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Dieses eBook: "Jüdisches Leben in Wort und Bild" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Leopold Ritter von Sacher-Masoch (1836-1895) war ein österreichischer Schriftsteller. Er schrieb auch unter den Pseudonymen Charlotte Arand und Zoë von Rodenbach. Leopold Ritter von Sacher-Masoch war zu seiner Zeit ein vielgelesener, populärer Schriftsteller. Seine zahlreichen Romane und seine ebenso zahlreichen, meist folkloristischen Novellen waren - in betonter Nachfolge von Iwan Sergejewitsch Turgenew - teils als exotische, immer spannende, ja sogar als moralische Lektüre beliebt. Als einer der ersten zeichnete er ein realistisches Bild der Juden in Galizien; zeitlebens kämpfte er politisch gegen den Antisemitismus in Mitteleuropa. Victor Hugo, Émile Zola, Henrik Ibsen gehörten zu seinen Bewunderern; König Ludwig II. von Bayern empfand zu dem Autor gar eine Seelenverwandtschaft. Sacher-Masochs Weltbild vereinigte in eigenartiger Weise Elemente des Minnedienstes, der Schopenhauerschen Metaphysik und vorausgreifend solche Strindbergscher Geschlechterpsychologie. Bekannt wurde Masoch durch seine Fantasie und Kunst, triebhaftes Schmerz- und Unterwerfungsverlangen ästhetisch zu formulieren. Aus dem Buch: "Goethe sagt: Das auserwählte unter den Völkern ist nicht das beste, sondern das andauerndste. In diesem wunderbaren Ausspruch ist die ganze Geschichte des israelitischen Volkes enthalten, alle seine Schicksale, gute und böse, spiegeln sich in demselben." Inhalt: Israel Bessure towe Rabbi Abdon Lewana Das Mahl der Frommen David und Abigail Schimmel Knofeles Der Buchbinder von Hort Galeb Jekarim Wie Slobe ihre Schwester verheirathet Frau Leopard Der schöne Kaleb Gelobt sei Gott, der uns den Tod gegeben! Schalem Alechem Machscheve Der Todesengel Haman und Esther Die Erlösung Das Trauerspiel im Rosengässchen Kätzchen Petersil Der falsche Thaler Zwei Aerzte ...
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Seitenzahl: 275
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Ausgabe mit Abbildungen: Israel + David und Abigail + Schalem Alechem + Der Todesengel + Du sollst nicht tödten + Der schöne Kaleb + Lewana und viel mehr
Illustrator: Edward Loevy, Alphonse Lévy, Vogel, Emil Levy, Worms und Gerardin
Goethe sagt: Das auserwählte unter den Völkern ist nicht das beste, sondern das andauerndste.
In diesem wunderbaren Ausspruch ist die ganze Geschichte des israelitischen Volkes enthalten, alle seine Schicksale, gute und böse, spiegeln sich in demselben. Ja, es war unter allen Völkern, die den Erdball bewohnen, das ausdauerndste und deshalb hat es viel grössere und wichtige, als es selbst war, überlebt und sah den Ruhm, die lärmenden Thaten, den Glanz der Jahrhunderte vorüberziehen, gleich Schemen. Es hat das üppige Babylon in den Staub sinken sehen und das Reich der Pharaonen und Rom, der Sturm der Völker brauste an ihm vorüber, Gothen, Vandalen und Hunnen, das römische Kaiserreich Karl's des Grossen fiel in Trümmer, das geistliche Weltreich der Päpste, die Monarchie Karl's V., in der die Sonne nicht unterging, Holland, Schweden, Polen, traten vom Schauplatz ab, Spanien erntete die traurigen Folgen seiner Verfolgungswuth, der Thron der Bourbonen wurde umgestürzt, und der neue Cäsar fand in den Eiswüsten Russlands sein Ende, doch Israel bestand noch immer. Es trotzte dem Mord, der Pest, dem Scheiterhaufen und ging durch den Wechsel der Zeiten, ergeben und geduldig, die heiligen Gesetzrollen im Arm.
Kein Volk ist so oft von Eroberern unterjocht, in die Sklaverei geschleppt, getheilt und zerstreut, keines so mit Feuer und Schwert verfolgt, unterdrückt, beraubt, geschmäht und gequält worden und es lebte immer und lebt noch heute, frisch und kräftig, wie einst in den gesegneten Thälern Kanaans.
Und doch ist heute wieder eine grosse Verfolgung gegen dasselbe im Zuge, ein Kampf, der durch alle Länder Europas geht, bedroht die schwer errungenen Rechte, die Bildung, das Eigenthum der Israeliten, ja ihre Existenz.
Woher in unserer Zeit, genau ein Jahrhundert nach der grossen Revolution, nach der Proklamation der Menschenrechte, dieser Hass, dieser Rassenkrieg, dieser religiöse Verfolgungswahn?
Mögen sich auch starke, egoistische, zumeist ökonomische Interessen unter der religiösen und nationalen Maske verbergen, es zeigt sich trotzdem in dieser ganzen Bewegung unleugbar eine Leidenschaft, welche nicht durch nüchterne Motive dieser Art erklärt werden kann.
Das jüdische Volk ist das älteste Kulturvolk Europas. Das ist der Grund. Andere Völker, welche eine gleich alte Kultur besitzen, sind ohne Einfluss auf uns geblieben, wie die Chinesen und Inder, oder vom Schauplatz verschwunden, wie die Egypter, Griechen, Römer. Hier ist aber ein Volk, mitten unter uns, das eine geordnete, musterhafte Staatsverfassung, das gute, vernünftige, humane Gesetze, eine reine Religion, einen erhabenen Kultus, edle Sitten, die einzig richtige Moral und eine grosse, herrliche Literatur besass, zu einer Zeit, wo unsere Voreltern noch in Höhlen oder Pfahlbauten wohnten, und im Kampfe mit wilden Thieren selbst ein halbthierisches Dasein führten. Und diese alte Kultur, dieser reine Glaube, diese herrliche Moral sind diesem Volke nicht zu einer Vergangenheit geworden, mit der spätere Schicksale und eine neue Civilisation jeden Zusammenhang zerrissen haben, sie sind keine interessanten Antiquitäten geworden, oft nur mit dem Reiz der Rarität, wie die Religion des Inkas, wie die altgermanische Götterwelt der Edda oder der Perun und die Lada der alten Slaven, nein, der Strom ihrer Bildung geht ununterbrochen, nur immer breiter und mächtiger durch die Jahrhunderte von Palästina an, durch die Blüthezeit griechischer Kunst und römischen Staatswesens, durch das finstere Mittelalter mit seinem grossen Kampfe der Kaiser gegen die Päpste, durch die kirchliche Revolution Luther's und die Umwälzung von 1789 hindurch bis in unsere Tage.
Das Volk Israel ist aber nicht nur das älteste Kulturvolk, sondern auch heute in Europa mitten unter gebildeten Völkern, die eine hohe Stufe der Gesittung erreicht haben, das gebildetste, jenes, das den reinsten Gottesglauben, die beste Moral, die mildesten Sitten besitzt und auf allen Gebieten menschlichen Wissens die regste Thätigkeit entwickelt.
Die alte Kultur ist nicht ohne Einfluss auf seine physische Natur geblieben. Durch Jahrtausende mit grossen Ideen, erhabenen Empfindungen, edlen Gesinnungen und guten, menschlichen Sitten vertraut, hat es die thierischen Instinkte, die barbarischen Atavismen, weit mehr überwunden, als jedes andere und übertrifft alle an Humanität, das ist an Friedensliebe, Abscheu vor Gewaltthat und Blutvergiessen, Sittlichkeit und Nächstenliebe.
Dies beweist die europäische Statistik und gegen die Sprache der Zahlen gibt es keine Einwendung. Der Hass anderer Völker gegen das Volk Israel's ist also nichts anderes, als der Hass des Indianers gegen den Trapper, der Hass des Wilden gegen civilisirte Menschen.
Nie hat ein wahrhaft gebildeter Geist, ein wahrhaft edles Herz, ein wahrhaft reiner Charakter die Juden gehasst oder verfolgt, im Gegentheil, die erleuchteten Männer aller Zeiten, aller Nationen haben sie vertheidigt und beschützt.
Diese Auserwählten liebten und lieben die Juden aus verschiedenen Gründen.
Zuerst, weil in dem jüdischen Volke, wie in keinem anderen, der Familiensinn lebendig ist, welcher die wichtigste Grundlage einer gesunden, sittlichen, politischen und sozialen Entwickelung ist.
In unseren Tagen wird viel und von verschiedenen Seiten gegen die Familie agitirt; in Deutschland sind es die Sozialisten und die Poeten der freien Bühne, in Frankreich die Kommunisten und die naturalistische Schule, im Osten die Nihilisten, welche ihr den Untergang geschworen haben.
Alle diese Feinde der Familie sind in dem merkwürdigen Irrthum befangen, dass die Ehe, die Familie, eine rein jüdisch-christliche Einrichtung ist und gegen die Gesetze der Natur verstösst.
Die Natur kennt allerdings in Bezug auf das Verhältniss von Mann und Weib nur ein Ziel: Die Erhaltung der Gattung.
Es sieht so aus, als ob ihr die Eltern gleichgiltig, die Kinder alles wären. Um die Gattung zu erhalten, hat sie den Eltern den Trieb gegeben die Kinder gross zu ziehen, bis sie sich selbst erhalten können.
Wir sehen in Folge dessen bei den Thieren, dass die Gatten mit wenigen Ausnahmen so lange beisammen bleiben, bis die Jungen gross gezogen sind.
Für die Menschen galt wohl im Urzustand ausschliesslich dasselbe Naturgesetz.
Da aber kein Thier so viel Zeit zu seiner Entwickelung braucht wie der Mensch, welcher – sogar im Naturzustand – nicht vor dem zehnten Jahre im Stande ist, selbst seine Nahrung zu suchen, so musste es geschehen, dass, während das erste Kind langsam heranwuchs, ein zweites, drittes und viertes folgte, und so der Trieb, die Pflicht ihre Kinder aufzuziehen, die Eltern gebieterisch zwang bis in ihr Alter zusammen zu bleiben.
Auf diese Weise entstand die Ehe, die Familie, nicht durch religiöse Satzungen oder politische Gesetze sondern ausschliesslich infolge eines Naturtriebes und vollständig den allgemeinen Naturgesetzen entsprechend.
Wer gegen die Familie ist, ist also nicht allein gegen die Religion und die Moral, sondern vor allem gegen die Natur, und jenes Volk, wo Mann und Weib die Ehe scheuen und der Pflicht, Kinder zu erziehen aus dem Wege gehen, sündigt gegen die Natur und befindet sich in der Phase des Verfalls und der Auflösung.
Dass das israelitische Volk, als das älteste Kulturvolk den Sinn für Ehe und Familie am kräftigsten bewahrt hat, dass Ehelose in demselben eine seltene Ausnahme bilden, dass es mit Kindern reicher gesegnet ist, als jedes andre, dass in ihm die Liebe zwischen den Gatten, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern und der Kinder zu ihren Eltern so lebendig ist, beweist, dass die Kultur, welche es besitzt, die geistigen Vorzüge nicht auf Kosten der physischen entwickelt hat, dass sie, statt den Verfall der jüdischen Rasse herbeizuführen, dieselbe in einem blühenden Zustand erhalten hat, somit, dass diese Kultur eine gesunde und naturgemässe ist.
Ein zweites Moment des jüdischen Wesens, das ihm die Herzen gewinnt, ist das Mitleid.
Schopenhauer, der Philosoph des Pessimismus, sieht im Mitleid die edelste, schönste Blüthe des Menschenthums, die Ueberwindung des Willens, der Selbstsucht.
Diese schönste Blüthe der Menschennatur, sie treibt nirgends so reich wie an dem jüdischen Stamm, in keinem Volke ist das höchste Moralgesetz, das Gesetz der Nächstenliebe so lebendig wie in dem israelitischen.
Als die Judenbill im englischen Oberhause diskutirt wurde, fragte ein Mitglied des Hauses den Erzbischof von Canterbury, den Primas der englischen Hofkirche: Ist es wahr, dass die Juden ein anderes Moral haben als die Christen?
Da erwiderte der erleuchtete Oberhirt: Die Juden haben dieselbe Moral wie wir, der Unterschied besteht nur darin, dass sie dieselben befolgen und wir nicht.
Kein Volk ist so mitleidig, so wohlthätig wie das jüdische, und es fragt nicht erst lange, ob der Unglückliche die Hülfe auch verdient, es fragt auch nicht, welchem Volke oder Glauben er angehört. Der Jude sieht in dem Hilfsbedürftigen einen Menschen, einen Bruder und hilft ihm, er kleidet den Blosen, speisst den Hungrigen und pflegt den Kranken.
Der Jude ist so glücklich, wenn er helfen kann, dass der jüdische Bettler gar nicht gewohnt ist zu bitten, er verlangt und ist stolz auf seine Armuth, denn indem er dem Wohlhabenden Gelegenheit gibt ein gutes Werk zu verrichten, baut er ihm eine Stufe in das Himmelreich, welche die Frommen sicherer dahin führt als Gebet und strenge Befolgung der rituellen Vorschriften.
Eine weitere Tugend des jüdischen Stammes, welche derselbe aus seinen ältesten Wohnsitzen mitgebracht und unter allen Verhältnissen bewahrt hat, ist die Achtung vor dem Geiste und dem Wissen.
Der Jude als wahrhaft gebildeter Mensch, den die Bildung von allem Erbtheil einer finsteren Zeit freimacht, und bei dem sie die ganze physische Konstitution verändert und verfeinert hat, verabscheut den Krieg und alles was damit zusammenhängt. Der Kampf mit geistigen Waffen sagt ihm besser zu und mit Recht, denn hier muss, welcher Theil auch Sieger bleibt, das Ganze, die Menschheit, immer gewinnen, während dort die Menschheit sich geschädigt, gestört in ihren friedlichen Fortschritten unterbrochen sieht, gleichgiltig wer die blutigen Lorbeeren davon trägt.
Mit dieser Achtung vor dem Geiste, vor dem Wissen geht Hand in Hand die Liebe zur Freiheit und zum Fortschritt. Diese grosse, jüdische Eigenschaft hat das Volk Israel zu einer ganz besonderen für die ganze Menschheit segensreichen Rolle berufen. Zerstreut über den ganzen Erdboden sind die Juden doch ein Volk, eine grosse Gemeinde geblieben, und so wurden sie gleichsam die elektrischen Drähte, auf denen die neuen Ideen und Tendenzen durch die Welt liefen, zugleich aber, gewohnt in den Juden eines fernen Landes ebenso gut einen Bruder zu sehen wie in jenem, der Thüre an Thüre mit ihnen wohnte, wurden sie erst unbewusst, dann mehr und mehr mit der edelsten Absicht die Träger des Kosmopolitismus.
Wenn die andren Völker von ihren nationalen Interessen beherrscht und eingeengt wurden, blickte der Jude frei über die Grenzpfähle hinweg und fühlte sich vor allem als Mensch. Sein Gesichtskreis war jederzeit ein weiter, er umfasste die ganze gebildete Welt, ja, darüber hinaus die Menschheit, und wenn die Andren sich befehdeten, beraubten, mit Feuer und Schwert verfolgten, so erinnerte sie der Jude an jene höheren, grösseren Ziele und Interessen, welche Allen gemeinsam sind und Allen Segen bringen, während das Schwert dem Sieger ebenso gut Wunden schlägt wie dem Besiegten.
Eine wahrhafte Geschichte der europäischen Zivilisation, nach den einzig richtigen naturwissenschaftlichen Prinzipien eines Thomas Buckle ist noch nicht geschrieben; wenn wir sie eines Tages haben werden, wird sie zugleich eine ruhmreiche Geschichte des jüdischen Namens sein.
Indem ich es unternommen habe, die Juden in den verschiedenen europäischen Ländern in einer Reihe kleiner Erzählungen vorzuführen, hat sich von selbst eine Geschichte des jüdischen Volkes daraus ergeben.
Wir sehen in den östlichen Ländern die Juden vielfach auf einer Stufe, die nicht weit von jener entfernt ist, die sie im Mittelalter einnahmen, ja manchmal sogar an biblische Verhältnisse erinnert, man sieht noch die Herrschaft des Aberglaubens, den Kampf, den erleuchtete Geister gegen denselben führen, und langsam gegen Westen ziehend, verfolgen wir die Fortschritte des Judenthums im Laufe der Jahrhunderte, bis wir dasselbe in den westlichen Landen auf dem Höhepunkt der Freiheit und der Gesittung finden, gleichberechtigt im Staate wie in der Gesellschaft, und infolge der errungenen Rechte doppelt eifrig in der Erfüllung aller nationalen und patriotischen Pflichten.
Zugleich mit dieser Kulturgeschichte des jüdischen Volkes ziehen die Sitten, die religiösen Lehren und Meinungen, die mit dem Glauben und den Schicksalen Israels eng verbundenen, jährlich wiederkehrenden Feste vorüber, und so fügt sich Bild zum Bilde und hilft das grosse Gemälde vollenden, das ein Denkmal sein soll für Israel, seine Kämpfe und Leiden, seine Befreiung und Erhebung.
Leopold von Sacher-Masoch.
Der Prosteck. – Cheder. – Chassidim. – Masser.
Herz Maisel galt bei den Chassidim, den Zeloten, die in Sadagora herrschten, als Prosteck. Es ist dies nicht etwa ein Mensch, der die Gesetze verletzt, aber ein Simpel, der die Welt nicht versteht und deshalb stets an der Schattenseite stehen bleibt. Und doch hatten ihn die Chassidim sorgsam beschützt, als er zur Welt kam und während er sich die Kinderschuhe ablief, sie hatten Alles gethan, um sein Glück auf Erden und im Himmel zu sichern.
Kaum war Herz geboren, gab der Zadik, der weise wunderthätige Rabbi der Chassidim, dem Himmel und Hölle gehorchten, seinem Vater einen Zettel. Sein Vater hatte einen besonderen Eifer entwickelt, dem Zadik die Lulka (Pfeife) zu stopfen, er hatte also ein Anrecht auf diesen Zettel, welcher den Neugeborenen während der ersten acht Tage beschützen sollte.
In dieser Zeit umschwärmt nämlich Lillith, die schöne Teufelin, das Haus im Bunde mit ihrem Gefolge von vierhundert und achtzig unreinen Geistern. Der Pergamentstreifen mit den Namen der drei Engel Senoï, Sansenoi und Sammangelef an den Thürpfosten genagelt, beschirmte den kleinen Herz vor dieser Vorhut des höllischen Heeres.
Nun rückten aber andere Dämonen an, zu Tausenden, zu Millionen. Wieder ging der Vater zum Zadik, und diesmal brachte er einen ganzen Stoss kleiner Zettel mit, sorgsam in sein rothes Schnupftuch gewickelt. Auf diesen Zettelchen standen die Namen der Erzväter und Erzmütter, der Propheten und der grossen Talmudisten und Zadikim und noch verschiedene kräftige Stellen aus der heiligen Schrift und dem Talmud.
Es galt nun dieselben richtig zu vertheilen. Abraham, Isaak und Jakob wurden rechts vom Kinde postiert, Sarah, Rebekka, Lea und Rachel links, Moses und der grosse Bescht, der Begründer des Chassidismus kamen unter den Kopfpolster. Mit den übrigen Zettelchen wurden die Fenster, die Schlüssellöcher, der Rauchfang und die Ritzen in der Mauer besetzt.
An die Thüre kamen die Namen der Engel Jehoel, Michael und Sangsagael, welcher der Lehrer des Moses war und die Stelle aus dem Psalm 55: »Er erlöst mein Leben, dass sie sich mir nicht nahen können.«
Trotzdem wollte der kleine Herz kein kaballistisches Genie werden, ja er lernte in der Cheder nur mit Mühe hebräisch lesen. Aleph und Beth waren für ihn zwei Dämonen, die ihn quälten, er verwechselte sie unausgesetzt, und der Melamed (Lehrer) verschwendete vergeblich alle seine Geduld an ihn, wenn der Unglückliche vor dem Sidur (Gebetbuch) sass. Vergeblich zeigte er ihm immer wieder die Buchstaben mit dem Deutel (Stäbchen), vergeblich versprach die hübsche, dunkeläugige Rebezin (Frau des Lehrers) dem Chederjüngel Kuchen und Obst. Die Hühner, welche in dem Schulzimmer umherliefen und gackerten beschäftigten ihn mehr als die Hieroglyphen, welche er entziffern sollte. Da sagte der Melamed: »Höre, Herz, sobald Du Aleph und Beth kannst, wird Dir ein Engel von der Decke einen Groschen herabwerfen.«
Das verstand der Bocher (Junge) und blickte nun mit Eifer statt nach dem Buche, nach der Decke der Stube und erwartete den Groschen mit offenem Munde. Der Melamed griff nun zu einem drastischeren Mittel, er griff in die grosse Dose, die auf dem Tisch stand, schob dem kleinen Herz eine Prise Schnupftabak in die Nase und jagte ihn unter den Tisch, wo schon zwei andere Jüngel dieselbe Strafe erduldeten. Jedesmal, wenn unten ein verzweifeltes Niesen ertönte, rief der Melamed: Zur Gesundheit! und die ganze Cheder rief mit ihm: zur Gesundheit!
Doch Herz begriff noch immer nichts. Es währte lange Zeit, ehe er das Alphabet erlernt hatte und der Melamed erklärte eines Tages, dass er keinen Kopf zum Lernen habe und schickte ihn aus der Schule fort.
***
So kam es, dass Herz im Geschäft seines Vaters mitzuhelfen begann, dass der Zadik seine mächtige Hand von ihm zurückzog und dass er ein Prosteck wurde.
Als echter Prostek nahm er ein Weib ohne Mitgift, setzte ein Dutzend Kinder in die Welt und kämpfte bei allem Fleiss, allem Geschäftsgeist, den er besass, sein Leben lang mit Noth und Elend.
Gedeon sass auf dem Tisch, die Beine wie ein Pascha gekreuzt. (Von Eduard Loevy.)
Es kümmerte ihn wenig, dass die Chassidim ihn einen Chamer (Esel) und einen Schlemil (ungeschickten, unglücklichen Menschen) nannten, wusste er sich doch keines Chilul hasthem (Vergehen gegen Gott oder das Gesetz) schuldig, konnte er denn dafür, dass sich Riceh (Teufel) und Dalles (Elend) bei ihm ein Stelldichein gegeben hatten?
Er wohnte mit seiner Familie in einem kleinen Hause, dessen Mauern von Aussen mit Balken gestützt waren. Eine grosse Stube war durch einen Kreidestrich abgetheilt, wie die Staaten auf der Karte durch farbige Grenzen von einander geschieden sind. Von einer Seite wohnte Herz mit seiner Frau Jüdke, seiner erwachsenen Tochter Riffke und seinen anderen Kindern, jenseits des Striches hauste der Schneider Saduel Pjetruschka mit seiner alten Mutter, seinem Sohne Gideon und seinem Schwager, dem Talmudisten Reb Isaschar.
Herz ertrug alles geduldig, die Grenzstreitigkeiten mit Saduel, den Rauch, mit dem der Ofen die Stube füllte, den Regen, der zu Zeiten durch die Decke herabtropfte, die kärgliche Nahrung, den Mangel an Kleidern, alles, nur eines schmerzte ihn, dass er für seine Riffke, die so hübsch und klug war, keinen Mann fand und dass sie immer so »verschmuddelt« (vernachlässigt) herumging.
Er hätte sie so gern wie eine Prinzessin oder doch mindestens wie eine Schlachtzizenfrau angezogen.
Doch Riffke verlor deshalb ihre gute Laune nicht. Sie sang den ganzen Tag, denn sie konnte nicht arbeiten ohne zu singen und sie arbeitete den ganzen Tag. Während sie ihre grobe Wäsche nähte, sass jenseits der Grenze Gideon auf seinem Tisch da wie ein Pascha mit gekreuzten Beinen und liess gleichfalls die Nadel fliegen, nur dass es prächtige Stoffe waren, Seide, Sammt, türkische Gewebe, die er zu Kunstwerken der Toilette vereinte.
Allmählig begannen die jungen Leute ein Wort, eine Phrase zu wechseln, und endlich fing Gideon an mit Riffke zu wetteifern. Sobald sie ihren Gesang unterbrach, begann er zu erzählen und gab als wahre Geschichten zum Besten, was er in den abgegriffenen Bänden der Leihbibliothek zusammengelesen hatte, heute den Grafen von Monte-Christo, morgen die Kapitänstochter, übermorgen den Geisterseher.
Und jedesmal, wenn irgend eine reiche Robe, eine prächtige Kazabaika, ein königlicher Mantel fertig war, lud er Riffke ein das Kunstwerk zu probiren, und dann hoben alle die Köpfe um sie zu bewundern, und sogar Reb Isaschar vergass für einen Augenblick seinen Talmud.
***
»Wissen Sie etwas, Herz?« sagte dieser einmal plötzlich in der Nacht, als Alle bereits zu Bette waren.
»Was? Ich weiss nichts.«
»Sie müssen versuchen Ihr Glück um zu bekommen eine Mitgift für Ihre Riffke.«
»Kann ich dafür«, rief Herz, »dass ich habe Unglück in Allem? Wenn Jemand etwas dummes thut in Sadagora, muss ich es gewesen sein, und thut Jemand etwas Schlechtes, ist es wieder Herz Maisel, der Bösewicht, gewesen. Soll ich denn das Kaporehändl sein für alle?«
»Sie haben recht, Herz«, gab der Alte zur Antwort, »und so will ich Ihnen geben einen guten Rath. Heute ist die Hoschana-Raba-Nacht, wo ein Jeder kann sein Schicksal befragen. Stehen Sie auf, wir wollen suchen drei Nummern im Talmud. Geben Sie mir das Buch.«
Herz brachte das Buch, und Reb Isaschar, ohne sein elendes Lager zu verlassen, die Augen geschlossen, schlug es auf.
»Sehen Sie die Seite nach.«
»Es ist einunddreissig.«
»Schreiben Sie einunddreissig.« Wieder schlug der Alte den Talmud auf.
»Und jetzt?«
»Sieben.«
»Schreiben Sie sieben, und jetzt?«
»Fünfundachtzig.«
»Schreiben Sie fünfundachtzig! Jetzt haben Sie drei Nummern 31, 7, 85. Diese Nummern setzen Sie morgen in die Lotterie, secco terno und setzen zehn Gulden darauf.«
»Wo hab' ich zehn Gulden?«
»Sie müssen leihen zehn Gulden, Herz, es muss geliehenes Geld sein, das bringt Glück.«
Herz Maisel ging am Morgen über Land, brachte der Edelfrau Bistonizka verschiedene Gegenstände, die sie bestellt hatte und bat sie ihm zehn Gulden zu leihen. Mit diesen zehn Gulden ging er in die Lotteriekollektion und setzte die drei Nummern, die ihm der Talmud gegeben. Dann ging er auf den Friedhof auf das Grab seines Vaters, um zu beten.
***
Am nächsten Sonntag, als beide Familien gerade den Mittagstisch deckten, kam Reb Isaschar feierlich herein, die Zobelmütze kühn wie ein Kosak auf dem Kopfe. Sein gutes Gesicht strahlte wie eine Sonne aus Lebkuchen. »Bessure towe« (Gute Nachricht!) rief er, »Bessure towe!«
»Was ist geschehen?« fragten alle zugleich.
»Welch' ein Massel! (Glück!) Soll noch einer sagen, dass der Herz ist ein Schlemil.«
»Reden Sie doch, Reb Isaschar.«
»Ich rede ja immerfort. Also – aber setzen Sie sich früher, Herz, sonst fallen Sie um.«
Herz setzte sich.
»Hören Sie, Herz. Bessure towe! Sie haben gewonnen, Herz! Das grosse Terno haben Sie gemacht, Herz, 48,000 Gulden haben Sie gewonnen, Herz!«
Herz blieb wie versteinert auf seinem Stuhle sitzen.
»Hören Sie, Herz, 48,000 Gulden!«
»Das erste Wort, welches Herz aussprach, war »Riffke!« dann fügte er nach einiger Zeit hinzu: »Jetzt sollst Du haben einen Mann, mein Kind, jeden, den Du willst.«
Dann stand er auf, ging langsam bis zu der Wand und, das Gesicht gegen diese gekehrt, begann er laut zu beten und zu schluchzen.
***
Als man sich etwas von dem Schrecken erholt hatte, denn eine grosse Freude zermalmt uns ebenso wie ein grosses Unglück, sagte Herz: »Nun, vor allem will ich geben Masser und dann erst soll Riffke einen Mann haben.«
»Wenn Sie wollen geben Masser«, sagte Reb Isaschar, »das macht 4800 Gulden nach dem Gesetz.«
»So will ich geben die 4800 Gulden dem Saduel Pjetruschka« sagte Herz, »es ist besser zu helfen einem braven Menschen, als vielen geben eine Kleinigkeit, das kann keinem dienen.«
Saduel sah Herz erstaunt an, dann nahm er ihn um den Hals und küsste ihn.
»Danken Sie mir nicht«, sagte Herz, »es geschieht um meinetwillen. Und Riffke? Hast Du etwa schon einen Bocher gefunden, der Dir gefällt? Sprich, mein Kind, Du sollst ihn haben.«
»So will ich Gideon«, sagte sie rasch, »wenn er mich nämlich will.«
Gideon lächelte verlegen und reichte ihr die Hand. »Sagen Sie mir, Riffke«, flüsterte er, »ist das alles ein Traum oder ist es wahr?«
Die Kabbalah. – Der Jude als Ackerbauer.
Die Sonne war untergegangen. Die Nebel des düstren Winterabends breiteten sich langsam um die Thürme und Dächer der kleinen Stadt, welche tief im Süden Russlands zwischen wilden Waldrevieren, Sümpfen und Steppen verloren war. Der Sturm hatte überdies hohe Schneewälle aufgeführt, welche die Menschen in ihren kleinen hölzernen Häusern gefangen hielten. Im letzten Abendstrahl schienen die Frostblumen an den kleinen Fenstern noch einmal in den Farben des Frühlings aufzublühen.
Dann erlosch auch dieser armselige Schimmer und graue eintönige Dämmerung erfüllte das weite Gemach, in dem der greise Rabbi Abdon sass, vertieft in seltsame Gedanken und Erinnerungen.
Die alte Magd kam leise herein, zündete die Lampe an und verschwand wieder unbemerkt, wie sie gekommen. Der Rabbi regte sich keinen Augenblick. Das flackernde Licht tauchte all' die heiligen und geheimnissvollen Dinge, die ihn umgaben, die Gesetzrollen, die Lederbände des Talmud, den Sochar, das Buch des Glanzes und den Ilan, den Baum des Lebens, an der Wand in eine Art Verklärung, aber der Greis sah sie heute nicht. Sein hagerer Körper, in sich zusammengesunken, schien leblos, sein mit Runzeln bedecktes Antlitz erstarrt, nur die grossen Augen verriethen, dass sein Geist noch nicht entflohen war.
Er fragte sich in diesem Augenblick, warum er noch lebe? Er hatte ein gottesfürchtiges tadelloses Leben hinter sich, und er hatte alle Geheimnisse der Kabbalah erschlossen, ihn erwartete die Seligkeit der Frommen und der grosse Lohn, welcher jedem zugesagt ist, der sich mit der Wissenschaft beschäftigt, die Gott selbst dem Adam überliefert haben soll. Was half ihm aber seine Frömmigkeit? was half ihm sein Wissen. Er war allein, einsam in einer Welt, die er nicht verstand, und die ihn nicht verstand, verlassen, ohne Liebe, unter Menschen, die ihm nur mit heiliger Scheu und Ehrfurcht nahten.
Was nützten ihm am Rande des Grabes Gematria, Notarikon und Themurah, die Lehre, mit deren Hilfe man den geheimen Sinn entziffert, den Gott in die heilige Schrift gelegt? Was nützte es ihm, dass er in stillen Nächten den Urquell des Lichtes, des Geistes und des Lebens, den Verborgensten der Verborgenheiten wie hinter einem Schleier sah? dass er im Menschen die Welt im Kleinen wie in einem Zauberspiegel betrachten konnte? dass er mit den zehn Sephirot und den vier Welten vertraut war, dass die Engel bei ihm aus- und eingingen? Wozu diente ihm seine Macht über die Geister und Dämonen? Er konnte Samael und Aschmadin bannen, wenn er wollte und die schöne Lillith zwingen seinen Geboten zu gehorchen, aber er war machtlos gegen den Nebel, der sich um ihn zu Gestalten zusammenballte, gegen die Stimmen, die in der Stille des Abends heimlich zu flüstern begannen.
Ja, er war allein mit seinen todten Schätzen, und er hatte doch einst ein geliebtes Weib gehabt, schön und tugendsam, und einen Sohn – ja dieser Sohn – wo war er? lebte er noch? oder war er geschieden von der Erde wie seine Mutter?
Sie war ein stilles, reizendes Geschöpf, diese kleine Frau, die schlank und scheu wie ein Reh durch seine Zimmer schlüpfte, wenn er in seine Folianten versunken war. Selten nur stahl sich ihr Lächeln wie Mondlicht in seine Seele, meist beachtete er sie gar nicht. Vergebens schmückte sie ihre anmuthigen Glieder, vergebens liess sie ihre helle Stimme, ihr verschämtes Lachen in diesem finstern Raum ertönen, in dem sich ein kleiner Menschengeist vermass die Pforten des Paradieses und der Hölle aufzureissen.
Und sie hatte ihn dennoch geliebt, aber einsam, mit ihrem armen, darbenden Herzen war sie zu früh dahingewelkt, und eines Tages lag sie mit ihrem letzten Lächeln auf den kalten Lippen da.
Er hatte sie verloren für immer.
Und jetzt! jetzt hätte er den kleinen Sammtpantoffel an ihrem Fusse küssen mögen, wenn er nur wieder einmal ihren leisen Schritt hätte vernehmen können inmitten dieser mit Staub und Moder bedeckten Welt, die ihn umgab.
***
Aber sein Sohn! Er lebte vielleicht noch, nur weit von ihm, sehr weit in der Ferne.
Er war sein ganzer Stolz gewesen. Er sollte nicht allein der Erbe seines Namens, aller seiner Habe werden, ein ungleich kostbareres, heiliges Vermächtniss wollte er ihm hinterlassen, seine ganze Weisheit, das Gold der Wissenschaft, das er aufgespeichert, alle Geheimnisse, die ihm die Zauberkraft der Kabbalah aufgeschlossen hatte, und er hatte dies alles verschmäht um eines thörichten Mädchens, um einiger grünen Bäume und um eines Feldes voll reifender Aehren willen.
Zum Rabbiner war er bestimmt, der kleine Simon, aber er liebte die Stubenluft nicht. Wenn der erste Sonnenstrahl auf den Lederband fiel, vor dem er sass, war es wie ein goldener Faden von Feenhand gewoben, der ihn hinauszog und hatte er erst diese schwarze Erde betreten, die der russische Bauer so zärtlich liebt, da fühlte er gleich diesem den Athem der treuen unwandelbaren Freundin, der einzigen, die uns jede Sorgfalt, jeden Dienst tausendfach zurückgiebt, da hörte er in den säuselnden Halmen, in den rauschenden Blättern die geheimnissvolle Stimme der ewigen Mutter.
»Oh! ich kenne ein schöneres Buch«, sprach er dann zu seinem Vater, auf den Talmud deutend, »das hat Gott selbst geschrieben, darin ist der grüne Wald zu sehen und Sonne, Mond und Sterne.«
Wenn die Bauern ackerten, folgte er von Ferne gleich den Krähen ihrem Pfluge, und wenn die Sicheln zur Erntezeit erklangen, verbarg er sich hinter den Garben und weinte.
Rabbi Abdon hatte ihn schon als Kind verlobt mit der Tochter eines reichen Mannes, von gleich edlem Stamme, des Kaufherrn Jonathan Ben Levy in Amsterdam, dessen Schiffe bis nach Indien segelten.
Als Simon aber herangewachsen war, nahm eine Andere sein Herz gefangen.
Es war ein armes Mädchen, Darka Bariloff. Ihre Eltern besassen eine elende Schenke in der Vorstadt draussen und einen kleinen Acker.
Auf diesem Acker hatte Simon das schöne kräftige Mädchen mit dem Leib einer Judith und dem holden, von rothblonden Flechten gekrönten Haupt einer Ruth, das erste Mal getroffen. Er war mit seinem Sohne Luchot-Haberith hinausgegangen in die Felder, um sich in der Geist der Kabbalah zu versenken und sah plötzlich das jüdische Mädchen, das hinter dem Pfluge ging, vor den ein mageres kleines Pferd gespannt war. Da warf er den kostbaren Band weit von sich, ergriff den Pflug und setzte die Furche fort, welche Darka begonnen hatte, und als die Arbeit gethan war, sassen sie auf dem Feldrain und sprachen zusammen ernst und verständig, während sie aus Feldblumen einen Kranz wand, und zwischen ihnen blühte unsichtbar eine Wunderblume auf, die Blume der Liebe.
Der alte Rabbi erinnerte sich auch des Tages, wo es zu der verhängnissvollen Auseinandersetzung mit seinem Sohne kam. Er sah ihn in diesem Augenblicke vor sich mit seinen leicht gerötheten Wangen und seinen leuchtenden Augen. Jedes der harten Worte, die er damals im Zorn herausgestossen, war noch in seinem Gedächtniss geblieben, und er hörte in dieser einsamen Stunde der Verlassenheit noch einmal die Antwort seines Simon, der ruhig und ehrerbietig, aber muthig und begeistert wie ein Prophet sprach:
»Der Jude«, rief er zuletzt, »hat sich die unglückliche Lage, in der er sich heute noch in den östlichen Ländern befindet, nicht selbst geschaffen; er wurde durch seine Verfolger in die engen, finsteren Strassen des Ghetto gesperrt und von jeder Arbeit, jedem anderen Beruf ausgeschlossen, gezwungen sich ausschliesslich dem Handel zu widmen. Es ist aber unsere Schuld, wenn wir heute diese zweite babylonische Gefangenschaft verlängern, die Ketten sind gesprengt, die Schranken gefallen. Wer es mit seinem Volk, seinem Glauben ehrlich meint, der verlasse diese finstren Winkel, in denen nur ein kleinlicher, engherziger Geschäftsgeist zu blühen vermag, oder eine düstre, grillenhafte, unfruchtbare Wissenschaft. Heute liegt das Feld der geistigen Arbeit offen vor uns, offen jede Art menschlicher Thätigkeit. In Odessa haben erleuchtete Männer unseres Stammes sich an die Spitze einer Bewegung gestellt, welche den Juden vor allem zu der Landwirthschaft, zum Ackerbau zurückführen soll, welche das Volk Israel im gelobten Lande glücklich und mächtig gemacht hat.
Ich will nicht mein Leben bei den Büchern versitzen, ich will nicht handeln und feilschen in einem dunklen Gewölbe, ich brauche Luft und Licht, und ich will selbst meinen Acker bestellen wie Boas.«
Der Vater blieb seinen Bitten verschlossen wie seinen Gründen, und als der Sohn bei seinem Entschluss beharrte, hatte er schon den Fluch auf den Lippen, aber er sprach ihn gottlob nicht aus.
Der alte Rabbi regte sich nicht (Von Alphons Levy.)
Dieselbe Nacht hatte sein Sohn die Stadt verlassen, und Darka war mit ihm entflohen.
Seither, seit mehr als zehn Jahren, hatte man nichts von ihm gehört.
***
Die Lampen brannten trüber, der Nebel um ihn wurde dichter, seine Augen schienen zu erlöschen. Der alte Rabbi barg sein Gesicht in den Händen und heisse Thränen flossen seine Wangen herab.
Da ging leise, ganz leise die Thüre, ein Schritt liess sich vernehmen, so sanft und zaghaft wie vormals jener seines Weibes, und dann zupfte es am Aermel, erst furchtsam und dann immer dringender.
Rabbi Abdon liess die Hände sinken und hob den Kopf. Träumte er noch weiter oder war es eine selige Vision? Vor ihm stand ein Knabe, gross und schön – Simon – sein Sohn – wie er in jenen Tagen gewesen war, als der Greis sich abgemüht hatte ihn beim Talmud und der Kabbalah festzuhalten. Langsam, immer von der Furcht geleitet, das schöne Bild könnte zerfliessen wie der Nebel, wie die Phantome, die seine Erinnerung ihm vorzauberte, hob Rabbi Abdon die zitternde Hand und berührte den Knaben.
Nein es war kein Schemen, er lebte. Der Greis, welcher die Arme nach ihm ausbreitete, um ihn zu segnen, um ihn an sein Herz zu ziehen, sprach feierlich den Namen des Ewigen aus, des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs und begann dann laut zu schluchzen.
Durch die offene Thür stürzte jetzt Simon herein und zu den Füssen seines Vaters, der den verlorenen Sohn stumm an seine Brust drückte. Darka folgte, ein kleines Mädchen an der Hand und ein zweites auf dem Arme.
Als Simon aufstand, staunte ihn der Rabbi an, er stand so gross, so kräftig vor ihm in seinen hohen Stiefeln, seinem rothen Hemde und seinem langen Tuchrock, und wie schön kleidete das junge jüdische Weib der gestickte Lammpelz und der Kokoschnik der russischen Bäuerin.
»Deine Kinder!« sprach Rabbi Abdon. Es waren die ersten Worte, die über seine Lippen kamen.
»Ja, Vater, dies ist Simon, der älteste, er hilft mir schon säen und führt die Pferde, wenn ich pflüge, und er liest auch schon die Thora und den Talmud.«
»Ihr habt Land gekauft? womit?« fragte der Rabbi.
»Aus dem Erlös unserer Arbeit«, erwiderte Simon, »wir haben gepflügt, gesäet, geerntet und gespart, und heute sind wir reiche Bauern.«