Julia Collection Band 162 - Alexandra Sellers - E-Book

Julia Collection Band 162 E-Book

Alexandra Sellers

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Beschreibung

Der Wüstenstaat Bagestan vereint Tradition und Moderne. Werden am Ende auch die Prinzessinnen Noor, Jalia and Shakira mit dem Wüstensohn ihres Herzens vereint? MINISERIE VON ALEXANDRA SELLERS UNSERE INSEL DER LEIDENSCHAFT Kurz vor ihrer Hochzeit mit Scheich Bari erfährt Prinzessin Noor, dass ihr heißgeliebter Bräutigam von seinem Großvater zur Ehe gezwungen wurde. Wütend und in ihrer Ehre gekränkt, flieht sie Hals über Kopf in einem Flugzeug. Doch sie hat nicht mit Bari gerechnet, der ihr heimlich an Bord gefolgt ist ... SINNLICHE WÜNSCHE So sehr verzehrt sich Jalia nach Scheich Latif – doch er hält sie auf Distanz. Als sie während ihrer Reise durch Bagestan eine Nacht in seiner Villa verbringen, macht Latif sie endlich zu der Seinen! Jalia will für immer bei ihm bleiben, doch da taucht überraschend ihr Verlobter auf! HEIMKEHR IN DEN PALAST DER LIEBE Ein neues Leben hat für Prinzessin Shakira begonnen: Lange musste sie sich im Ausland verstecken – jetzt darf sie endlich wieder in ihrem Palast leben. Aber nicht nur Dankbarkeit empfindet sie für Scheich Sharif, der sie nach Bagestan zurückbrachte …

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Alexandra Sellers

JULIA COLLECTION BAND 162

IMPRESSUM

JULIA COLLECTION erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Katja Berger, Jürgen WelteLeitung:Miran Bilic (v. i. S. d. P.)Produktion:Christina SeegerGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

Neuauflage in der Reihe JULIA COLLECTION, Band 162 08/2021

© 2004 by Alexandra Sellers Originaltitel: „Sheikh’s Castaway“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Christiane Bowien-Böll Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BACCARA, Band 1356

© 2004 by Alexandra Sellers Originaltitel: „The Ice Maiden’s Sheikh“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Christiane Bowien-Böll Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BACCARA, Band 1360

© 2005 by Alexandra Sellers Originaltitel: „The Fierce And Tender Sheikh“ erschienen bei: Silhouette Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Christiane Bowien-Böll Deutsche Erstausgabe 2005 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg,in der Reihe BACCARA, Band 1364

Abbildungen: Harlequin Books S. A., GettyImages / javarman3, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 08/2021 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751502740

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

Unsere Insel der Leidenschaft

1. KAPITEL

Ungeduldig schob Prinzessin Noor den Brautschleier zur Seite, blickte aus dem Cockpitfenster – und verfiel fast in Panik.

Wolken.

Eine dicke grauweiße Masse bedeckte das Festland, so weit das Auge reichte.

Aber sie hatte keine Ahnung, wie man sich ausschließlich anhand der Instrumentenanzeigen orientierte. Sie konnte nicht durch Wolken fliegen.

„Das kann doch nicht sein“, flüsterte sie. Die türkisfarbenen Wellen des Golfs von Bakarat glitzerten unter ihr noch immer im Sonnenlicht. Aber das war auch keine Lösung, denn sie hatte nicht die geringste Übung darin, auf dem Wasser zu landen.

Warum hatte sie nicht früher gemerkt, dass sich da etwas zusammenbraute? Sie hätte längst etwas unternehmen sollen, um dieser Katastrophe auszuweichen. Hatte die Demütigung, die ihr wie ein Stachel im Fleisch saß, sie so sehr abgelenkt?

Noor blinzelte, als würde sie aus einem Traum erwachen, und sah sich um.

Was tat sie hier überhaupt?

Nicht einmal ihren Schleier hatte sie abgelegt, bevor sie ins Ungewisse gestartet war – und schon gar nicht auf das Wetter geachtet. Ja, sie hatte nicht einmal ein Ziel, außer so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Hochzeit mit Scheich Bari al Khalid zu bringen.

Wieder blickte sie hinaus auf die sich immer weiter ausbreitende Wolkendecke. Ihr Herz pochte heftig. Gut möglich, dass sie nicht nur die Hochzeit mit Scheich al Khalid für immer hinter sich gelassen hatte. Wenn diese Wolke sie einholte, dann würde sie überhaupt niemanden mehr heiraten.

Es hatte begonnen – ja, wann hatte es eigentlich begonnen? Als die Familien ihrer Eltern vor etwa dreißig Jahren aus diesem herrlichen Land flohen, damals nach Ghasibs Staatsstreich, und sich für Australien entschieden? Als ihre Eltern sich als junge Exilbagestani verliebten und heirateten?

Oder hatte es erst vor wenigen Monaten begonnen, als der viele Jahre währende Kampf der königlichen Familie um den Thron endlich von Erfolg gekrönt worden und Sultan Ashraf in seinem mittlerweile legendären Triumphzug, umjubelt von Menschenmassen, zum Alten Palast gezogen war?

Ja, vielleicht war das der Anfang gewesen, denn damals war Noor Ashkanis angenehmes, vorhersehbares Schicksal so sehr durcheinander geraten, dass es ihr vorkam, als sei sie plötzlich eine ganz andere Person geworden.

Damals hatte ihr Vater etwas verkündet, was ihre Welt völlig verändern sollte. Während sämtliche Mitglieder ihrer Familie, wie so viele andere Exilbagestani überall auf der Welt, im Fernsehen die Ereignisse verfolgt, Freudentränen vergossen und sich gegenseitig umarmt hatten, hatte ihr Vater auf das ernste, hoheitsvolle Gesicht von Sultan Ashraf al Jawadi gedeutet und gesagt: „Jetzt endlich kann es gesagt werden: Du bist nicht, was du denkst, Noor. Dieser Mann ist dein Cousin.“

Cousin! Dieser Mann auf dem weißen Pferd, der bald zum Sultan von Bagestan gekrönt werden würde! Und nicht einmal ein entfernter Cousin, oh nein. Noors Mutter war die Tochter des gestürzten Sultan Hafzuddin und dessen zweiter Frau Sonia. Ihr Vater stammte aus der Familie der Schwester des alten Sultans. Sie besaßen Paläste und andere Güter, die Ghasib beschlagnahmt hatte und die jetzt wieder an sie zurückgegeben werden würden. Sie, Noor, gehörte zum Adel.

Sie war also nicht mehr Noor Ashkani, Tochter eines Exilbagestani, der sich in der Fremde eine Existenz aufgebaut hatte und ziemlich wohlhabend war. Nein, sie war Sheikha Noor Yasmin al Jawadi Durrani, Enkelin des gestürzten Sultans von Bagestan, Cousine des jetzigen Thronanwärters und verwandt mit der königlichen Familie des benachbarten Königreiches Parvan.

Wie zur Bestätigung kam bald darauf die Einladung des neuen Sultans zu den Krönungsfeierlichkeiten in Bagestan, gedruckt auf edelstem Papier von besonders schwerer Qualität und mit dem königlichen Siegel versehen, das man seit mehr als dreißig Jahren nirgendwo mehr gesehen hatte.

„Eigentlich eher ein Befehl als eine Einladung“, hatte ihr Vater stolz erklärt.

Niemals war Noor etwas so zu Herzen gegangen wie der Anblick des königlichen Paares, beide hoch gewachsen und von stolzer Schönheit, angetan mit golden schimmernden Gewändern, geschmückt mit Perlen und Diamanten. Hunderte von ehrfürchtig schweigenden Gästen hatten zugesehen, wie sie langsam über den roten Teppich schritten, bis zum Thronsaal des Alten Pal­astes.

Scheich Bari al Khalid war einer der neu ernannten Tafelgefährten des Sultans und folgte, wie die anderen, dem Paar. Später erfuhr Noor, dass er der Enkel des Freundes ihres Großvaters war. Vor langer Zeit waren die beiden Großväter Tafelgefährten des damaligen Sultans gewesen.

Nun, wie auch immer, er war schlicht einer der attraktivsten Männer, die sie je gesehen hatte.

Noor drehte am Funkgerät.

„Matar Filkoh, hier ist Ida Siegfried Quelle zwo sechs.“

„Ida … sorry … bitte wiederholen.“ Das Funkgerät gab alle möglichen Geräusche von sich, nur keine verständlichen Worte. Offenbar war sie schon fast außerhalb der Reichweite des Towers.

„Hier ist ISQ, Ida Siegfried Quelle zwo sechs“, wiederholte sie langsam. „Erbitte aktuellen Wetterbericht, ich wiederhole, Wetterbericht.“

„Landebahn in … zwo, Bodenwind eins acht null Grad … bis zu fünfunddreißig … Wolken … fünfhundert Meter Höhe, … ziemlich schwerer Sturm … Regen!“

Und dann war absolut nichts mehr zu hören. Mit klopfendem Herzen brach Noor den Funkkontakt ab und lehnte sich einen Moment zurück, um zu überlegen. Der Flughafen befand sich in den Bergen, und bei einem Gewitter mit Windstärke zehn … würde sie es überhaupt schaffen?

Als sie losgeflogen war, war der Himmel klar gewesen. Dieses Wolkenungetüm musste sich in den Bergen zusammengeballt haben.

Jede Art von Wolke konnte absolut tödlich sein, wenn man nicht den Instrumentenflug beherrschte. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung davon. Wozu auch, wenn sie doch nur zum Spaß das Fliegen gelernt hatte?

Das Beste wäre, sofort auf dem Wasser zu landen. Aber sie hatte noch nie eine Wasserlandung gemacht.

Immerhin, sie hatte einmal einem Experten dabei zugeschaut. War das nichts?

Bari. Unwillkürlich schaute sie an sich herab. Weiße Seide, weiße Gaze, bestickt mit Perlen. Oh ja, Bari al Khalid war ein fantastischer Pilot, ein Experte. Wie auch in manch anderer Hinsicht, zum Beispiel was Verführungskünste betraf.

Oder Lügen. Aber zum Glück hatte sie das noch rechtzeitig herausgefunden. Suchend glitt ihr Blick über die Instrumententafel. Ah, da war die Uhr. Eine Stunde! War das alles? Hätte sie nicht gehört, was sie gehört hatte, und wäre sie nicht geflohen, dann wäre Scheich Bari al Khalid jetzt ihr Ehemann.

Es war auf dem Empfang im Anschluss an die Krönungszeremonie. Bari al Khalid wirkte so unglaublich hoheitsvoll, so männlich und stolz, geradezu arrogant in seinem rotbraunen Seidenjackett, der perlenbestickten Schärpe und dem mit Juwelen besetzten Schwert an der Hüfte, dass es völlig unmöglich war, keine Notiz von ihm zu nehmen.

Besonders aufregend war die Art, wie er sie immer wieder ansah. Sein Gesicht drückte dabei eine eigenartige Mischung aus Begierde und Zorn aus. Außerdem schien er ständig in ihrer Nähe zu sein. Jedes Mal, wenn sie aufblickte, war er da.

Noor war eine hübsche junge Frau, auf deren rundlichem Antlitz sich die Schönheit erst andeutete, zu der sie in einigen Jahren reifen würde. Doch an jenem Tag sah sie besonders bezaubernd aus. Ihren Eltern war nichts zu kostspielig gewesen, und so trug Prinzessin Noor ein sündhaft teures Kleid wie aus Tausendundeiner Nacht, es war aus pastellgrüner Seide, eine Kreation von Prinzessin Zaras Lieblingsdesigner.

Das Oberteil war eng anliegend und rückenfrei, und der halb transparente, mit glitzernden Perlen bestickte Stoff schmiegte sich an ihre vollen Brüste und ihre schmale Taille. Unterhalb der Taille bauschte sich der Stoff in einer eigenwilligen Mischung aus halblangem Rock und Pluderhose um ihre Beine. Gleichsam als eine ironische Anspielung auf den traditionellen Schleier vervollständigte ein Gebilde aus durchsichtigem Tüll, das vom Hinterkopf bis zu den Füßen reichte, ihr Outfit.

Noors Make-up war makellos, ihr dunkles rötliches Haar glänzte. Es war streng nach hinten frisiert, sodass ihre kleinen, perfekt geformten Ohrmuscheln betont wurden sowie ihr niedliches rundes Kinn und der seidig glatte, schlanke Hals.

Und alle Leute um sie herum hörten nicht auf, sie mit „Eure Hoheit“ anzureden.

Trotzdem fand sie es überwältigend, dass solch eine imposante Erscheinung wie Bari al Khalid nur einen Blick auf sie geworfen und sofort Feuer gefangen hatte.

Der Schatten des kleinen Flugzeugs tanzte über die glitzernden Wellen. Verzweifelt versuchte Noor, zu einer Entscheidung zu kommen. Sie war mit diesem Flugzeug schon zuvor gelandet, auf festem Boden und mit Bari auf dem Copilotensitz. Sie wusste, wie man es machte. Und falls nötig, würde sie auch auf flüssigem Grund landen.

Aber solange es noch eine andere Möglichkeit gab … Sie zog die Karte heraus und versuchte, ihre Position einzuschätzen, was nicht einfach war, da fast alle Landmarken, bis auf die Spitzen der Berge, von der Wolkenmasse verdeckt wurden.

Sollte sie versuchen, sofort zu landen? Dann wäre sie allerdings ziemlich weit draußen auf See. Wer würde sie finden und retten? Sollte sie es riskieren, näher ans Festland zu fliegen – und damit näher an die Wolke – bevor sie landete? Was, wenn die Wolke sich plötzlich ausdehnte und sie im Tiefflug verschluckte?

Außerdem: Noor konnte nur landen, solange die Sichtverhältnisse gut waren. Sie würde die Orientierung verlieren, sobald sie den Höhenmesser als einzige Orientierungshilfe hätte.

Das Meer war so trügerisch. Vielleicht würde sie aufs Wasser aufschlagen, während sie sich noch in dreißig Meter Höhe wähnte. Oder was sie für eine kleine Welle hielt, könnte sich als fünf Meter hohe Woge entpuppen.

Wie Bari al Khalid, dachte sie. Ich glaubte, wir seien uns nah, doch all die Zeit war er Welten von mir entfernt.

Dass der Tafelgefährte mit der Cousine des Sultans bekannt gemacht wurde, war eine protokollarische Selbstverständlichkeit. Er verbeugte sich höflich, mit einer Faust an der Brust, doch sein Blick war voller Glut. Und die männlich arrogante Selbstsicherheit, die seine dunklen Augen ausstrahlten, ließ Noor regelrecht dahinschmelzen.

„Kommen Sie“, hatte er gesagt, mit diesem typisch aristokratischen, unterschwellig befehlsartigen Ton, als ob es gar nicht möglich sei, dass sie andere Wünsche haben könnte als er. „Ich werde Ihnen die Gärten zeigen. Die Wasserspiele werden Ihnen gefallen.“

Noor war noch nie im Sturm erobert worden. Und sie wusste, es würde niemals wieder geschehen, nicht auf so überwältigende, Schwindel erregende Art. In den folgenden Wochen ihres Aufenthaltes in Bagestan – sie sollte die Heimat ihrer Eltern kennen lernen – nahm Bari all ihre Zeit in Anspruch. Nie zuvor in ihrem Leben hatte sie sich so gut amüsiert, und das, obwohl schon ihr ganzes Leben fast nur aus Vergnügen bestanden hatte.

Bari schien in allem ein Experte zu sein. Er spielte teuflisch gut Tennis, und er bewegte sich dabei so geschmeidig, dass Noor sich immer wieder vom Spiel seiner Muskeln ablenken ließ, anstatt auf den Ball zu achten. Er machte herrliche Segeltouren mit ihr auf der schönsten kleinen Yacht, die sie je gesehen hatte. Er ließ sie sein Privatflugzeug steuern, führte sie aus zu den Partys der Reichen und Berühmten, zu denen sie bis jetzt niemals Zugang gehabt hatte, und er brachte sie zum Lachen …

Und schließlich, bei einem ihrer Segelausflüge, hatten sie Sex gehabt. Es war das erste Mal für Noor, und es war traumhaft gewesen.

„Natürlich wirst du mich heiraten“, hatte er zu ihr gesagt, und seine Stimme war heiser und fordernd gewesen vor Leidenschaft. „Wir werden hier in Bagestan unsere Zukunft aufbauen und leben und unsere Kinder großziehen.“

Es war alles viel zu schnell gegangen. Natürlich. Ihre Cousine Jalia hatte sie gewarnt, und sie hatte recht gehabt. Aber in Noors Kopf hatte sich alles gedreht. Seit ihr Vater verkündet hatte, wer sie wirklich war, war ihre ganze Welt durcheinander geraten. Der einzige Halt war Bari gewesen – und Bari wollte sie zur Frau, Bari wusste, was er tat.

Sie war nur nach Hause geflogen, um alles Nötige zu veranlassen und so bald wie möglich wieder nach Bagestan zurückzukehren, zu einer gigantischen Hochzeitsfeier, die man in atemberaubendem Tempo auf die Beine gestellt hatte, und zu der praktisch jeder, der in Bagestan Rang und Namen hatte, eingeladen worden war.

Und dann, die Trauung sollte in wenigen Minuten stattfinden, war ihr der einzige Halt entrissen worden, den sie hatte. Sie hatte erfahren, was für eine Närrin sie gewesen war.

Bari wusste, was er tat, oh ja. Aber er liebte sie nicht. Er wollte sie nicht aus Liebe heiraten. Er wollte sie eigentlich überhaupt nicht heiraten.

Die Inseln! Natürlich! Es gab dort draußen Inseln! Wie hatte Noor das vergessen können? Sie und Bari waren doch über die Inselgruppe geflogen. Al Jeza ‚ir Khaleej hatte er sie genannt. Die Golfinseln.

„Sie sind unbewohnt, seit man die Insulaner gewaltsam evakuiert hat“, hatte er ihr erklärt. „Bis auf die größte, dort befindet sich ein Luxushotelkomplex. Das Gulf Eden Resort war einer der Tricks, mit denen Ghasib sich seine Taschen mit Devisen gefüllt hat. Es wurde von einer großen internationalen Hotelkette gebaut, für die Reichsten dieser Welt.“

Baris Stimme war voller Verachtung gewesen, und Noor hatte den Blick gesenkt und verschwiegen, dass sie selbst schon einmal erwogen hatte, dort Urlaub zu machen. Nur das strikte Verbot ihres Vaters hatte sie davon abgehalten.

Das könnte meine Chance sein, sagte sie sich. Aber wo waren die Inseln? Fieberhaft suchte sie auf der Karte und schickte ein Stoßgebet zum Himmel.

2. KAPITEL

Scheich Bari al Khalid betrachtete seine entflohene Braut über die Lehne des Passagiersitzes, der das Cockpit vom Gepäckraum trennte.

Wie konnte sie es wagen, sich auf diese Weise von ihrer Hochzeit davonzustehlen? Ohne ein Wort der Entschuldigung, ohne den geringsten Versuch einer Erklärung?

Was glaubte sie, wer er war, dass er sich mit einer solchen Beleidigung abfinden würde?

Sein Blick nahm einen Ausdruck grimmiger Belustigung an. Der Flughafen war also unter Wolken versteckt. Die Situation war heikel. Seine reizende Braut wusste nicht, wie man eine Wolke durchflog, und sie konnte nicht auf Wasser landen.

Wie sehr sie es verdient hatte, dieses Dilemma.

Wie dumm von ihr, diese Fluchtmethode zu wählen. Die See war launisch und unruhig seit dem Ende der Trockenzeit vor ein paar Wochen, und das wusste sie doch genau. Als unerfahrene Pilotin hätte sie niemals dieses Risiko eingehen und allein starten dürfen.

Erst als seine Lippen sich zu einem boshaften Grinsen verzogen, wurde ihm bewusst, wie sehr er die Kiefermuskeln angespannt hatte. Am liebsten würde er seine flüchtige Braut noch länger in ihrem Unglück schmoren lassen, um ihr eine Lektion zu erteilen. Verdammt, es wäre nicht schlecht, sich hier versteckt zu halten, bis der Tank fast leer wäre und sie das Schicksal um einen schnellen Tod anflehen würde. Wie sehr würde er es genießen, sie so verzweifelt zu sehen!

Aber er konnte das Risiko nicht eingehen. Sie könnte jeden Augenblick in Panik verfallen, und das könnte sie beide innerhalb von Sekunden das Leben kosten.

Nein, man konnte sich nicht darauf verlassen, dass Noor in einer schwierigen Situation einen klaren Kopf behalten würde.

Man konnte sich nicht einmal darauf verlassen, dass sie einfach nur ihr Wort hielt!

Nun, er würde sie dazu bringen. Dazu war er wild entschlossen. Sie würde nicht entkommen. Sie hatte sich ihm versprochen, und sie würde dieses Versprechen einlösen.

Bari richtete sich auf. „Na, da bist du wohl in deine eigene Falle getappt“, äußerte er sich vernehmlich. „Was hast du dir nur davon versprochen?“

„Bari?!“ Noors Kopf fuhr herum. Sprachlos betrachtete sie die vor Zorn glühenden Augen, das dunkle, schöne Gesicht, die hoch gewachsene Gestalt in dem königlichen Gewand aus roter, mit Perlen bestickter Seide. Sein mit Juwelen verziertes Schwert hing an seiner Seite.

Sie zog eine Grimasse. „Verflixt! Ich habe wohl Halluzinationen!“

„Ich wünschte, es wäre so!“, zischte er. „Ich wünschte, wir würden beide halluzinieren. Den Verstand zu verlieren wäre besser, als erkennen zu müssen, was für eine Frau du bist.“

Er nahm ihren Schleier, den sie auf den Copilotensitz gelegt hatte, und warf ihn verächtlich auf den Passagiersitz hinter ihr, so als ob ihm dieses Symbol ihrer Trauung Übelkeit bereitete. Noor spürte ein Ziepen auf ihrem Kopf, da das Ende des Schleiers immer noch an ihrem Haarkranz aus weißen Rosen befestigt war.

Bari schob sein Schwert geschickt zur Seite und setzte sich. Mit einer Selbstverständlichkeit, die Noor wütend machte, schnallte er sich an.

„Ich übernehme“, sagte er nur und begann, die Kontrollinstrumente auf seiner Seite einzuschalten. Seine Bewegungen waren ruhig und sicher und verrieten nichts von den Gefühlen, die ihn aufwühlten. Das Flugzeug gehorchte seinem Meister wie ein wohlerzogener Hund.

„Bist du real?“ Noor fragte sich, ob sie völlig verrückt geworden war. Sie hatte soeben jemandem die Kontrolle überlassen, der vielleicht nur ein Phantom war. Stürzten deshalb manchmal Flugzeuge ab, weil der Mann, der sie flog, nur in der Fantasie eines Verzweifelten existierte?

„Du wirst schon sehen, wie real ich bin“, brummte Bari. Noch nie hatte sie diese herrlich geschwungenen, sinnlichen Lippen so fest zusammengepresst gesehen. Er konnte keine Sinnestäuschung sein. Weshalb also sollte sie sich mit einer Halluzination noch mehr Angst machen als sie sowieso schon hatte?

„Ich schätze, du bist die Antwort auf mein Stoßgebet“, sagte sie und lachte bitter. „Gott hat schon einen merkwürdigen Sinn für Humor.“

„Du sprichst im Zusammenhang mit dieser Situation von Gott? Du?“

Sein Ton war so verächtlich, dass Noor eine Gänsehaut bekam.

Baris Blick war fest auf die Instrumententafel gerichtet. Da sie auf dem Pilotensitz saß, musste er den Oberkörper verdrehen, um alles sehen zu können. Sie spürte, wie das Flugzeug den Kurs änderte und in einem großen Bogen aufs Meer hinaus flog. Dort gab es keine Wolken, aber selbst wenn die Wolken sie einholen würden – Bari beherrschte die Kunst des Blindflugs.

„Wie bist du hierher gekommen? Hast du dich heraufbeamen lassen?“

Seine Stimme war wie ein Peitschenhieb. „Was glaubst du, wie schwierig es ist, einer weißen Limousine zu folgen, aus deren Schiebedach ein Brautschleier flattert? Und es war auch nicht wirklich schwierig zu erraten, dass du das Flugzeug nehmen würdest.“

Da irrte er sich. Das hatte sie gar nicht geplant. Darauf war sie erst gekommen, als sie entsetzt festgestellt hatte, dass sie in ihrer panischen Flucht nichts mitgenommen hatte, weder eine Handtasche, noch frische Kleidung, noch Bargeld. Und sie hatte nicht gewagt, zum Palast zu fahren. Dort würde man sie als erstes suchen.

Die Vorstellung, zur Hochzeit zurückkehren und den Gästen eine Erklärung abgeben zu müssen, wenn es doch keine vernünftige Erklärung gab, hatte sie in Panik versetzt. Aber dann hatte sie sich erinnert, dass Bari im Flugzeug immer einen gewissen Geldbetrag aufbewahrte für den Fall aller Fälle. Nach diesem Strohhalm hatte sie gegriffen.

Das Flugzeug war voll getankt gewesen und bereit für ihre Hochzeitsreise. Erst in diesem Augenblick war ihr der verrückte Gedanke gekommen, einfach vor den unlösbaren Problemen, die sie verursacht hatte, davonzufliegen.

„Wenn ich nur verstehen könnte, warum du das getan hast“, sagte Bari schneidend. „Selbst jemand, der in der Gosse groß geworden ist, würde sich nicht so taktlos und kindisch verhalten wie du!“

Noor zuckte innerlich zusammen. Sie hatte noch nie so einen hasserfüllten und verächtlichen Ausdruck auf Baris Gesicht gesehen. Sie hatte überhaupt noch nie jemanden so zornig gesehen, und sie musste zugeben, dass er nicht völlig Unrecht hatte. Aber so eine Schuldzuweisung konnte sie nicht widerspruchslos hinnehmen.

„Du bist vor mir im Flugzeug gewesen, und anstatt mich anzusprechen, hast du dich versteckt. Und du nennst mich kindisch?“

„Ja, dir hätte eine Konfrontation in aller Öffentlichkeit wohl Spaß gemacht, Noor, aber mir nicht. Wir werden nach Hause zurückkehren, und du wirst mich heiraten, ohne Widerspruch und ohne ein Wort in der Öffentlichkeit über dein unverzeihliches Verhalten.“

„Zurückkehren?“, rief sie mit überschnappender Stimme. Sie hatte gemerkt, dass Bari erneut den Kurs geändert hatte, zurück nach Bagestan. „Was machst du da? Wohin fliegen wir?“

„Wir werden am Bootssteg landen, zum Haus gehen und uns bei unseren Gästen für die Verspätung entschuldigen. Und dann werden wir unser Gelübde ablegen“, erklärte er mit jener ruhigen Bestimmtheit, zu der man nur in eiskaltem Zorn fähig ist. „Ein bisschen spät, aber gewisse Zugeständnisse an eine junge Braut sind noch zulässig, denke ich.“

Noor starrte ihn wütend an. Wie unglaublich anmaßend er war! Ihre aufkeimenden Zweifel an der Richtigkeit ihres Verhaltens wurden verdeckt von ihrer Wut. „Vielleicht ist es dir entgangen, dass die Braut es sich anders überlegt hat, Bari! Ich werde dich nicht heiraten!“

„Du hast es dir nicht anders überlegt“, erklärte er kühl. „Du hättest dich natürlich nie so verhalten, wenn du jemals wirklich vorgehabt hättest, mich zu heiraten. Aber du hast dir den falschen Mann ausgesucht, Noor. Ich mache diese Spielchen, die in der westlichen Welt wohl üblich sind, nicht mit. Du hast gesagt, du würdest mich heiraten. Und du wirst es tun.“

„Es ist kein Spiel! Ändere sofort den Kurs!“, schrie sie. Wie konnte er einfach so über sie hinweggehen, wo er doch bestimmt wusste, weshalb sie getan hatte, was sie getan hatte? Zumindest musste er einen Verdacht haben! Wofür hielt er sich eigentlich? „Wer glaubst du …?“

„Es wird nicht lange dauern. In der Zwischenzeit kannst du mir erklären, was das Ganze soll, wenn es denn kein Spiel ist. Und ich möchte nichts als die Wahrheit hören.“

„Die Wahrheit! Ha, das ist gut, wirklich! Ich bin nicht diejenige, die von Anfang an gelogen hat! Ich bin nicht diejenige, die ohne Gewissen handelt. Wie wäre es, wenn du endlich anfängst …“

„Du redest zu mir von Gewissen?“, schrie Bari. Offenbar war er kurz davor, seine eiserne Selbstkontrolle aufzugeben. „Was hat dich dazu gebracht, so zu tun, als wolltest du mich heiraten und mir dann so übel mitzuspielen? Hunderte von Gästen sind gekommen …“

„Es kann für dich nicht schwer sein, zu erraten, was mich dazu gebracht hat. Deine Lügen! Du musst doch gewusst haben, dass ich die Wahrheit …“

„… aus aller Welt, um nicht nur unsere Hochzeit zu feiern, sondern auch ihre Hoffnungen, die sie mit der Wiedergeburt unseres Landes verbinden.“

„… früher oder später herausfinden würde! Du hast wohl auf später gesetzt. Zu dumm!“

„Weißt du eigentlich, dass du fast in die Eskorte des Sultans hineingefahren wärst? Er und die Sultanin …“

„Ich habe sie an den bagestanischen Flaggen an den Stoßstangen erkannt“, gab Noor zu. „Sie sind gut, die Leute von deinem Boss. Sie haben mich fast von der Straße gefegt.“

Bari drehte sich zu ihr um. Seine Augen erschienen fast schwarz. „Rede nicht so von einem Mann, von dessen Mut und Stärke du keine Ahnung hast.“

Das Flugzeug hatte eine Wende von 130 Grad gemacht. Plötzlich war die Wolkenbank, die sich immer weiter über dem Festland ausdehnte, wieder in Sicht.

Baris Augen weiteten sich. Dann kniff er sie zusammen. Wie hatte er es zulassen können, dass er vor lauter Streiten vergaß, auf den Himmel zu achten?

Noor folgte seinem Blick und keuchte verblüfft. Bari war keine Minute zu früh aufgetaucht. Die Wolke hatte sich schnell vergrößert und raste auf sie zu.

Wenn ich jetzt allein wäre, würde ich mein letztes Gebet zum Himmel schicken.

„Cumulonimbus“, murmelte Bari. „Ich Idiot.“

Hilflos starrte Noor auf die unheilschwangere dunkle Masse, die sich ihnen entgegenschob.

Bari hatte recht.

„Aber am Flughafen sagten sie, es sei Nimbostratus!“, rief sie.

Er gab keine Antwort, sondern drosselte nur die Geschwindigkeit.

Cumulonimbus-Wolken waren selbst für einen gut ausgebildeten, erfahrenen Piloten gefährlich. Sie konnten ernsthafte Turbulenzen verursachen. Solche, in denen ein Flugzeug zerbrechen konnte wie ein Spielzeug.

Sie begannen, an Höhe zu verlieren, und Bari änderte erneut den Kurs, weg von der Küste. Natürlich, er würde versuchen, unterhalb der Wolke weiterzufliegen. Wenn er nur …

„Du hattest wohl nicht einmal genug Verstand, um dich umzuziehen!“, sagte Bari scharf, ohne den Blick von den Instrumenten zu nehmen. Dass seine Exbraut von mehreren Metern Seide und Tüll umhüllt war, machte es ihm nicht gerade einfacher. „Im Wasser würde dich das Zeug mit Sicherheit in den Tod ziehen. Zieh es aus.“

Dieser kalte Befehlston war ihr an ihm völlig neu. Noor kaute an ihrer Unterlippe. Im Wasser hatte er gesagt. Plötzlich erschien die Gefahr als etwas schrecklich Reales. Während Bari vergebens versuchte, Funkkontakt zum Flughafen zu bekommen, zerrte sie panisch das erste Dutzend Haarnadeln heraus, um den weißen Rosenkranz aus ihrem Haar zu lösen.

Plötzlich war das Meer, der Himmel, die Sonne verschwunden, und das kleine Flugzeug versank in einer Welt aus Grau. Noor hörte ein merkwürdiges Geräusch, wie ein unterdrücktes Prasseln. Im nächsten Moment sah sie die Regentropfen an den Glasscheiben.

Ihre Finger zitterten. Was sonst war jetzt zu tun? Bari schien die Situation, so weit das überhaupt möglich war, im Griff zu haben. Ihm ihre Hilfe anzubieten, wäre lächerlich.

Bari beugte sich vor. Eine seiner schwarzen Locken reflektierte das Licht der Instrumentenbeleuchtung. Was für ein unglaublich gut aussehender Mann er doch war. Noor konnte nicht anders, als ihn heimlich anzustarren. Er war schön, wenn auch nicht im konventionellen Sinn. Nein, Bari war wie einer von Saladins Kriegern, von wilder, stolzer Schönheit. Wenn doch nur …

Aber jetzt war nicht der richtige Moment für solche Gedanken.

Endlich löste sich der Kranz aus ihrem Haar, und mit ihm das ganze Geflecht aus Tüll und Seide, das ihren Brautschleier bildete. Mit schmerzverzerrtem Gesicht zog sie es sich vom Kopf und ließ es zu Boden sinken. Sie versuchte, nicht daran zu denken, wie glücklich sie noch gewesen war, als der Coiffeur ihr den Kranz ins Haar steckte.

Ohne die geringste Vorwarnung wurden sie von einer heftigen Böe durchgeschüttelt. Noors Herz setzte fast aus.

„Ya Allah!“, rief Bari, und plötzlich wurde aus dem Grau um sie herum tiefes Schwarz. Eine weitere Böe folgte.

Und dann, noch viel unheimlicher, leises Donnergrollen.

Noor überlief es kalt. Ihr Mund war plötzlich so trocken wie die Wüste. Es konnte nicht sein! Bitte nicht! Bitte …

Es donnerte wieder. Ein Gewitter. Und sie waren mittendrin.

3. KAPITEL

Es gibt für Piloten kaum etwas Gefährlicheres als ein Gewitter mitten in einer dichten Wolkenmasse. Noor wusste das. Es war der Albtraum eines jeden Piloten.

Womöglich würden sie beide durch ihre Schuld sterben. Ihr Herz pochte wild, aber alle Reue kam zu spät.

„Bist du fest angeschnallt?“

Seine Stimme war so unglaublich ruhig.

„Nein. Mein Kleid …“

„Zum Teufel mit dem Kleid.“ Sie spürte, dass sie immer noch an Höhe verloren. Diese Wolke schien überhaupt kein Ende zu nehmen. „Los, schnall dich an. Schnell.“

Ein Teil von ihr hätte diesem autoritären Ton am liebsten widersprochen, aber sie wusste, es wäre Wahnsinn. Also tastete sie unter den Bergen von Seide und Tüll nach ihrem Sicherheitsgurt.

Immer noch sanken sie tiefer.

„Landen wir?“

„Mal sehen“, erwiderte Bari zugeknöpft, und dann übertönte ein weiterer Donnerschlag seine Stimme.

Sie hatte noch nie zuvor Bari unter Stress erlebt, und sie war überrascht, wie kühl und ruhig dieser leidenschaftliche, temperamentvolle Mann sein konnte. Einen kurzen Augenblick dachte sie daran, wie sie zum ersten Mal Sex mit ihm – zum ersten Mal überhaupt – gehabt hatte. Da war er nicht kühl und kontrolliert gewesen … oder etwa doch? Wahrscheinlich hatte er ihr selbst da nur etwas vorgemacht.

Eine erneute Böe warf das Flugzeug hin und her. Noor taumelte auf ihrem Sitz. Da war das Geräusch von zerreißendem Stoff, und sie schleuderte heftig mit dem Arm gegen etwas Hartes. Tapfer unterdrückte Noor einen Schmerzensschrei und schloss endlich ihren Sicherheitsgurt. Die zarte Perlenstickerei auf ihrer Brust wurde dabei arg in Mitleidenschaft gezogen.

Wie schade – es war so ein schönes Kleid gewesen.

Eine Perle fiel herab, wie eine Träne. Eine zweite folgte und landete in Noors Handfläche. Wie dramatisch und endgültig ihre Träume zerstört wurden. Und doch …

Wenn sie geheiratet hätten, dann wäre es auch irgendwann dazu gekommen, dass sie Seite an Seite in diesem Flugzeug saßen.

Ob sie wohl ihr Leben lang geglaubt hätte, Bari liebe sie? Hätte sie ihren Traum immer weiter gelebt? Hätte er auch dann so getan, als ob? Nachdem er bekommen hätte, was er wollte? Oder hätte sie sehr schnell erkannt, dass er eine Närrin aus ihr gemacht hatte? Hätte sie jemals die Wahrheit erfahren, wenn sie sie nicht zufällig gehört hätte …

„Sie ist ja so verwöhnt! Kleider und Juwelen und möglichst viel Spaß, das ist alles, woran sie denkt. Sie ist absolut oberflächlich.“

Noor hatte vor dem Spiegel gestanden, umgeben von vielen Schichten Seide und Spitze, die ihren gebräunten Teint und ihr rötlich braunes Haar wundervoll zur Geltung brachten. Sie war so schön wie die Blüte einer prachtvollen Rose.

„Und ich glaube nicht, dass sie in irgendjemand anders als in sich selbst verliebt ist!“

Und wie ein Tautropfen auf einer Rose, so wirkte der legendäre al-Khalid-Diamant auf ihrer schimmernden Haut. Das Hochzeitsgeschenk von Baris Großvater hatte ihr fast den Atem genommen. Noor war an ein sorgenfreies Leben in Wohlstand gewöhnt, aber der Reichtum von Baris Familie ging weit darüber hinaus. Dieser Diamant war der größte, den Noor je gesehen hatte, und sein Feuer war so strahlend – fast glaubte sie, es auf ihrer Haut zu spüren. Wie Baris Augen, dachte sie mit einem köstlichen Schauer.

„Sie ist noch so jung.“

„Sie ist vierundzwanzig. Warum versuchst du, sie zu entschuldigen?“

Noor hatte so etwas schon früher gehört, entweder direkt oder als Andeutung. Die Frauen in Baris Familie waren keineswegs einstimmig entzückt über die Wahl, die er getroffen hatte. Aber das konnte ihr egal sein, oder?

„Sie ist von ihren Eltern verwöhnt worden, das stimmt“, hörte sie die etwas versöhnlichere Stimme von Baris Tante. „Aber sie ist eine al Jawadi. Sie hat mehr Tiefe, als ihr selbst bis jetzt bewusst ist.“

Natürlich wussten die beiden nicht, dass sie alles mithören konnte. Sie befand sich in dem großen luxuriösen Badezimmer, das zwischen ihrem Schlafzimmer und einem anderen lag. Bis vor wenigen Augenblicken war sie noch der Mittelpunkt geschäftiger Betriebsamkeit gewesen. Haarstylist, Kosmetikerin, Schneiderin und ihre persönliche Zofe hatten miteinander gewetteifert, aber jetzt war sie allein. Sie hatte sich unter dem Vorwand, ein letztes Mal die Toilette aufsuchen zu wollen, davongestohlen, um einen Moment Ruhe zu haben.

Und dann hatte sie durch die angelehnte Tür das Gemurmel aus dem anderen Schlafzimmer gehört.

„Er kennt sie erst seit ein paar Wochen“, erwiderte die jüngere der beiden Frauen. Noor fragte sich, ob diese Cousine, welche es auch immer sein mochte, selbst in Bari verliebt war.

„Du sprichst ja wie eine aus dem Westen. Warum sollte ein Mann seine Braut kennen? Es reicht, wenn seine Familie ihre Familie kennt.“

Gleich würde sie zurück in ihr Zimmer gehen. Dort würde sie auf Jalia und die anderen Brautjungfern warten, die an die Tür klopfen würden, um ihr zu sagen, dass die Zeit gekommen sei. Und dann würde man sie zu ihrem Bräutigam eskortieren, dem reichsten, bestaussehenden Mann, der jemals den Titel „Tafel­gefährte“ verdient hatte. Zu dem Mann, der praktisch auf den ersten Blick gewusst hatte, dass er Noor Ashkani – Prinzssin Noor Yasmin al Jawadi Durrani – heiraten wollte.

„Nun, es ist wohl doch etwas anderes, wenn eine Heirat arrangiert ist, nicht wahr?“ Das Gemurmel wurde lauter, als die beiden Frauen an der Tür vorbeigingen. „Dann haben die Familien zumindest eine gewisse …“

„Etwas anderes? Nun, wie auch immer. Diese Heirat wurde – nun ja, vielleicht nicht auf ganz traditionelle Art arrangiert, aber dein Großvater hat jedenfalls die Braut ausgesucht.“

„Wirklich?“ Die jüngere Stimme klang gleichzeitig schockiert und entzückt. Noors Augen weiteten sich. „Du meinst, Bari ist gar nicht in sie verliebt?“

Sie hörte sich richtiggehend befriedigt an. Blöde Kuh.

„Er hat ziemlich übellaunig reagiert, als sein Großvater ihm sagte, was zu tun sei.“ Jetzt wurden die Stimmen wieder leiser.

„Wie – aber wieso sollte Bari sich mit so etwas einverstanden erklären? Er ist doch so eigenwillig!“

„Bari hat keine Wahl. Wenn er das Recht auf den Familienbesitz in Bagestan will und das notwendige Geld, um ihn wieder in Stand zu setzen, dann muss er heiraten, wie es ihm befohlen wird. Dein Großvater möchte eine Allianz mit den Durranis. Er wird den gesamten Besitz jemand anderem vererben, falls Bari …“

Die Tür wurde plötzlich zugemacht, und die Stimmen verstummten. Noor stand wie erstarrt, ihr Gesicht war fast so weiß wie der Schleier. So stand sie mitten in den Trümmern ihrer lächerlichen Kleinmädchenträume.

Lautes Donnern brachte sie zurück in das Hier und Jetzt. Oh, wenn doch ihr Vater ihr niemals die Geschichte ihrer Familie erzählt hätte! Wenn sie doch zu ihrem normalen Leben zurückkehren könnte und niemals etwas davon erfahren hätte, dass sie eine Prinzessin war. Prinzessin! Sie waren doch glücklich und zufrieden gewesen. Aber jetzt? Ihr Leben hatte sich so sehr geändert, ja, es könnte sogar zu Ende gehen innerhalb der nächsten Minuten, viele Meilen von zu Hause entfernt.

Der nächste Donnerschlag ließ sie fast aufschreien. In der brodelnden Finsternis hatte sie einen Blitz gesehen. Wenn ein Blitz sie träfe …

Sie gerieten in eine besonders heftige Böe und verloren innerhalb von Sekunden viele Meter an Höhe. Noors Magen wehrte sich. Oh, bitte nicht. Ich will mich nicht übergeben.

Blitze tanzten wie Derwische durch die Dunkelheit um sie herum, und der Lärm war ohrenbetäubend. Sie befanden sich mitten im Zentrum des Sturms.

Bari kämpfte gegen das Unwetter und konnte nur hoffen, dass sie in Richtung der Golfinseln flogen. Er war keineswegs sicher. Die Instrumente waren völlig sinnlos geworden, sie zeigten von Sekunde zu Sekunde etwas anderes an. Die Nadeln der Naviga­tionsgeräte tanzten genauso wie die Blitze.

Oh, er hatte viel zu lange ohne Verstand gehandelt. Der war ihm offenbar abhanden gekommen, seit ihm sein Großvater dieses Ultimatum gestellt hatte. Zu dumm, dass ihm das erst jetzt klar wurde.

Aber jetzt war nicht der Moment, um deswegen in Zorn zu geraten, weder mit seinem Großvater noch mit Noor. Er musste sich darauf konzentrieren, was jetzt zu tun war.

Er könnte versuchen, unter der Wolke herzufliegen, aber das war riskant: Manche der Inseln waren stark zerklüftet, mit hohen Bergen. Und selbst an der Küste waren einzelne Erhebungen mehrere Hundert Meter hoch. Ganz gleich, ob er auf dem Kurs war, den er ursprünglich eingeschlagen hatte, oder nicht – tiefer zu fliegen wäre schrecklich riskant.

Aber weiter durch den Sturm zu fliegen, wäre noch viel gefährlicher. Er musste es riskieren, musste versuchen zu landen. Hoffentlich würde er rechtzeitig aus dieser Wolke herauskommen, um zu sehen, wo er war.

Noors Mund war staubtrocken. Ihr Herz pochte, als wolle es ihr aus der Brust springen. Panische Angst verursachte ihr einen metallischen Geschmack auf der Zunge. Noch nie zuvor hatte sie Angst um ihr Leben gehabt. Sie könnten vom Blitz getroffen werden. Der Sturm könnte das Flugzeug zerreißen. Sie könnten abstürzen.

Oder ein Berg könnte sie aufspießen.

Sie wünschte, sie könnte gegen etwas schlagen oder treten.

Sie wünschte, sie könnte aufwachen und feststellen, dass alles nur ein böser Traum war.

„Oh, Gott!“, wimmerte sie, als das Flugzeug unter einem weiteren gewaltigen Donnerschlag erzitterte. Wie war es nur möglich, dass eine einzige Handlung solch eine Folge von Ereignissen auslöste? Wenn sie alles noch einmal von vorne beginnen könnte …

„Bete lieber um unseren gesunden Menschenverstand, wenn du schon dabei bist“, sagte Bari grimmig. Er kämpfte darum, das Flugzeug auf Kurs zu halten, und er schien sich und seine Ängste völlig im Griff zu haben.

Die Ungerechtigkeit seiner Bemerkung erboste sie – oder war es die Gerechtigkeit? Jedenfalls knirschte sie mit den Zähnen vor Wut, und plötzlich richtete sich ihre Wut gegen ihre eigene Ängstlichkeit. Wenn dies ihr Tod sein sollte, dann wollte sie ihm nicht wie ein Feigling begegnen! Die letzten Minuten ihres Lebens würde sie nicht in Panik verbringen, ihr Schicksal anflehen oder ihre eigenen Dummheiten bereuen.

„Es muss doch irgendetwas geben, das ich tun kann!“, schrie sie, um den höllischen Lärm zu übertönen.

Bari schaute sie einen Moment lang ruhig an. Dann deutete er mit dem Kinn auf das Funkgerät.

„Versuche noch einmal, Kontakt zum Tower zu bekommen“, schrie er zurück, nur um ihr etwas zu tun zu geben. „Gib ihnen unsere Koordinaten durch. Höhe: elfhundert, fallend. Position zwo, zwo, fünf. Frag, ob sie uns auf dem Schirm haben und unsere Position bestätigen können.“

Doch das Gerät antwortete nur mit Rauschen. Sie waren außerhalb der Reichweite, aber damit wussten sie noch nichts über ihre tatsächliche Position – außer dass sich vielleicht ein hoher Berg zwischen ihnen und dem Flughafen befand.

„Schalte um auf die Notruffrequenz“, befahl Bari. Wieder musste Noor gegen Panik ankämpfen. Jeder Pilot kannte die Frequenz, in der Hoffnung, sie niemals benutzen zu müssen. Noor schaltete auf 121.5 und räusperte sich.

„Mayday, May…“, begann sie mit brüchiger Stimme.

Plötzlich wurde es gleißend hell um sie herum. Dann herrschte einen Moment lang fast so etwas wie Stille. Es folgte ein absolut ohrenbetäubender, apokalyptischer Donnerschlag.

„Sind wir vom Blitz getroffen?“ Noor brachte die Frage nur mühsam heraus.

Bari zuckte die Achseln. „Die Elektrik funktioniert noch.“ Er drosselte die Geschwindigkeit noch weiter.

„Ich lande jetzt. Das Meer wird ganz schön unruhig sein, aber es ist immer noch besser, wenn das Fugzeug dort unten zerbricht als hier oben.“

Wenn dort unten wirklich das Meer war.

Noor wurde plötzlich ganz ruhig. Mash’allah. „Na schön. Was soll ich tun?“

„Dort hinten gibt es ein Rettungsfloß“, sagte Bari. „Kannst du es herausholen?“

Sie setzte das Mikrophon ab und löste ihren Sicherheitsgurt. „In Ordnung.“

„Pass auf, mach dich auf noch mehr Turbulenzen gefasst.“

Hastig kickte sie ihre Schuhe fort und kämpfte sich so schnell sie konnte durch das schlingernde Flugzeug bis zum Laderaum. Der Sturm gab sein teuflisches Bestes, um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen.

Im Laderaum hinter den Sitzen fand sie einen kofferartigen Container, der an der Kabinenwand befestigt war. Ähnliche Dinge hatte sie des Öfteren auf Segeljachten von Freunden gesehen und niemals im Entferntesten daran gedacht, einmal Gebrauch davon machen zu müssen.

Sie kniete nieder, wobei das Brautkleid eine dicke Wolke um sie herum bildete, und versuchte, die Klammern zu lösen, mit denen der Container befestigt war. Nur ganz am Rande nahm sie wahr, dass dabei einer ihrer perfekt manikürten pfirsichfarbenen Fingernägel zu Bruch ging.

Rettungsinsel, vier Personen. Nicht in geschlossenen Räumen aufblasen.

Bari fluchte, als das Flugzeug Sprünge machte wie ein bockiger Esel, und Noor wurde erst gegen die Rückenlehne eines Sitzes geschleudert, dann gegen die Kabinenwand. Unter Fluchen und Tränen schaffte sie es, den Container aus den Klammern zu lösen und sich wieder nach vorne zu arbeiten bis hinter Baris Sitz.

Baris Stirn glänzte von Schweiß, und sein Gesicht war ganz weiß vor Anspannung. Eine schwarze Locke fiel ihm in die Stirn. „Setz dich“, befahl er. „Wir kommen gleich aus der Wolke raus, und dann muss ich das Flugzeug vielleicht ganz schnell wieder hochreißen.“

Noor wurde es fast übel vor Angst, als Bari so nüchtern aussprach, was sie längst wusste: Möglicherweise waren sie kurz davor, an einem Berg zu zerschellen. Noor presste die Lippen zusammen, setzte sich und ließ den Gurt einrasten.

Der Regen prasselte mit unglaublicher Gewalt gegen die Scheiben, und das Heulen des Windes war mehr wie ein Brüllen. Noor hatte noch nie so infernalischen Lärm erlebt. Gleichzeitig grollte unaufhörlicher Donner um sie herum. Sie spürte den tosenden Lärm in ihrem ganzen Körper.

Zitternd griff sie nach dem Mikrophon. „Mayday, Mayday, hier ist Ida Siegfried …“

Plötzlich war die Wolke verschwunden, und sie flogen durch prasselnden Regen, der allerdings so dicht war, dass sich an der Sicht fast nichts änderte. Immerhin konnten sie unter sich Wasser sehen. Al-hamdu-lillah, Gott sei’s gedankt. Sie sah hinüber zu Bari, aber da war nichts in seinem Gesicht zu lesen als eiserne Konzentration.

„Mach dich auf etwas gefasst“, warnte er sie. Die See wirkte kein bisschen anheimelnd.

„Hier ist Ida Siegfried Quelle zwo sechs“, versuchte sie es noch einmal. „Wir sind …“

Bari ließ das Flugzeug weiter sinken. Er versuchte abzuschätzen, wie hoch die Wellen waren. Das Meer war doch viel stürmischer, als er erwartet hatte.

Im nächsten Moment berührte der Bauch des Flugzeugs schon das Wasser. Es gab einen heftigen Ruck. Und dann noch einen. Und noch einen. Verzweifelt versuchte Bari zu verhindern, dass die Nase des Flugzeugs untertauchte. Die Muskeln an seinen Armen zeichneten sich deutlich ab. Als das Flugzeug zum Stillstand kam, wurde der linke Flügel von einer besonders starken Welle erfasst. Berstendes Metall verursachte ein unerträglich kreischendes Geräusch. Das Flugzeug wurde herumgewirbelt, hochgeschleudert, zurückgeworfen. Es kippte erst nach vorne und dann langsam wieder zurück.

4. KAPITEL

Das Kreischen hörte auf. Die Propeller stoppten. Der peitschende Regen wurde noch stärker, und doch erschien den beiden das Geräusch fast wie Stille. Bari riss seinen Gurt auf.

„Bist du verletzt?“, fragte er schroff.

„Nein“, erwiderte Noor schwach. Aber sie stand so sehr unter Schock, dass sie es gar nicht wahrgenommen hätte, selbst wenn sie sämtliche Knochen gebrochen hätte.

„Die Kabine ist beschädigt“, stellte Bari fest und stieß die Tür auf. Gnadenlos schwappten die Wellen gegen das Flugzeug und fast schon ins Innere. „Wir haben nur ein paar Minuten, bis es untergeht.“

Noor war es ganz schwindlig. Zitternd löste sie ihren Gurt und erhob sich.

Bari stand in der Tür. Der Regen prasselte auf ihn nieder. Im Nu war sein Seidenjackett völlig durchnässt und klebte an seiner Haut. Fachmännisch vertäute er das Seil des Rettungsfloßes an einer Metallstrebe. Irgendwie wirkte er selbst in seiner Aufmachung als Bräutigam überhaupt nicht fehl am Platz. Das lila Seidenjackett war Bestandteil seiner Uniform als Tafelgefährte des Sultans. Es unterstrich seine männliche Ausstrahlung. Das juwelenbesetzte Schwert an seiner Seite schimmerte, und er sah aus wie ein edler Krieger auf einem alten Ölgemälde, bereit zum Kampf, ganz gleich gegen welche Schrecknisse.

Um sie herum blitzte und donnerte es.

„Zieh dein Kleid aus“, schrie er.

Unwillkürlich fasste sie sich an die Kehle. „Aber ich …“

„Sofort!“ Seine Stimme ließ keinen Widerspruch zu. „Willst du ertrinken?“

Sie war viel zu schockiert und entsetzt, um zu streiten. Er hatte ja recht. Und überhaupt, was hatte sie vor Bari zu verbergen? Er war mit ihrem Körper so intim gewesen, als ob es sein eigener wäre.

Bari verschwendete keine Zeit, um nachzuschauen, ob sie gehorchte. Stattdessen zerrte er das Rettungsfloß durch die Tür.

Noor nestelte an den mit Seide bezogenen Knöpfen in ihrem Rücken. Sie schaffte es, drei oder vier davon zu öffnen, aber das Kleid war zu eng. Sie reichte nicht an die anderen Knöpfe heran.

„Du wirst mir das Kleid aufmachen müssen“, sagte sie heiser, doch in dem Moment öffnete sich der Container, und das Rettungsboot entfaltete sich unter lautem Zischen.

„Du musst mir das Kleid aufmachen!“, schrie sie.

Er drehte sich zu ihr um. Sie wandte ihm den Rücken zu und blickte über die Schulter. Ihre Blicke trafen sich. Dann glitt Baris Blick tiefer, auf ihr offen herabfallendes schimmerndes Haar, auf das halb geöffnete Kleid und die weiche, zarte Haut unter der glänzenden weißen Seide.

Selbst jetzt, da sie sich beide in höchster Gefahr befanden, konnten sie beide nicht anders, als daran zu denken, wie es hätte sein können …

Bari öffnete zwei der unmöglich winzigen Knöpfe, dann brummte er etwas, das Noor nicht verstand, und riss das Kleid einfach auf.

Sie sagten beide kein Wort. Bari drehte sich um und machte sich wieder am Rettungsfloß zu schaffen. Es war jetzt fast vollständig aufgeblasen, und Bari griff schnell nach einem kleinen Behälter. Das Wasser floss schon ins Flugzeuginnere. Ihnen blieb nicht mehr viel Zeit.

Noor zerrte sich das Kleid vom Körper. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, klammerte sie sich mit aller Kraft an der Rückenlehne ihres Sitzes fest, ließ das Kleid zu Boden fallen und stieg über das wolkenartige Gebilde hinweg. Jetzt hatte sie nichts mehr am Leib außer einem Body und Strümpfen.

Sie hob das Kleid auf, so schwer es auch war mit seinen vielen Metern Stoff, und legte es sich über den Arm.

Mit einem lauten Knall klappte das signalrote Zelt über dem Floß auf. Bari hielt es fest, damit es nicht weggetrieben wurde, und warf sein Schwert durch eine Spalte in das Zelt. Der Blick, mit dem er Noor bedachte, war kalt und unpersönlich. Nicht einmal durch ein kleines Zucken der Mundwinkel gab er zu erkennen, ob er sich erinnerte, dass sie sich beim letzten Mal, als er sie so gesehen hatte, geliebt hatten.

Blitze zerteilten den schwarzen Himmel, und Donner grollte über das Meer. Eine Böe fegte über sie hinweg, das Flugzeug machte einen Satz.

„Schuhe?“, schrie Bari.

„Ausgezogen.“

„Spring!“

Sie drückte das Kleid an sich und nahm innerlich Anlauf. „Was zum Teufel soll das Kleid dabei?“

„Es ist alles, was ich habe!“, schrie sie gegen den Lärm an. Und ohne auf seine Zustimmung zu warten, sprang sie und landete auf dem Zelt. Es knickte unter ihrem Gewicht ein, und sie stieß mit dem Knie an einen harten Gegenstand. Es tat weh.

Noor verfiel fast in Panik, doch als sie aufblickte, sah sie, dass Bari völlig ungerührt war. Das Floß hob und senkte sich mit den Wellen, während der Regen wie eine Sintflut auf sie herabströmte.

„Rutsch rüber!“, rief Bari. Fieberhaft knüllte sie mit einer Hand das Kleid zusammen, während sie mit der anderen ein Seil zu fassen bekam und sich daran festklammerte.

Im nächsten Moment landete Bari neben ihr.

„Schlüpf durch den Eingang – wir müssen das Zelt aufrichten!“, rief er. Irgendwie schaffte sie es, durch den Schlitz unter das Zelt zu kriechen wie in einen Schlafsack.

Bari rutschte näher heran und kroch dann ebenfalls kopfüber durch die Öffnung. Zu Noors Überraschung klappte das Zelt, als es von ihrer beider Gewicht befreit war, wieder auf. Plötzlich hatten sie so etwas wie ein Dach über dem Kopf.

Bari setzte sich sofort auf, griff nach seinem Schwert und zog es aus der Scheide.

Es passierte so schnell, dass Noor der Atem stockte.

„Bari!“, schrie sie heiser.

Mit der freien Hand griff er nach dem Seil, das Floß und Flugzeug miteinander verband. Dabei musste er sich gefährlich weit hinausbeugen.

„Bari!“, schrie Noor wieder, diesmal in einem ganz anderen Ton, und sie warf sich auf ihn und hängte sich mit ihrem ganzen Gewicht an seinen Gürtel. Das Floß neigte sich beängstigend tief auf eine Seite.

Bari drehte sich um und blickte ungläubig auf sie herab. Der Regen war so dicht, dass man kaum etwas sehen konnte, aber Noor erkannte durchaus den Zorn in Baris Blick.

„Zurück! Du bringst uns noch zum Kentern!“, befahl er wütend.

Noor ließ seinen Gürtel los, als habe sie sich verbrannt, und kroch zurück ins Zelt.

Bari hieb das Seil durch und kam ebenfalls ins Zelt zurück. Er wischte das Schwert an seinem Ärmel ab, als ob das einen Sinn hätte, und schob es bedächtig in das Futteral zurück.

Aus den Augenwinkeln bemerkte Noor einen Gegenstand, der an der Innenwand des Zeltes befestigt war. „Anscheinend gibt es hier ein kleines Messer, Bari. Ich schätze, man geht nicht davon aus, dass Leute in Seenot ein wertvolles Schwert bei sich haben.“

Baris Mundwinkel zuckten, und für eine Sekunde glaubte sie, wieder den alten, humorvollen Bari vor sich zu haben. Aber es war keine Zeit für Scherze. Die Wellen brachen über sie hinweg. Plötzlich wurde das Floß hochgeworfen. Noor wurde es übel. Das Flugzeug lag schon beängstigend tief im Wasser. Würden sie mit hinabgezogen werden?

Am Boden des Floßes war eine rote Plastiktasche befestigt. Bari machte sich an dem Verschluss zu schaffen. Kurz darauf holte er ein kleines Kunststoffpaddel heraus und einen Metallstab. Fachmännisch befestigte er den Stab an dem Paddel.

„Was soll das sein?“, fragte Noor ängstlich.

Bari warf es ihr zu. „Noch nie ein Paddel benutzt?“, fragte er. „Sieh zu, dass du es lernst.“

Mit routinierten Bewegungen holte er ein weiteres Paddel aus der Tasche und setzte es zusammen.

„Sollten wir nicht den Eingang verschließen? Es kommt so viel Wasser herein“, jammerte Noor.

„Zuerst gibt es etwas anderes zu tun. Nimm das in die Hand und hilf mir.“

Ihr ganzes Leben war Noor umhegt und umsorgt worden. Als einziges Mädchen und jüngstes Kind der Familie war sie immer etwas Besonderes gewesen. Niemand stellte jemals an sie eine Forderung. All ihre Bedürfnisse wurden stets durch die Bemühungen anderer erfüllt – ihrer Diener, ihrer Eltern, ihrer Brüder. Sogar ihre Cousine Jalia half mit, wenn es darum ging, sie gegen die Tatsache abzuschirmen, dass das Leben eigene Anstrengungen erforderte. Die Anstrengungen, die Noor bisher zustande gebracht hatte, gingen allesamt in Richtung Spaß und Vergnügen.

Und niemand – auch nicht Bari – hatte jemals in dem Ton zu ihr gesprochen, in dem ihr Bräutigam jetzt mit ihr redete.

„Wozu? Wo wollen wir denn hin? Wir wissen nicht einmal, wo wir sind.“

„Wir wissen, dass wir verdammt noch mal viel zu nah am Flugzeug sind, und das ist dabei zu sinken“, erklärte Bari mit verhaltenem Zorn. „Wir haben jetzt keine Zeit zum Streiten. Versuch, dein Gewicht irgendwie zu verteilen. Es ist gefährlich, das ganze Gewicht auf einer Seite zu haben, aber uns bleibt jetzt nichts anderes übrig.“

Bari schob Kopf und Oberkörper hinaus und begann zu paddeln, um das Floß möglichst schnell von dem sinkenden Flugzeug wegzuschaffen. Ihre derzeitige Lage war äußerst riskant. Eine Welle könnte sie direkt gegen das Flugzeug werfen – oder sie könnten mit ihm hinabgezogen werden.

Zu Baris Erstaunen tauchte Noor neben ihm auf, das Paddel in der Hand.

„Was soll ich tun?“, schrie sie gegen den Sturm an.

„Wir müssen versuchen, vorne am Flugzeug vorbeizupaddeln, und dann so weit weg wie möglich“, schrie er zurück.

Noor konnte kaum etwas sehen, ja, sie konnte kaum atmen, so heftig waren Sturm und Regen, aber Bari hatte sie herausgefordert, und sie würde nicht einfach klein beigeben.

„Guck, wie ich es mache“, erklärte Bari.

Gemeinsam kämpften sie schweigend Seite an Seite, um ihre Rettungsinsel aus der Gefahrenzone zu bringen. Eine sehr große Welle half ihnen dabei. Bald hatten sie es geschafft.

„Das reicht“, sagte Bari. Sie ließen sich ins Zeltinnere zurückgleiten, und Bari verschloss den Eingang. Endlich hatten sie ein wenig Ruhe vor dem Sturm und dem Regen. Sie waren völlig durchnässt, es war schrecklich kalt, und sie waren eingeschlossen in einen winzigen Raum, in dem kniehoch das Wasser stand. Zum ersten Mal wurde Noor bewusst, dass Komfort eine relative Angelegenheit war.

Ungefähr eine Minute blieben sie keuchend sitzen. Dann schob Bari erneut den Kopf durch die Spalte und benutzte noch einmal das Paddel, um das Floß einmal um die eigene Achse zu drehen und dabei den Horizont abzusuchen.

Sie waren jetzt ziemlich weit vom Flugzeug entfernt, das bereits zur Hälfte versunken war. Bald wäre es ganz verschwunden. Weder ein Schiff noch die Küste waren in der Ferne zu sehen. Allerdings regnete es noch immer sehr stark, was die Sicht stark beeinträchtigte.

Bari verschloss den Eingang wieder.

„Nirgendwo Land zu sehen?“, fragte Noor hoffnungsvoll.

„Nein, aber wenn wir Glück haben, sind wir in der Nähe der Golfinseln.“ Er griff erneut in die Notfalltasche und zog ein in Plastikfolie geschweißtes Blatt heraus. „Sofortmaßnahmen im Notfall“ stand darauf.

Bari blickte stirnrunzelnd auf das Blatt, dann streckte er die Hand nach oben und schaltete eine kleine Lampe ein.

Noor war es mittlerweile schrecklich schwindlig von dem ständigem Auf und Ab. Die Spitzenstrümpfe rutschten ihr von den nassen Schenkeln. Sie streifte sie ganz ab. Bari zog indessen ein Stück Seil und einen merkwürdig geformten Gegenstand aus der Notfalltasche.

„Wozu ist das?“, fragte Noor, aber Bari schüttelte nur den Kopf, als müsse er eine lästige Fliege abwehren. Noor schwieg bedrückt. Da fiel ihr Blick auf ihr zusammengeknülltes Brautkleid. Sie streckte die Hand aus und zog es zu sich herüber.

Sie wusste, es war idiotisch, aber sie achtete sorgfältig da­rauf, nur einen der Unterröcke zu verwenden, als sie versuchte, sich das Gesicht abzuwischen. Der weiße Stoff bekam dabei lauter schwarze und grüne Flecken ab, ihr Gesicht musste also ein hoffnungsloses Chaos aus verschmierter Schminke sein. Sie versuchte, sich die Haare zu trocken, denn sie fror inzwischen jämmerlich, aber das Kleid war so nass, dass dieser Versuch aussichtslos war.

Minutenlang sagten sie beide kein Wort. Noor setzte sich aufrecht hin und versuchte, sich nicht seekrank zu fühlen. Normalerweise war sie eine gute Seglerin. Aber hier drin war es fürchterlich eng – vor allem für zwei Passagiere, von denen einer eine entflohene Braut war und der andere der wütende Exbräutigam – und man hatte keinerlei Blickkontakt mit der Welt da draußen.

Noor schauerte vor Kälte. Noch nie war sie so den Elementen ausgeliefert gewesen.

„Wie lange, glaubst du, wird es dauern, bis man uns findet?“, fragte sie ängstlich.

Bari blickte von dem Blatt auf und hob spöttisch eine Braue. „Wer, glaubst du, wird denn nach uns suchen?“

5. KAPITEL

Entsetztes Schweigen. Dann donnerte es, doch jetzt, al-hamdu-lillah, schien das Gewitter sich endlich zu entfernen.

„Was?“, flüsterte Noor erschüttert.

„Wer weiß denn, dass wir mit dem Flugzeug unterwegs waren? Wer weiß, dass wir notgelandet sind?“

„Aber – auf dem Radar!“

Bari schüttelte den Kopf. „Wir sind wahrscheinlich die meiste Zeit unterhalb der Reichweite des Radars geflogen.“

Er begann die Ankerleine abzurollen. „Selbst wenn man entdeckt, dass wir das Flugzeug benutzt haben, weshalb sollte irgendjemand annehmen, dass wir nicht gesund und wohlbehalten an unserem Zielort angelangt sind?“

Noor konnte Bari nur anstarren. Wollte er damit wirklich sagen, dass das hier noch lange so weitergehen würde?

„Es sei denn, jemand erwartet dich irgendwo.“ Baris Blick wurde hart.

Was meinte er damit? „Was ist mit dem Hotel, das wir gebucht haben? Wird man dort nicht nach uns fragen?“

Bari lachte bitter. „Wer wird mit unserer Hochzeitsreise rechnen, nachdem wir doch gar nicht geheiratet haben?“

Er machte sich weiter an dem Anker zu schaffen, so als ob er von einer Sekunde zur anderen vergessen könnte, dass Noor überhaupt existierte. Es machte sie wütend. Auch wenn all seine Aufmerksamkeit ihr gegenüber nur gespielt gewesen war, sehnte sie sich jetzt doch danach.

Plötzlich begann sie sich zu fragen, was wohl nach ihrer Flucht geschehen war. War der Alarm losgegangen? Die Wachleute am Ausgang mussten sie doch bemerkt haben. Aber was genau hatten sie gesehen?

„Haben die Leute gemerkt, was passiert ist? Haben sie …“ Sie brach ab.

„Haben sie gemerkt, dass meine Braut es sich anders überlegt hat?“, ergänzte Bari grimmig, und plötzlich war seine kühle, beherrschte Fassade verschwunden. „Ich weiß nicht, was sie gemerkt haben“, sagte er unwirsch. „Was spielt es schon für eine Rolle? Unsere Familie zu beleidigen, unsere Freunde und all unsere Gäste! Es gibt keinen Grund auf Gottes Welt, der solch ein Verhalten rechtfertigen würde!“

Noor war es nicht gewohnt, kritisiert zu werden. „Du warst der Grund“, gab sie wütend zurück. „Kann sein, dass du nichts dabei findest, einfach über mich hinwegzugehen, aber es ist ein bisschen viel verlangt zu erwarten, dass ich das einfach mit mir machen lasse!“

Vielleicht war sie jetzt erst recht wütend, weil sie plötzlich starke Schuldgefühle entwickelte. In Ländern wie Bagestan und Barakat spielte die Gastfreundschaft eine ganz besondere Rolle. Sie war fast eine religiöse Pflicht. Und sie selbst war ja in einer Familie von Exilanten aufgewachsen, in der man ganz besonderen Wert auf solche Traditionen legte.

„Über dich hinweggehen?“ Bari schnaubte verächtlich. „Eher würde ich über ein Nagelbrett gehen.“

„Das dürfte kein Problem sein, wenn man Hornhaut auf der Seele hat.“

„Nicht so viel Hornhaut, als dass ich nicht merken würde, wenn ich noch mal Glück gehabt habe.“

„Haha“, zischte Noor. „Noch vor ein paar Minuten hast du davon geredet, mich zum Altar zu zwingen! Aber egal, du wolltest mich jedenfalls nicht um meiner selbst willen heiraten, oder? Du hattest andere Mot…“

„Und auch nicht wegen deiner bewundernswerten Selbsteinschätzung“, fügte er hinzu. „Denkst du jemals daran, für dich selbst Verantwortung zu übernehmen? Du glaubst wohl, du bist immer im Recht?“

Das war so schrecklich unfair, dass ihr fast der Atem stockte. „Was weißt du schon darüber?“, erwiderte sie. „Du kennst mich erst seit ein paar Wochen. Frag doch die, die mich schon lange kennen, wenn es dich interessiert!“

Bari schüttelte nur den Kopf. Erneut schob er die Plane auseinander. Sofort ergoss sich wieder der Regen ins Zeltinnere. Bari warf etwas über den Rand des Floßes und ließ es an einem Seil langsam ins Wasser sinken. Noor sah schweigend zu. Nicht um alles in der Welt hätte sie ihm jetzt ihre Hilfe angeboten.

Aber es erboste sie, dass er offenbar auch nicht die geringste Hilfe von ihr erwartete. Vielleicht war er wirklich überzeugt, dass sie nicht im Stande war, irgendeine Aufgabe zu übernehmen. Jedenfalls schien er kein Problem damit zu haben, ihre Anwesenheit vollkommen zu ignorieren.

Sie wünschte, sie könnte es ihm gleichtun. Wahrscheinlich würde sie sich nicht halb so klaustrophobisch fühlen, wenn sie mit irgendjemand anderem hier eingesperrt wäre. Es war Baris Anwesenheit, die ihr das Gefühl gab, zu ersticken.

Das Floß lag nun etwas ruhiger auf dem Wasser, nachdem der Anker Halt gefunden hatte.

„Gibt es einen Erste-Hilfe-Kasten?“, fragte sie.

Bari sah sie scharf an. „Wo bist du verletzt?“

„Ich brauche nur eine Schere.“

„Wozu?“, fragte er misstrauisch.

„Mir ist langweilig. Ich möchte ein Loch in unser Floß schneiden“, erwiderte sie giftig und hielt dann eine Hand hoch. „Ich habe mir die Nägel abgebrochen.“

„Jetzt ist keine Zeit für Maniküre.“

„Ich muss sie abschneiden! Sonst bleibe ich überall hängen.“

„Du hast bist jetzt keinen Finger krumm gemacht. Wo solltest du damit hängen bleiben?“

„Du weißt, was ich meine.“

„Es gibt jetzt andere Prioritäten“, sagte er kalt.

„Zum Beispiel? Nach Australien rudern?“

„Da kannst anfangen, Wasser auszuschöpfen.“ Er warf ihr einen Gegenstand aus rotem Plastik zu. „Hier, schütte das Wasser durch das Guckloch.“

Alles war wohl besser, als im Wasser zu sitzen und immer mehr zu frieren. Aber das Schöpfen gestaltete sich schwieriger, als sie dachte. Jedes Mal, wenn sie den Arm zu der Öffnung hob, lief ihr Wasser in die Achselhöhle, und bald empfand sie das wie eine Folter.

Bari begann unterdessen, einen kleinen Plastiksack am Ende eines schmalen Schlauches an der Decke zu befestigen.

„Was ist das?“, fragte Noor.

„Damit fangen wir Regenwasser auf.“

Noor schüttelte den Kopf. „Du sammelst Wasser?“

„Irgendwann wird es aufhören zu regnen. Und dann?“

Verlegen biss sich Noor auf die Unterlippe.

Als das Säckchen etwas mehr als halb voll war, nahm Bari es ab, verschnürte es und stellte es auf den Boden. Dann nahm er einen Plastikbecher und half Noor beim Schöpfen. Schweigend arbeiteten sie zusammen und schafften so viel Wasser hinaus wie möglich.

„Meinst du, jemand wird uns von einem Boot oder von einem Flugzeug aus sehen, wenn der Sturm aufgehört hat?“

„Nicht unbedingt sofort.“

„Wann?“

Entnervt blickte er auf. „Du bist doch auch nicht blöde, Noor! Du weißt genauso gut wie ich, dass man auf See eine ganze Weile unentdeckt bleiben kann.“

„Aber das hier ist der Golf von Barakat, nicht der Pazifik.“

Offenbar hielt Bari es nicht der Mühe wert, darauf zu antworten. Ob sie womöglich Gefahr liefen, aufs offene Meer hinausgetrieben zu werden?

Plötzlich fing sie schrecklich an zu zittern. Ihre Zähne klapperten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie ausgekühlt sie war. Sie schlang die Arme um den Oberkörper und versuchte, nicht am ganzen Körper zu beben. Der Schock schien sich erst jetzt richtig auszuwirken.

„Ich habe Angst“, flüsterte sie. „Mir ist so kalt. Bari, würdest du – mich in den Arm nehmen?“

Sie verachtete sich für ihre Schwäche.