auf die »Damaskus-Affäre« von 1840 – die Damaszener Juden waren des Ritualmords angeklagt und von Pogromen bedroht – strömten Juden noch im fernen Amerika zu Protestversammlungen, intervenierten Moses Montefiori in England und Adolphe Crémieux in Frankreich und wurden die Juden weltweit in ihrer Entschlusskraft gestärkt. Und unter der Nachwirkung der »Mortara-Affäre« von 1858 – ein jüdisches Kind war heimlich getauft und von der päpstlichen Polizei in ein Kloster entführt worden – entstand 1859 zunächst der »Board of Delegates of American Israelites« und 1860 die französische »Alliance Israélite Universelle« (AIU). Beide Organisationen festigten – wie schon der 1760 bei der Thronbesteigung Georges III. gegründete englische »Board of Deputies of British Jews« – das jüdische Solidaritätsgefühl, wenngleich ihre primäre Absicht die Verteidigung der Rechte der Juden war.

Andererseits haben die Juden als Reaktion auf den Antisemitismus sich von ihrer Identifikation mit dem Judentum distanziert: durch Verschmelzung mit ihrer kulturellen Umwelt verheimlichen sie ihre jüdische Identität oder geben sie gar ganz auf. Wenn Juden merken, dass sie von Nichtjuden gedemütigt werden, kommen sie sich oft auch in ihren eigenen Augen minderwertig vor, verinnerlichen das gegen sie bestehende Vorurteil und verfallen in Selbsthass. Sie ändern ihre Namen, ihr Äußeres oder ihre Gewohnheiten, um sich ihrer Umwelt soweit wie möglich anzupassen. »Antisemitische Vorurteile machen Juden«, so Michael Meyer, »in Gegenwart von Nichtjuden noch befangener als sonst, mit der Folge, daß sie bestrebt sind, ihr Judentum so lange wie möglich vor dem Auge des nicht vertrauenswürdigen Außenstehenden, dessen Gunst gesucht wird, zu verbergen.«

Karl Marx’ frühe Abhandlung Zur Judenfrage (1844) ist ein faszinierendes Beispiel einer intellektuellen Form jüdischen Selbsthasses. Marx behauptet, das Judentum sei weder eine Religion noch ein Volkstum, sondern Profitstreben. Indem er das riesige jüdische Proletariat in Mittel- und Osteuropa vollkommen ignoriert, setzt er Juden und Christen, deren Religion von der jüdischen abstamme, dem »Feind« gleich, dem Kapitalismus der bürgerlichen Gesellschaft. Marx flieht offensichtlich vor seiner jüdischen Identität – er wurde mit sechs Jahren getauft, stammt aber von beiden Elternseiten von Rabbinen ab –, »assimiliert« sich dem kulturellen Milieu des Antisemiten Feuerbach, dessen groteske Definition des Judentums er übernimmt, und sucht vor dem jüdischen Partikularismus Zuflucht im sozialistischen Universalismus.

Einer von Marx’ engsten Gefährten war der nur wenig ältere Moses Hess, selbst ein bedeutender sozialistischer Philosoph. In einer frühen Schrift urteilte er ähnlich wie Feuerbach und Marx über das Judentum. Später akzeptierte er seine jüdische Identität, die er in seinem zukunftsweisenden Werk Rom und Jerusalem nicht in religiösen, sondern in nationalstaatlichen Kategorien fasste. Anders ausgedrückt, Hess hatte die dritte Bestimmung der jüdischen Identität in der Neuzeit, die Idee der »Rückkehr nach Zion«, wieder aufgegriffen.

Das Paradox des Zionismus – der Begriff wurde erst 1892 geprägt – liegt in seinem doppelten, sowohl religiösen wie säkularen Ursprung. Religiös gesehen war die Rückkehr nach Zion so alt wie Gottes Verheißung an Abraham, dass jenes Land, in dem er wohne, sein Land sei. Diese Verheißung wurde in der Geschichte immer wieder durch religiöse Schriften, Gebete und den frommen Wunsch, im heiligen Land Gottes Gebote zu erfüllen, bekräftigt. Bereits 1782 hatte Elia von Wilna eine »Vision«, die zur Rückkehr nach Zion nebst einem praktischen Programm zur Wiederherstellung Israels aufrief. Und in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat der serbische Rabbiner Jehuda Alkalai, zweifellos vom balkanischen Nationalismus beeinflusst, den uralten Traum von der Rückkehr nach Zion in einer Weise neuformuliert, die sich den zeitgenössischen politischen Kategorien näherte.

Der entscheidende politische Anstoß kam allerdings erst später in diesem Jahrhundert: von säkularen sozialistischen Juden wie Moses Hess und schließlich Theodor Herzl, dem »Vater des modernen Zionismus«. Sie alle lehnten die traditionellen religiösen Glaubensformen ab. Andererseits erkannten sie, dass Aufklärung und Universalismus zwar die jüdische Identität ausgehöhlt, nicht aber den Antisemitismus ausgerottet hatten. Sie teilten mit anderen nationalistischen Philosophen und Politikern des 19