Jugenderinnerungen eines alten Mannes - Wilhelm von Kügelgen - E-Book

Jugenderinnerungen eines alten Mannes E-Book

Wilhelm von Kügelgen

0,0
1,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wilhelm von Kügelgens Buch "Erinnerungen eines alten Mannes" vermittelt ein interessantes und lesenswertes Sittengemälde des Zeitalters der Frühromantik. Der Maler und Schriftsteller war auch Kammerherr am Hof des Fürstentums von Anhalt-Bernburg. Kügelgen war mit bekannten Persönlichkeiten der damaligen Kunstszene wie Caspar David Friedrich, Johan Christian Clausen Dahl, Carl Gottlieb Peschel befreundet. Kügelgen musste auch schwere Schicksalsschläge erleben, wie den Mord an seinem Vater. Interessant zu lesen sind auch die "Lebenserinnerungen eines deutschen Malers" von Ludwig Richter, in denen der Maler und Zeichner Richter seine Begegnungen mit Wilhelm von Kügelgen beschreibt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 687

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Jugenderinnerungen eines alten Mannes

Jugenderinnerungen eines alten MannesErster TeilZweiter TeilDritter TeilVierter TeilFünfter TeilSechster TeilSiebenter TeilSchlußImpressum

Jugenderinnerungen eines alten Mannes

Wilhelm von Kügelgen

Wilhelm von Kügelgen

geboren am 20. November 1802 zu St. Petersburggestorben am 25. Mai 1867 zu Ballenstedt am Harz

Erster Teil

Wilhelm von Kügelgen mit seinen Basen Auguste und Sophie Stackelberg(Handzeichnung von Wilhelm von Kügelgen)

1. Der Anfang

Die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren für das Rheinland verhängnisvoll geworden. Unter den Hammerschlägen der Französischen Revolution begannen die Stützen des alten Staatenbaues zu sinken. Unordnung und wüster Streit erfüllten das schöne Land, und mancher Mann, der dort zu Hause war, entfremdete seiner Heimat.

So auch mein Vater. Von Rom, wo er als Maler seine Studien beendet hatte, zog es ihn nicht zurück nach seinem Vaterlande, vielmehr wandte er sich infolge der Einladung eines Freundes dem Norden zu. Da lernte er in Reval meine Mutter kennen, gewann ihre Hand und zog mit ihr nach Petersburg, wo er viel Arbeit fand.

Aus dieser Ehe bin ich das zweite Kind, da meine Eltern kurz vor meiner Geburt ein älteres Töchterchen verloren hatten. Nach den Erzählungen der Mutter und noch vorhandenen Bildern glich die verstorbene Schwester einem überirdischen kleinen Wesen, wie man das wohl bei Kindern findet, denen ein kurzes Lebensziel gesteckt ist. Sie ist auf dem ländlichen Gottesacker bei Pawlosky begraben, und auf den kleinen Hügel setzten die Eltern ein Kreuz mit dem Namen «Maria».

Doch war ihr Gedächtnis nicht mitbegraben und lebte namentlich in der Erinnerung der Mutter so lebhaft fort, als sei sie nie gestorben. Ja, mehr als ihr Gedächtnis: die selige Schwester selbst soll ab und zu noch segnend in den Kreis der Familie eingetreten sein. Wenigstens erzählte meine Mutter des öftern, wie bald nach der Geburt ihrer jüngeren Kinder eine Lichtgestalt erschienen sei und die neuen Ankömmlinge umleuchtet und begrüßt habe. Diese Erscheinung hatte in der sichtbaren Welt nichts Analoges; dennoch erkannte die Mutter ihr heimgegangenes Kind. Sie hatte sich ja die Selige als Schutzengel erbeten für die Kinder, die durch Gottes Gnade etwa folgen sollten, und zweifelte an der Erhörung ihrer Bitte nicht.

Dem sei nun wie ihm wolle, die Mutter hatte nach der Geburt meiner jüngeren Schwester sogar noch eine Zeugin für dieses liebliche Erlebnis, indem die Wärterin, die allein mit ihr im Zimmer war, dasselbe sah. So war denn oft die Rede von der Dahingeschiedenen, und wohl erinnere ich mich, daß ich als kleiner Junge manche Übertretungen mied, um den Engel nicht zu betrüben, der mir beigegeben war.

Als ein sehr unzulänglicher Ersatz für dieses Himmelskind ward ich am 20. November des Jahres 1802 in Petersburg geboren, und zwar zur Unzeit, indem ich dem Programme meiner Mutter um zwei Monate zuvorkam: ein Umstand, der auf meine spätere Entwicklung nur nachteilig influieren konnte.

Getauft ward ich am 9. Dezember desselben Jahres durch den Dr. Hammelmann, Pastor an der lutherischen St. Petrigemeinde. Zwar war mein Vater Katholik; aber vollständig gleichgültig gegen alle Unterscheidungen in Gebrauch und Lehre der christlichen Welt, hatte er bei seiner Verheiratung keinen Anstand gefunden, zu versprechen, sämtliche Kinder dem Bekenntnisse der Mutter folgen zu lassen. Als nun das geweihte Wasser meinen kleinen Kahlkopf überströmte, faltete ich die Hände wie ein alter Christ, zur Erbauung meiner guten Mutter, die hierin ein Amen für die Bitten sah, welche sie für mich zum Himmel sandte. Ich empfing die Namen Wilhelm Georg Alexander, letzteren zum Gedächtnis jenes jugendlich liebenswürdigen Kaisers, welcher kaum ein Jahr vor meiner Geburt den russischen Thron bestiegen und die Hoffnung aller dortigen Menschenfreunde belebt hatte.

Mein Vater hatte unterdessen, den Aufenthalt in der reichen Stadt sowie die Gunst damaliger Verhältnisse gewissenhaft benutzend, in wenig Jahren ein Vermögen erworben, das ihn zum selbständigen Manne machte. Nun aber auch des Treibens müde und der lästigsten Art künstlerischer Tätigkeit, des Porträtierens, herzlich satt, gedachte er der Früchte seines Fleißes froh zu werden und fürs erste mit den Seinigen an den Rhein zu gehen, um seine Mutter zu besuchen, die dort noch lebte. Wo man sich endlich bleibend niederlassen würde, stand in den Sternen: die Umstände sollten es entscheiden.

Das war ein guter Plan, nicht zu weit und nicht zu enge; doch hatte die Trennung von Petersburg auch ihren Stachel. Mein Vater lebte dort in einem Kreise der vorzüglichsten Menschen, unter denen er nicht wenig wahre Freunde zählte; vor allem aber lag sein Zwillingsbruder ihm am Herzen, der ihm aus brüderlicher Liebe nachgezogen war und jetzt allein zurückbleiben mußte, weil er mittlerweile als Kaiserlicher Kabinettsmaler angestellt und für den Hof beschäftigt war. Man hoffte indessen, wenn erst jener gute Plan zur Reife gekommen, sich auf eine oder die andere Weise wieder zu vereinen, und meine Eltern traten ihre Reise an.

So kam es, daß ich meinen Geburtsort schon nach einigen Monaten wieder verlassen mußte und in einem Alter auf Reisen ging, da andere Kinder etwa erst geboren werden.

Das Harmsche Haus

Zu Schlitten kamen wir nach Estland und langten wohlbehalten in Alt-Harm, einem väterlichen Gute meiner Mutter, an. Hier sollte gerastet werden, um bessere Jahreszeit abzuwarten und meiner angegriffenen Mutter, wie auch mir, der ich ein schwächliches Kind war, Zeit zu geben, für die weitere Reise zu erstarken. Dazu war Harm der Ort. Meine Eltern verweilten hier im Kreise zahlreicher und liebenswürdiger Verwandten weit länger, als sie anfangs wollten; ja, mein Vater fühlte sich durch die Eigentümlichkeit des dortigen Landlebens so mächtig angezogen, daß er zur großen Freude meiner Mutter und ihrer ganzen Familie den Entschluß faßte, sich nach seiner Rückkehr von Deutschland in Estland anzukaufen, um hier zu leben und zu sterben.

So schien der Lebensplan nun fertig, und da noch obendrein der Zwillingsbruder meldete, er werde auch bald bei Vermögen sein und sich am Gutskaufe beteiligen, blickte man befriedigt in die Zukunft, den Segen dessen erwartend, der aller Menschen Schicksal leitet.

Im Harmschen Hause sah es übrigens recht einfach aus. Man hatte weiße Kalkwände, grüne Türen, Strohstühle, und von Gardinen wußte man im ganzen Lande nichts. Dafür aber war das Haus geräumig und bot der zahlreichen Familie und Hausgenossenschaft nicht nur jede erwünschte Bequemlichkeit, sondern in seinen Sammlungen und Werkstätten auch die mannigfaltigste Gelegenheit für Beschäftigung und Unterhaltung.

Mein Großvater hatte nämlich, behufs der Ausbildung seiner Kinder, Lehrer der verschiedensten Art an sich gezogen, Handwerker, Künstler und Gelehrte, die alle unter seinem Dache wohnten und dem Hause das Ansehen einer kleinen Akademie gaben. Neben wissenschaftlichen Disziplinen wurden neuere Sprachen getrieben, man malte, modellierte, kupferstecherte, drechselte, tischlerte, klempnerte und machte ganz vortreffliche Musik. Die schönen Quartette, an Winterabenden von der Familie ausgeführt, haben im Andenken der Nachbarschaft noch lange fortgelebt.

Um endlich der kümmerlichen Natur, wenigstens in nächster Nähe, mehr Reize abzunötigen, hatte der Hausherr sein einsames Gehöft mit einem weiten Park umschlossen, in dem man Gärtnerei trieb oder sich mit Wasserfahrten und auf alle Weise zu belustigen pflegte.

Dort hatte er – meine Mutter zu überraschen – auf künstlichem Hügel eine steinerne Urne errichtet, mit der Inschrift «Maria». Junge Tannen standen darum herum. Da saß die Mutter oft mit mir in schöner Jahreszeit, sich der Aussicht auf weite Wiesen und fernen Wald erfreuend. Von diesen Stunden hat sie mir oft erzählt, wie sie sich nach langem Aufenthalte in der Stadt der wiederkehrenden Sonne, der erwachenden Natur und meiner Entwicklung gefreut habe, während ich zu ihren Füßen im trockenen Sande wühlte. Vielleicht daß diese ersten unbewußten Eindrücke Grund zu einer fast idiosynkratischen Vorliebe geworden sind, die mir für Tannen, für Sand und für die einfachste Natur geblieben sind.

Ich war indessen in der besten Pflege, obschon sehr langsam, zu einem leidlich gesunden Jungen erstarkt, als meine Eltern sich nach fünfvierteljährigem Aufenthalte endlich zur Weiterreise anschickten. Man schied mit dem Versprechen baldiger Wiederkehr; zwei Jahre längstens, so war's beschlossen, und ich saß bereits im Reisewagen auf dem Schoße der weinenden Mutter, als mein Großvater noch einmal an den Schlag trat und mir eine kleine Tabakspfeife von Bernstein, die er selbst für mich gearbeitet, in die Hand steckte. «Faß zu, Junge!» – sagte er – «und daß du mir brav rauchen lernst!»

Ich faßte damals krampfhaft zu und hielt die Pfeife fest auf der ganzen weiten Reise; ich biß mir die Zähne daran durch und habe sie auch festgehalten mein lebelang.

Meine Mutter behauptete später, der Großvater habe es mir angetan mit Rauchen; und in der Tat war er ein Mann, der einem wohl was hätte antun können. Nicht daß er das gewesen wäre, was man gewöhnlich liebenswürdig nennt; vielmehr war er schroff und kantig, aber desto siegreicher und bezaubernder, wenn sein gutes Herz einmal hindurchbrach. Gewissermaßen glich er einem Schaltier, das die Knochen auswendig hat, und man mußte ihn genauer kennen, um durch die Herbigkeit und Kälte, womit er sich umgab, nicht verletzt zu werden. Selbst die Liebe zu seinen Kindern war die letzte Eigenschaft, die diese an ihrem Vater zu entdecken pflegten.

Dennoch schien ihm alles zu fehlen, wenn jemand von den Seinigen abwesend war, bis er ihn wieder zurückerwarten konnte. Dann trieb die freudigste Erwartung ihn im Hause um, und er konnte, wenn er nicht bemerkt zu sein glaubte, stundenlang mit dem Fernrohre dem Kommenden entgegensehen; hatte er diesen aber glücklich erspäht, so legte sich die Spannung, die harte Schale klappte wieder zu, und man sah ihn irgend etwas beginnen, das keine Unterbrechung litt. Er goß dann etwa Bleikugeln, nahm irgendeine Kleberei vor oder dergleichen und hatte keine Hand frei, sie dem Eintretenden zu reichen, ja kaum einen Blick für ihn.

Ihn selbst dagegen nach längerer Abwesenheit zurückzuerwarten, hatte die Familie selten das Glück, weil er fast nie verreiste. Er ließ die Leute lieber zu sich kommen und verkehrte im allgemeinen so einsiedlerisch nur mit nächsten Nachbarn und Verwandten, daß, als es ihm einmal einfiel, seinen Sitz im Ritterhause zu Reval einzunehmen, niemand ihn kannte und man sich fragte, wer dieser Italiener sei; denn wider die Art seiner hochblonden Landsleute war er kohlschwarz von Aug' und Haaren mit gelblicher Gesichtsfarbe, und zwar klein von Person, aber doch ein «Teufelskerl», wie er selbst von sich bekannte.

Schon in der Wiege hatte er eine Weihe eigener Art empfangen. Die Kaiserin Elisabeth bereiste nämlich damals ihre Ostseeländer und übernachtete unter anderem auch in Waiküll, dem Gute, da seine Eltern lebten. Da fand die hohe Frau denn solches Wohlgefallen an dem kleinen runden Teufelskerl, daß sie ihn hoch in die Luft hob und ihm einen herzhaften Kuß auf sein derbes Hinterteil versetzte, eine Auszeichnung, auf die er stolz war und deren sich sonst wahrscheinlich niemand im ganzen russischen Reiche rühmen durfte.

Damit ließ es die Kaiserin übrigens nicht bewenden, sondern steckte dem beneidenswerten Säugling außerdem noch ein Patent als Gardefähnrich in die Windeln, so daß er mit achtzehn Jahren gleich als Kapitän bei seinem Regimente eintreten konnte. Er verließ indes den Dienst bald wieder, um die Familiengüter anzutreten, die ihm durch den Tod seines Vaters zugefallen waren. Nun heiratete er meine Großmutter, eine schöne, weiche, kindlich fromme Frau, wirtschaftete mit Einsicht und nahm sich besonders tätig seiner Bauern an. Er besuchte sie fleißig, übersah ihre Wirtschaft und griff ihnen mit Rat und Tat, ja, wo es dienlich schien, nach Peter des Großen glorreichem Vorgang, sogar mit höchsteigenhändiger Handhabung des Stockes unter die Arme, und die Erfolge waren glänzend. Das Harmsche Gebiet zeichnete sich bald vor anderen durch Zucht und Wohlstand aus, und der Gutsherr erfreute sich nicht nur des unbedingten Zutrauens seiner eigenen Leute, sondern stand auch weit und breit bei Edelleuten und Bauern in hoher Achtung. Davon gab der folgende Vorfall Zeugnis:

Zu Anfang der neunziger Jahre waren, aus mir unbekannter Veranlassung, die Bauern in mehreren Kirchspielen aufgestanden, hatten sich zusammengerottet und bereits einige Edelhöfe in Asche gelegt. Da füllte sich das Harmsche Haus mit flüchtigen Nachbarn, die bei dem Ansehen des Gutsherrn Schutz zu finden hofften. Als aber die mordbrennerischen Haufen nun dennoch auch gegen Harm heranzogen, die Auslieferung der Flüchtlinge fordernd, und guter Rat teuer war, warf sich mein Großvater aufs Pferd, ritt allein und unbewaffnet der aufständischen Rotte entgegen, und auf sein Wort – er mußte es ihnen angetan haben – zerstreuten sich die Bauern nach ihren heimischen Dörfern. Das Kosakenregiment, welches nächster Tage eintraf, fand nichts zu tun, als ein paar Rädelsführer einzufangen und auszuklopfen.

Der Schreihals

Die große deutsche Reise ging denn also vor sich, und zwar in einem zweisitzigen, strohgelben Scheibenwagen, den mein Vater aus den Effekten eines abgehenden englischen Gesandten in Petersburg erstanden hatte. Das Reisepersonal bestand aus meinen Eltern, aus mir und meiner Wärterin, einem Harmschen Mädchen, das Leno hieß und auf dem Bock placiert war. Von dieser Reise habe ich natürlich keine Erinnerung mehr, doch mochte sie, wenigstens bis Berlin hin, nicht sehr angenehm gewesen sein, da Gasthäuser und Wege schlecht waren und die Gegend so reizlos, daß meine Mutter nicht begreifen konnte, warum die russischen Verbrecher nach Sibirien geschickt würden und nicht lieber hierher, da Preußen doch so nahe sei. Endlich mochte auch meine jugendliche Wenigkeit nicht allzuviel zu den Agrements der Reise beitragen, da ich viel schrie und weinte und die stete Aufmerksamkeit, die man mir schenken mußte, aller Unbequemlichkeit die Krone aufsetzte.

Wenn ich nicht irre, war's in Landsberg an der Warthe, wo wir eines Abends in ziemlich desolater Verfassung anlangten. Ein böses Wetter tobte auf den öden Fluren, mein Vater war des Fahrens satt, die zarte Mutter sehr erschöpft, Leno in Gefahr, vor Schläfrigkeit vom Bock zu fallen, und ich mußte, trotz meiner Bernsteinpfeife, wohl Zahnweh haben, denn ich heulte wie ein Schakal und wollte mich nicht trösten lassen.

Es schien daher sehr wünschenswert, die Nacht über hier zu rasten, und der Postmeister ward um ein ruhiges Zimmer angegangen. Der aber erklärte bedauernd, daß die einzigen disponiblen Piecen soeben von einem fremden Herrn bezogen seien, sich auch im Orte kein Gasthaus fände, was den bescheidensten Wünschen Genüge leisten könne.

Darüber ward nun hin und her geredet, und meine Mutter war schon halb entschlossen, sich notdürftig im Passagierzimmer einzurichten, als jener Reisende, zufällig unterrichtet, sich persönlich einfand, um auf die zuvorkommendste Weise seine Zimmer anzubieten. Er habe durchaus keine Bedürfnisse, versicherte er, und sei mit jedem Stuhl zufrieden.

Während solcher Rede war meine Mutter aufmerksam geworden, und noch hatte der Fremde nicht geendet, als sie ihm, zum Schrecken meines Vaters, mit dem Ausruf: «Heinrich!» um den Hals flog. Hatte sie doch plötzlich ihren zärtlich geliebten jüngeren Bruder erkannt, der im Auslande seine Studien absolviert hatte, dann längere Zeit gereist war und nun nach langjähriger Abwesenheit ins Vaterland zurückging.

An Schlaf und Ruhe war nun nicht zu denken; aber man bedurfte ihrer auch nicht mehr, da die Freude des Wiedersehens ausreichende Erquickung gab. Man blieb die ganze Nacht im lebhaften Gespräch beisammen, währenddessen mein Vater ein ähnliches, noch in meinem Besitz befindliches Porträt von jenem liebenswürdigen Schwager zustande brachte, den er hier zum ersten und zum letzten Male in seinem Leben sah.

«Wäre Heinrich weniger ritterlich gewesen», schrieb meine Mutter nach Hause, «so wären wir uns vorbeigereist, obgleich wir unter einem und demselben Dache waren.»

Mir freilich wäre das damals gleich gewesen und Leno vielleicht auch, denn wir beide hatten nichts von dieser Begegnung. Ich war unter dem Gesange des treuen Mädchens bald entschlummert, und da die sehr Ermüdete der Natur nun gleichfalls ihren Zoll entrichtete, konnte es geschehen, daß ich gegen Morgen mit schrecklichem Gepolter aus dem Bette fiel. Da war der Teufel wieder los. Ich schrie wie am Spieße, ward auch schreiend in den Wagen getragen und schrie den ganzen folgenden Tag bis nach Berlin, wo uns der später als politischer Schriftsteller so bekannt gewordene und meinem Vater sehr befreundete Friedrich Gentz in seinem Hause gastlich aufnahm. Daß ich ihm ein sehr erwünschter Zuwachs seiner häuslichen Freuden gewesen, muß ich bezweifeln, denn trotz der Ruhe und sorgsamsten Pflege, die man mir angedeihen ließ, schrie ich doch ohne Unterbrechung, daß die Fenster klirrten. Die sehr besorgten Eltern konnten kaum anders denken, als daß ich mir ein Glied zerbrochen hätte, aber der herbeigerufene Hufeland erklärte tröstend, daß dies Schreien nicht vom Fall herrühre, sondern nur vom Zahnen: ein Ausspruch, der sich bald bewahrheitete, da schon andern Tags drei Zähne dicht hintereinander hervorbrachen. Damit hatte denn der Greuel ein Ende, und die Reise konnte fortgesetzt werden.

Oben: Clara Volkmann, geb. 1809 zu Leipzig, gest. daselbst 1900 als Witwe des Universitätsprofessors Gustav Fechner / In der Mitte : Gerhard von Kügelgen undseine Frau Helene Marie, die Eltern des Verfassers / Unten: Adelheid von Kügelgen, die Schwester desVerfassers, gest. 1874 als Gattin des Pfarrers Julius Krummacher

Die Königspfalz

Wir langten endlich alle wohlbehalten zu Rhense am Rhein bei der Mutter meines Vaters, in der alten Wackelburg an. So nannte man im Volke mein großelterliches Haus, in dessen Mauern vorzeiten deutsche Könige residiert haben sollen und auf dessen Territorium auch noch heute der bekannte Königsstuhl steht. Als ich den Rhein sah, entzückte mich der große Strom dermaßen, daß ich, während die andern sich umarmten, mit ausgebreiteten Armen geradeswegs hineinlief. Die gute Leno aber sprang mir nach bis an den Gürtel und rettete mich mit eigener Gefahr.

Sonst weiß ich herzlich wenig von jener Zeit. Die Großmutter besaß Weinberge, Gärten, Feld und Wald. Da ward herumgezogen mit Geschwistern und Verwandten meines Vaters, gegessen und getrunken, gesungen und geklungen. Man machte Rheinpartien und dehnte solche Exkursionen, um alte Freunde zu besuchen, bis Mainz und Köln aus. Außerdem kopierte mein Vater für sich eine Sammlung von etwa zwanzig alten Familienbildern, die sich im Saal der Wackelburg noch fanden, und meine Mutter widmete sich mit demütig kindlicher Unterordnung der Unterhaltung und Pflege ihrer geliebten alten Schwiegermutter.

Tante Curtans StübchenNach einem Aquarell des Verfassers

Etwa dreiviertel Jahre mochte man auf diese Weise in Rhense verlebt haben, als meine Großmutter auf den Tod erkrankte. Sie war bis dahin immer kerngesund gewesen, und meine Mutter bewunderte die Stille und Ergebung, mit denen sie jetzt dem Tode ins Auge sah. Da sie so schwach und sterbend war, brachte ich ihr Schneeglöcklein auf ihr Bett. Sie reichte mir die Hand und sagte: «Gelt, Wilhelm, im Himmel sehen wir uns wieder?» Da schlug ich unbedenklich ein und sagte: «Ja, Großmama!» Ich hoffe auch, daß mein Erlöser sein Fiat unter diesen Kontrakt gesetzt habe.

Nachdem die Lebenskraft der Sterbenden erloschen, schien sie sanft einschlafen zu wollen. Da schrie der Priester, der nach katholischem Ritus die Sterbegebete verrichtete, ihr zu wiederholten Malen und mit gellender Stimme in die Ohren: «Verstehen Sie mich auch noch, Frau Kammerrätin?» wodurch sie wieder aufgeschreckt und, unfähig zu leben und zu sterben, in so peinliche Unruhe geriet, daß ihr Todeskampf um ganze vierundzwanzig Stunden verlängert schien. An dem Eindrucke dieser bornierten Barbarei hatte meine Mutter ihr lebelang zu tragen, und oft pflegte sie zu sagen, wie man bei Sterbenden sich jedes Geräusches, selbst des lauten Weinens, zu enthalten habe, und wie grausam es sei, den Tod zu stören.

Mein Vater war damals nicht gegenwärtig. Er hatte einen Abstecher nach Paris gemacht, um die von Napoleon zusammengeraubten Kunstschätze in Augenschein zu nehmen, als die Nachricht von dem bedenklichen Erkranken seiner Mutter ihn zurückrief. Bei seiner Ankunft fand er sie tot, und da ihm ohnedies sein Vaterland durch die Franzosenwirtschaft und mehr noch durch die französischen Sympathien seiner Landsleute verleidet war, entschloß er sich, für die noch übrige Zeit seines deutschen Aufenthaltes nach Dresden zu gehen, dessen Kunstschätze ihn anzogen.

Er ordnete noch mit den Geschwistern den Nachlaß der Mutter und machte sich dann mit den Seinigen davon. Man weilte längere Zeit in Schlangenbad, das meiner Mutter gut tat, und auch in Weimar, wo interessante Bekanntschaften angeknüpft wurden. Von alledem weiß ich nichts mehr, erinnere mich aber einer Zeit, da ich von dem Totaleindrucke, den jene Reise auf mich machte, namentlich von dem dumpfen Dröhnen des verschlossenen Wagens, noch Bewußtsein hatte, sowie mir auch ein schwaches, aber sehr liebliches Bild von der seligen Großmutter geblieben war, das sich später verwischt hat.

2. Vor dem Seetore

In Dresden mieteten meine Eltern die erste Etage des Döpmannschen Hauses, das vor dem Seetore in der «halben Gasse» gelegen war. Diese halbe Gasse führt den Namen mit der Tat, denn sie erfreute sich nureinerReihe Häuser, die eben deswegen freie Aussicht auf die gegenüberliegenden Gärten gewährten, und meine Mutter, die, auf dem Lande aufgewachsen, städtischem Lärm abhold war, fühlte sich wohl in dieser blühenden Umgebung. Die Besitzerin des Hauses, eine Witwe Döpmann, trieb Landwirtschaft, hielt Pferde, Kühe, Schweine und Geflügel, wodurch der Aufenthalt im Hofe für mich genußreich wurde. Aus dem Hofe trat man in den Garten, der von der Katzbach, einem schmalen, aber tiefen Wasser durchschnitten war. Diesseits des Wassers war ein ausgedehntes Gemüsewesen, jenseits Wiesen, Obstbäume und Gebüsch. Über die alte Gartenmauer erhob sich aus Holundersträuchern ein Lusthaus, und daneben führte ein Pförtchen aufs Feld hinaus und weiter nach den Höhen von Recknitz und Plauen.

Noch steht mir das alles in so zauberischem Lichte vor der Seele, als wäre es ein rechtes Paradies gewesen, und das war es auch. Es war der schöne Garten Eden, in welchem ich den Morgentraum der ersten Kindheit träumte.

Meine erste, einigermaßen deutliche Erinnerung beginnt mit dem 20. November 1805, an welchem Tage ich drei Jahre alt wurde. Als ich am Morgen die Augen aufschlug, strahlten mich drei kleine Wachskerzen an, die auf weißgedecktem, mit Immergrün garniertem Tische um einen prachtvollen Kuchen standen. Daneben lagen bunte Sachen, unter denen mir eine Arche Noah und besonders ein Bilderbuch erinnerlich ist, dessen Hauptstück den Onkel Nachtwächter mit Spieß und Laterne zeigte. Das Entzücken, das ich empfand, mag Ursache der Unvergeßlichkeit jenes großen Augenblicks gewesen sein. Meine Mutter gab mir die Hand und sagte, daß mein Geburtstag sei. Dann wusch sie mich, scheitelte mir das Haar mit Sorgfalt und kleidete mich an. Der offenen Weste wurde ein Paar weite Hosen angenestelt, die hinten offen und mit Schleifen versehen waren; darüber kam ein türkischer Spenzer mit kurzen Ärmeln und an die Füße ein Paar Schnallenschuhe. So war der Anzug vollendet, der übrigens im Sommer wie im Winter Hals, Brust und Arme bloß ließ.

Nichts in der Welt ist Kindern schmeichelhafter, als sich bei allem, was Pflege heißt, in der Hand der Mutter zu wissen; mir wenigstens war es ein Hochgenuß, wenn meine Mutter mich selbst anzog oder mich zu Bette brachte, was sie auch in der Regel tat, wenigstens solange ich noch das einzige Kind blieb. Später freilich mußte ich es mir gefallen lassen, daß mir dergleichen Dienste von einer Kinderfrau geleistet wurden, welche Frau Venus hieß. Diesen hochberühmten Namen führte sie übrigens keineswegs wegen irgendeiner Ähnlichkeit mit jener Göttin, sondern bloß deshalb, weil ihr seliger Eheherr «Herr Venus» geheißen hatte.

Frau Venus war eine ehrsame Witwe und wurde bisweilen von ihren beiden Söhnen besucht, welche, obgleich bedeutend älter als ich, doch ganz willig mit mir spielten. «Die anderen Jungens», wie ich sie im Gegensatze zu mir selber nannte, waren meine ersten Freunde. Ich bewunderte ihre Kraft und Unerschrockenheit, und ich liebte es, mich in ihrer Gesellschaft auf der Straße zu zeigen; doch entwuchsen sie mir schnell, und ich verlor sie wieder aus den Augen.

Näher stand mir bald ein anderer Knabe von meinem Alter, mit dem ich fortan täglich spielte. Seine Mutter, die Witwe eines Predigers aus dem Erzgebirge, namens Engelhard, welcher auf einer winterlichen Berufswanderung seinen Tod im Schnee gefunden hatte, war ebenfalls ins Döpmannsche Haus gezogen, wo sie, wie eine rechte Witwe, still und eingezogen lebte und sich und ihren Sohn mit Strohhutflechten ernährte.

Mein Freund Ludwig Engelhard erschien mir in jeder Hinsicht vorzüglicher als ich und als die anderen Jungens, denn meine Mutter stellte mir ihn stets als Beispiel vor. Ich schloß mich ihm daher sehr herzlich an, und wir verkehrten miteinander aufs verträglichste. Nur eines einzigen Streites entsinne ich mich, der auch sogleich in Prügelei ausartete; und allerdings war es empörend, wenn Ludwig behaupten wollte, daß sein Vater den meinigen wie nichts bezwungen haben würde, wenn er noch lebte – meinen Vater! mein Ideal von Kraft und Würde! Frau Venus riß uns auseinander, und Ludwig ging zerzaust zu seiner Mutter. Die meinige aber stellte mir das begangene Unrecht so beweglich vor und wußte mich dermaßen zu erweichen – zumal sie mir zu bedenken gab, wie so gar elendiglich der Vater des armen Jungen im Schnee erstickt sei –, daß ich, von Leno geleitet, reumütig zu Engelhards hinausging und wegen meiner Heftigkeit Abbitte tat. Seit der Zeit waren wir erst rechte Freunde, und überhaupt gibt's keine wahre Freundschaft, die sich nicht erst wund gerissen und wieder ausgeheilt hätte an dem Bewußtsein gesühnter Schuld.

Zur Sommerzeit spielten wir, von Leno und, seit diese in die Küche avanciert war, von Frau Venus beaufsichtigt, in Hof und Garten; im Winter war das Zimmer meiner Mutter oder die angrenzende Kinderstube unser Tummelplatz. Hier stellten wir unsere Tiere auf, kutschten, balgten und, was uns ganz besonders Vergnügen machte, hier «schinderten» wir auch. Dies «Schindern» ist ein Dresdner Ausdruck, den mich, sowie die ganze Sache, Ludwig lehrte, und bedeutet soviel als auf dem Eise hingleiten. Nun war im Kinderzimmer zwar kein Eis; wir hatten aber zum Verdruß der Kinderfrau eine Planke der Diele durch fleißiges Glitschen so abgeglättet und poliert, daß sie von Erwachsenen nur mit Vorsicht betreten werden konnte. Diese Planke nannten wir «die Schinder», und noch sehe ich meinen Freund Ludwig, wie er mit hochgerötetem Gesicht und fliegenden Haaren als Meister darauf hinglitt. Auf diese Weise lernte ich frühzeitig, noch ehe ich aufs Eis kam, mich darauf behaben, ähnlich wie man in französischen Schwimmschulen ohne Wasser schwimmen lernt.

Paradiesespforten

Wenn wir im Garten spielten, schloß sich uns häufig als Dritter im Bunde noch ein kleiner Barfüßler von unserem Alter, der Sohn des Gärtners, an. Er hieß Fritz Pezold und gewann durch folgenden Vorfall für mich Bedeutung.

Eines schönen Morgens nämlich weiß ich nicht, wo Frau Venus hingekommen war, genug, sie ließ uns ohne Aufsicht; wir aber amüsierten uns mit einigen zugelaufenen Nachbarskindern, welkes Laub auszulesen und dieses über das Geländer der kleinen Brücke in die Katzbach zu werfen. Dann liefen wir einige dreißig Schritte abwärts, wo zum Behuf des Wasserschöpfens an tiefer Stelle ein schmales Brett über den Bach gelegt war, um, auf diesem kauernd, die kleinen goldenen Schiffchen wieder aufzufangen. Mit welchem Eifer wir dies trieben und wie wir dabei schrien und uns erhitzten, wird jeder ermessen können, der auch einmal ein kleiner Junge war. Ich war den anderen vorausgeeilt und hockte bereits jubelnd auf dem schwanken Stege, als dieser umschlug und ich kopfüber ins Wasser schoß. Die erschrockenen Freunde stoben auseinander, verschwanden durch Hecken und Zäune, wo sie hergekommen waren, und ich selbst gab mich sogleich verloren.

Nicht so Fritz Pezold. In dem Augenblicke, als ich versank, sprang er entschlossen auf den Steg, griff in die Tiefe, packte meine Haare und schrie, daß ihm die Lungen bersten wollten, nach seinem Vater. Zwar brachte er mich mit dem Kopfe übers Wasser, doch nicht weiter, und ich dachte jeden Augenblick samt meinem Freunde zu ertrinken, denn das kleine Brettchen schwankte hin und wieder wie eine Schaukel.

Dennoch erinnere ich mich sehr deutlich, daß ich keine Angst empfand, mich vielmehr freute, nun alsogleich in den Himmel einzugehen und mit meiner lieblichen Schwester Maria vereint zu werden. Fast glaube ich, daß ich bereits Wasser geschluckt hatte und halb tot war, denn ich verhielt mich völlig leidend und tat selbst nicht das geringste zu meiner Rettung. Aber das weiß ich, daß mir's zumute war wie Kindern, die am Weihnachtsabend in dunkler Kammer an der Türe drängen: gleich wird sie aufgehen und der Baum in seinem Glanze stehen.

Indessen sollten mir die Paradiesespforten noch verschlossen bleiben, und der Cherub, der den Eintritt wehrte, war Fritz Pezold. Sein Mark und Bein durchdringendes Zetergeschrei hatte endlich das Ohr des Vaters erreicht, der nun wie ein angeschossener Kater mit weiten Sätzen über seine Gemüsebeete herbeiflog und mich herauszog. Triefend und mit schwarzem Schlamm überzogen, hing ich wie ein erschlagener kleiner Maulwurf in seinen Händen, als er mich den Eltern brachte.

Ob diese Lebensrettung ein Glück für mich gewesen, muß ich dahingestellt sein lassen, da allerdings Fritz Pezold die Regel meiner Mutter gröblich übertreten hatte; denn nicht nur hatte er überlaut geschrien bei einem Sterbenden, sondern diesen sogar bei den Haaren gerauft. Die Mutter war freilich deshalb nichts weniger als ungehalten, beschenkte vielmehr den guten Jungen nach ihren Kräften, und unsere Kinderherzen blieben lange treu verbunden.

Halluzinationen

In reiferen Jahren sind Altersgenossen die genußreichsten Gefährten; in der Kindheit keineswegs; man gibt und nimmt zu wenig voneinander. Daher schließen sich Kinder auch am liebsten an Erwachsene an, wo sie bei diesen nur einige Neigung finden, sich mit ihnen zu bemengen. Solche Neigung aber zeigten mir zwei treffliche Mitbewohner unseres Hauses.

Es war ein großer Vorteil dieses Hauses, daß unsere besten Freunde gleich mit darin wohnten, und zwar nicht nur kleine Leute, wie Ludwig Engelhard und Fritz Pezold, sondern auch solche, an denen sogar die Eltern aufzusehen hatten. Ich nenne hier zuvörderst den nachmals durch seine Schriften sehr bekannt gewordenen Naturphilosophen Gotthilf Heinrich Schubert, welcher sich als junger Ehemann mit seiner Frau und seinem kleinen Töchterchen Selma damals vorübergehend in Dresden aufhielt. Schubert wohnte gerade über uns, und im täglichen Verkehr der Hausgenossen gestaltete sich eine Freundschaft, welche bis ans Grab gehalten hat und an welcher auch ich mein Teilchen fand. Wer jenen überaus liebenswürdigen Gelehrten, namentlich in jüngeren Jahren, gekannt hat, wird es begreifen, daß ein kleiner Junge mit schwärmerischer Neigung an ihm hängen konnte. Oft saß ich stundenlang mit Selma auf seinen Knien, den wundersamen Geschichten horchend, die er zum besten gab; dann wieder lehrte er mich Purzelbäume schießen, oder ich ritt auf seinen breiten Schultern und schrie Zeter, wenn er mit mir durch den Garten raste.

Ein zweiter, ebenfalls literarischer Hausgenosse, den meine Eltern schon von Petersburg her kannten, wo er sich früher als Erzieher aufgehalten, hieß Onkel Lais. Obgleich noch ein junger Mann, lebte Lais kränklichkeitshalber doch sehr zurückgezogen. In seinem Dachstübchen war er immer anzutreffen, studierend oder für Journale schreibend; in Mußestunden aber oder des Abends suchte er Aufheiterung in unserem Familienkreise und gab sich dann namentlich gern mit mir ab. Er machte Feuerwerk, Papierlaternen, Drachen, lehrte mich Kartenschlösser bauen, mit der Armbrust schießen und dergleichen Kurzweil mehr. Das Beste entstand jedoch an traulichen Winterabenden. Während meine Mutter vorlas und mein Vater kleine Götter- und Heroengestalten aus Wachs modellierte, pappte Lais für mich eine elegante Ritterrüstung, die er mit Silberpapier beklebte und welche sehr viel schöner ausfiel als alles, was man damals für Geld kaufen konnte. Dazu wurden Schwert und Lanze und ein ausgelassenes Steckenpferd gefertigt, das nur mit Mühe zu regieren war.

So ausgerüstet pflegte Onkel Lais den jungen Ritter des Abends durch dunkle Zimmer und Gänge nach den entferntesten Regionen der Wohnung auszusenden, um gewisse Ungeheuer, die sich dort aufhalten sollten, zu erlegen. Dann freute er sich an den lebendig dargestellten Erlebnissen des allezeit siegreich Zurückkehrenden und war unerschöpflich in neuen Aufträgen und Erfindungen.

Meine Mutter warnte des öfteren aus mehrfachem Grunde. Ihr waren die kolossalen Lügen, zu denen ich gewissermaßen genötigt wurde, sehr bedenklich; besonders aber fürchtete sie eine zu frühzeitige Überreizung der Phantasie, wie ihr denn überhaupt jede aufregende Unterhaltung für Kinder nachteilig zu sein schien. Lais bestritt ihre Gründe als Pädagog vom Fach. Er wollte ja nur Mut und Nerven stählen und behauptete, daß das Edelste im Menschen, der schaffende Geist, nicht frühzeitig genug und am besten spielend zu wecken sei. So nahmen denn jene abendlichen Unterhaltungen ihren Fortgang, und Lais teilte schließlich das Schicksal der meisten gelehrten Pädagogen seiner Zeit, indem er so ziemlich das Gegenteil von dem erreichte, was er wollte.

Ich ritt allabendlich meine dunklen Wege mit größter Zuversicht, weil ich sehr wohl wußte, daß alles doch nur Spiel war und die Feinde, die ich zu bestehen hatte, nicht existierten; doch wurde meine Phantasie in unnatürliche Spannung gesetzt, und es fehlte fortan nur ein Anstoß, sie vollends krank zu machen. Diesen herbeizuführen, stand auch Lais nicht lange an.

Als ich eines Abends, von meiner abenteuerlichen Fahrt zurückkehrend, ein dunkles Zimmer zu passieren hatte, barst plötzlich jener Mentor aus einem Verstecke vor, grunzend und auf allen vieren laufend wie ein wilder Eber. Er mochte erwartet haben, daß ich sogleich vom Leder ziehen und ihm zu Leibe gehen würde; statt dessen aber bestand ich die Probe schlecht und hatte fast den Tod vor Schreck. Von da an blieb ich lange Zeit ein Hase. Ich traute mich in kein dunkles Zimmer mehr und war unvermögend, des Abends einzuschlafen oder auch nur in meinem Bette auszudauern, wenn nicht jemand bei mir blieb. Ja mehr noch: das Edelste im Menschen, jener schaffende Geist, war wie mit einem Zauberschlage geweckt; die Bilder meiner Phantasie objektivierten sich, und häufig sah ich mich umgeben von Schreck- und Spukgestalten, die mir das lebhafteste Entsetzen einflößten.

Die erste Erscheinung dieser Art mochte ich von einem Spielzeug, einer unschuldigen kleinen Scheibe, entlehnt haben, nach der ich mit der Armbrust schoß. Traf ich ins Schwarze, so sprang, durch eine Feder aufgeschnellt, ein greulicher Rüpel hervor mit fletschenden Zähnen und blutroter Zunge. Diesen nun sah ich bald nach jener Schreckensstunde, als mich Frau Venus auszog, lebensgroß und mit drohender Gebärde hinter den Fensterscheiben des Schlafzimmers aufsteigen. Ich schrie auf und barg mein Gesicht in den Schoß der Wärterin, welche, ihrerseits nicht wissend, was mir fehlte, mich zur Mutter trug. Beide hatten genug zu tun, mich einigermaßen zu beruhigen. Von nun an fürchtete ich mich oft den ganzen Tag vor der Stunde des Zubettgehens, da entsetzliche Phantome mich selbst im Beisein anderer schreckten.

Ganz unvergeßlich in dieser Beziehung ist mir eine Nacht geblieben, deren Eindrücke und Gesichte mir noch heute nach 56 Jahren so lebendig vorschweben, wie wenn alles erst gestern vorgefallen wäre. Mitten in der Nacht erwachte ich und schlug die Augen auf. Das Nachtlicht war erloschen, doch konnte ich die Umrisse der Dinge deutlich sehen. Mir zunächst standen die Betten meiner Eltern, welche, von einem gemeinschaftlichen Vorhange umzogen, ein besonderes Sanktuarium im Schlafzimmer darstellten. Hinter der halb verschobenen Gardine unterschied ich noch die Züge des mir zunächst liegenden Vaters.

Bald aber unterschied ich auch noch etwas ganz anderes. Unter dem Bette der Eltern begann es sich zu regen und zu bewegen – und siehe da! – ein scheußliches Gesicht erschien: das eines Bären. Dann folgte eine ungeheure Tatze, und im Umsehen war die ganze Ungestalt des Raubtieres vorgekrochen. Ihm folgten andere Tiere, und es war unglaublich, was aus dem engen Raume unter den Betten alles vorquoll. Da waren Wölfe, Panther, Löwen, Vielfraße, Ameisenlöwen, Dachse, ja der ganze Inhalt meiner Arche Noä war zu natürlicher Größe angeschwollen.

Das größte Entsetzen flößte mir ein Kalb ein. Es nahte sich meinem Bett auf sehr bedenkliche Weise, und die Schandtat sah ihm aus den Augen. Ich wollte schreien; doch mußte ich fürchten, mich dieser Bestie nicht noch bemerklicher zu machen, und hielt ein Weilchen an mich. Bald aber steigerte sich die Angst dermaßen, daß ich, mit Hintansetzung aller klugen Rücksicht, dennoch laut und vernehmlich in die Lärmtrompete stieß.

Mein guter Vater hatte sich in der Regel während des Tages so weidlich abgearbeitet, daß er einer ungestörten Nachtruhe sehr bedürftig sein mochte; doch schalt er nicht, suchte mich vielmehr sehr freundlich zu beruhigen. Ich hätte geträumt, sagte er, und weiter wäre es nichts.

Das fatale Kalb aber strafte ihn Lügen: es drängte immer näher und glotzte mich jetzt mit mehr als Kalbsaugen an. Da schrie ich laut, und der Vater verließ das Bett, um Licht zu machen. Zu diesem Behufe mußte er aber, weil kein Feuerzeug vorhanden, ins Nebenzimmer gehen, und als ich nun die väterliche Gestalt im kurzen Hemdchen durch das Gedränge der Quadrupeden hinschreiten sah, vergaß ich über der seinigen die eigene Gefahr und bat ihn flehentlich, zurückzukommen.

Da! – hatte ich's der ruchlosen Bestie doch gleich angesehen: das Kalb sprang zu, und in dem Augenblicke, als der teure Vater die Klinke ergriff, um die Türe zu öffnen, schnappte es nach ihm und biß ihn mitten durch. Der ganze Oberkörper, samt Hemd und Nachtmütze, sank lautlos zur Erde nieder, die Beine aber entwischten mit besonderer Behendigkeit durch die sich rasch wieder schließende Türe.

Nun brach der gerechteste Schmerz bei mir erst recht aus, so daß die Mutter, welche mittlerweile ebenfalls aufgestanden war, mich tröstend in die Arme schloß. Aber was konnte das jetzt helfen? Da lag er ja, der unvergleichliche Vater, mitten durchgebissen drei Schritt vor uns am Boden, beschnopert von dem siegreichen Kalbe, das alle Neigung zeigte, ihn vollends zu verschlingen. Die Mutter zwar wollte es in Abrede stellen; aber gegen den Augenschein ist schlecht predigen. Wir stritten lebhaft, bis sich die Türe wieder auftat, und der ganze, vollständigst gegliederte Vater im blendendsten Lichtschein eintrat.

Freudigeres Entzücken erinnere ich mich später niemals wieder empfunden zu haben. Mit dem hellen Glanz des Lichtes war der ganze Spuk verschwunden: ich hatte meinen geliebten Vater wieder und entschlummerte süß an seiner Seite.

Gegen Gespensterglauben pflegen Gouvernanten einzuwenden, daß sinnliches Erkennen nur möglich sei von sinnlichen Objekten, und Geister demnach nicht wahrgenommen werden könnten. Hier aber war ein noch viel größeres Mirakel, da die Geister, die ich mit eigenen Augen zu sehen kriegte, gar nicht einmal existierten.

Welche Bewandtnis es übrigens in Wahrheit mit alledem haben mag, was wir als objektive, das heißt gegenständliche Welt betrachten, das ist noch gar nicht ausgemacht und wird es wahrscheinlich auch niemals werden. Die alte tiefsinnige Philosophie der Inder bezeichnet den gesamten Inbegriff der Äußerlichkeit oder Leiblichkeit mit dem Worte «Maya», welches nichts anderes heißt als Täuschung, und wenn alle Religionen, wie auch die meisten wissenschaftlichen Systeme der Neuzeit, darin übereinstimmen, daß die Welt aus nichts geschaffen sei, so wird das ungefähr dasselbe heißen und die Folgerung ganz richtig sein, daß aus nichts nichts wird, es sei denn etwa eine Maya. So läge denn der Unterschied zwischen dem Kalbe, das dort beim Fleischer aushängt, und jenem nächtlichen Gespenste, das mich erschreckte, wesentlich nur darin, daß ersteres aus einer allgemeinen, das andere nur aus einer speziellen, das heißt hier subjektiven Täuschung resultierte.

Doch dem sei, wie ihm wolle: immerhin mag angenommen werden, daß die schöpferische Tätigkeit des aus Gott emanierten Menschengeistes in Fällen wie der meinige ihre gesetzlichen Schranken momentan durchbrochen habe. Sie arbeitet dann gewissermaßen außerhalb der ihr angewiesenen Werkstatt, eine nichtige, nur von ihr selbst erkannte Welt erzeugend. Andauerndes Verharren in solcher Tätigkeit ist Wahnsinn.

Mich trug indes die Schonung meiner Eltern sanft über jene Klippen, und später bin ich von dergleichen schöpferischen Zufällen gänzlich frei geblieben.

3. Der Komet von 1806

Wenn ich nun im vorigen Kapitel meiner Altersgenossen und väterlichen Freunde gedacht habe, zu denen allen ich mit einiger Bewunderung aufschaute, so wird's nun Zeit, auch von einem jüngeren zu berichten, der seinerseits zu mir aufschaute; und nur deshalb habe ich bis dahin meinen lieben Bruder Gerhard ignoriert, weil ich mich seines Eintrittes in die Familie nicht entsinne. Er taucht vielmehr in meiner Erinnerung ganz ohne Anfang auf, war da, wie auch ich da war, und schien sich ganz von selbst zu verstehen wie ein kategorischer Imperativ.

Proportioniert wie Raffaelische Kindergestalten mit starken Gliedern und vollen roten Backen, war er etwa drittehalb Jahr jünger als ich, entwickelte sich aber bei weitem kräftiger und schneller. Als er zehn Monate alt war, entdeckte man zufällig, daß er laufen konnte, und zwar ohne alles vorhergegangene Studium. Ein Fremder, der ihn seiner Größe wegen für zweijährig hielt, setzte ihn, da er ihm auf dem Schoße beschwerlich ward, ohne weiteres auf die Füße, und die erschrockene Mutter, welche glaubte, daß er fallen würde, war nicht wenig erstaunt, den kleinen Stöpsel ganz selbständig fortpilgern zu sehen.

Die Geburt dieses Bruders war übrigens wie der Aufgang eines kriegbringenden Kometen gewesen. Im Mai des Jahres 1806 hatte er das Licht der Welt erblickt, und schon im Oktober desselben Jahres übten die kriegerischen Ereignisse der Zeit den ersten Stoß auf Dresden.

Es war ein schöner Herbsttag, als mein Vater nach seiner Windbüchse langte und mit mir in den Garten ging, um Sperlinge oder anderes vogelfreie Geflügel zu erlegen, was er des öftern tat. Er war ein großer Schütze, nicht weniger mit der Büchse als mit dem Pinsel, denn ob er gleich nur mit Kugeln schoß, fehlte er sein Vögelchen nur selten.

Heute aber wollte sich keines zeigen, daher beschlossen wurde, den Garten zu verlassen und aufs Feld zu gehen, wo man bisweilen Krähen antraf. Still und wild durchschlichen wir die kleine Pforte in der Mauer und spähten ringsumher. Krähen waren nicht da – aber etwas ganz anderes nahm die Aufmerksamkeit in Anspruch. Mein Vater horchte auf; dann streckte er sich nieder auf den Feldrain und schien, mit dem Ohr am Boden, diesem ein Geheimnis abzufragen. Ich machte natürlich alles nach und empfand mehr, als daß ich's hörte, ein Zittern des Bodens, ein seltsames dumpfes Dröhnen, das sich periodisch wiederholte.

«Das sind Kanonen», sagte der Vater, warf die Büchse auf den Rücken und ging mit mir zur Mutter.

Es war eine große, verhängnisvolle Schlacht, deren fernes Grollen wir vernommen hatten: die Schlacht von Jena. Bald kannte man das Resultat in Dresden, und der erschrockenen Bevölkerung ward Plünderung angesagt durch ein im Anmarsch begriffenes Korps von Bayern.

Da hielten meine Eltern sich in ihrer exponierten Wohnung nicht mehr sicher und beeilten sich, inmitten der Altstadt ein anderes Logis zu mieten, welches an der Kreuzkirche gelegen war. Ich war beim Vater, der im neuen Hause die von der Mutter fortwährend expedierten Sachen empfing und ordnete. Da man indessen bei dem allgemeinen Trubel wenig auf mich acht hatte, so konnte es geschehen, daß ich plötzlich fort war.

Mein Vater glaubte, ich sei nach Hause gelaufen, und als er mich dort nicht vorfand, beauftragte er die Packträger, mich zu suchen, durchrannte in seiner Besorgnis auch selbst die Stadt nach allen Richtungen. In der Tat mag seine Verlegenheit nicht ganz gering gewesen sein. Ich konnte Schaden nehmen, der Umzug geriet ins Stocken, und Hannibal stand vor den Toren. Wenn er daher gesonnen war, mich mit ein paar tüchtigen Ohrfeigen zu begrüßen, so war das wohl erklärlich. Als er mich aber endlich auf dem Neumarkt fand, und zwar laut singend und vor Entzücken über das Durcheinander von Vieh und Menschen in die Hände klatschend, fing er an zu lachen und hatte mir die Desertion verziehen.

Es war indes nichts weniger als ungünstig gewesen, daß unser Umzug sich durch diesen Zwischenfall verzögert hatte, da er überhaupt nun unnütz wurde. Der Kurfürst hatte sich mittlerweile beeilt, in Napoleons Bundesgenossenschaft einzutreten, und die erwartete bayerische Kavallerie zog friedlich ein.

Mir schenkte damals Onkel Lais eine als bayerischen Ulanen kostümierte Puppe, gar vollständig und schön mit der ganzen Armatur. Mein Vater aber erlaubte mir, diesen Balg zu töten als einen Franzosenfreund und lieh mir dazu seinen Stocksäbel, mit dem er auch zerhauen wurde. Unendlich viele Kleie strömte zu meiner Verwunderung aus den Wunden. Solche Begebenheit ist gefeiert worden auf einem lebensgroßen, mich und meinen unvordenklichen Bruder darstellenden Bilde, welches mein Vater in jener Zeit malte und ich noch besitze. Der Bruder ist sitzend auf einem Kissen abgebildet, ein ausgestopftes Lämmchen, das sein Entzücken war, an die Brust drückend. Ich dagegen stehe hinter ihm, entschlossen, den Bayern mit einem ungeheuren Säbel abzutun.

Dienstboten

Es schien, als ob mein guter Vater damals durch doppelt angestrengten Fleiß die Unruhe zu beschwichtigen gesucht hätte, die ihm das Schicksal seines deutschen Vaterlandes machte, denn fast gleichzeitig mit jenem Familienbilde führte er noch mehrere große akademische Stücke aus, deren allgemeine Anerkennung ihn in die erste Reihe der Künstler seiner Zeit stellte. Als Richtmaß und Regulatoren für seinen Geschmack benutzte er die ungewöhnlich reichen Dresdner Sammlungen, in denen er seine Augen häufig stärkte, und wo er Natur brauchte, bediente er sich eines schönen jungen Mannes von den Gardegrenadieren, den ich ebenfalls zu meinen nächsten Freunden zählte. Er hieß Talkenberg, und weil er sich gescheit und anhänglich zeigte, wurde er, soweit sein Dienst es gestattete, auch zu andern Dingen verwendet und gab den Aufwärter in unserem Hause ab.

Mir gefiel dieser Mars sehr wohl wegen seines freundlichen Gesichtes, seiner scharlachroten Uniform und blank geputzten Waffen, so daß ich mich stets freute, wenn ich ihm zum Behufe des Spazierengehens anvertraut ward. Er nahm mich dann gesellig bei der Hand und, neben ihm hertrabend wie eine Bachstelze neben einem Reiher, war ich stolz auf meinen herrlichen Begleiter, der mir lustige Geschichten erzählte, mich Steine werfen lehrte und Sperlinge mit Salz beschleichen. Weniger schmeichelhaft war seine Neigung, sich auf die Finger zu spucken und Katzenwäsche mit mir anzustellen, wenn er mich an Händen oder Gesicht beschmutzt sah. Da ich dies aber Leno klagte, in die er sehr verliebt war, nahm sie ihn dergestalt ins Gebet, daß er in sich schlug und fortan von solchem Laster abstand.

Bald nach dieser mir erwiesenen Wohltat schied das gute Mädchen für Niemalswiedersehen aus unserem Hause. Meine Mutter hatte sie einst von ihrem Vater als Leibeigene zum Geburtsgeschenk erhalten, sie sorgfältig für ihren Stand erzogen und sie immer als zur Familie gehörig betrachtet, wie denn überhaupt in angestammter Leibeigenschaft ein Band zu liegen scheint, das leiblicher Verwandtschaft ähnelt. Es ging ihr wohl bei uns, und gesetzt, dies wäre nicht der Fall gewesen, so war sie in Sachsen immer in der Lage, sich loszuketten, denn sie stand hier unter dem Schutz eines Gesetzes, das von Sklaverei nichts wußte. Auch fehlte es ihr keineswegs an Freunden, die jeden Augenblick geneigt waren, Gut und Blut mit ihr zu teilen, da nicht allein Talkenberg ihr den Hof machte (was wenig sagen wollte), sondern auch ein paar achtbare Handwerker, die für unser Haus arbeiteten, keinen Anstand nahmen, wiederholt um sie zu werben.

Wunderlicherweise aber schlug sie alles aus und hatte nur den einen und einzigsten Gedanken, nach Estland zurückzukehren, wo sie wieder Sklavin geworden wäre und nicht einmal mehr Angehörige hatte, denn sie war als elternlose Waise auf den Harmschen Hof gekommen. Leno war eben heimwehkrank geworden und drohte jener aller Vernunft spottenden Sehnsucht zu erliegen, die um so heftiger ist, je weniger Grund sie hat, indem sie vorzugsweise die Bewohner wilder und unfruchtbarer Gegenden anpackt. Nicht nur Schweizer, auch Finnen, Lappen, Kamtschadalen und Eskimos, das sind die Leute, die bei uns im Mittelpunkte der Zivilisation vor Heimweh sterben, während Deutsche in den rohsten Ländern prosperieren. So zeichnen sich auch die Esten durch eine krankhafte Abhängigkeit von den Einflüssen ihres abgelegenen Landes aus, das, etwa wie Dänemark für die Dänen, für sie die Welt ist oder das All und daher auch gar keinen Namen hat. Der Este nennt sein Land ganz einfach «Me», das heißt überhaupt Land, hier das Land der Länder, so wie die Bibel auch keinen anderen Namen hat als das Buch, weil sie das Buch der Bücher ist.

Nun war mein Vater zwar nur für kurze Zeit nach Deutschland gekommen, und obgleich sein Aufenthalt sich unerwartet verlängert hatte, war doch die Idee, demnächst zurückzukehren, nichts weniger als aufgegeben. Die Eltern lebten in Dresden gewissermaßen auf reisendem Fuße, und von der Rückreise war stets die Rede. Ja, mein Vater hatte sogar schon seinen strohgelben Wagen durch den auf der Seegasse wohnenden – als Astronom wie als Wagenbauer gleichberühmten – Sattlermeister Eule vergrößern und in eine viersitzige Karosse umwandeln lassen, um für die anwachsende Familie Raum zu schaffen. Da nötigte ihn der Krieg in Preußen, die projektierte Reise wieder aufs Ungewisse hinauszuschieben.

Leno, mit dem Bohrwurm ihres Heimwehs am Herzen, hatte eben wie wir anderen den neuen, jetzt dotterfarbigen Wagen in Augenschein genommen und geprüft. Sie hatte sich auf den Bock geschwungen und mit dem ganzen Gesicht geleuchtet, als blicke sie schon ins Land der Länder. Aber als meine Mutter ihr nun ankündigen mußte, daß so bald nichts aus der Reise werden könne, war sie in ihrem Gemüt und Wesen wie zerbrochen und machte ernstlich Sorge. Der armen Mutter selbst mochte es kaum weniger schmerzlich sein, ihren liebsten Wünschen zu entsagen; aber sie schickte sich in die Notwendigkeit und fand für ihre Leno einen Ausweg.

Meine Eltern verkehrten damals häufig mit einer livländischen Familie von Löwenstern, die ein Landhaus in Brießnitz bewohnte. Wenn wir bei ihnen waren, gab es immer allerlei Lustbarkeiten, kleine Elbfahrten, Illumination des Gartens, Feuerwerk und dergleichen Dinge, die ganz meinen Beifall hatten. Meiner nahmen sich dann besonders die Töchter des Hauses an, schöne junge Mädchen, die mich mit Süßigkeiten stopften und mit mir spielten. Mit ihnen entsinne ich mich eines Abends ein seltenes Phänomen gesehen zu haben. Es war schon dunkel, als wir vor der Terrasse des Hauses, tief unter uns auf den Elbwiesen, kleine herumschlüpfende Lichter bemerkten, sechs Flämmchen, die bisweilen paarweise, dann wieder auseinanderfahrend, lustig umherschweiften, und zwar mit einer Schnelligkeit wie laufende Menschen. Das seien Irrlichter, sagten die Mädchen, die sähen sie hier öfter. Sie erklärten mir auch die Sache, so gut sie konnten, und sprachen von «fixer Luft», über welchen Ausdruck ich sehr lachen mußte; doch begriff ich schon, daß fixe Luft etwas Apartes sein müsse. Wenn wir uns nicht täuschten, sind dies die ersten und letzten Irrlichter gewesen, die mir in meinem Leben vorgekommen sind.

Löwensterns nun sahen sich genötigt, trotz Krieg und Kriegsgeschrei nach Wolmarshoff, ihrem Stammsitz in Livland, zurückzugehen, und da Frau von Löwenstern zufälligerweise in Verlegenheit um eine Jungfer war, so lag es nah', ihr Leno anzubieten. Meine Mutter wollte diese jedoch nur als freies Mädchen in fremde Hände geben und überraschte sie daher bei ihrem Abzug mit einem in aller Form Rechtens ausgestellten Freibrief.

Daß es Fälle gibt, wo die Erfüllung unserer heißesten Wünsche uns doch aufs schmerzlichste berührt, hätt' ich hier lernen können, denn das arme Mädchen weinte bitterlich, als es unser Haus verließ, und ich und meine Mutter weinten auch. Talkenberg aber begleitete sie, ihre Effekten tragend, zu ihrer neuen Herrschaft. Hier nahm er Gelegenheit, sie bis zu ihrer Abreise noch ab und zu zu sehen, dann aber ging er hin, betrank sich und schmetterte ingrimmig, wie er war, dem Posten an der Hauptwache eine faule Birne ins Gesicht, wofür er zu meinem Leidwesen Stockprügel und Arrest erhielt. Leno fand übrigens ihr Glück in ihrer Heimat. Sie blieb nur kurze Zeit bei Löwensterns und heiratete dann einen wohlhabenden deutschen Bürgersmann in dem Städtchen Wolmar, mit dem sie ein zufriedenes Leben führte.

Ein Hagestolz

Die gerichtliche Ausfertigung des obengenannten Freibriefs hatte meine Eltern in Berührung mit einem Manne gebracht, der bald nebst seiner ganzen Familie zu den besten Freunden unseres Hauses zählte. Dies war der Hofrat Näke, Chef des Dresdner Justizamtes, ein guter, treuer Mensch und sehr geachteter Beamter. Von ihm erzählte man sich folgendes:

Näke stand in früheren Jahren als Justitiarius in Freiberg, war lange Junggesell geblieben und wegen der amtlichen Erfahrungen, die er in Ehesachen gemacht, bei dem Entschlusse angelangt, auch Junggesell zu bleiben. Wie ist es möglich – mochte er denken –, sich für sein ganzes Leben blindlings an ein Ding zu ketten, das man nicht kennt, genau genommen niemals gesehen hat; denn daß die Liebe blind macht, wußten schon die Heiden. Und bliebe man denn wenigstens noch blind; aber zur Unzeit gehen einem doch die Augen auf, und man findet sein Täubchen als Geier wieder, der einem die Leber abfrißt.

Nun trug sich's zu, daß dieser Ehrenmann an einem Weihnachtsabend aus der Kirche kam. Ein kalter Schneesturm tobte durch die Gassen Freibergs, daß man kaum aus den Augen sehen, kaum atmen konnte, daher sich Näke fest in seinen Pelz gewickelt hatte. Wie er nun dem Unwetter entgegen gedankenlos so vor sich hinkämpfte, mochte es sich zutragen, daß sein Blick für einen Augenblick vom Schnee und Eise frei ward: kurz, er bemerkte ein kleines, notdürftig gekleidetes Mädchen, das, vom Sturm um und um gedreht, sich in hilflosester Lage befand. Das Kind hatte, sein Gesangbüchelchen unterm Arme, die Hände in die Schürze gewickelt und schien sich vergebens anzustrengen, gegen die Gewalt des Wetters standzuhalten. Hunderte von Kirchgängern wirbelten teilnahmslos vorüber; unser Freund aber, der trotz seiner abgeschmackten Ehestandsbegriffe doch ein gutes Herz hatte, griff zu, schlug seinen Pelz um die Kleine und führte sie halb, halb trug er sie nach der entlegenen Wohnung, die sie ihm angab. Das Mägdlein war vom Frost so durchgeschüttelt, daß sie kaum reden konnte, doch fühlte Näke ihren Dank auf seiner Hand, die sie mit Inbrunst küßte.

Das arme Würmchen! am heiligen Abend so zu frieren! – Der menschenfreundliche Beamte schickte ihr auf der Stelle zum Weihnachtsangebinde einen Mantel und einen Stollen. Da kam sie denn am andern Morgen, sich zu bedanken – ein überraschend hübsches Mädchen – und war so zutraulich, so niedlich und bescheiden, daß Näke, der sich in eine längere Unterhaltung mit ihr eingelassen, den Vorsatz faßte, sich der elternlosen Waise, die bei unbemittelten Verwandten an allem Mangel litt, tatkräftig anzunehmen. Er setzte sich mit jenen in Vernehmen, und man gestattete es mit Freuden, daß er sein Pflegetöchterchen in einem anständigen, ihm befreundeten Hause unterbrachte und jede weitere Sorge auf sich nahm. Von jetzt an sah sie Näke täglich, leitete selbst ihren Unterricht und schloß die Kleine, welche mit unbegrenzter Liebe und Verehrung an ihrem Wohltäter hing, dermaßen in sein Herz, daß ihm der Gedanke unerträglich wurde, jemals wieder von ihr getrennt zu werden.

Dazu gab es aber nur ein einziges Mittel, und er ergriff es. Als das Töchterchen herangewachsen war, schlug Näke seine Junggesellenweisheit in die Schanze und machte sie zu seiner Frau. Es hat ihn das auch niemals gereut, denn nun wurde sie erst recht zum Stern seines Lebens und lehrte ihn die Möglichkeit von guten Ehen.

Als meine Eltern mit ihm bekannt wurden, war Näke bereits ein Greis, seine Frau aber in noch rüstigen Jahren und immer noch recht hübsch, obgleich sie fünf zum größeren Teile schon erwachsene Kinder hatte, zwei Töchter und drei Söhne. Der Umstand endlich, daß der zweite, sehr talentvolle Sohn, mit Namen Heinrich, sich zum Maler bildete, vermehrte noch die Beziehungen des Näkeschen Hauses zu dem unseren.

Andere Freunde

Überhaupt mochte die damalige Periode in geselliger Beziehung eine der angenehmsten im Leben meiner Eltern sein. Ohne Zwang und Gene verkehrten sie auf herzliche Weise mit den vorzüglichsten und interessantesten Leuten, meist Fremden, die sich zu jener Zeit in Dresden aufhielten, und wie würdig sie eines solchen Umgangs waren, beweist der Umstand, daß fast alle, mit denen sie in Berührung kamen, ihnen auch fürs Leben Freunde blieben.

Ich nenne hier den bekannten Adam Müller, der damals im Verein mit Schubert und Böttiger die schöne Welt mit tiefsinnigen Vorlesungen erbaute, – den liebenswerten Theologen Köthe, Schuberts intimsten Freund, den geistreichen Rühle von Lilienstern, – die Geologen Moritz von Engelhard und Karl von Raumer und den störrigen Wanderer Seume, der zwar eigentlich in Leipzig wohnte, den Weg von da nach Dresden aber als Spaziergang ansah und schneller als die Post zu Fuß durchschritt.

Außer diesen sehr bekannten Männern erinnere ich mich noch mancherlei anderer, weniger namhafter Freunde aus jener Zeit, unter denen ich hier nur noch zweier gedenken will: des Bildhauers Ulrich, der durch ein sonderbares Abenteuer unvergeßlich wurde, und des durch abenteuerliche Sonderbarkeiten aller Art bemerkenswerten Philosophen Dr. Wetzel.

Ulrich, der des Abends viel in unserem Hause war und gern etwas über die Zeit blieb, hatte die Unart an sich, wenn er zur Nachtzeit durch die öden Straßen ging, sein Liedchen, wie ein Gassenjunge, vor sich hin zu pfeifen, und zwar so vernehmlich, daß die anwohnenden Leute aus dem Schlafe fuhren. Da er nun eines Abends spät von uns nach Hause schlenderte und, nach seiner Gewohnheit überlaut pfeifend, die Schloßgasse passierte, geschah es, daß ihm, sehr unvermutet, eine mondsüchtige Person auf den Kopf fiel, oder vielmehr in seine unwillkürlich ausgebreiteten Arme, und ihn zu Boden riß. Es sei gewesen, erzählte er, als er andern Tages krank lag, als wenn einer von einer Bombe getroffen werde, nur mit dem Unterschiede, daß diese nicht krepiert wäre, und er auch nicht. Das unglückliche Mädchen hatte, ganz harmlos nachtwandelnd, oben an den Dachrinnen herumgespukt und war durch den Lärm, den Ulrich mit seinem Pfeifen machte, erwacht und herabgestürzt.

Was endlich den Philosophen Wetzel anlangt, der, wenn ich nicht irre, durch Schubert eingeführt war, so erregten seine Eigentümlichkeiten meiner guten Mutter mancherlei Bedenken. Das Studium des Altdeutschen war damals sehr in Aufnahme gekommen, und Wetzel hielt es für nötig, unsere moderne Sprache, die er ausgeartet fand, möglichst auf ihre geschichtlichen Anfänge zurückzubiegen. Es sei an der Zeit, fand er, den eigentümlichen Genius des vaterländischen Idioms wieder freizumachen, und hierin müsse jeder anderen mit gutem Beispiel vorgehen. Er drückte sich daher oft so urdeutsch aus als von Tronje Hagen oder der Spielmann Volker und wollte auch anderen die moderne Redeweise nicht leicht gestatten. Da jemand zum Beispiel von der Sonne sprach, fuhr er sogleich dazwischen: dies heroische Gestirn heiße ursprünglich und nach reiner Redeweise «Sunno» und sei männlichen Geschlechtes; es zum Weibe zu machen sei unverantwortlich, und man müsse sagen: der Sunno scheint. – Nicht weniger befremdlich war es der Mutter, daß Wetzel seine würdige Frau nie anders nannte als «Henne» und sein niedliches Töchterchen «Forelle». Er dagegen behauptete, unsere gewöhnlichen Taufnamen seien gar zu albern und hätten nicht die geringste Bedeutung. Unter Amalie, Charlotte, Luise, Franz und Balthasar, und wie die Leute alle hießen, könne sich kein Mensch was denken. Namen müßten das Ding bezeichnen, gewissermaßen abmalen, und wenn er seine Frau nenne, so hätte jedermann damit ein treues Bild ihres Wesens und ihrer Beschäftigungen, wie denn auch seine Tochter eine veritable Forelle sei. Meine Mutter fand das alles, von dem Sunno bis zur Forelle, nicht wenig abgeschmackt und stand deshalb in einem fortwährenden kleinen Kriege mit dem gelehrten Herrn, während es dem duldsameren Vater zweifelhaft blieb, ob man nicht jedem volle Freiheit lassen dürfe, sich nach Belieben auszudrücken und seine Kinder zu benennen, wie ihm es gefiele.

4. Die Mutter

Meine geliebte Mutter, von welcher Wetzel sagte, sie müsse weniger Helene heißen als vielmehr Laterne, weil sie durchsichtig und leuchtend sei, war damals noch gesund und jugendlich. Ich erinnere mich ihrer aus jener Zeit als einer jungen, sehr wohlgebildeten Frau mit edeln Gesichtszügen, hellen, geistvollen Augen und einer großen Fülle des schönsten blonden Haares. Ihre Gestalt war von mittlerer Größe und proportioniert, ihr Wesen und Benehmen einfach und wahrhaftig, ihr Urteil treffend. Sie hatte eine sorgfältige Erziehung genossen, war ungewöhnlich kenntnisreich, und ihre vielseitige Bildung befähigte sie, nicht nur die guten Vorzüge einer guten Gesellschaft zu würdigen, sondern auch das Gespräch der ausgezeichneten Männer, die ihr Haus besuchten, anzuregen und zu beleben.

Letzteres geschah indessen mit so viel weiblicher Zurückhaltung, daß die wenigsten ihrer Gäste die ganze Fülle ihres geistigen Reichtums ahnen mochten; und von ihrer hohen künstlerischen Begabung, deren sie sich als einer vorzugsweise männlichen Eigenschaft fast schämte, wußten kaum die allernächsten Freunde. Ihre schönen Sepiabilder, die sie noch als Mädchen zu eigener Lust und meist nach eigenen Ideen ausgeführt, schmückten die Wände der Schlaf- und Kinderzimmer, die nur von Hausgenossen betreten wurden, und ihre Harfe wie ihr Flügel tönten nur vor Mann und Kindern.

Diese liebe Mutter strebte nach keiner anderen Ehre als der einer guten Frau und Mutter. Mit ihren Kindern beschäftigte sie sich treu und unablässig und war gewissenhaft bemüht, nichts zu versäumen, was zu unserer Menschenbildung dienlich schien. Aus diesem Grunde studierte sie auch fleißig die gepriesensten pädagogischen Werke ihrer Zeit, aus denen sie freilich wenig Nutzen ziehen mochte; denn eine halbwegs gescheite Mutter weiß schon allein, wie sie ihre Kinder zieht – wo nicht, so lernt sie schwerlich, weder von Campe noch von Pestalozzi. Sie mochte vielmehr von dieser unerquicklichen Lektüre den Nachteil einer fast krankhaften Steigerung ihrer ohnedem schon allzu regen Sorglichkeit haben, denn sie lernte alle erdenklichen Jugendfeinde des Leibes und der Seele kennen, eine Legion unablässig anstürmender Teufel, vor denen ihre Kinder zu bewahren die Kraft der besten Mutter doch nie ganz ausreicht.

Was sie indessen konnte, tat sie mit Treue. Sie lehrte uns die Hände falten und beten, leitete uns zu gewissenhaftester Wahrheitsliebe an, belog uns nie, auch nicht im Scherz und Spiele, und ließ uns ganz besonders niemals müßig gehen. Den Reiz des Spieles zu schärfen, mußten wir von frühester Kindheit an sogar schon arbeiten, das heißt täglich einige Stunden mit sogenannten nützlichen Beschäftigungen, nämlich mit Garnwickeln, Schnurenmachen, Läppchenzupfen und dergleichen üblen Dingen hinbringen. Und hier erinnere ich mich mit ganz besonderem Vergnügen noch einer allerliebsten, von meinem Großvater selbst verfertigten Phiole aus Elfenbein, durch die das Garn, damit es nicht beschmutzt werde, beim Wickeln durchlief und deren ich mich zur Belohnung für besondere Artigkeit bedienen durfte, da in der Regel nur eine buchsbaumene verabfolgt wurde.

Diese nützlichen Beschäftigungen nahmen natürlich, je nach dem Grade unserer geistigen Entwickelung, auch einen geistigeren Charakter an. Die Mutter lehrte mich nach der Lautiermethode lesen, und ehe ich das fünfte Jahr erreicht hatte, konnte ich meinen Vater an seinem Geburtstage bereits mit Vorlesung einer Gellertschen Ode überraschen. Desgleichen wurden Schreibübungen beliebt, gezählt, gerechnet und ein kleiner Anfang in der Geographie gemacht.

Hatte ich dann das Meinige getan und die Mutter war zufrieden, so ging sie etwa mit mir an jenen Schrank, der so viel Köstliches enthielt, und langte dies und jenes daraus hervor; am besten ihren schönen englischen Farbenkasten, der das Aussehen eines Buches hatte und die saubersten Utensilien enthielt, elfenbeinerne Palette, silberne Zirkel, Parallellineal, Maßstab und eine Auswahl der appetitlichsten Farben. Von letzteren rieb die Mutter mir das Nötige auf die Palette, während ich mich an sie drängte und mit Lust den Rundlauf der Farbenstückchen auf dem weißen Elfenbein verfolgte. Dann zeichnete sie mit leichter Hand ein Tier, einen Soldaten, eine Landschaft und überließ die Farbengebung mir. Oh, wie entzückte mich namentlich das Gummi-Gutti, schon beim Aufreiben und vollends beim Gebrauch: ich wandte es übermäßig an und erfuhr die tadelnde Kritik der Mutter, die in allem Maß gehalten wissen wollte.

In ihrem Wesen blieb meine Mutter sich immer gleich. Es lag nicht in ihrer Natur, die Zärtlichkeit zu zeigen, die sie im Herzen trug, sie tändelte nie mit mir und ließ mir keine Unart durch; aber sie erschreckte mich auch nie durch Launen und Heftigkeit und gab mir das Bewußtsein, daß niemand in der Welt mich lieber habe als sie. Zum höchsten Lohn für außerordentliche Tugend durfte ich einen Kuß auf die Stirn von ihr erwarten, und dieser war denn auch von so durchgreifender Wirkung, daß mein Vater es mir gleich anzusehen pflegte, wenn er ins Zimmer trat.

Nur selten strafte meine Mutter, suchte mich aber immer zur Einsicht meines Unrechts zu bringen und war ein so geschickter Bußprediger, daß ich mich stets beschämt und ganz geneigt fand, Abbitte zu tun. Für dies Verfahren danke ich ihr noch heute, denn es lehrte mich jene Reste im Gewissen tilgen, die der Offenheit des Charakters so schädlich werden können. Mußte ein Vergehen ernstlicher gesühnt werden, so wurde ich auf ein Stündchen oder darüber an ein Tisch- oder Stuhlbein angekettet, zwar nur mit einem Zwirnsfaden, den ich aber nimmer zu zerreißen wagte, so groß war der Respekt vor meiner Mutter; und selbst dann löste diese solche Fessel nicht, wenn mittlerweile Besuch eintrat. Oder auch sie band mir nach Maßgabe des Vergehens ein Paar lange, aus steifem Notenpapier gefertigte Eselsohren um den Kopf, welche ich auch während des Mittags- und Abendtisches umbehalten mußte.

Kam mein guter Vater dann zum Essen, so sah er mir freilich diese Midasohren noch mit leichterer Mühe als jenen Stirnkuß an und wußte dann seinen edeln Gesichtszügen einen so bekümmerten Ausdruck zu geben, daß es mir immer durch die Seele ging. Namentlich einmal, als er wegen Zahnweh mit verbundenem Kopf erschien, rührte mich jener Ausdruck bis zu Tränen. Der arme Vater! er hatte Schmerzen und mußte obendrein an seinem Sohne solche Schmach erleben. Ich konnte keinen Bissen essen, obgleich es Dampfnudeln nach echtem bayrischem Rezept gab; aber meine Mutter ließ die Ohren sitzen.

Ich falle unter die Mädchen

Geschlagen ward ich nur für gröbliche Widersetzlichkeiten. Doch mochte dies einmal, wenn wirklich die Sache so zusammenhing, wie ich mich ihrer erinnere, ziemlich unzweckmäßig geschehen sein, denn gerade mittels dieser Strafe setzte ich meinen Willen durch.

Aus mir gänzlich unbekannten Gründen hielt es meine Mutter für geraten, mich etwa in meinem fünften Jahre eine öffentliche Schule besuchen zu lassen, und sonderbarerweise zwar eine Mädchenschule. Möglich, daß die genaue Kenntnis von den Lastern kleiner Knaben, die sie aus ihrer Erziehungslektüre schöpfte, diesen sonst so unerklärlichen Gedanken erzeugt hatte; kurz, die Sache war fest beschlossen. Ich wurde weiter nicht befragt und wußte überhaupt nicht recht, was bevorstand, als meine Mutter mir eines schönen Morgens ein wohleingewickeltes Butterbrot mit Gewalt in die zu enge Hosentasche bohrte, mich bei der Hand nahm und mit mir abzog. Sie konnte sich ja auf mich verlassen, da ich wahrscheinlich der gehorsamste Knabe war, der damals in Dresden existierte.

Jene Schule oder Privatanstalt befand sich auf der Seegasse in einem hohen, düsteren Hause und in den Händen einer gewissen Mamsell Claß, die, mit der Hofrätin Näke sehr befreundet, von dieser als geeignete Persönlichkeit empfohlen war. Schon auf der Treppe, die nach Dresdner Art stockdunkel und unsäglich stinkend war, wurde mir das Ding bedenklich, und ich schlug vergeblich vor, ob wir nicht lieber umkehren und in unser schönes helles Haus in der Vorstadt zurückgehen wollten. Als wir nun aber erst in die Zimmer traten und ich die vielen Mädchen sah, die gleich ihrer Lehrerin sämtlich Titusköpfe hatten und mich mit den Augen fast verschlangen, wurde es mir gelb und grün und jämmerlich ums Herz, und ich bat die Mutter flehentlich, mich wieder mitzunehmen. Mamsell Claß nahm mich indessen in die Arme, herzte mich, sprach mir auf sächsisch zu, und währenddessen war meine Mutter weg.

Worauf es nun bei dieser Sache eigentlich abgesehen war, kann ich nicht sagen, genug, die Lehrerin gab mir Spielsachen, und während ich an einem Seitentischchen, meine Tränen verschluckend, einen kleinen Meierhof aufbaute, setzte jene ihren Unterricht mit den Mädchen fort. So weit ging alles leidlich; ich nahm die Sachen, wie sie waren, schickte mich in die Zeit und wurde endlich so vertraut mit meiner Lage, daß ich sogar den Versuch machte, mein Butterbrot hervorzuziehen, was jedoch nicht gelang. In der Freiviertelstunde aber, als Mamsell Claß uns auf kurze Zeit verließ, drangen die kleinen Mädchen mit ihren Pudelköpfen lachend und kreischend auf mich ein, ja, sie fielen recht eigentlich über mich her wie Bacchantinnen über einen Orpheus, rissen sich um mich, und wer mich erwischen konnte, liebkoste mich und küßte mich. Ich spreizte meine Glieder wie ein Mistkäfer, den man in hohler Hand hält, hieb und stieß mit allen vieren um mich, bis die Lehrerin wieder eintrat und der Greuel sich legte.

Man mag hieraus ersehen, daß ich eben noch ein dummer Junge war, ein Idiot, ohne jede Würdigung der großen Güte, die man mir erzeigte, denn ohne Zweifel waren alle diese Mädchen von sehr mütterlichen Gefühlen gegen mich erfüllt. Vergessen habe ich sie freilich nicht; sie hinterließen mir einen so unauslöschlichen Eindruck, daß ich die Physiognomien von mehreren der kleinen Plagegeister noch heute im Gedächtnis habe.