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DIE romantische Sommerkomödie
Zibal de Frèges ist ein genialer Wissenschaftler, dem die Scheidung den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Im Alter von 42 Jahren muss er deshalb am Pariser Flughafen Gebäck verkaufen. Eines Tages kommt Alice, eine schöne, blinde Frau, mit ihrem Hund Jules zu seinem Stand, um Macarons für sich und ihren Hund zu kaufen. Zibal verliebt sich Hals über Kopf in sie und will sie unbedingt wiedersehen. Er weiß allerdings nicht mehr von ihr, als dass sie nach Nizza fliegt. Dort hat sie eine Augenoperation – die gelingt. Was für sie ein großes Glück ist, macht ihren Hund depressiv, weil er nun nutzlos ist. Also gibt Alice ihn schweren Herzens weg. Doch Jules reißt aus und sucht bei Zibal Zuflucht. Das kostet Zibal Job und Wohnung. Mann und Hund sind abgebrannt und nun nur noch von einem Ziel getrieben: die junge Frau zu finden, die ihnen beiden das Herz gebrochen hat …
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Seitenzahl: 265
Veröffentlichungsjahr: 2016
Didier van Cauwelaert
JULES
Roman
Aus dem Französischen von Jochen Winter
C. Bertelsmann
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel »Jules« bei Albin Michel, Paris.
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1. Auflage
© Éditions Albin Michel 2015© der deutschsprachigen Ausgabe 2016 beim C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 MünchenUmschlaggestaltung: buxdesign, MünchenSatz: Uhl + Massopust, AalenISBN 978-3-641-18454-4V001
www.cbertelsmann.de
Aus Erfahrung weiß ich, dass man sich vor der Liebe auf d en ersten Blick in Acht nehmen muss, aber als ich die junge Frau mitten in der Menge erspähte, litt ich plötzlich an Gedächtnisschwund. In kanariengelben Stöckelschuhen, knallroten Hotpants und türkisfarbenem Oberteil lief sie keineswegs Gefahr, von niemandem wahrgenommen zu werden. Wäre da nicht der Labrador gewesen, der sie am Geschirr führte, hätte allein schon ihre große schwarze Brille als Accessoire eines Stars gelten können, sorgsam darauf bedacht, dass sein Inkognito allseits Aufsehen erregt. Mit ihrem rotblonden, zu einem buschigen Nackenknoten zusammengebundenen Haar, der fast durchsichtigen Seidenbluse und dem wie bei einem amourösen Rendezvous strahlenden Lächeln, das die leicht verschmierten Spuren des Lippenstifts noch betonte, war sie eine besonders auffällige Blinde, die eher Neid als Mitleid erweckte.
Vor meinem Stand hielt sie inne, die Nasenflügel bebten leicht, als wäre sie in Alarmbereitschaft. Sofort erstarrte ihr Hund und wandte sich mir zu. Gleich einem Dolmetscher, der seinen Gesprächspartner auf die zu übersetzenden Äußerungen vorbereitet, sah er mir tief in die Augen, während sie in die Leere hinein das Wort an mich richtete.
»Guten Tag, ich hätte gerne Karamell Fleur de Sel, Lakritze und Erdbeere Primavera. Eins von jedem bitte.«
Sie hatte die Stimme eines frühreifen Mädchens in einem Körper von etwa dreißig Jahren. Fröhlich, gut erzogen, unglaublich sexy, kannte sie meine Spezialitäten auswendig. Wider Willen war ich in diesem Augenblick dankbar für die gesellschaftliche Talfahrt, die mich auf ihren Weg befördert hatte. Ungeachtet meiner beiden Diplome in Biochemie und Astrophysik bin ich mit zweiundvierzig Jahren Macarons-Verkäufer geworden in Orly-West, Abflugbereich, Halle 2.
Man kann mich nicht verfehlen. Ich trage eine schokoladen- und kaffeebraun gestreifte Weste, ein pistazienfarbenes Käppi und leite den Stand, einer Postkutsche ähnlich und ebenfalls in zartem Grünton. Meine Mutter ärgerte sich schwarz, als sie mich auf der Rückreise von ihren Ferien in der Ardèche zufällig in dieser neuen Funktion entdeckte. Ihr Kommentar beschränkte sich auf eine SMS, die sie mir aus dem Taxi schickte: Meine Freundinnen werden entsetzt sein. Du hättest mir wenigstens einen Wink geben können. Meine Antwort lautete: Normalerweise fährst du mit dem Zug. Sie erwiderte: Ja, ja, natürlich ist auch das wieder meine Schuld. Keine weitere Reaktion von mir. Als Erfinder eines Verfahrens zur Minderung der Schadstoffbelastung, das mir Millionen hätte einbringen können, gehe ich unter ihren fassungslosen Blicken allmählich zugrunde, seit mich meine Lebensgefährtin aus ihrer Firma geworfen hat, um von meinem Patent zu profitieren. Ich habe mich nicht verteidigt: Meine Vorstellung von der Liebe ist zu erhaben, als dass ich damit Rechtsanwälte und Notare beschäftigen würde. Lieber bewahre ich die angenehmen Erinnerungen und schiebe das Übrige beiseite. Obwohl meine Mutter davon spricht, dass man mich mit Füßen tritt, schwebe ich doch über alles hinweg. Aber ich verstehe sie: Bevor sie mich in flagranti mit einem befristeten Arbeitsvertrag bei Ladurée, dem Nobelkonditor, erwischt hat, kannte sie mich zunächst als Leiter der Entwicklungsabteilung für Düngemittel der Marke Vert-de-Green mit einem monatlichen Gehalt von dreißigtausend Francs, dann als Übersetzer wissenschaftlicher Werke zu drei Euro pro Seite, später als Touristenführer im Château de Chantilly, dessen einziger Lohn im Trinkgeld bestand, und schließlich als ehrenamtlichen Helfer in der Vereinigung Touche pas à mon arbre – Rühr meinen Baum nicht an –, verurteilt zu einer Geldbuße von fünftausend Euro, weil ich mich, auf dem Pariser Forum des Halles an Magnolienbäume gekettet, den Arbeitern widersetzt hatte, die sie zersägen wollten. Die Summe musste ich mir von ihr leihen, um einer Gefängnisstrafe zu entgehen. Von dem ausgesetzten Kind, das ich war und das sie, ihre Ehe aufs Spiel setzend, adoptiert hatte, konnte man nicht unbedingt erwarten, dass eine solche Investition sich auszahlen würde.
»Leider haben wir nur einfache Erdbeere«, entschuldigte ich mich.
Die schwarze Brille senkte sich in Richtung meiner Stimme.
»Sind Sie sicher? Ich rieche wirklich das Schaumzuckerbonbon Erdbeere Primavera. Zerstäuben Sie Düfte wie die Floristen?«
Höchst beglückt, das Geplauder fortsetzen zu können, erwiderte ich mit jugendlicher Stimme, dass ich lediglich jemanden vertrat, um einen Gefallen zu erweisen.
»Gut, dann sagen wir: einmal Karamell und zweimal Lakritze für mich, um sie gleich hier zu essen, und zwölfmal Orangenblüte im Karton für meinen Hund. Das ist nämlich sein Lieblingsgeschmack.«
»Wie heißt er?«
»Jules«, erwiderte sie lächelnd und streichelte das sandfarbene Fell.
»Willst du sofort ein Macaron, Jules? Geschenk des Hauses.«
»Er wird Ihnen nicht antworten. Er ist im Dienst.«
Meine Kehle war wie zugeschnürt. Dieses unzertrennliche Paar, das mein Leben nur kurz streifte, rief in mir eine Mischung aus Überschwang und Traurigkeit hervor, die sie in meiner Stimme wahrnahm, als ich mich für meine unbedachte Bemerkung entschuldigte.
»Er kommt sehr gut damit zurecht«, beruhigte sie mich, »und isst nur, wenn ich ihm das Geschirr abnehme.«
»Was für eine meisterliche Dressur!«
»Es ist vor allem sein Stolz. Schließlich trägt er für mich die Verantwortung.«
Im Tonfall der jungen Frau schwang der gleiche Stolz mit, den sie ihrem Hund zuschrieb. Plötzlich überkam mich ein schrecklicher Trübsinn. Ich war noch nie für jemanden verantwortlich gewesen. Meine Mutter ist robust wie ein Fels, mein Vater hat den Kontakt abgebrochen, und die Frauen in meinem Leben wollten keine Kinder. Der Labrador fixierte mich. Ein Anfall von grotesker Eifersucht auf diesen glücklichen Leibwächter ließ meinen Blick zu den Brüsten seines Frauchens schweifen. Edle Brüste, die der Schwerkraft trotzten, aber dennoch echt schienen und auf jede Bewegung der Finger reagierten, als sie die Kreditkarte aus der Brieftasche nahm und dann am Boden nach der Taxiquittung tastete, die herausgefallen war. Es blieb keine Zeit, mich vom Stand zu lösen, um sie aufzuheben. Der Hund, der noch auf die geringste ihrer Gesten achtete, hatte den Beleg bereits mit der Pfotenspitze bis zu den Nägeln seiner Schutzbefohlenen geschoben. Alice Gallien, so lautete der Name auf der Kreditkarte, die auf der Theke lag. Mir wurde schwer ums Herz bei dem Gedanken an das Chanson von Jacques Brel: Laisse-moi devenir … l’ombre de ta main, l’ombre de ton chien – Lass mich … der Schatten deiner Hand sein, der Schatten deines Hundes. Ich, der ich meine Zeit damit verbrachte, die Augen zu verschließen vor dem, was seriöse Menschen das »wahre Leben« nennen, wollte mit einem Mal derjenige sein, dem die Blicke einer Frau wie ihr galten.
Im Moment bestand meine Macht einzig darin, mir für das Verpacken der Macarons alle Zeit der Welt zu nehmen und dabei den Anblick ihrer türkisfarben verhüllten Brüste ebenso zu genießen wie die unbändige, verwirrende Freude, die sie ausstrahlte. Doch das verlangsamte Rascheln des Papiers hatte sie aufhorchen lassen. Sie legte zwei Finger auf die Zeiger ihrer Armbanduhr ohne Glas.
»Wir müssen zur Abfertigung«, informierte sie mich mit bedauernder Freundlichkeit. »Eine Geschenkverpackung ist vielleicht nicht nötig.«
Zu meiner Entlastung erwiderte ich spontan, dass ich sie sehr schön fände.
»Danke für Ihre Offenheit«, entgegnete sie und lächelte erneut. »Gewöhnlich beginnen die Männer damit, Jules Komplimente zu machen.«
Als sein Name erwähnt wurde, starrte der Hund mich an mit der abschreckenden Sicherheit des dominanten Männchens – aber wahrscheinlich verleitete mich die Erektion, gegen die ich hinter der Theke ankämpfte, zu dieser Art von Anthropomorphismus.
»Bilde ich es mir nur ein, dass Sie irgendwie nicht zu Ihrer Stimme passen? Er ist sonst immer sehr freundlich zu den Händlern, aber gerade jetzt spüre ich eine Anspannung bei ihm.«
Ich beschrieb mich, ohne die gestreifte Weste und das grüne Käppi zu erwähnen, und fügte hinzu, dass ich in Syrien von unbekannten Eltern geboren und von einem französischen Ehepaar adoptiert worden sei.
»Verstehe.«
Ich reichte ihr den Einkauf, wusste jedoch nicht, ob dieses befremdliche Wort aus ihrem Mund bedeutete, dass sie Mitgefühl empfand oder ob ihr Hund ein Rassist war.
»Der Flug um 10 Uhr 25 nach Nizza, ist er pünktlich?«
Ich bejahte mit dem Zusatz »Schalter 20«, wie es die Anzeigetafel mir gegenüber verkündete. Ich hätte sie gerne begleitet, aber die Warteschlange hinter ihr wurde immer länger. Außerdem hatte ich bereits eine Verwarnung meines Chefs bekommen, als er mich dabei ertappte, wie ich an der Theke in eine astrophysikalische Abhandlung vertieft war. Selbst wenn keine Kunden da sind, muss ich diensteifrig, hellwach und verfügbar sein. So steht es im Vertrag. Essen, lesen oder telefonieren während der Arbeitszeit sind schwerwiegende Vergehen, die im Wiederholungsfall die fristlose Kündigung zur Folge haben. Angesichts der in der Verlagsbranche für wissenschaftliche Werke herrschenden Krise ist mir schleierhaft, wie ich ohne festes Gehalt, das gleichsam vom Himmel fiel, meine Miete bezahlen sollte.
Ich gab dem vorbeischlendernden Mitarbeiter von Air France im kurzärmeligen Hemd mit Krawatte ein Zeichen, vertraute ihm meine anmutige Kundin an und buchte, drei weitere Sätze mit ihr wechselnd, den fälligen Betrag von ihrer Kreditkarte ab. Dann entfernte sie sich, und ich sah ihr nach mit einem Stich im Herzen, der sich erst allmählich in der Ungeduld der nachfolgenden Reisenden auflöste.
»Ist ja nicht mehr allzu früh, welche Sorten haben Sie denn in der Schachtel mit sechs Stück?«
Während ich dem Tagungsteilnehmer, der das Abzeichen eines Elektronikkonzerns trug, die Geschmacksrichtungen herunterbetete, wiederholte ich innerlich meine letzten Worte: Gute Reise, Mademoiselle, Erdbeere Primavera ist ein Geschmack der Stunde, der jedoch kürzlich aus meinem Sortiment entfernt wurde. Aber ich kann um eine Lieferung bitten … Kommen Sie bald wieder zurück? – Ich hoffe es.
Mir blieb keine Möglichkeit, weitere Informationen von ihr zu erhalten. Was hätte es auch genutzt? Sicherlich gab es einen Mann in ihrem Leben: Mit der gelassenen Nachsicht einer Frau in fester Beziehung hatte sie von denen gesprochen, die – so wie ich – unmissverständlich Interesse an ihr bekundeten.
Mit abwesendem Blick und einem Lächeln, das den Vorschriften entsprach, vollführte ich meine Verkaufsrituale, zugleich ergriffen von einer Niedergeschlagenheit, die so gar nicht in meiner Natur liegt. Ich habe immer gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Betrogener Liebhaber, ausgebeuteter Wissenschaftler, Opfer ohne Frustration und Rachegelüste – diese beiden wesentlichen Antriebskräfte des gesellschaftlichen Lebens –, genügt es mir nichtsdestotrotz, mich ohne wirklichen Grund wohlzufühlen in meiner Haut: ein hübscher Sonnenuntergang, die Intelligenz der Bakterien, eine Kantate von Bach, das Geschick einer Prostituierten, der Duft des Geißblatts vor meinem Fenstersims, die unerforschlichen Geheimnisse des Urknalls … All diese winzigen Freuden ohne Nebenwirkungen, die einem Herz mit eingeschränkter Beweglichkeit wie dem meinen auf vorteilhafte Weise das Glück und seine Qualen ersetzen. Warum also stimmte mich die tief empfundene Sehnsucht nach einer echten Behinderten plötzlich derart traurig, dass mir die kurzfristigen Annehmlichkeiten meines kleinen trostlosen Lebens geradezu schmachvoll erschienen?
Immerhin hatte ich sehr stark begonnen. Im Allgemeinen hält man mich für ein Produkt der Immigration, vor allem aber bin ich ein literarisches Projekt. Ich war zwölf Stunden alt, als der Hausmeister der Französischen Botschaft in Damaskus seine Mülleimer zurückbrachte und mich am Boden des einen entdeckte, offenbar dort abgelegt nach der Durchfahrt der Müllabfuhr. Eliane de Frèges, Gattin des Kulturattachés, gab sich alle erdenkliche Mühe, mich zu adoptieren, und dazu gehörte auch, mich im Diplomatenkoffer aus Syrien zu schleusen.
Mit Rücksicht auf meine Herkunft nannte sie mich Zibal – von arabisch zibala, Mülleimer. Was das Übrige betraf, so füllte ihre Vorstellungskraft die Leere aus. Zum Vater gab sie mir einen Beduinenführer, der seine Frau wegen Ehebruchs verstoßen hatte; sie wiederum, aus dem Stamm vertrieben, hatte mir ein besseres Schicksal zugedacht, indem sie mich via Hausmüll der Französischen Republik anvertraute. Zibal, l’enfant de la poubelle – Zibal, das Kind aus dem Mülleimer – erhielt den renommierten Prix Femina, als ich dreizehn Jahre alt war. Die Kritiker waren hellauf begeistert von der Hauptfigur, diesem Beduinen der Politischen Wissenschaft, der im Wunsch, das Opfer seiner Erzeugerin ebenso zu verdienen wie die Großzügigkeit seiner Adoptivmutter, mit dem Diplom in der Tasche schließlich nach Damaskus zurückkehrte, Assad stürzte und eine erste Form von Demokratie einführte, ohne den Muslimbrüdern in die Hände zu spielen. Er starb als Held auf Seite 438, hinterließ drei Kinder, darunter eine Tochter, die sich schwor, sein Werk eines Tages zu vollenden, indem sie Syriens Botschafterin in Paris würde.
In der Wirklichkeit endete dieser Königsweg auf den Bänken der Universität. Danach brach Zibal de Frèges seine Versprechen und strafte seine Autorin Lügen. Ich blieb im Schatten, verließ nie mehr französischen Boden, wurde von allen hereingelegt und sah tatenlos zu, wie unser Name allmählich erlosch. Jedenfalls geschah rein gar nichts, was zu einem zweiten Band inspiriert hätte.
Lautes Hundegebell drang an mein Ohr, und ich schreckte zusammen.
»Passen Sie doch auf, verdammt noch mal!«, schimpfte der Kunde, dessen Auswahl an Macarons ich fallen gelassen hatte.
Den leeren Karton in der Hand, lauschte ich in Richtung des hinteren Teils der Halle 2.
»Jules!«, schrie Alice. »Lassen Sie ihn in Ruhe, Schluss damit!«
»Füllen Sie mir jetzt eine andere Schachtel, ja oder nein?«
Ich gab dem Idioten zu verstehen, er solle den Mund halten. In das Bellen mischten sich immer mehr Schreie der jungen Frau. Ohne zu überlegen, verließ ich meinen Stand und lief zum Schalter 20. Der Check-in für den Flug nach Nizza erinnerte an die Eröffnung des Schlussverkaufs bei den Galeries Lafayette. Ich bahnte mir einen Weg durch das Gedränge und erblickte zwei Mitarbeiter der Fluggesellschaft, die Jules das Geschirr abgenommen hatten und ihn nun in einen Käfig zwängten, während ein dritter mit neurotischer Stimme gegenüber Alice wiederholte, dass die Maschine bis auf den letzten Platz ausgebucht sei und daher alle Tiere – Anordnung des Kapitäns! – im Frachtraum reisen müssten.
»Aber nicht er, Monsieur! Das ist ein Blindenführhund, schauen Sie sich nur seine Marke an, seine Papiere! Das Europäische Gesetz von 2008 berechtigt mich, ihn in der Kabine zu behalten …«
»Nicht, wenn die Maschine voll ist. Das letzte Wort hat der Kapitän.«
Ich stürzte auf ihn zu und rief »Nein!«, worauf der Hysteriker sich mir zuwandte. Spöttisch hob sich eine Augenbraue vor meiner Kombination aus gestreifter Weste und pistazienfarbenem Käppi.
»Was will er denn, Ladurée?«
»Dass die Vorschrift beachtet wird. Mademoiselle hat Ihnen gerade gesagt, das Europäische Gesetz von …«
»Du gehst ratzfatz an deinen Stand zurück, okay? Hab schon genug Probleme in der Art.«
»Und das ist erst der Anfang, wenn du so mit mir redest.«
»Na, suchst du vielleicht Ärger?«
Meine Antwort bestand darin, dass ich ihn an der Krawatte packte und nach oben zog. Plötzlich hatten sich alle Ungerechtigkeiten und Demütigungen, denen ich bisher stets mit der Gelassenheit eines Beduinen begegnet war, in mir aufgestaut, um sich an diesem verbissenen Dickschädel zu entladen, den ich im Rhythmus meines Satzes schüttelte.
»Das Europäische Gesetz von 2008 steht über der Entscheidung des Kapitäns – wiederhole und bitte um Entschuldigung, sonst ruf ich einen Grenzschützer, der dir eine Ordnungsstrafe verpasst wegen Diskriminierung und Weigerung, einem Befehl Folge zu leisten … Zu spät! Da ist er schon. Jean-Mi!«
Der Beamte der Luft- und Grenzpolizei, mit dem ich dreimal täglich in der Zigarettenpause die Welt verändere, näherte sich mit vorgeschobenem Unterkiefer und wollte wissen, was los sei. Ich erklärte ihm die Situation. Während er dem Sturkopf ein Bußgeld in Höhe von vierhundertfünfzig Euro androhte, öffnete ich Jules’ Käfig auf dem Gepäckförderband. Er sprang mir förmlich an den Hals und hätte mich fast umgeworfen. Dreimal leckte er übermütig an mir und ließ mich dann auf der Stelle stehen, um sich wieder Alice anzuschließen. Völlig hilflos, das Hundegeschirr in der Hand, fragte sie die Reisenden ringsum, ungehalten über die ihretwegen eingetretene Verzögerung, was sich genau abgespielt habe.
Ich ging zu ihr, um sie zu trösten und den Karton mit den Macarons aufzuheben, den sie bei der Auseinandersetzung fallen gelassen hatte.
Die junge Frau strömte über vor Dankesbezeigungen, zog aus ihrer Tasche eine Visitenkarte hervor, die sie in Richtung meiner rechten Hand hielt. Ich steckte die Karte ein, wünschte ihr nochmals eine angenehme Reise und fügte hinzu, dass ich mich am Abend nach ihrem Befinden erkundigen würde.
Ein junger Mann mit Armbinde und Rollstuhl eilte herbei, um die Behinderte zur Sicherheitskontrolle zu schieben. Der Zwischenfall war beendet. Ich winkte dem Hund zu, der mich anstarrte und den Kopf schüttelte, so als würde er nicht verstehen, dass ich sie beide nach meiner Rettungstat im Stich ließ.
In einer Mischung aus Nostalgie und Wetteifer schlenderte ich zu der grünen Postkutsche zurück, wo mein Chef, Hände auf den Hüften, mich erwartete.
»Was in aller Welt hat Sie dazu gebracht, Ihren Platz zu verlassen, de Frèges?«
Ich legte den Finger auf sein Abzeichen und erwiderte in feindseligem Tonfall: »Danken Sie mir! Wenn ich es nicht getan hätte, wäre das unterlassene Hilfeleistung für einen Menschen in Not gewesen, was sich wiederum nachteilig auf die Ladenkette ausgewirkt hätte. Die Polizei wird es Ihnen bestätigen. – Wer ist der Nächste?«, fuhr ich fort, an die Warteschlange gerichtet, die einen Schritt zurückwich, als ich um ihn herumging.
Drei Titel in Kampfsportarten haben mir eine natürliche Autorität verliehen, die ich im Allgemeinen nicht ausübe, weil mir gerade dadurch ein fast krankhaftes Vergnügen zuteilwird, das mir dann jedoch drei Tage lang auf dem Magen liegt. Außer in Notfällen ist es weitaus befriedigender, seinen Gegner in der Illusion des Sieges zu wiegen, wohl wissend, wie leicht man ihn vernichtend schlagen könnte.
Der Rest des Tages verlief ohne nennenswerte Vorkommnisse. Der Gedanke an Alice und die Dankbarkeit ihres Hundes bildeten in mir eine süße Blase, die mich von den griesgrämigen Leuten isolierte, die eilig an mir vorüberzogen.
Nachdem ich den eisernen Rollladen heruntergelassen hatte, setzte ich mich und holte die Visitenkarte hervor, die seit dem Vormittag in meiner Westentasche genau darauf gewartet hatte. Mit geschlossenen Lidern hielt ich sie vor die Nase, um mir, Alice’ Duft schnüffelnd, ihren Körper zu vergegenwärtigen. In meiner Erinnerung verströmte er ein Parfüm von Jasminblüten, mit einem Hauch Feige. Doch die Karte roch nur nach Menthol und Druckerei. Ich öffnete die Augen und las:
HSBC
Zweigstelle Montmartre
Nicolas Bron
Kundenberater
Auf der Suche nach einem Kaugummi im Außenfach der Handtasche stecke ich dort automatisch alle Visitenkarten hinein. Das hat zur Folge, dass ich meine eigenen nicht mehr finde. Mist! So habe ich ihm die des Bankiers gegeben, der mich gestern Abend im Bus angesprochen hat. Ein Mundgeruch von Cola light und eine kehlige Stimme, als würde seine Bemerkung uns füreinander bestimmen: »Die ist in Relief gedruckt.«
Sei’s drum. Oder eher: umso besser. Falls ich auf der Rückreise wirklich Lust habe, meine Dankesbezeigungen gegenüber Monsieur Macaron zu erneuern, ist es an mir, den ersten Schritt zu tun. Auf der Rückreise. Was diese drei Worte alles enthalten an Versprechen und Befürchtung, Traum und Unbekanntem …
Ich habe den Rollstuhl akzeptiert, um das Einchecken nicht noch weiter zu verzögern. Immerhin habe ich Jules das Geschirr wieder angelegt – das einzige Mittel, ihn nach der erlittenen Attacke vom Stress zu befreien. Für einen Blindenführhund gibt es nichts Schockierenderes, als unter Gewaltanwendung von der Person getrennt zu werden, der er beisteht. Jetzt führt er unser Tandem wie einen Schlitten, dreht sich ständig um, das merke ich deutlich, und ist irritiert wegen der ungewohnten Abmessungen, die er bei der Durchquerung von Türen und Überwindung von Hindernissen mit einkalkulieren muss. In meinem Rücken korrigiert der Mann, der mich schiebt, die Schwankungen des Rollstuhls, was zusätzlich dazu beiträgt, meinen Hund aus der Fassung zu bringen. Seit mehr als sieben Jahren ist er allein mir zu Diensten, er kennt mich in- und auswendig, hat mich bereits zwanzigmal ins Flugzeug begleitet – und versteht nicht die absurde Situation, die man ihm heute aufzwingt. Eine Abweichung von der Norm, die meine innere Anspannung noch erhöht und die er seit drei Wochen auszugleichen versucht, nämlich seit der Termin für meine Operation vereinbart wurde, seit Hoffnung und Angst jene heitere Resignation ersetzt haben, die er stets bei mir gespürt hat. Er bemüht sich, die Angst durch Liebkosungen zu lindern, aber er ist nicht dazu abgerichtet worden, auf die Hoffnung zu reagieren. Man macht Blindenführhunde nicht mit der Vorstellung vertraut, dass ihr Herrchen oder Frauchen eines Tages vielleicht nicht mehr da ist. Ich bereite ihn vor, so gut ich kann, aber die Botschaft kommt nicht an.
In der Maschine überhäuft ihn eine Stewardess mit Komplimenten und zeigt ihm meinen Platz. Gleichgültig gegen solche Schmeicheleien während seiner Dienstzeit macht er die Sitzfläche frei, schleudert die beiden Enden des Sicherheitsgurts zur Seite, worauf zweimal das gewohnte Geräusch ertönt, als die Metallschließe an die Sessellehne schlägt. Ich setze mich, nehme ihm das Geschirr ab und hebe die Beine, damit er darunter hindurchschlüpfen kann. Am Boden zusammengerollt, achtet er darauf, nicht mehr Raum einzunehmen als ein Handgepäckstück. So ist es auch immer an Weihnachten, wenn er mich mitnimmt zum Schlittenfahren bei Papa in Valberg.
Ich schlucke eine Tablette, um mich zu entspannen. Bei der Implantation, die mich erwartet, beträgt die Erfolgsquote fünfundsiebzig Prozent. Auch bei Transplantationen wird die menschliche Hornhaut zwar weniger oft abgestoßen als andere Organe, aber die Zahl der Spender verringert sich zusehends. Ich war die Dreihundertzwölfte auf der Warteliste für die Zuteilung der Transplantate, als die Katastrophe geschah: Die Familie eines vermeintlichen Spenders verklagte den Chirurgen wegen Leichenschändung. Sie gewann in erster Instanz, womit die Rechtsprechung die Hoffnungen von mehreren Tausend Blinden zerstörte. Seit vor den Gerichten die fehlende Erklärung im nationalen Register für die Verweigerung von Organspenden nicht mehr als Einwilligung gilt, geht kein Chirurg das Wagnis ein, die Augen zu entnehmen, außer die Familie des Verstorbenen gibt binnen achtundvierzig Stunden ihre Zustimmung – danach sind sie nicht mehr verwendbar. Inzwischen jedoch ist die Entwicklung der künstlichen Hornhaut, die meiner Art von Blindheit entspricht, so weit fortgeschritten, dass ich Professor Piol zufolge nicht bis ins hohe Alter darauf warten muss.
Als ich mich für das Implantat AlphaCor entschied, waren mir die Risiken einer Abstoßung ebenso bewusst wie die einer Ablehnung des Antrags seitens der Krankenkasse. Und dem war dann auch so. Da ich weiterhin eingeschrieben bin auf der Warteliste für menschliche Transplantate mit vorheriger Zustimmung der Versicherung, die Kosten zu übernehmen, wurde mir die Vergütung einer operativ durchgeführten Keratoprothese verweigert. Glücklicherweise beschloss RTL, den Eingriff zu finanzieren, nachdem man dort von meinem Dilemma erfahren hatte. Alle Mitarbeiter des Senders legten zusammen, um einer unserer schönsten Stimmen das Augenlicht zurückzugeben, wie der Direktor anlässlich eines Umtrunks, der an Ostern spontan für mich abgehalten wurde, freudig verkündete. Ich war verblüfft über diese leidenschaftliche Solidaritätsbekundung – ich, die nur dazu da ist, die Uhrzeit anzusagen, die Schlagzeilen über Veranstaltungen in Zusammenarbeit mit dem Sender zu verlesen und die Länge der Staus auf der Ringautobahn mitzuteilen. Dank ihrer Großzügigkeit wird nun übermorgen in meine lichtundurchlässige Hornhaut ein Ring aus schwammartigen Polymeren implantiert. Besiedelt von den Zellen des Auges, wird er mir das Licht zurückgeben, die Farben und Formen – in weniger als achtundvierzig Stunden, vorausgesetzt, es gibt keine Komplikationen. Die volle Sehkraft soll dann nach ein bis zwei Monaten wiederhergestellt sein.
Ich habe die Risiken akzeptiert, die Nebenwirkungen, die langfristige Ungewissheit. Eigentlich macht mir nur eine Sache Angst: die Welt vor meinen Augen … Wird sie genau so schön sein, wie ich sie mir seit meinem siebzehnten Lebensjahr vorstelle? Ist die Lebensfreude, die mir gewissermaßen als Antikörper dient, vielleicht bloß eine natürliche Reaktion auf die allgegenwärtige Nacht? Wird die Wirklichkeit mit dem Wachtraum übereinstimmen, der sie nacherschaffen hat?
An der linken Wade spüre ich Jules’ kühle Aufforderung, die er mir durch einen Nasenstupser übermittelt. Ich gebe ihm ein Macaron und denke wieder an meinen Helden bei Ladurée. Ich mochte sehr, wie dieser Typ uns verteidigt hat. Obwohl ich das Mitleid oder den Skandal mehr verabscheue als alles andere, bereitete es mir doch einen Mordsspaß, mit anzuhören, wie er den miesen Lümmel von Air France heruntergeputzt hat. Der Charakterzug des edlen Ritters, verkleidet als kleiner, anonymer Verkäufer – das hat mich ganz schwach gemacht, auch wenn ich es niemals zugeben würde.
ENDE DER LESEPROBE