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Die Familie spielte im Judentum schon immer eine zentrale Rolle: Ob groß oder klein - um sie dreht sich alles, von ihr hängt das körperliche und geistige Wohlbefinden ab. Familienzusammenkünfte sind beglückend, können aber auch tiefe Gräben aufreißen, wenn uralte Traditionen auf moderne Lebensentwürfe treffen.
Diesem lebensbestimmenden, vielseitigen und streitbaren Thema ist der diesjährige Almanach gewidmet. Erzählt werden die unterschiedlichsten Familiengeschichten: amüsante ebenso wie dramatische, Geschichten von prägenden Kindheitserinnerungen und beeindruckenden Elternfiguren. Dabei ist es ganz gleichgültig, ob sie in Israel oder in der Diaspora spielen, denn die Themen sind überall gleich: Es geht um den dringlichen Wunsch nach Nachwuchs, die Suche nach Identität, aber auch um tragische Verluste und nicht zuletzt um gut gehütete Familiengeheimnisse und deren Enthüllung.
Die Bilder stammen aus dem Projekt »One Family« von Vardi Kahana, die dafür ihre auf der ganzen Welt verstreuten Verwandten fotografiert hat.
Mit Beiträgen von Alfred Bodenheimer, Jennifer Bligh, Ellen Presser, Patricia Paveletz, Susanne Urban und vielen anderen.
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Seitenzahl: 202
JÜDISCHER ALMANACH
der Leo Baeck Institute
Familie
Herausgegeben von Gisela Dachs im Auftrag des Leo Baeck Instituts Jerusalem
Jüdischer Verlag
Zu diesem Almanach
Jonathan Boyarin Familien: gestern, heute – und morgen?
Hanno Loewy Die Hirschfelds oder: Was ist eine Familie?
Alfred Bodenheimer Enterbte Väter?
Diane L. Wolf Familienerinnerungen. Das Trauma der versteckten Kinder
Susanne Urban »Denken Sie daran, dass die kleinste Einzelheit eine wichtige Spur bedeuten kann …«
Michael Wuliger Irgendwo im Nirgendwo
Jennifer Bligh Familiengeheimnisse. Die Geschichten meines Vaters
Patricia Paweletz Meine Reise zu Gaby Glückselig
Anita Haviv-HorinerIMA
Ellen Presser Die Hochzeit meines Bruders
Yael Neeman Wir waren die Zukunft
Tobias Ebbrecht-Hartmann Erbe
Ruvik Rosenthal Die Bruderschaft der Trauernden
Assaf Uni Eizellenspenden und Spermaentnahmen – Familienglück in Israel und Deutschland
Michael Wex Der wundersame Kugel meiner Mutter – eine Familiengeschichte
Die Familie nimmt im Judentum einen zentralen Platz ein. Davon zeugen allein schon die vielen Witze über die Mischpoche, voller Klagen über deren unausweichliche Prägungskraft und Distanzlosigkeit. Um die einem so nahe Stehenden dreht sich einfach alles. Diesem lebensbestimmenden, vielseitigen und streitbaren Thema ist dieser Almanach gewidmet. Er handelt von lauter Familiengeschichten, die ihren Schwerpunkt immer wieder woanders haben. Es geht um Familienbande und Familienbiografien, um von Verfolgung und Verlust geprägte Kindheitserfahrungen, um Familientreffen und die nie aufhörende Suche nach Angehörigen. Beschrieben werden auch die Rolle von Frauen, von Nachwuchs und Vaterfiguren, ebenso wie gut gehütete Familiengeheimnisse, deren Aufdeckung Identitäten radikal veränderte.
Wenn wir uns mit einem emotional, politisch und historisch so aufgeladenen Thema wie der jüdischen Familie befassen, dürfen wir keine einfachen Geschichten erwarten. Daran erinnert Jonathan Boyarin in seinem Eröffnungsbeitrag, der sich neben einem historischen Rückblick auch mit der Zukunft jüdischer Familienformen beschäftigt. Diese liegt aus seiner Sicht in der Vielfalt und ist zudem einem permanenten Wandel unterworfen. Er sieht dabei die Grenzen, die liberale Juden von der großen Mehrheit der nicht-jüdischen Homo sapiens trennen, immer mehr verschwimmen.
Hanno Loewy widmet seinen Essay der Frage, ob es heute noch so etwas wie Familienverbände gibt, die sich, über 8viele Generation hinweg »etwas zu sagen haben« – und findet eine konkrete Antwort in den Treffen der über den ganzen Erdball verstreuten Nachkommenschaft der Familie Hirschfeld, die ursprünglich aus dem kleinen österreichischen Ort Hohenems stammt. Juden kehren somit immer wieder an einen Ort zurück, um den »Ursprung« ihrer Familie zu feiern und zelebrieren eine Kontinuität, die den Katastrophen und Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts ebenso getrotzt hat, wie den kleinen Eifersüchteleien und Missverständnissen, die an jeder Kleinfamilie zerren.
Oft ist es erst die Ankunft eines eigenen Kindes, welche überhaupt Bewusstsein für eine solche Kontinuität schafft. Damit stellt sich dann nämlich auch die Frage nach der Rolle der Eltern als Übermittler von Tradition, Wissen und Werten. In diesem Zusammenhang untersucht Alfred Bodenheimer die sich ständig gewandelten und weiter wandelnden Vaterfiguren im säkularen Judentum. Er sieht diese »postpatriarchale Epoche«, in der Väter ihre familiäre Rolle stärker und weniger hierarchisch wahrnehmen, dabei als Chance, dass diese Väter sich tatsächlich wieder mit den Traditionen beschäftigen, zu Lernenden werden, um fehlendes Wissen aufzuholen.
Was aber, wenn die eigene Kindheit einem Waisendasein gleichkam, weil sie von mörderischer Bedrohung überschattet war? Wenn man sich als Kind von seinen Eltern verabschieden musste, um zu überleben und sich plötzlich bei Fremden wiederfand, an einem anderen Ort, wo das Leben völlig anders war? Diane Wolf hat in Holland während der Shoah versteckte jüdische Kinder viele Jahrzehnte später nach ihren Gefühlen befragt und fand deren komplexe Familienerinnerungen geprägt von einer Mischung aus Angst, Unruhe, Einsamkeit, Verzweiflung, Leid, aber auch Trost, Liebe, Wärme oder Glück.
9Die Übriggebliebenen erfuhren nach Ende des Krieges relativ schnell, wie groß die Zahl der ermordeten Juden Europas war. Viele wussten oder ahnten, dass es ein ungeheuerliches Glück sein würde, jemanden aus der Familie wiederzufinden. Auch wenn Rettung die Ausnahme gewesen war, wollten viele Überlebende glauben, dass irgendwo irgendwelche Angehörigen überlebt hatten. Diese Hoffnung war – und ist – ein Element ihres Lebens nach dem Überleben. Susanne Urban schreibt darüber, wie Kinder, Enkel und Urenkel bis heute weiter nach ihren Verwandten suchen, für sie, mit ihnen oder nach deren Ableben.
Das Interesse an der eigenen Familiengeschichte treibt aber auch jene um, deren Vorfahren sich damals in sicheren Gefilden befanden. Michael Wuliger, Jahrgang 1951, wollte seine Wurzeln suchen, als er sich jüngst von Berlin auf den Weg nach Ungarn machte, um an den Ort zurückzukehren, an dem vor mehr als hundert Jahren sein Urgroßvater gelebt hatte, bevor er in die USA auswanderte. Er erzählt von dieser seltsamen Reise, die er als jüdischen Genealogietourismus bezeichnet.
Manche wohlgehüteten Familiengeheimnisse werden mit ins Grab genommen. In solchen Fällen erfahren Nachkommen erst spät, als Erwachsene, wie es um ihre tatsächliche Herkunft steht. Wie Jennifer Bligh, die nach dem Tod ihres Vaters erfuhr hat, dass dieser nicht ein Nachkomme des berühmten Kapitäns der Bounty war, sondern ein Shoah-Überlebender, der in der Bundesrepublik Deutschland lebenslang sein Judentum verbarg. Sie erzählt, wie es ihr im Alter von 32 Jahren gelang, zu ihrer neuen Identität zu finden.
Ganz ohne jüdische Wurzeln und familiär vorbelastet mit einem Großvater bei der Waffen-SS, zeigte die Familientherapeutin Patricia Paweletz schon als Jugendliche ein tie10fes Interesse an den Geschichten von Zeitzeugen der Shoah. Hingezogen zu diesen Biografien, begann sie betagte deutschsprachige Überlebende regelmäßig in New York zu besuchen. Ihr Beitrag beschreibt eine Form von Wahlverwandtschaft, die sich aus diesen Treffen ergeben hat.
An einer eigenen klaren Identität hat es Anita Haviv-Horiner nie gemangelt, umso mehr aber an lebenden Verwandten. Als Tochter zweier Überlebender gehört sie der zweiten Generation an, früh geprägt von einem Gefühl existenzieller Einsamkeit. Sie berichtet wie erst ihr Umzug von ihrem Geburtsland Österreich nach Israel neue Energien in ihr Leben brachte und wie ihr eigenes Mutterdasein sie dort schließlich geerdet hat.
Die Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit heißt aber nicht, dass die Verwandtschaft im konkreten Fall leicht auszuhalten wäre. Besonders grenzübergreifende Zusammenkünfte sind nicht nur anregend, sondern fördern auch kulturelle Gräben zutage. In ihrem feinfühligen Essay schreibt Ellen Presser über die Hochzeitsfeier ihres Münchner Bruders, die in Tel Aviv, der Geburtsstadt der Braut, ausgerichtet wurde.
Eine Kindheit in Israel bringt ganz eigene Prägungen mit sich. Das wiederum gilt ganz besonders für jene, die in einem Kibbuz mit kollektiven Schlafsälen aufgewachsen sind. Man wollte so die Kinder aus der Bürgerlichkeit der Familie lösen und sie vor ihr beschützen. Von ihren eigenen Erfahrungen mit diesem sozialistischen Experiment erzählt Yael Neeman. Dabei vergleicht sie die Sehnsucht mancher Kibbuzkinder nach der Familie, die sie nie hatten, mit der »Sehnsucht nach einer Idee, von der wir nicht die geringste Ahnung hatten und haben, wie, sagen wir mal, die Sehnsucht der Diasporajuden nach Jerusalem«.
Wer in Israel aufwächst, befindet sich in sicherer geogra11fischer Distanz zu den Tatorten der Shoah. Die eigene Familiengeschichte reicht aber oft bis dort hinein. Das hat in den vergangenen Jahren zunehmend zu dem Versuch geführt, diesem Erbe filmisch nachzuspüren. Tobias Ebbrecht-Hartmann analysiert in seinem Beitrag, wie NS-Vergangenheit, aber auch die Erinnerung an das Vorkriegsleben ihrer Großeltern für junge israelische Filmemacher zu einem wichtigen Ausgangspunkt ihres Schaffens wurde, das oftmals einer detektivischen Ermittlungsarbeit gleicht.
Um anwesende Abwesenheit geht es auch in dem Beitrag des israelischen Autors Ruvik Rosenthal, dessen Familie aus Deutschland stammt. Seinen Vater, einen vergessenen Berliner Dichter, verlor er mit vier Jahren im Land der Verheißung, in derselben Woche, in der sein Bruder Gidi zur Welt kam. Gidi wiederum fiel im Jom-Kippur-Krieg. Rosenthal beschreibt den Schmerz einer »trauernden Familie« und rückt dabei die Geschwisterbande in den Vordergrund.
Erlittene Verluste wenigstens ein ganz kleines bisschen auszugleichen, spielt auch eine Rolle bei dem hohen Stellenwert von Nachwuchs – im Judentum ohnehin verankert – besonders in Israel. Für Israelis, die heute zwischen Berlin und der Mittelmeerküste hin- und herpendeln, offenbaren sich in dieser Hinsicht tiefe Gräben. Assaf Uni schreibt über den unterschiedlichen Umgang mit Kinderwunsch in seiner Heimat Israel und in Deutschland.
Um ersehnte Nachkommen geht es auch am Schluss dieses Bandes in dem literarischen Beitrag von Michael Wex. Der Protagonist dieser wundersamen Familiengeschichte ist ein nahrhafter Kugel, dessen Einsatz ein Eheleben rettet.
Die Bilder stammen von der israelischen Fotografin Vardi Kahana. In ihrem Projekt »One Family« fotografierte sie 12vier Generationen ihrer Familie, die in ihrer Vielfalt ein Kaleidoskop der jüdisch-israelischen Identität darstellt.
Was, wenn überhaupt etwas, ist an der Untersuchung der jüdischen Familie besonders? Auf diese Frage gibt es ein paar gute Antworten. Erstens waren Juden und die von ihnen hinterlassenen Dokumente nicht nur Teil der Welten, in denen sie lebten, sondern häufig erlaubten diese auch einen eingehenden Blick auf sie: Selbst wenn die in diesen Dokumenten hervortretenden Menschen bezeichnend für ihre Zeit und ihren Ort sind, so können wir dieses Bild oft doch nur wahrnehmen, weil die Texte geschrieben wurden, um jüdische Identität und Gemeinschaft zu erhalten, und weil die Texte wegen der ausgeprägten jüdischen Wertschätzung des Lernens und der Schriftlichkeit überliefert wurden. Zweitens fasziniert und lohnt die Beschäftigung mit Juden nicht nur, wenn es darum geht, worin sie sich von anderen unterscheiden, sondern auch, weil sie es in ganz unterschiedlichen Umgebungen geschafft haben, wie Juden aus anderen Zeiten und Orten zu sein, und zugleich wie die Nicht-Juden ihrer eigenen Zeiten und Orte.
Shaya Cohen, Professorin in Harvard, mutmaßt, das römische Recht habe ein charakteristisches Merkmal jüdischer Familienstrukturen beeinflusst: die Weitergabe des Judentums durch die Mutter, nicht durch den Vater. Einerseits scheint diese Regel im Judentum selbstverständlich, andererseits war sie nicht immer Bestandteil der jüdischen Gesellschaft, wie Cohen feststellt. Sie findet sich auch nicht in der Bibel, denn dort werden mehrere israelitische Män15ner erwähnt, die »fremde« Frauen heiraten, ohne dass ihre Kinder aus der jüdischen Familie ausgeschlossen werden.
Cohen vertritt die Auffassung, die Feststellung der jüdischen Zugehörigkeit über die Mutter leite sich aus der Mischna ab. Der Autor findet eindeutige Beweise für den Einfluss der entsprechenden römischen Rechtsvorschriften und auch für eine mögliche Erweiterung biblischer Gebote, die die Vermischung unterschiedlicher Klassen von Tieren und Pflanzen untersagen. »Warum also haben die Rabbiner mit der vorher üblichen [also biblischen und späteren] Praxis gebrochen? Ich weiß es nicht.«1 Cohen zufolge könnte der Grund vielleicht eher in intellektuellen Klassifizierungsübungen der Rabbiner als in den gesellschaftlichen Erfordernissen jener Zeit liegen.
Allerdings sollte man sich die Rabbiner nicht als reine und über jeden sozialen Zwang erhabene Intellektuelle vorstellen. In The Culture of the Babylonian Talmud entwirft Jeffrey Rubenstein ein Bild dieser heute nicht mehr namentlich bekannten Gelehrten, zu deren Zeit der endgültige Text des Talmud festgelegt wurde. Er betont die erstaunlich enge Verbindung zwischen der Autorität, wenn es um die Torah geht, und den Erhabenen, speziell denen von priesterlicher Herkunft. Laut Rubenstein hatte die große Bedeutung der »guten Abstammung« als Qualifikation der führenden Gelehrten viel mit der Judenheit in der babylonischen Diaspora zu tun: »Seit ihren ersten Anfängen scheint die jüdische Gemeinde in Babylon eifersüchtig über ihre Abstammung gewacht zu haben, um die Assimilation mit der größeren Gesellschaft zu verhindern.«2 Offensichtlich reichte es in dieser Welt nicht aus, wen man »jüdisch heiratete«, es empfahl sich außerdem, Ehen mit den »richtigen Familien« zu arrangieren. Rubenstein vermutet allerdings, dass die große Bedeutung für die Abstammung auch »den Wert des ed16len Blutes in der persischen Kultur« ausdrückte.3 Diese beiden Behauptungen – dass das jüdische Interesse an einer guten Genealogie im tiefen Wunsch begründet sei, die Trennung der jüdischen Gemeinde aufrechtzuerhalten, und dass es den Werten der nicht-jüdischen Umwelt entspreche – mögen logisch widersprüchlich erscheinen. Aber in der realen Welt erscheinen beide in ihrer Bedeutung völlig plausibel.
Die im Talmud bestehende Spannung zwischen der verdienstvollen Abstammung und dem durch Torah-Gelehrsamkeit errungenen individuellen Verdienst bildet sich in dem komplexen Begriff yikhes oder »Verbindung« ab, womit gesellschaftliche Unterschiede und Heiratsaussichten bei den Juden im Osteuropa der frühen Moderne gesteuert wurden.4 In seiner Grundbedeutung bezieht er sich auf das Prestige, das einem Individuum dank der Vorfahren auf beiden Seiten zuwächst. Gleichzeitig geht es um die persönlichen Verdienste und Fehler des Einzelnen, denn yikhes konnten sich durch mangelnde Gelehrsamkeit oder Charakterschwächen verringern, durch Erfolge beim Studieren oder im Geschäftsleben vermehren. Auch ererbtes oder verdientes Geld war hilfreich.
Wo waren die Frauen jüdischer Familien in diesen Jahrhunderten? In letzter Zeit wurden zahlreiche Quellen zitiert, um ihre Präsenz zu belegen. Eine ausnehmend beliebte Quelle waren lange Zeit Die Memoiren der Glückel von Hameln. Glückel lebte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Norddeutschland und berichtet ausführlich über ihre geschäftliche und familiäre Situation. Sie ist von tiefer jüdischer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit durchdrungen, dabei aber auch eine nordeuropäische Frau ihrer Zeit. In welchem Maß sie mit ihrer Mischung aus geschäftlichen und häuslichen Rollen ein typisches jüdisches Familien17modell verkörpert oder aber die Gebräuche des Kaufmannsstandes ihrer Zeit und ihrer Stadt widerspiegelt, ist nicht klar auszumachen.
Glückel bekam zahlreiche Kinder, nicht alle überlebten. Nach dem Tod ihres geliebten Ehemannes begann sie mit den Aufzeichnungen. Sie führte den ausgedehnten Handel der Familie weiter, um dem geschäftlichen Ruin zu entgehen und nicht von ihren Kindern abhängig zu werden. Glückel sah ihre Kinder eher nüchtern und betrachtete sie auch nicht als ihr Lebensziel. Während ihrer Witwenschaft dachte sie darüber nach, ob sie sich den Traum frommer alter Juden erfüllen und nach Zion heimkehren sollte. Glückel überschätzte ihre Kinder und deren Begabungen nicht. Und mit den Protestanten ihrer Zeit teilte sie die Einstellung, allzu große Trauer, selbst um den Tod eines kleinen Kindes, sei eine Sünde.
In Glückels Kreisen war die Ehe ganz eindeutig durch Geschäftsinteressen bestimmt. Und doch liebte sie ihren Mann tief, sie bewunderte ihn und unterstützte ihn bei wichtigen Entscheidungen. Der finanzielle Beitrag beider Elternpaare zu den Eheschließungen der Kinder wurde genauestens ausgehandelt. Glückels Sohn Nathan sollte die »Tochter des reichen Samuel Oppenheimer« heiraten, aber wegen schlechten Wetters ließ die Mitgift der Oppenheimers auf sich warten, und Nathans Eltern glaubten, Oppenheimer sei von dem Vertrag zurückgetreten. Verlobungen wurden schon im Kindesalter arrangiert – wie Glückel selbst wurde auch ihre älteste Tochter Zipporah kurz vor ihrem zwölften Geburtstag verlobt –, passende Partien, bei denen große Besitztümer überschrieben wurden. Etwa eineinhalb Jahre nach der Verlobung wurde Zipporahs Hochzeit mit einem reichen Juden in der holländischen Stadt Cleves gefeiert, dem Hörensagen nach ein riesiges Fest.18
In diesem kurzen Überblick über Glückels Erinnerungen habe ich den Unterschied zu den vermeintlich modernen bürgerlich-westlichen Normen der weiblichen Häuslichkeit und der romantischen Liebe hervorgehoben, aber auch meinen Zweifel daran, ob dieser Unterschied nur daran liegt, dass sie eine jüdische Frau war. Mein Bruder Daniel Boyarin, Talmudprofessor in Berkeley, hat eine ähnliche Frage zur Männlichkeit jüdischer Väter gestellt. Auf den ersten Seiten seines Buchs Unheroic Conduct: The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Male lehnt er es mit Nachdruck ab, ein unwandelbares oder grundlegendes Muster jüdischer Geschlechtsbeziehungen aufzuzeigen. Er bringt jedoch das Argument vor, die Struktur des jüdischen Genders hebe sich vom dominanten europäischen Modell ab. Darüber hinaus koexistiere die männliche Dominanz in der jüdischen Kultur zumindest örtlich und zeitlich begrenzt mit einer Gestaltung der männlich-weiblichen Unterschiede, die von der der umgebenden Gesellschaft deutlich abweiche. Daniel bezieht sich auf Glückels Beschreibung ihres geliebten und nun verstorbenen Mannes: »In ihrer Schilderung des jungen Ehemannes als idealer jüdischer Mann ihrer Zeit betont sie seine Innerlichkeit, Frömmigkeit und besonders seine ›Sanftmut‹.« In dem Maße, wie der Druck auf die modernen europäischen Juden zunahm, sich den nationalen und bourgeoisen Standards anzupassen, wurde dieses alternative männlich-jüdische Ideal zunehmend als anormal oder neurotisch angegriffen.
Wie sieht es mit der jüdischen Familie in der Gegenwart und der näheren Zukunft aus? Die Sorge um »jüdische Kontinuität« mag zur Idealisierung einer Vergangenheit mit einer angeblich unkomplizierten Identität geführt haben, aber ein genauerer Blick auf die Aufzeichnungen früherer Generationen zeigt uns, dass auch sie häufig – irgendwo – weiter19machen mussten, selbst wenn sie sich ihrer Ursprünge nicht sicher waren.
Als ich vor einigen Jahren in Cleveland bei Cousins, ich nenne sie Gabriel und Dina, meiner Frau übernachtete, erlebte ich, wie lebendig und produktiv dieser Impuls sein kann. Sie lebten in einem Viertel mit großen Synagogen, Schulen und anderen Einrichtungen der jüdischen Gemeinde. Gabriel und Dina unterrichteten in der modernen orthodoxen Schule des Viertels, die der religiös-zionistischen Misrachimbewegung nahestand. Auch ihre fünf Kinder besuchten diese Schule. In Wohnzimmer und Esszimmer gab es Regale mit gelehrten Texten in hebräischer und aramäischer Sprache. Im Keller, wo ich die Nacht verbrachte, standen Regale mit ganz anderen Büchern: Science Fiction und Fantasy, Geschichte des Judentums und Weltgeschichte, dazu etliche Bücher über Bruce Springsteen. Beim Abendessen berichtete Gabriel vom geplanten Umzug nach Israel. Sie hatten noch nicht entschieden, ob sie sich in einer religiösen Gemeinschaft im Westjordanland niederlassen wollten, wo schon Verwandtschaft von beiden Seiten lebte, oder in einer religiös und sozial bunteren Stadt innerhalb der Grenzen von vor 1967. Ihre älteste Tochter, zwanzig Jahre alt, studierte bereits Sozialarbeit in Israel.
Familien wie die von Gabriel und Dina gelten als das Vehikel, das die nächste Generation hervorbringt. Die Verfasser einer Studie über amerikanische Juden, The Next Generation, warnen nachdrücklich davor, dass »der Fortbestand der Juden in den heutigen USA auf dem Spiel steht«.5 Mit der Feststellung, dass die Familie normalerweise als wichtigste Instanz gilt, in der sich die Sozialisation in einer »Subkultur« abspielt, weisen sie darauf hin, dass heutige jüdische Familien dazu kaum noch in der Lage sind und dass 20daher Institutionen der Gemeinde diese Lücke füllen sollten.
Müsste ich über die Zukunft spekulieren, so würde ich auf die wachsende Zahl traditionalistischer orthodoxer Juden hinweisen. Wahrscheinlich werden ihre Kinder und Enkel einen immer größeren Prozentsatz jener Menschen stellen, die überall auf der Welt von anderen und sich selbst als Juden angesehen werden. Allerdings würde ich betonen, dass die Zukunft in vielerlei Gestalt daherkommen kann und dass um uns herum neue jüdische Familienformen erfunden werden, mögen die Wissenschaftler dies nun zur Kenntnis nehmen oder nicht. Und ich würde sagen, dass die Grenzen, die liberale Juden von der großen Mehrheit der nicht-jüdischen Homo sapiens trennen, immer mehr verschwimmen.
Viele neuere Studien sehen einen engen Zusammenhang zwischen der Krise in den Gemeinden und der Krise in den Familien, begründet in erster Linie durch die Heirat mit nicht-jüdischen Partnern. Sylvia Barack Fishman legt überzeugend dar, dass der amerikanische Liberalismus sich schwer damit tat, zwischen der Bevorzugung der Ehe mit einem jüdischen Partner und Rassismus zu unterscheiden. Diesen anhaltenden Druck auf Juden, Ehen mit Nichtjuden zu akzeptieren, belegt sie mit den Worten eines angesehenen Amerikaners, der die Juden in den 1890ern ermahnt, sie müssten »eine Grundregel ihrer Rasse verletzen und Töchter des Landes zur Frau nehmen«.6
In dieser Hinsicht scheint »die jüdische Familie« heute wirklich anders zu sein: Soweit wir das sagen können, ändert sie sich schneller als je zuvor. In der Soziologie und Demografie der amerikanischen Familien unserer Zeit gelten zwanzig Jahre als eine Epoche. Nicht nur sind die Prognosen unsicher, sondern die ihnen zugrunde liegenden Daten sind bereits veraltet. Trotzdem sind die Titel der letzten 21drei Beiträge in dem 1994 erschienenen Band The Jewish Family and Jewish Continuity (Die jüdische Familie und das jüdische Fortbestehen) bezeichnend: »Intermarriage and Communal Policy: Prevention, Conversion, and Outreach« (Heiraten zwischen den Religionen: Prävention, Konversion und Öffentlichkeitsarbeit), »Policy Considerations for American Jewish Life« (Politische Erwägungen zum jüdischen Leben in Amerika) und »Policies and Programs to Reaffirm the Centrality of the Jewish Family for the Jewish Community« (Richtlinien und Programme, in denen die jüdische Familie wieder in den Mittelpunkt gerückt wird). Diese Titel reflektieren die Krisenstimmung, die, wie die Herausgeber erklären, zur Gründung des National Jewish Family Center geführt hat, um »die jüdische Gemeinde bei der Erfüllung ihrer traditionellen Aufgabe zu unterstützen«. Und wenn sie »traditionell« sagen, meinen sie es auch: Steven Bayme schreibt, dass »im Verlauf der Geschichte keine Generation jüdischer Führer Mischehen eingegangen ist«.7 (Tatsächlich wurden Mischehen mindestens bis Ezra und vielleicht auch noch in den Jahrhunderten danach kaum als Problem wahrgenommen.)
Einer der Autoren dieses Sammelbandes bezeichnet Chassiden als »dynamische« Gruppe, die aber noch »im 19. Jahrhundert lebe«. Das ergibt keinen Sinn – jeder, mit dem Sie oder ich heute sprechen (und das gilt auch für Chassiden), lebt in derselben Zeit wie Sie oder ich. Positiver dagegen beschreibt dieser Autor eine der Strategien, die ich weiter oben bei meinen Verwandten Gabriel und Dina geschildert habe: Um Erfolg zu haben, »müssen jüdische Familien ihre eigenen jüdischen Familienaktivitäten und ihre eigenen, einzigartigen Erinnerungen schaffen«, um ihren »Erinnerungsschatz zu bilden, der sie durch ihr Leben begleitet«.8
Diese einzigartigen Erinnerungen oder jüdischen Momen22te wurzeln in einem jüdischen Familienleben und setzen es zugleich fort. Es vollzieht sich in der persönlichen Begegnung und ist Teil eines genealogischen Netzes, ganz anders als die »jüdischen Momente« im Fernsehen, die der australisch-jüdische Kulturtheoretiker Jon Stratton analysiert. Wie ich von dem Medienforscher Henry Bial gelernt habe, erfahren viele Menschen in den USA, auch Juden, aus dem Fernsehen, was »jüdisch« ist. Wenn ein jüdisches Kind in einer kleinen Gemeinde oder mit wenigen jüdischen Klassenkameraden eine der alten »Seinfeld«-Folgen sieht, in denen es explizit um das Judentum geht, bekommt es vielleicht Lust, mehr über »das Jüdische« herauszufinden, und vielleicht fragt es sich auch, wie es wäre, irgendwann selbst eine jüdische Familie zu gründen. »Assimilationismus« ist sicher nicht das exakte Gegenstück zu einem rigiden Traditionalismus. Gegen das Bild der traditionellen jüdischen Familie richten sich einige sehr interessante Experimente in der neu erfundenen Beziehung zum Judentum, etwa jüdische Paare mit Adoptivkindern aus China, die die Kinder mit großem Engagement zu Juden und zu Chinesen erziehen. Möglicherweise versteckt sich hinter der Sehnsucht nach der traditionellen Familie der Traum von einer konservativen Gesellschaft, und ohne geschichtliche Mythen würde die Vorstellung, jüdische Familien hätten etwa bis in die 1960er so ausgesehen, wohl zusammenbrechen.
Solche Analysen befassen sich hauptsächlich mit den Auswirkungen von Mischehe, Scheidung und sinkenden Geburtenraten auf das Judentum insgesamt. Die Verfasser meinen auch, Kinder mit einem jüdischen Erbe sollten das Recht und die Chance haben, dieses Erbe aus eigener Motivation anzutreten, statt dass es ihnen vorenthalten wird.
Glücklicherweise haben jüdische Familien neben der Vergangenheit auch eine Gegenwart und eine Zukunft. Zwei 23Überlegungen dazu: Einerseits werden heute neue und praktikable Formen jüdischer Familie erfunden und gelebt, und diese werden auch in absehbarer Zukunft fortbestehen. Andererseits können streng traditionalistische, diskriminierende jüdische Familienmodelle subversiv sein oder sich zumindest kulturell gegen die Normen der größeren nichtjüdischen Welt richten.
Ich weigere mich, nur den Vorstellungen zuzustimmen, die sich für neue und autonome Familienmodelle einsetzen oder denen, die die »traditionelle« jüdische Familie beschwören – in Wirklichkeit wohl eine relativ neue gesellschaftliche Form –, oder denjenigen, die rigide Geschlechterrollen und Einschränkungen ihrer persönlichen Entscheidungen aus den Forderungen einer unabänderlichen und unschöpferischen Torah ableiten. Stattdessen bin ich der Ansicht, dass wir gegenüber der Erosion, Fortdauer und Transformation jüdischer Familienformen in mindestens dreierlei Hinsicht aufmerksam und offen bleiben müssen. Da ist zum einen ein Traditionalismus, der auf strikt durchgehaltenen Genderrollen, gemeinschaftlicher Kontrolle der Ehemodelle, Förderung der Fruchtbarkeit und konsequent eingeschränkten Kontakten zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen liberalen Welt basiert, um eine lebensfähige und zugleich repressive jüdische Familie zu bewahren. Dann gibt es eine weniger sichtbare und möglicherweise treuere »Mitte«. Hier bestärkt man die Kinder, und erwartet von ihnen, dass sie Juden heiraten, was sie aber nicht immer tun; die Identität als jüdische Familie wurzelt wahrscheinlich in einer Art religiöser Alltagsdisziplin, muss es aber nicht, und die Familie versteht sich als »modern« und in die größere Gesellschaft völlig integriert, wobei eine gewisse Ambivalenz spürbar ist. Als dritte Form nenne ich bis dahin unbekannte oder inakzeptable Modelle biologischer und sozia24ler Verwandtschaft, die die jüdische Identität neu gestalten und das Repertoire an jüdischen Familienformen erweitern; dazu gehören nicht mehr nur Mischehen, sondern auch Alleinerziehende, gleichgeschlechtliche Ehen und das Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in derselben Familie.