Jüdisch jetzt! - Andrea von Treuenfeld - E-Book

Jüdisch jetzt! E-Book

Andrea von Treuenfeld

0,0
18,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Lebensbilder jüdischer Gegenwart

Die meisten Nichtjuden in Deutschland sind noch nie – oder zumindest nicht bewusst – einem jüdischen Menschen begegnet sind. Dementsprechend halten sich in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft oftmals uralte Klischees oder bestimmen undifferenzierte Neuzuschreibungen das Bild. Wie aber sieht das jüdische Leben im heutigen Deutschland wirklich aus? Wie fühlen sich Jüdinnen und Juden in diesem Land? Und was bedeutet eigentlich jüdisch, wenn man sie selbst danach fragt?

In Gesprächen mit der Autorin haben Noam Brusilovsky, Sveta Kundish, Garry Fischmann, Lena Gorelik, Dr. Sergey Lagodinsky, Shelly Kupferberg, Daniel Grossmann, Anna Staroselski, Daniel Kahn, Helene Shani Braun, Prof. Michael Barenboim, Deborah Hartmann, Jonathan Kalmanovich (Ben Salomo), Anna Nero, Philipp Peyman Engel, Nelly Kranz, Dr. Roman Salyutov, Sharon Ryba-Kahn, Leon Kahane, Gila Baumöhl, Zsolt Balla, Dr. Anastassia Pletoukhina, Leonard Kaminski, Renée Röske, Monty Ott und Sharon Suliman (Sharon) Einblicke in ihre Biografie gewährt.

Ein überraschendes und informatives Buch, das die Vielfalt jüdischer Identitäten und jüdischen Lebens in Deutschland sichtbar macht und die Stimmen einer multikulturell geprägten Generation zu Gehör bringt, die – eine ganz neue Selbstverständlichkeit verkörpernd – in ihrer Diversität gesehen werden will.

  • Geschichten einer neuen Generation
  • Berichte von Heimat und Fremdheit, Erwartung und Mut
  • Umfangreiche Hintergrundinformationen zu jüdischer Kultur und jüdischem Leben heute in Deutschland

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 254

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sie sind in Deutschland geboren oder aus Israel, Amerika und den Staaten der ehemaligen Sowjetunion gekommen, sind säkular, observant oder streng orthodox. Ihre Jüdischkeit definieren sie als Religion oder als Tradition oder auch als Lebensgefühl. So unterschiedlich ihre Sichtweise auf das Judentum ist, so unterschiedlich sind auch die Geschichten der 26 Jüdinnen und Juden, die in diesem Buch von ihrem Leben in Deutschland erzählen. Es sind die Stimmen einer multikulturell geprägten Generation, die – eine ganz neue Selbstverständlichkeit verkörpernd – in ihrer Diversität gesehen werden will.

In Gesprächen mit der Autorin haben Noam Brusilovsky, Sveta Kundish, Garry Fischmann, Lena Gorelik, Dr. Sergey Lagodinsky, Shelly Kupferberg, Daniel Grossmann, Anna Staroselski, Daniel Kahn, Helene Shani Braun, Prof. Michael Barenboim, Deborah Hartmann, Jonathan Kalmanovich (Ben Salomo), Anna Nero, Philipp Peyman Engel, Nelly Kranz, Dr. Roman Salyutov, Sharon Ryba-Kahn, Leon Kahane, Gila Baumöhl, Zsolt Balla, Dr. Anastassia Pletoukhina, Leonard Kaminski, Renée Röske, Monty Ott und Sharon Suliman (Sharon) Einblicke in ihre Biografie gewährt.

Andrea von Treuenfeld

hat Publizistik und Germanistik studiert und nach einem Volontariat bei einer überregionalen Tageszeitung lange als Kolumnistin, Korrespondentin und Leitende Redakteurin für namhafte Printmedien, darunter Welt am Sonntag und Wirtschaftswoche, gearbeitet. Heute lebt sie als freie Journalistin und Autorin in Berlin.

Im Gütersloher Verlagshaus erschienen bereits ihre Bücher »In Deutschland eine Jüdin, eine Jeckete in Israel«, »Zurück in das Land, das uns töten wollte«, »Erben des Holocaust«, »Israel. Momente seiner Biografie« und »Leben mit Auschwitz«.

Für Antonia

Andrea von Treuenfeld

JÜDISCH JETZT!

Junge Jüdinnen und Juden über ihr Leben in Deutschland

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Wir haben uns bemüht, alle Rechteinhaber an den aufgeführten Zitaten ausfindig zu machen, verlagsüblich zu nennen und zu honorieren. Sollte uns dies im Einzelfall nicht gelungen sein, bitten wir um Nachricht durch den Rechteinhaber.

Copyright © 2023 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln

Umschlagmotive: Menora © Xialmages – iStockphoto.com

Hintergrund © Lyubov Smirnova – iStockphoto.com

ISBN 978-3-641-29246-1V002

www.gtvh.de

Inhalt

Vorwort

NOAM BRUSILOVSKY

SVETA KUNDISH

GARRY FISCHMANN

LENA GORELIK

DR. SERGEY LAGODINSKY

SHELLY KUPFERBERG

DANIEL GROSSMANN

ANNA STAROSELSKI

DANIEL KAHN

HELENE SHANI BRAUN

PROF. MICHAEL BARENBOIM

DEBORAH HARTMANN

JONATHAN KALMANOVICH – ›BEN SALOMO‹

ANNA NERO

PHILIPP PEYMAN ENGEL

NELLY KRANZ

DR. ROMAN SALYUTOV

SHARON RYBA-KAHN

LEON KAHANE

GILA BAUMÖHL

ZSOLT BALLA

DR. ANASTASSIA PLETOUKHINA

LEONARD KAMINSKI

RENÉE RÖSKE

MONTY OTT

SHARON SULIMAN – ›SHARON‹

Glossar

Quellen und Literatur

Vorwort

»Du musst nicht unbedingt sagen, dass du Jude bist«, haben sie immer wieder gehört. Aber anders als ihre Eltern, die noch bemüht waren, ihr Jüdischsein zu verdecken, will die Generation der Mittzwanziger bis Mittvierziger nichts mehr verstecken. Im Gegenteil, sie will gesehen werden, wahrgenommen werden. Was schwierig genug ist, denn nur 100.000 (in den Gemeinden organisierte) bis 200.000 Jüdinnen und Juden leben in Deutschland. Und so gilt »Ich habe noch nie einen Juden getroffen« nach wie vor für die nichtjüdische Mehrheit – ebenso wie ihr häufig aus der Unkenntnis resultierendes Festhalten an uralten Klischees.

Wie aber stellt sich jüdisches Leben im heutigen Deutschland dar? Ist es tatsächlich sichtbar? Oder bleibt es überwiegend in der oft zitierten Bubble? Wie fühlen sich Jüdinnen und Juden in diesem Land? Und überhaupt, was ist eigentlich jüdisch? Eine Frage, auf die es nicht die eine Antwort gibt: »Religion« sagen die einen, »Kultur« die anderen, »Tradition« die dritten. Jüdischsein setzt sich zusammen aus vielen Identitäten.

Und so haben auch die 26 von mir für dieses Buch befragten Jüdinnen und Juden – denen ich dankbar bin für ihr geschenktes Vertrauen – sehr differenzierte Definitionen für sich gefunden. Weil sie säkular sind, observant oder streng orthodox; weil sie hier geboren oder als sogenannte Kontingentflüchtlinge aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion oder auch aus Israel oder Amerika gekommen sind und deshalb die Erfahrungen der Migration in sich tragen. Allen gleich ist jedoch, dass sie in der Öffentlichkeit stehen – ob als Politiker oder Dirigent, Schriftstellerin oder Unternehmerin, Rapper oder Militärrabbiner, Moderatorin oder Malerin.

Ihre Geschichten sind die einer multikulturell geprägten Generation, die eben diese neue Selbstverständlichkeit verkörpert. Schon deshalb unterscheidet sich ihr Leben von dem ihrer Eltern. Unterscheidet es sich auch von dem der nichtjüdischen Gleichaltrigen? Und wenn ja, in welchen Momenten, durch welche Erfahrungen?

Vermeiden wollte ich in den Gesprächen jene drei Begriffe, mit denen Jüdinnen und Juden immer noch in Verbindung gebracht werden: Shoa, Antisemitismus und Nahost-Konflikt. Aber auch wenn sie sich offensiv dagegen wehren, auf diese Stereotype reduziert zu sein, bleibt zumindest der Antisemitismus ein allgegenwärtiges und bedrückendes Thema. Laut einer im Januar 2022 veröffentlichten Studie des Jüdischen Weltkongresses gilt für Deutschland: Jeder fünfte Erwachsene und jeder Dritte unter 25 Jahren denkt antisemitisch.

Angriffe, Übergriffe haben auch die meisten der Protagonist*innen dieses Buches erlebt, ihr persönlicher Umgang damit ist jedoch ebenso unterschiedlich wie die Schwerpunkte, die sie gesetzt haben. Es sind ihre originären Erzählungen, von mir nur in chronologischer, schlüssiger Form niedergeschrieben, die einen kleinen Ausschnitt der Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland widerspiegeln.

Worte, deren Bedeutung sich nicht aus dem Text erschließt, finden sich, wie viele andere Begriffe des Judentums, mit Erklärungen in dem ausführlichen Glossar.

Andrea von Treuenfeld

© Lea Hopp

NOAM BRUSILOVSKY

Geboren am 22. April 1989 in Haifa, Israel

Theater- und Hörspielautor und -regisseur

Lebt in Berlin

MEIN JÜDISCHSTER MOMENT?

Es gibt so viele jüdische Momente im Leben. Beerdigungen sind für mich sehr jüdisch. Ich habe neulich ein Grab gekauft. Eine Grabstelle auf dem Friedhof in Berlin-Weißensee. Das war ein sehr jüdischer Moment.

Es war nicht von heute auf morgen, natürlich nicht, dass ich nach Deutschland gegangen bin. In Israel war ich auf einer renommierten Kunstschule, habe dort Theater studiert und schon zur Abschlussarbeit hin gesehen, dass das nicht dem Niveau entspricht, das ich gern in Zukunft machen würde. Nach dem Abi-

tur war ich schon in Berlin und sehr begeistert davon, dass es andere Arten, Theater zu machen, gab, die es in Israel nicht gab und wahrscheinlich immer noch nicht gibt. Es war noch vor meinem Militärdienst und ich dachte, es wäre wirklich schön, wenn ich danach nach Berlin ziehen könnte. Und in diesem Moment habe ich auch angefangen, Deutsch zu lernen. Dann war ich beim Militär, drei Jahre, und auch das war wie ein Abschluss mit diesem Land: Ich habe mich so beraubt gefühlt in den besten Jahren meines Lebens, dass ich dachte, ich habe meine Pflicht erledigt, mehr möchte ich für dieses Land nicht tun.

2012 bin ich in Berlin angekommen, direkt zu meiner Immatrikulation an der ›Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch‹, um Theaterregie zu studieren. Damals war es mir noch nicht so klar, dass ich wirklich weggehe aus Israel. Ich dachte, ich studiere und dann sind alle Optionen offen. Aber spätestens nach zwei, drei Jahren war es keine Frage mehr, dass ich bleibe. Weil mir Berlin damals wahnsinnig liberal erschien, weil ich es schon als Neunzehnjähriger als cool empfunden hatte. Es war – und ist es noch – die Zeit, in der die Stadt Leute aus der ganzen Welt angezogen hat. Die Tatsache, dass ich jüdisch bin oder dass ich aus Israel komme, spielt keine Rolle. Ich sehe mich eher als Teil einer globalen Einwanderung von jungen Menschen. Es ist keine Rückkehr, wie bei anderen. Ich habe keine Wurzeln hier. Meine Eltern sind beide in Argentinien geboren und 1981 nach Israel gegangen. Die Familie kommt also ursprünglich nicht aus Deutschland, hat keine Holocaust-Geschichte. Daher führe ich keine Beziehung auf dieser Ebene an diesem Ort. Berlin ist einfach the place to be.

Hinter meinem Rücken wird es oft gefragt, habe ich gehört, doch die Leute trauen sich nie, mich direkt zu fragen: »Und, waren deine Vorfahren im Holocaust?« Aber man protzt mit allem, was man über das Judentum weiß. Und man hat israelische Freunde oder man kocht so gern aus einem israelischen Kochbuch. Die deutsche Liebe für Israel und Israelis ist eine Art Obsession. Und das macht mir Angst. Gefühle sind etwas sehr Subjektives und sie ändern sich auch ständig. Deshalb habe ich ein Problem mit »We love Israel« oder – noch schlimmer – »Wir lieben Juden«. Weil, wenn die Liebe aufhört, es da andere Emotionen gibt. Deshalb möchte ich nicht auf einer Sprachebene Gefühle und Emotionen thematisieren. Ich möchte Grundrespekt. Das ist der Begriff, der mich interessiert, und weniger die Emotionen. Ich kenne viele Privatpersonen, die ich liebhabe, aber keine gesellschaftlichen Gruppen. Diese Liebe für Juden ist eine Selbstinszenierung und der Subtext lautet: ›Ich bin ganz korrekt, ich bin total im Mainstream; ich mache es so, wie Steinmeier es von mir möchte, wie Angela Merkel es mir beigebracht hat.‹ Das deutsche Moralisierende, Erzieherische stellt sich an die richtige Seite.

Das ist eine Selbstverständlichkeit, die unfair ist, wenn man dadurch palästinensische Demonstrationen verbieten will. Ich muss mit dem dort Gesagten nicht einverstanden sein, aber man muss es erst mal geschehen lassen. Und wenn in dem Verlauf der Demonstration jemand etwas Verbotenes macht, dann muss er dafür die Konsequenzen tragen. Wie funktioniert eine Demokratie sonst? Aushalten. Toleranz. Sonst wird mir auch irgendwann das Recht entzogen, demonstrieren zu gehen. Es ist ja kein Gefallen, den man Menschen tut, es ist ein Grundrecht. Und das sage ich als deutscher Staatsbürger, der ich seit 2022 bin. Theoretisch könnte ich jetzt auch Bundeskanzler werden.

Ich hatte eine uneingeschränkte Aufenthaltsgenehmigung, deshalb war es nicht wirklich wichtig für mich, den deutschen Pass zu beantragen. Aber da Israelis nicht auf ihren israelischen Pass verzichten müssen, und weil mir mal eine Holocaust-Überlebende gesagt hat, es sei gut, viele Reisepässe in der Tasche zu haben, habe ich es aus pragmatischen Gründen gemacht. Nicht, weil es mein Gefühl Deutschland gegenüber verändert hat. Nur, weil ich das konnte und noch mehr Privilegien haben wollte in einer Welt, in der Privilegien Zugang zu Ressourcen bedeuten.

Ich bin also deutscher Staatsbürger, das ist keine Frage. Ich bin auch israelischer Staatsbürger, das ist auch keine Frage. Ob ich Israeli bin? Ich definiere mich nicht so. Aber die Einrichtungen, für die ich arbeite, protzen damit sehr gern. In jedem Programmheft oder auf der Website eines Theaters oder eines Senders steht immer »Der israelische Regisseur Noam Brusilovsky«. Als wäre es ein Qualitätsmerkmal meiner Arbeit.

Meine Arbeit ist immer die Spiegelung von Begegnungen, von Geschichten, die ich sammle. Von Menschen, die mich inspirieren, von ihren Lebenssituationen und was sie so besonders macht. Meine Arbeit spiegelt oft unerhörte Geschichten wider von Menschen, die nicht genug repräsentiert werden in den Medien, in denen ich arbeite. Meine Arbeit spiegelt auch meinen Status als oftmals einziger Ausländer wider, der eine komplett andere Sprache spricht. Der sich immer als Gast fühlt und nicht als einer, der da hingehört.

In diesem Regieberuf arbeitet man fast immer als Gast. Ich bin quasi ein Wanderer, zwei Monate in Klagenfurt, zwei Monate in München, danach eine Produktion in Stuttgart, dann eine in Köln. Dadurch gehöre ich nie ins System sowohl im konkreten Sinn als auch im übergeordneten symbolischen Sinn. Ich bin nicht nur bei meiner Arbeit Gast, ich habe auch das Gefühl, ich bin zu Gast in diesem Land. Weil ich viele grundlegende Dinge nicht teile mit Menschen, die hier geboren wurden. Weil ich andere Kindheitserinnerungen habe. Weil, wenn an einem Geburtstag ein Lied gesungen wird wie ›Wie schön, dass du geboren bist‹, es mir total fremd ist. Weil ich keine Erinnerungen an deutsche Fernsehshows aus der Kindheit habe. Und weil ich ungern zu Hause meine Schuhe ausziehe; ich kannte das von nirgendwo auf der Welt, dass man das macht. Und weil mir das alles immer wieder signalisiert: Du bist nicht von hier.

Ich werde als Ausländer erkannt, nicht als Jude. Obwohl ich der Prototyp des Judentums bin. Aber Deutsche haben keinen Kontakt zu Juden, wissen nicht mal, wie ein Jude aussieht. Ich erkenne Juden sofort und Israelis sowieso, schon aus der Entfernung. Das ist eine kulturelle Sache, das ist nicht nur das Physische, die Klamotten, wie sie sie tragen, die Körpersprache, wie sie sich bewegen. Alle Frauen bewegen sich so, als hätten sie eine große Waffe dabei.

Wie oft habe ich schon »Du Scheißausländer!« gehört. Mittlerweile bin ich ein bisschen deutsch, sodass ich angefangen habe, Menschen zu erziehen, was richtig ist und was falsch ist. Wenn ich zum Beispiel sehe, dass jemand seinen Kaffeebecher auf die Straße wirft. Das kann mich wahnsinnig machen. Dann gehe ich zu der Person und sage: »Haben Sie nicht vor, den Becher zu entsorgen?« Das ist oft so ein deutscher Opa, ein kleiner Goebbels, und der sagt mir: »Geh dahin zurück, wo du herkommst!« Und was meint er damit? Es sind meine Straßen, nicht deine. Du bist hier zu Gast. Das passiert mir ständig.

Trotzdem habe ich mir ein Grab auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee gekauft. Ich finde ihn sehr schön, aber er ist ziemlich voll und in ein paar Jahren wird es da keine Grabstelle mehr geben. In Israel ist es noch schlimmer. Die Bevölkerung wächst und wächst und die Friedhöfe sind überfüllt. Jetzt haben sie angefangen, Menschen nicht mehr unter der Erde zu begraben, sondern in Schränken an Wänden. Das finde ich furchtbar.

Ich möchte es richtigmachen und eine streng orthodoxe Beerdigung haben. Keinen liberalen Rabbiner, sondern einen mit Bart und Hut. Weil das ein sehr schönes Ritual ist und mir auch vertraut. Es geht dabei nicht um Authentizität oder um schöne Worte oder um Singularität, wie bei einem protestantischen Begräbnis, bei dem ein Trauerredner, der dich gar nicht kannte, eine halbe Stunde über dich redet, als wäre es ganz, ganz persönlich, weil er 20 Minuten mit einem Angehörigen gesprochen hat.

Nein, im Orthodoxen gibt es einen Kanon von Gebeten, die gesagt werden müssen – und das war’s. In einer Zeit, in der Menschen nicht richtig wissen, was sie sagen sollen, ist das wunderbar. Bei deutschen nichtjüdischen Beerdigungen geht es um die Eleganz, um die Schönheit. Bei jüdischen Beerdigungen geht es um das Hässliche. Man versucht nicht, Sachen schöner zu machen. Die Leiche wird in ein Tuch gewickelt, dann wird sie in das Grab gelegt. Es ist einfach the way it leaves und nicht schön. Ich mag diese ungeschmückte Art. Eine jüdische Beerdigung ist gar nicht kitschig.

Auf dem jüdischen Friedhof ein Grab zu kaufen, ist also eine gute Investition. Viel besser als eine Wohnung, denn ein Grab ist eine Immobilie für die Ewigkeit. Und da lässt man sich begraben mit diesem spektakulären Stück Geschichte des Berliner Judentums und Komponisten wie Louis Lewandowski und Soldaten des Ersten Weltkrieges. Ich möchte damit in den Geschichtsbüchern der Berliner Juden dazugehören.

© Michael Bezman

SVETA KUNDISH

Geboren am 9. Juli 1982 in Tschernobyl, Ukraine

Kantorin, Sängerin

Lebt in Berlin

MEIN JÜDISCHSTER MOMENT?

Auf einem Klezmer-Festival in Moskau. Ich habe dort gesessen und mir gedacht: ›Diese Musik und diese Kultur ist wie ein Kleid, das für mich gemacht wurde. Wie ich aussehe, was meine Mentalität ist, wie ich spreche, welche Speisen ich liebe, welche Musik mich bewegt, was meine Werte sind – das ist mein Kleid.‹ In dem Moment habe ich die Entscheidung getroffen: Das ist mein Weg.

Wenn ich mich vorstelle und sage, dass ich als Kantorin amtiere, ist die erste Frage sehr häufig: »Darf eine Frau das überhaupt?« In Israel habe ich einmal dem Taxifahrer erzählt, was ich beruflich mache. Da hat er angehalten und gesagt: »Raus aus meinem Auto!« Und in einer deutschen Gemeinde, in der ich als Kantorin zu Gast war, hat ein Mann zu mir gesagt: »Wie können Sie sich trauen, bei der Bima zu stehen und eine Thora anzufassen? Sie sind doch unrein, Sie sind eine Frau. Sie haben einmal im Monat Menstruation, da ist es verboten, einen Mann anzufassen, die Thora anzufassen, überhaupt in die Synagoge zu gehen.« – »Hören Sie mir gut zu«, habe ich ihm geantwortet. »Wegen dieser Unreinheit sind Sie auf die Welt gekommen, wegen dieser Unreinheit gibt es Menschen und Leben. L‘dor va‘dor – von Generation zu Generation geht das jüdische Leben weiter wegen dieser Unreinheit.«

Es gibt überall Diskriminierungen gegen Frauen, das wissen wir sehr gut. Aber persönlich war ich ihnen bis dahin niemals begegnet. Das waren Geschichten von Freundinnen oder in den Medien. Heute bin ich sehr dankbar für diese Erfahrung. Immer wieder muss ich mich mit diesem Thema auseinandersetzen und das hat mir die Wut und die Kraft gegeben, weiterzugehen. Ich habe begriffen: Ich muss besser sein als meine männlichen Kollegen. So einfach ist das. Ich habe hart gearbeitet in den fünf Jahren meiner Ausbildung, immer mit dem Gedanken: Wenn ich einen Job suche, darf kein Zweifel an mir bestehen.

Aber es verändert sich etwas in Deutschland. Bis Anfang 2000 waren die meisten jüdischen Gemeinden in Deutschland orthodox, inzwischen gibt es mehr liberale. Und auch ein paar Kantorinnen. Trotzdem, es ist für Männer leichter. Denn wenn ich mich vorstelle, ist man eben entweder überrascht oder will etwas Beleidigendes sagen. Ich musste noch nach meinem Abschluss ein ganzes Jahr auf meine Investitur warten und bin dann 2018 Kantorin geworden.

Am Ende des ersten Jahres meiner Ausbildung habe ich ein Praktikum in der Jüdischen Gemeinde in Braunschweig gemacht. Sie hatte schon 1995 die erste Rabbinerin nach dem Krieg angestellt, das war ein großer Skandal. Es hatte also schon eine Vorbeterin gegeben, aber eine Kantorin? Die Gemeinde war ein bisschen verzweifelt, dass ich da war, dennoch war es sofort eine gute Beziehung. Und ich bin einfach geblieben und habe ein paar Jahre später die Leitung der Liturgie übernommen. Heute bin ich vor allem eine Vorsängerin, lese die Psalmen, die Gebete aus der Thora und dem Prophetenbuch mit verschiedenen Melodien. Und außerdem bin ich Sozialarbeiterin, begleite Leute bei Hochzeiten und Begräbnissen, besuche Kranke, bereite aber auch Jugendliche auf ihre Bar Mizwa oder Bat Mizwa vor und unterrichte sie. Sehr viele Aufgaben eines Rabbiners oder einer Rabbinerin überschneiden sich in diesem Bereich mit denen des Kantors oder der Kantorin. Es geht nicht nur um schöne Musik und Gebete. Man organisiert das Gemeindeleben, ist Seelsorgerin und arbeitet mit Menschen.

Aber jüdisch war nicht immer ein Thema. Ich bin in Tschernobyl geboren und war vier Jahre alt, als die Tragödie, der Reaktorunfall, passierte. Wir mussten fliehen, waren kurz in Lettland und sind dann zurückgegangen in die Westukraine. Mein Vater war Offizier, kein typischer Beruf für jüdische Leute, denn es gab viel Diskriminierung. Deswegen waren jüdische Bräuche kein Thema und kein Teil vom Alltag. Bei den Großeltern war das ein wenig anders, aber Religion spielte auch bei ihnen keine Rolle, obwohl beide sehr orthodox aufgewachsen sind. Einer meiner Urgroßväter war Kantor und Vorbeter. Nach der Revolution, als es öffentlich nicht mehr erlaubt war, hat er heimlich zu Hause gebetet und auch Minjan versammelt. Und zu Pessach hat man heimlich Mazzot gebacken. Aber die Familie hat das mit der Zeit hinter sich gelassen, weil es zu gefährlich war, insbesondere mit kleinen Kindern, die im Kindergarten, in der Schule etwas hätten erzählen können.

Aber Jiddisch und jiddische Lieder als letzter Bestandteil dieser Tradition waren immer im Hintergrund der Familie. Die Großeltern haben untereinander nur Jiddisch gesprochen, es ist die Muttersprache meiner Mama. Ich stamme also nicht nur aus einer Familie von Jiddisch Sprechenden, sondern auch aus einer sehr musikalischen Familie. Meine Großeltern waren unglaublich gute Volksliedsänger, und meine Mama und ihr Bruder sind Musiker geworden. Als es in den Neunzigerjahren wieder erlaubt war, jüdisch zu sein und sich jüdische Gemeinden bildeten und es plötzlich jüdische Theaterstücke und Purim-Spiele und Veranstaltungen mit Musik gab, war meine Mama eine der ersten Künstlerinnen in der Westukraine, die jiddische Lieder sang. Sie war auch meine erste Musiklehrerin. Deshalb hat sie mich sehr unterstützt, als ich im Gymnasium in Israel – 1995 sind wir nach Holon in die Nähe von Tel Aviv gezogen – Jiddisch als zweite Fremdsprache gewählt habe. Es war ein Kunst-Gymnasium und ich habe klassische Musik gelernt, Piano und Gesang. Aber auch in Israel ist Jiddisch nicht populär und nicht beliebt. Es ist sowieso sehr schwer, in Israel von der Musik zu leben, noch dazu von jiddischer, von Klezmer-Musik. Ich habe mich dann auf klassische Musik fokussiert. Ich hatte einen Traum und wusste, diesen Traum kann ich nur irgendwo anders erfüllen. 2007 bin ich deshalb nach Wien gegangen.

Ich konnte kein Deutsch, aber Jiddisch hat mir sehr geholfen. Und dann habe ich auf der Straße ein Plakat mit Werbung für ein Konzert eines jüdischen Chors gesehen. Ich habe recherchiert und gesehen, sie singen viele jiddische Lieder. Da habe ich mir gedacht: Sveta, du hast keine Freunde hier und momentan auch kein Hobby, vielleicht wäre es nicht schlecht, du singst jiddische Lieder und hast Spaß. Der Dirigent hat nicht erwartet, dass ich eine professionelle Sängerin bin – ich war schon Opernsängerin, auf dem Weg zur Opernbühne – und auch nicht, dass ich so viel Erfahrung mit Hebräisch und mit Jiddisch habe. Er hat mich sofort eingeladen, ein paar Tage später mit ihm nach Moskau zu fliegen zu einem Klezmer-Festival.

Und dann war ich in Moskau auf diesem Klez-Fest – und es war der Schock meines Lebens. Ich konnte nicht glauben, dass ich nach so vielen Jahren des Recherchierens und Übens keine Ahnung hatte von dieser Jiddisch-Welt. Keine Ahnung hatte von dieser internationalen Community. Heute sind diese Leute meine besten Freunde, mit ihnen habe ich meine Hauptprojekte. Diese Atmosphäre und die Musik und die Kreativität und die Lebensfreude – das war wirklich eine Offenbarung. Innerhalb von zwei, drei Tagen hat sich die Vorstellung von meinem beruflichen Leben um 180 Grad gedreht.

Später, als ich schon jiddische Lieder sang, habe ich Musikaufnahmen von meinem Großvater gefunden. Es gibt das schöne jiddische Wort »jiches« – das ist etwas, was du von deiner Familie bekommst. Ich hatte bis zu dem Zeitpunkt viele Sachen vergessen, hatte gedacht, ich singe diese Lieder, weil es mir passt. Aber da habe ich gemerkt, dass ich einfach das weitermache, was die frühere Generation schon gemacht hat. Und je tiefer ich in das jiddische Lied und die jiddische Welt und Kultur gegangen bin, umso mehr habe ich verstanden.

Ich hatte keine Ahnung von Religion, auch nach dreizehn Jahren nicht, die ich in Israel verbracht habe. Ich habe immer von Religion Abstand gehalten. Irgendwann aber habe ich gemerkt, ich kann das jiddische Lied nicht verstehen, ohne mich mit Religion auszukennen. Man kann nicht bloß Lieder lernen, man muss die Geschichte verstehen, die Tradition, die Küche, die Tänze – und eben auch die Religion. Religion und religiöse Begriffe sind ein Teil der Sprache und der Lieder. Ohne den Kontext zu kennen, kann man nicht wirklich begreifen, um was es geht. Die Kantoren-Musik und die liturgische jüdische Musik waren immer meine Leidenschaft. Seit ich achtzehn war, habe ich Aufnahmen gehört, aber nicht sehr viel verstanden, weil die Sprache ja auch so anders ist, es ist kein modernes Hebräisch. Ich habe es gehört als schöne Musikstücke, schöne Stimmen, schöne Melodien, aber nicht gewusst, was für ein Teil der Liturgie das ist oder zu welchem Zweck und zu welchem Feiertag man dieses oder jenes Gebet singt.

Im Sommer 2011 war ich beim Yiddish Summer in Weimar. Dort hörte ich von der Kantoren-Ausbildung am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam und dachte: Das ist genau, was ich will. Ich hatte schon sehr viele Freunde in Berlin, und die jiddische Szene und die Klezmer-Gemeinde ist dort ganz prächtig. Während meines Studiums hatte ich schon das starke Gefühl gehabt, dass beide Musikrichtungen sich beeinflussen, einander bereichern. Und ich brauche beide. Auch wenn es sehr viele Konflikte schafft, denn das Religiöse und das Künstlerische, sie gehen nicht Hand in Hand. Es ist sehr schwer, eine Balance, einen Kompromiss zu finden. Denn ich bin so frei in Gedanken und so liberal – aber wenn ich auf meine eigene Religion schaue, dann finde ich sehr viele Sachen, die ich nicht akzeptieren will. Es ist dumm und diskriminierend, wenn zum Beispiel koscherer Wein nur von jüdischen Personen gemacht sein kann, sonst ist er unkoscher. Und wenn eine nichtjüdische Person die Flasche öffnet, wird der Wein dadurch auch unkoscher. Also bitte! Als Künstlerin und als moderner Mensch und als jemand, der nicht mit Religion aufgewachsen ist, muss ich mit einer Lupe kommen und sagen: »Das ja, das nein.« Das ist schon eine andere Welt, und es ist oft für mich unglaublich schwierig. Aber ich sage: »Okay, das ist die Tradition meiner Vorfahren und deshalb mache ich es.« Das hilft mir, sehr vieles auch zu akzeptieren.

Als ich damals meinen Eltern gesagt habe, ich will eine Kantoren-Ausbildung anfangen, waren sie ein bisschen nervös. Sie wussten nicht, was das heißt. Weil sehr viele Israelis und auch ehemalige sowjetische Juden sich mit liberalem Judentum nicht auskennen. Es gibt mindestens 80 liberale Gemeinden in Israel, aber man sieht sie nicht, sie sind sehr klein, sie werden vom Staat nicht finanziell unterstützt. Was man sieht, ist orthodoxes Judentum. Deswegen also haben meine Eltern sich sehr große Sorgen gemacht.

Ich habe ihnen viel erklärt und erzählt, was ich alles lerne. Ein sehr wichtiger Moment war, als ich den ersten Seder in meiner Familie gemacht habe. Meine Eltern waren ein bisschen überrascht, aber sie haben sich gefreut. Es hat nicht alles gleich total gut geklappt. Aber diese Idee von Tradition, die in der Sowjetunion versteckt und gelöscht wurde, ist eben doch nicht verschwunden. Sie kommt sozusagen aus einer anderen Ecke, durch eine andere Tür zurück. Und wenn meine Großeltern meinen Eltern nicht beibringen konnten, wie man Pessach feiert, dann mache ich das, eine Generation später.

Jetzt habe ich ein kleines Kind, und da ist es meine Rolle, ihm beizubringen, wie ich das sehe und wie ich das liebe. Und zu erklären, was ist wichtig, was ist nicht wichtig. Ich will, dass mein Sohn die Tradition lernt in ihrer ursprünglichen Form und gleichzeitig weiß, dass dieser Ursprung vor 3.000 Jahren geschrieben wurde. Es ist nicht alles relevant für uns, es ist eine Geschichte. Aber auch das muss er kritisch betrachten und verstehen, dass die Erzählungen in der Thora, die ziemlich schrecklich sind, ihm eine Inspiration sein müssen, über diese Themen heutzutage zu sprechen. Das Hinterfragen ist das Allerwichtigste im Judentum, auf dem basiert es. Das Fragen, der Zweifel, das Forschen nach der Antwort. Die Rabbiner diskutieren miteinander und es gibt sehr oft verschiedene Meinungen. Und das ist normal, das ist gut und richtig. Man muss Zweifel haben, man muss alles infrage stellen.

Aber wichtig ist: Trotz allem geht die Tradition weiter. In einer neuen Form, weil wir moderne Menschen sind. Und deshalb kann ich die Entscheidung treffen, in diesem Jahr nehme ich eine feministische Haggada und im nächsten eine vegane Haggada. Haggadot gibt es zahlreiche, in jeder Ecke der Welt schreibt die nächste Generation eine neue Haggada. Was ist Haggada? Die Geschichte von dem Auszug aus Ägypten. Was ist Ägypten? Sklaverei. Was ist Sklaverei? Das Rauchen? Alkohol? Drogen? Gefängnis? Rassismus? Sexismus? Migrantenkrise? Es hat so viele Formen, und die Haggada ist da, um eine Basis zu geben für ein Gespräch über diese Themen. Deswegen ist es so prächtig: Man kennt sich mit dem Ursprung, dem traditionellen Text gut aus und kreiert doch etwas Neues. Aber vielleicht gehe ich nächstes Jahr wieder zurück zu dem alten Text, zu dem ursprünglichen Buch – Wurzeln und Zweige. In meiner künstlerischen und kantoralen Tätigkeit ist immer dieser Dialog zwischen Alt und Neu. Und das eine kann nicht ohne das andere existieren.

© Stefan Klüter

GARRY FISCHMANN

Geboren am 14. Mai 1991 in Dortmund

Schauspieler, Comedian

Lebt in Berlin

MEIN JÜDISCHSTER MOMENT?

In Israel. Das war eine Energie, die kann ich nicht beschreiben. Aber da habe ich es verstanden. Dass es okay ist, und dass ich nicht anders bin. Obwohl ich natürlich total anders bin. Aber ich habe da so einen jüdischen Frieden gespürt, der natürlich absurd ist. Weil da überhaupt kein Frieden ist. Aber für mich schon – ich hatte in mir Frieden, was dieses jüdische Thema betrifft.

Das erste Mal, dass ich etwas über die Shoa mitbekommen habe, war, als ich in der Grundschule von meiner Klassenlehrerin schockiert angeguckt worden bin, weil ich – als kleines Kind – ein Hakenkreuz ganz groß an die Tafel gemalt habe. Ich wusste nicht mal, was das ist. Ich wusste nur, es ist verboten, die Leute machen es heimlich. Und ich dachte, okay, ich bin jetzt der Coolste. Als die Lehrerin fragte: »Wer war das?« und auf mich gezeigt wurde, da wusste sie überhaupt nicht mehr, wie sie reagieren soll.

Ich kann mich noch daran erinnern, dass meine Mutter irgendwann gesagt hat: »Garry, wir müssen reden« und mir dann Bücher gezeigt hat von schwarz-weißen, nackten, dünnen Menschen. Und ich habe gesehen: Krass, unsere ganze Bibliothek besteht nur aus Büchern mit schwarz-weißen, nackten, dünnen Menschen. Warum interessiert sich meine Mutter für so hässliche Menschen? Die sehen auch nicht freundlich aus. Die sehen ziemlich gruselig aus. Und das war so der erste Horror-Jew-Porn, den ich mitbekommen habe. Ich dachte, okay, das ist nicht leicht, irgendetwas ist da passiert. Ich habe das auch mit meiner Familie in Verbindung gebracht, weil meine Mutter es mir erzählt hat.

Und dann gab es immer mal Bemerkungen, von deutscher Seite und anfangs mehr noch von muslimischer. Ich wusste nicht, warum Mitschüler Mustafa mich nicht so leiden konnte. Er hat mir dann erklärt: »Das liegt an deiner Religion. Mein Vater hat mir gesagt, ihr Juden habt uns Moslems den Koran geklaut.« Ich habe zu Hause geguckt, und wir hatten den Koran, hatten auch das Alte Testament, das Neue Testament, und dann habe ich ihm am nächsten Tag den Koran wiedergegeben. Aber irgendwie hat das auch nichts gebracht.

Oder es kamen Sätze wie: »Garry, sind nicht alle Juden gierig?« Und dann meinte ich: »Sind nicht alle Christen Hitler? Also, was ist das für eine Frage?« Und dann gab es so komische Schlägereien. Wäre ich cool gewesen, aber ich war einfach nicht cool als Kind, wäre es mir egal gewesen. Ich glaube, Kinder finden immer einen Schwachpunkt. Und bei mir war es zufällig das. Aber natürlich prägt einen das. Und dann muss man irgendwo Grenzen setzen und sich fragen: Was macht einen selbst aus? Sind das jetzt die nackten, dünnen, schwarz-weißen Menschen? Ist es vielleicht irgendwas Cooleres als das? Das kam dann mit »Wusstest du, deine Jeans ist von einem Juden« (der in Deutschland geborene Jude Levi Strauss gilt als Erfinder der Jeans, die Verf.). Da war ich plötzlich Botschafter. Man entwickelt sich dann halt so, auch durch Machanot und jüdische Gemeinde.