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IM WINTERWUNDERLAND MIT DIR von MICHELLE SMART Eine romantische Reise durch die tiefverschneiten Schweizer Alpen! Tourbegleiterin Merry sollte sich freuen über den neuen Job kurz vor Weihnachten. Wäre da nicht ihr gefährlich attraktiver Boss Giovanni Cannavaro! Obwohl er als berüchtigter Playboy gilt, verzehrt sie sich nach ihm … EIN BARON FÜR CINDERELLA? von JESSICA GILMORE Pünktlich zur sentimentalsten Zeit des Jahres nimmt Baron Xander Montague einen kleinen, heimatlosen Hund in seinem Londoner Hotel auf. Natürlich nur vorübergehend, um seinen Ruf als gefühlloser Tycoon loszuwerden! Aber dann verliert er ungewollt sein Herz an die charmante Hundesitterin Elfie … GLÖCKCHENKLANG UND WEIHNACHTSKÜSSE von KATE HARDY Ex-Ski-Champion Josh gibt Sophie nach einer schweren Enttäuschung den Glauben an die Liebe zurück. Zärtlich küsst er sie unterm Sternenhimmel, überrascht sie mit einer romantischen Schlittenfahrt im Schnee. Doch ihr Glück verglüht jäh, als sie entdeckt, dass Josh sie belügt … SÜSSE SEHNSUCHT UNTERM MISTELZWEIG von ANNIE CLAYDON Glitzernden Baumschmuck basteln, süße Lebkuchenmänner verzieren: Spontan hilft Beth ihrem neuen Kollegen Matt bei den Weihnachtsvorbereitungen. Aber nur, um seinem kleinen Sohn ein unvergessliches Fest zu bereiten! Bis sie mit dem faszinierenden Singledad unterm Mistelzweig steht …
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Seitenzahl: 710
Michelle Smart, Jessica Gilmore, Kate Hardy, Annie Claydon
JULIA WEIHNACHTEN BAND 35
IMPRESSUM
JULIA WEIHNACHTEN erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
© Deutsche Erstausgabe in der Reihe JULIA WEIHNACHTEN, Band 35 10/2022
© 2021 by Michelle Smart Originaltitel: „Unwrapped by Her Italian Boss“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MODERN ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Pia Pfänder
© 2021 by Jessica Gilmore Originaltitel: „Christmas with His Cinderella“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Alexa Christ
© 2021 by Pamela Brooks Originaltitel: „Snowbound with the Brooding Billionaire“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Cordula Schaetzing
© 2011 by Annie Claydon Originaltitel: „All She Wants for Christmas“ erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London in der Reihe: MEDICAL ROMANCE Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l. Übersetzung: Meriam Pstross
Abbildungen: Harlequin Books S. A., OoddySmile Studio, Prilutskiy, dashadima, Oleh Svetiukha, AlexRaths, marilyna / Getty Images, alle Rechte vorbehalten
Veröffentlicht im ePub Format in 10/2022 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.
E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 9783751512275
Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY
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Zwölf lange Jahre ist Playboy-Milliardär Giovanni Cannavaro erfolgreich vor der Liebe davongelaufen. Bis er kurz vor den Festtagen bei einer Reise in die Alpen die unschuldige, junge Merry trifft …
Verliebt in Cinderella? Baron Xander Montague lädt die mittellose Elfie in sein Luxushotel ein, damit sie seinen Hund während der Feiertage betreut. Nur warum knistert es dabei plötzlich so erregend?
Der ehemalige Ski-Champion Josh zieht sich nach einem tragischen Unfall in die Dolomiten zurück, arbeitet inkognito als Skilehrer. Doch als er die süße Sophie zärtlich küsst, fliegt sein Schwindel auf …
Egal wie liebevoll sich die hübsche Beth um seinen kleinen Sohn kümmert, egal wie sie ihn selbst bezaubert: Singledad Matt will ihr nicht zu nahekommen! Nie wieder darf er sein Herz riskieren …
Merry Ingles stapfte durch den Neuschnee vor ihrem kleinen rustikalen Chalet und zog die Wollmütze tiefer über die Ohren. Heute Morgen strahlte der Himmel über den Schweizer Alpen klar und blau, und ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der frischen Morgenluft.
Oben auf dem Berg thronte das Hotel Haensli wie ein mächtiger Fürst, der auf seine Untertanen hinabschaute. In den drei Jahren, seit sie hier lebte und arbeitete, blickte Merry jeden Morgen voller Ehrfurcht hinauf.
Zehn Minuten nachdem sie losgegangen war und sich schon auf die heiße Schokolade freute, mit der sie sich aufwärmen konnte, erreichte sie das Hotel. Auf dem Hotelparkplatz entdeckte sie Johann, den Hausmeister.
Er kämpfte mit einer riesigen in ein Netz gewickelten Tanne, die er gerade vom Wagen abgeladen hatte.
„Brauchst du Hilfe?“, rief sie lachend und ging einen Schritt schneller.
Er nickte erleichtert. „Du bist meine Rettung. Ich muss die Tanne ins Hotel bringen, bevor die Gäste zum Frühstück herunterkommen. Sie soll in den Spa-Bereich.“
Merry musterte den Baum. Sie schätzte ihn auf viereinhalb Meter Höhe. Sie beschlossen, ihn gleichzeitig auf ihre Schultern zu heben, Johann ging voran.
Auf dem Weg zum Eingang rutschte die Mütze über ihre Augen und schob ihre Brille so tief, dass sie fast blind hinter Johann herlief. Vor sich sah sie fast nichts außer Tannenzweigen.
Trotzdem schafften sie es irgendwie, den Baum durch die Doppeltür am Personaleingang zu wuchten.
„Eine Sekunde“, sagte Merry und stellte den Baumstamm auf dem Boden ab. Mit einer Hand schob sie die Brille zurecht und zog den Reißverschluss ihrer Jacke ein Stück herunter. In ihrer dicken Daunenjacke kam ihr das Hotel erstickend heiß vor.
„Fertig?“, fragte Johann.
„Fertig.“
„Eins, zwei, drei …“
Sie hievten den Baum wieder auf die Schultern. Johann öffnete die große Tür zum Spa-Bereich. Dabei stolperte er und trat einen Schritt zurück, um die Balance wiederzugewinnen.
Um den Baum nicht fallen zu lassen, machte Merry ebenfalls einen Schritt zurück. Sie ahnte nicht, dass jemand hinter ihr stand, bis sie einen dumpfen Aufschlag spürte und einen schmerzerfüllten Aufschrei hörte.
„Oh mein Gott, das tut mir leid!“ Sie stellte die Tanne auf dem Boden ab und wirbelte herum. Sie betete, dass sie keinen Gast, sondern einen Angestellten erwischt hatte.
Der große Mann in dem perfekt sitzenden dunkelblauen Designeranzug gehörte ganz bestimmt nicht zum Hotelpersonal. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rieb er seine Schulter.
„Das tut mir so leid.“ Sie sah ihn entsetzt an. „Sind Sie verletzt?“
Tiefblaue Augen funkelten wütend unter beneidenswert langen Wimpern. Mindestens genauso beneidenswert wie seine markanten Wangenknochen.
Merry schluckte trocken. Für diesen Fehler würde sie bezahlen. Einen Aufenthalt im Hotel Haensli konnten sich nur die sehr Reichen und Mächtigen leisten. Hier wurde perfekter Service erwartet. Und dazu gehörte ganz sicher nicht, morgens von einem Weihnachtsbaum gerammt zu werden.
Giovanni Cannavaro starrte in ein hochrotes Gesicht, halb versteckt unter einem dicken Schal und der albernsten Mütze, die er je bei einer Erwachsenen gesehen hatte. Die Frau starrte ihn durch eine schief sitzende Hornbrille entsetzt an.
Bei dem Anblick verpuffte seine Wut. Stattdessen verspürte er einen überraschenden Anflug von Erheiterung.
Er trat auf die Frau zu. „Zur Seite.“
„Wie bitte?“
„Ich trage ihn für Sie.“
„Aber … aber das können Sie nicht.“
„Erst attackieren Sie mich mit der Tanne, und jetzt sagen Sie mir, was ich kann oder nicht kann?“
Sie verzog bestürzt das Gesicht. „Das meinte ich nicht …“
Er nickte in Richtung des Eingangs zum Spa, wo sich die Baumspitze verklemmt hatte. „Können Sie sie öffnen?“
Merry eilte zur Tür, stieß sie auf und presste sich eng an die Wand, als die beiden Männer den Baum vorbeitrugen.
„Erledigt“, sagte Giovanni kurz darauf, als der Baum im Ständer stand und sie das Netz entfernt hatten. Er schnipste eine Tannennadel von seiner Schulter und nickte den beiden Angestellten zu. „Nächstes Mal etwas vorsichtiger, sì?“
Dann machte er sich auf den Weg zum Speisesaal.
„Entschuldigt bitte meine Verspätung“, sagte Merry, als sie außer Atem in das Büro trat, das sie mit ihrer Chefin Katja und einer Kollegin teilte. Aber das Büro war leer.
Noch immer gestresst, ließ sie ihren Computer hochfahren.
Um diese Jahreszeit verwandelte sich das Hotel in ein Weihnachtswunderland, aber im Büro fehlte jede festliche Dekoration. Fast. Nur auf Merrys Schreibtisch thronte eine kleine Plastiktanne mit winzigen bunten Christbaumkugeln, und um ihren Computerbildschirm hatte sie Lametta gewickelt.
Bei dem Anblick hatte Katja die Augen verdreht. Genau wie an dem Tag, als sie Merrys roten Strickpullover mit dem Motiv von Rudolph mit der roten Nase zum ersten Mal gesehen hatte.
Merry beantwortete gerade ihre E-Mails, als Katja ins Büro stürmte. „Da bist du! Komm bitte mit ins Besprechungszimmer. Es gibt ein Problem.“
Merry sprang auf. „Was für ein Problem?“
„Darüber reden wir gleich … Was ist mit deinem Gesicht passiert? Hast du dich gekratzt?“
„Tannennadeln. Ich habe Johann geholfen, einen Weihnachtsbaum ins Spa zu tragen.“ Bei der Erinnerung an ihren Zusammenstoß mit dem umwerfend gut aussehenden Gast stieg glühende Hitze in ihre Wangen.
Auch wenn er unter den gegebenen Umständen noch freundlich reagiert hatte, wurden Angestellte hier schon für geringere Missgeschicke entlassen.
Wieder wanderten ihre Gedanken zu dem atemberaubend attraktiven Gast. Ihn mit einem griechischen Gott zu vergleichen, war keine Übertreibung. Das Haar so dunkel, dass es fast schwarz wirkte. Eine markante gerade Nase. Das scharf definierte Kinn. Und diese Wimpern … diese Wangenknochen …
Ärgerlich über sich selbst, schüttelte sie den Kopf. Mit etwas Glück würde sie den Gast während seines gesamten Aufenthalts nicht wiedersehen.
„Deshalb bin ich auch zu spät gekommen. Ich konnte Johann nicht alleine mit der Tanne kämpfen lassen“, sagte sie, während sie neben ihrer Chefin durch den Flur ging.
„Ich weiß“, sagte Katja. „Du hilfst gerne anderen Menschen. Deshalb habe ich mich für dich entschieden, erinnerst du dich?“
In ihren ersten zwei Jahren in der Schweiz hatte Merry im Hotel Haensli als Kellnerin gearbeitet. Sie war überglücklich gewesen, als sie eine Anstellung in einem der weltweit angesehensten Hotels bekommen hatte.
Ein Jahr zuvor war sie dann plötzlich zum Management zitiert worden. Sie erinnerte sich noch genau an ihre Nervosität. An die Angst, sie hätte einen Fehler gemacht und würde die Kündigung bekommen. Stattdessen hatte Katja ihr die Stelle als ihre persönliche Assistentin angeboten.
Eher zufällig hatte die Hotelmanagerin damals das Gästebuch studiert und beeindruckt festgestellt, wie oft Merrys Name erwähnt wurde. Die Gäste schrieben begeistert über ihre Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit. Stammgäste bestanden oft darauf, dass Merry ihren Tisch bediente.
Mit dem neuen Vertrag verdiente Merry das Doppelte ihres Kellnerinnengehalts. Noch dazu gehörte zu dem Job ein eigenes für die Alpengegend typisches Holzhaus, das sie bewohnen durfte. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können.
Als Katja die Tür öffnete, erkannte Merry an dem ovalen Besprechungstisch Wolfgang Merkel. Er war der Besitzer des Hotels Haensli. Dann fiel ihr Blick auf den Mann neben ihm, und das freundliche Lächeln gefror auf ihrem Gesicht. Das war der Gast, den sie heute Morgen mit der Tanne gerammt hatte.
Glühende Hitze stieg in ihre Wangen. Also war sie das Problem, von dem Katja gesprochen hatte. Jetzt bekam sie die Kündigung. Ein lautes Rauschen hallte in ihren Ohren. Der Raum schien sich um sie zu drehen.
In diesem Moment stand der Mann auf und reichte ihr über den Tisch hinweg die Hand.
Ganz langsam kehrten ihre Sinne zurück, und sie begriff, dass Katja ihr gerade den Fremden vorgestellt hatte. Aber sie hatte kein Wort verstanden. Mit zitternden Fingern erwiderte sie seinen Händedruck.
Die tollpatschige Lady mit der verrückten Mütze. Giovanni Cannavaro erkannte sie sofort an der Hornbrille. Und dem leicht verwirrten Gesichtsausdruck. Das fehlte ihm gerade noch.
Als ihre schmale Hand sich um seine Finger schloss, schoss ein unerwartetes Prickeln durch seinen Arm. Er schaute in ihre babyblauen Augen hinter den Brillengläsern. Auf ihren runden Wangen bemerkte er eine zarte Röte.
Erst jetzt, ohne die dicke Daunenjacke, bemerkte er ihre zierliche und sportliche Figur in der Hoteluniform. Das goldene Haar hatte sie zu einem Knoten am Hinterkopf zusammengenommen. Strahlende Haut, kein Make-up.
Ganz hübsch, jedenfalls ohne die alberne Mütze. Wie konnte eine erwachsene Frau so etwas tragen? Er erinnerte sich, dass seine jüngste Schwester Sofia als Kind eine ähnliche Mütze besessen hatte.
Warum zur Hölle musste das Schicksal ihm ausgerechnet diese Frau schicken, um das Projekt zu retten, in das er drei Jahre harte Arbeit gesteckt hatte? Das gesamte Unternehmen war nur um Haaresbreite vom Scheitern entfernt.
Als vor zwölf Jahren seine ganze Welt in sich zusammengebrochen war, hatte Giovanni Italien verlassen und war in diesem Hotel gestrandet. Anfangs hatte er als Portier gearbeitet. Einige Monate nach seiner Einstellung hatte der Hotelbesitzer ihn zu sich gerufen und ihm nach einem langen Gespräch die Stelle als Assistent angeboten.
Von ihm hatte Giovanni alles gelernt, was es über Luxusreisen und den Umgang mit reichen und superreichen Gästen zu wissen gab. Über die Kunst, den Reichen genau das zu geben, was sie brauchten, damit sie Jahr für Jahr wiederkamen.
Ein Jahr später hatte Giovanni etwas Geld von seinem Großvater geerbt und mit Wolfgang Merkels Segen und guten Wünschen das Hotel verlassen, um sein eigenes Unternehmen zu gründen.
Cannavaro Luxusreisen.
Luxuskreuzfahrten, private Jachturlaube, Flüge mit Privatjets, Interkontinentalreisen, luxuriöse Hotels. Auf all diese Dinge war sein Unternehmen spezialisiert.
Seit dem ersten Tag war Cannavaro Luxusreisen erfolgreich gewesen. Giovanni gehörte inzwischen selbst zu den Superreichen, die früher nur seine Gäste gewesen waren. Seinen Erfolg hatte er vor allem Wolfgangs Ratschlägen zu verdanken.
Noch nie hatte er das Urteilsvermögen seines Mentors angezweifelt. Aber als er jetzt die Frau auf der anderen Seite des Tisches anschaute, regten sich Zweifel an dem Geisteszustand seines alten Freundes. Ausgerechnet diese Frau hielt Wolfgang für fähig, mit ihm zusammen das Geschäft zu retten?
„Sie wissen, um was es geht?“, fragte er sie, nachdem sie am Tisch neben Katja Platz genommen hatte.
Die Frau wirkte plötzlich sehr blass und schüttelte den Kopf.
„Gestern Nacht wurde Gerhard mit Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert.“
Merrys Hand prickelte noch immer dort, wo der sexy Italiener sie berührt hatte. „Gerhard …?“ Der Name kam ihr bekannt vor.
„Gerhard Klose. Er arbeitet für Cannavaro Luxusreisen und ist der Manager der Meravaro Odyssee“, erklärte Katja. „Er wurde bei uns im Hotel für den Job ausgebildet.“
Endlich verstand Merry, worum es ging. Also wurde sie doch nicht gekündigt. Der atemberaubende Fremde war wahrscheinlich ein Angestellter von Cannavaro Luxusreisen.
„Gerhard ist im Krankenhaus. Blinddarmentzündung. Die Jungfernfahrt der Meravaro Odyssee startet in drei Tagen“, erklärte der Mann knapp. „Jetzt verstehen Sie die Situation, sì?“
Oh ja, das tat sie.
Alle hier wussten, dass Wolfgang Merkel zusammen mit Giovanni Cannavaro ein außergewöhnliches Projekt auf die Beine gestellt hatte: ein Luxuszug, der das goldene Zeitalter der Eisenbahn wieder aufleben lassen sollte.
Jeder in der Tourismusbranche kannte Giovanni Cannavaro, den weltberühmten Veranstalter für Luxusreisen. Seit mehr als drei Jahren arbeiteten die beiden Männer unter Giovannis Leitung mit Leidenschaft und viel Liebe zum Detail an dem Projekt.
Sie hatten eine antike Dampflok und nostalgische Eisenbahnwaggons erworben und restauriert. Es waren edle Wagen entstanden, die eine elegant-romantische Atmosphäre mit allen Annehmlichkeiten der Moderne verbanden.
Auf der Fahrt durch Europas malerischste Städte und Landschaften würden den Passagieren kulinarische Genüsse an Bord des Zuges und Suiten mit höchstem Komfort geboten werden.
Getauft hatten sie die Tour auf den Namen Meravaro Odyssee.
Die Jungfernfahrt sollte in drei Tagen in Paris starten, und sie war nicht einfach nur eine Eröffnungsfahrt. Sie war die Veranstaltung des Jahres. Achtzig der reichsten und mächtigsten Menschen der Welt würden in Paris an Bord des Luxuszuges zu einer Reise aufbrechen, die selbst für die verwöhntesten Gäste zu einem unvergesslichen Erlebnis werden sollte.
Wenn der Zug nach der zweitägigen Reise den Bahnhof Klosters erreichte, würden Pferdekutschen die Gäste zum Hotel Haensli bringen, wo sie zwei Tage lang die besten Skipisten der Schweiz genießen konnten – oder einfach nur ausspannen. Zum krönenden Abschluss der Reise würden sie dann die große Weihnachtsfeier im Hotel Haensli besuchen.
„Wirst du Gerhard vertreten?“, fragte Merry ihre Chefin voller Mitgefühl. Bestimmt hatte Katja sich schon auf Weihnachten mit der Familie gefreut.
Katja schüttelte den Kopf. „Angie ist über die Feiertage geschäftlich in Frankfurt. Ich muss mich um Laura kümmern.“ Angie war Katjas Ehefrau, und die beiden hatten eine sechsjährige Tochter.
„Wer dann? Sasha?“, fragte Merry und sah sich nach ihrer Kollegin um, die das Büro mit ihr und Katja teilte.
„Sie muss hier sein und sich um die Voegel-Hochzeit kümmern.“ Katja suchte Merrys Blick. „Es tut mir leid, Merry. Aber du musst einspringen.“
Das Blut schien in Merrys Adern zu gefrieren. Sie arbeitete in diesem Jahr an Weihnachten und Neujahr. Da ihre frischgebackene Schwägerin die Ingles-Familie einander näherbringen wollte, hatte sie extra wegen Merry ein vorgezogenes Weihnachtsessen für die ganze Familie organisiert.
Das Essen fand in zwei Tagen statt. Morgen ging Merrys Flug nach England.
Noch dazu würde ihre beste Freundin Santa an Weihnachten zu ihrem lange geplanten Besuch in die Schweiz kommen.
Sie, Merry, konnte den Job nicht übernehmen. Konnte ihre Schwägerin nicht enttäuschen. Konnte Santa nicht absagen.
„Du fliegst direkt morgen früh nach Paris“, unterbrach Katja die ohrenbetäubende Stille. „Die Gäste gehen erst in drei Tagen an Bord, also hast du zwei ganze Tage, um eventuelle Probleme aus dem Weg zu schaffen und die Angestellten kennenzulernen.“
Wolfgang räusperte sich. „Katja sagte mir, dass Sie eigentlich ab morgen für ein paar Tage Urlaub haben.“ Es war das erste Mal in drei Jahren, dass er Merry direkt ansprach. „Deshalb werden Sie im neuen Jahr eine zusätzliche Woche bezahlten Urlaub bekommen.“
Merry wurde klar, dass alles schon über ihren Kopf hinweg entschieden war. Da sie im Gegensatz zu Katja kein sechsjähriges Kind hatte, auf das sie aufpassen musste, gab es für sie keinen guten Grund, Nein zu sagen.
Sie könnte sagen, dass sie ihre Familie seit sechs Monaten nicht gesehen hatte und mit ihnen ein Vorweihnachtsessen feiern wollte, aber das würde ihr nicht helfen, sondern ihre berufliche Zukunft negativ beeinflussen.
In diesem Moment erhob sich der alte Hotelier und griff nach seinem Gehstock. „Schön, dass wir alles geklärt haben. Jetzt überlasse ich euch das Ausarbeiten der Details.“
Katja erhob sich ebenfalls. „Ich stelle dir alle nötigen Dokumente zusammen, während ihr zwei alles Weitere besprecht.“
Während Merry immer noch fieberhaft nach einem Weg suchte, den Job abzulehnen, saß sie plötzlich allein mit dem Fremden im Raum.
Er sah sie mit durchdringendem Blick an. „Wollen Sie den Job nicht, Lady?“
Sie lächelte schwach. „Ich glaube nicht, dass es einen Unterschied macht, was ich möchte oder nicht.“ Sie riss sich zusammen. Sie wollte nicht unwillig klingen. Schließlich arbeitete dieser Mann offensichtlich für Cannavaro Luxusreisen und würde bestimmt auch Giovanni Cannavaro über alles berichten. „Aber ich weiß, wie wichtig die Jungfernfahrt ist, also werde ich mein Bestes geben.“
Welche Wahl hatte sie schon? Entweder sie akzeptierte, oder sie verlor ihren Job – oder verspielte zumindest ihre Aufstiegschancen im Hotel.
„Und wer genau sind Sie?“, fragte sie in die Stille hinein.
Der Fremde hob eine dunkle Augenbraue.
„Arbeiten Sie für Cannavaro Luxusreisen? Bitte entschuldigen Sie die Frage, als Sie sich vorgestellt haben, habe ich nicht alles verstanden.“
Er hob die zweite Augenbraue. Er sah sie an, als könnte er nicht glauben, dass sie ihn nicht kannte.
Seinem Designeranzug nach zu urteilen, musste der Fremde eine wichtige Position bei Cannavaro Luxusreisen innehaben. Und sein Ego passte zu der Position.
Seine dunkelblauen Augen funkelten, und Merry erschauerte.
„Wer ich bin?“ Er lehnte sich zurück und verschränkte die Hände auf dem Tisch. „Betrachten Sie mich einfach als den Boss.“
Seine tiefe Stimme und der melodische Akzent sandten einen erneuten Schauer über ihren Körper. Ein Glück, dass sie den Mund gehalten hatte, anstatt sich bei ihm zu beschweren, dass man ihr einen ungewollten Job aufzwang.
„Kommen Sie auch mit auf die Bahnfahrt?“
Er runzelte die Stirn. „Das ist keine einfache Bahnfahrt, Lady.“
„Sie wissen, was ich meine.“ Sie lachte nervös. Irgendwas an ihm brachte sie immer wieder aus der Fassung. Vielleicht sein sexy italienischer Akzent. Oder sein unverschämt gutes Aussehen gepaart mit seinem eisigen Verhalten.
„Ich weiß, was Sie meinen. Sì, ich nehme selbst an der Reise teil.“
Bei dem Gedanken schienen Schmetterlinge in ihrem Bauch aufzuflattern. Um ihre Nervosität zu verstecken, kritzelte sie einige Worte in ihr Notizbuch. „In dem Fall muss ich gestehen, dass ich Ihren Namen nicht verstanden habe. Ich bin Merry.“
Er trommelte mit den Fingern auf dem Tisch. „Ich kenne Ihren Namen, Lady. Ich höre zu.“
Die spitze Bemerkung ärgerte sie. „Herzlichen Glückwunsch. Sie sind Klassenbester. Und Ihr Name ist?“
„Giovanni Cannavaro.“
Merry schnappte nach Luft.
Er stand auf und musterte sie mit eiskaltem Blick. „Sie haben viel zu tun. Ich schlage vor, Sie fangen damit an, sich über die Meravaro Odyssee zu informieren. Wir treffen uns heute Mittag und besprechen die Details. Dann entscheide ich, ob Sie die richtige Person für den Job sind. Oder nicht.“ Ohne ein weiteres Wort verließ er den Konferenzraum.
„Das ging ja schnell.“ Katja drehte sich um, als Merry ihr gemeinsames Büro betrat.
Schnell? Merry hatte nach Mr. Cannavaros spektakulärem Abgang fünf Minuten lang alleine im Besprechungszimmer gesessen und das Gesicht in ihren Händen vergraben. Danach hatte sie mit ihrer Schwägerin telefoniert und das Weihnachtsessen abgesagt.
Kelly hatte überraschend verständnisvoll reagiert. Merrys Bruder Martin würde ganz bestimmt nicht so viel Verständnis zeigen. Auch wenn sie wusste, dass er keinen Wert auf ihre Anwesenheit legte, wollte er, dass sie tat, was er verlangte. So war es schon immer zwischen ihnen gewesen.
Und jetzt wollte er, dass Merry zu ihrem Weihnachtsessen erschien. Dabei hasste er Weihnachten. Seit Merrys achtem Lebensjahr hatte er jedes Weihnachtsfest für die Familie ruiniert. Aber jetzt wollte er seine neue Frau glücklich machen, und dazu gehörte, dass Merry mit am Tisch saß.
„Wie kommst du mit Cannavaro zurecht?“, unterbrach Katja ihre Gedanken.
„Entsetzlich schlecht“, stöhnte Merry. „Ich habe ihn heute Morgen fast mit einem Weihnachtsbaum erschlagen“, gab sie zerknirscht zu.
„Du hast was?“
„Es war ein Unfall.“ Sie ließ den Kopf hängen. „Jetzt habe ich es nur noch schlimmer gemacht. Als du uns vorgestellt hast, habe ich seinen Namen nicht verstanden. Also wusste ich bis ganz zum Schluss nicht, wer er ist. Ich befürchte, er hält mich für völlig unfähig.“
„Hat er das gesagt?“
„Er entscheidet im Laufe des Tages, ob ich die richtige Person für den Job bin.“
In seinen Augen hatte sie seine Zweifel erkannt. In seinen wunderschönen Augen.
„Du hast mir nie erzählt, wie jung und wahnsinnig attraktiv er ist“, sagte Merry.
Katja runzelte die Stirn. „Er gefällt dir doch nicht etwa?“
Bei der Frage spürte Merry, wie verräterische Röte in ihre Wangen stieg. „Natürlich nicht. Ich stelle nur Tatsachen fest.“
„Gut. Er hat nämlich einen furchtbar schlechten Ruf.“
„Was seinen Umgang mit Frauen angeht?“
„Ja. Ich erspare dir die Details. Du sagst ja, er gefällt dir nicht. Übrigens, habe ich dir nicht gesagt, du sollst die Fachzeitschriften lesen? Sein Gesicht prangt ständig auf den Titelbildern.“
„Das habe ich versucht, aber sie sind so langweilig. Mach dir keine Sorgen, ich bringe es in Ordnung“, versprach sie.
„Das hoffe ich für dich. Du weißt ja, wie wichtig Wolfgang dieses Projekt ist. Also wenn du es verbockst …“ Sie schüttelte den Kopf. „Ein schlechtes Wort von Giovanni zu Wolfgang und du bist deinen Job los.“
Zaghaft klopfte Merry an die Tür von Giovannis Suite. Ihre Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und das Herz pochte so wild in ihrer Brust, als wollte es herausspringen.
Wenige Sekunden später öffnete der Butler die Tür. Die Suite lag in der obersten Etage und bot einen traumhaften Ausblick auf die Alpen. Der Butler führte sie zu einem Ledersessel vor dem Kamin. Vorsichtig legte sie ihr Notizbuch, einen Laptop und ihr Handy auf das niedrige Tischchen aus kunstvoll geschnitztem Eichenholz.
Zu ihrer Rechten führten riesige Flügeltüren auf einen großen Balkon. In der Ferne schwebten die hoteleigenen Skilifts den Berg hinauf.
„Da sind Sie. Gut.“
Merry zuckte zusammen. Sie hatte Giovanni nicht kommen hören. Plötzlich fühlten sich ihre Handflächen feucht an. Sie rieb unauffällig mit den Händen über ihren Rock.
Er setzte sich in den gegenüberliegenden Sessel, zog das Jackett aus und nahm die Krawatte ab. Dann öffnete er die obersten zwei Hemdknöpfe.
Noch einmal strich sie mit den Händen über ihren Rock. So nervös hatte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nicht gefühlt.
In diesem Augenblick kam der Butler zurück. „Möchten Sie wie geplant in einer halben Stunde zu Mittag essen?“
„Per favore.“ Giovanni nickte.
Als der Butler sie allein ließ, ging Giovanni direkt zum Geschäftlichen über. „Es gibt viel zu besprechen, also arbeiten wir beim Mittagessen.“
Merry räusperte sich. „Bevor wir anfangen, möchte ich mich für mein Benehmen heute Morgen entschuldigen. Ich gebe Ihnen mein Wort, das wird nicht noch einmal vorkommen.“
„Was genau meinen Sie? Mich mit einem Weihnachtsbaum zu torpedieren? Die alberne Mütze zu tragen? Nicht zuzuhören?“
Bei seinen Worten färbten sich ihre Wangen feuerrot. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Bevor sie etwas sagen konnte, schrillte ein kitschiges Weihnachtslied durch den Raum. Entsetzt schaute sie auf ihr Handy und drückte den Anruf weg.
„Entschuldigen Sie bitte.“ Sie lächelte gequält. „Sollen wir anfangen?“
Er erwiderte ihr Lächeln nicht. „Die Unterlagen haben Sie gelesen?“
„Den Großteil.“ Sie schluckte. „Den Rest gehe ich nach unserem Meeting durch.“
Wieder meldete sich ihr Handy. Als sie danach griff, zitterte ihre Hand so sehr, dass sie es aus Versehen vom Tisch fegte.
Giovanni zuckte zusammen. Nur sein tiefer Respekt für Wolfgang hielt ihn davon ab, jede Zusammenarbeit mit dieser Person direkt abzulehnen. Diese Frau war ganz bestimmt nicht in der Lage, ihm zu helfen.
Wolfgang zuliebe würde er ihr diese eine Chance geben. Aber wenn sie ihn bei diesem Gespräch nicht überzeugte, dann erledigte er lieber alles alleine. In das Projekt waren zu viel Zeit, Mühe und Geld geflossen, um es jetzt scheitern zu lassen.
„Schalten Sie es aus. Ich möchte keine Störungen.“
„In Ordnung.“ In ihrer Hektik glitt ihr das Handy fast noch einmal aus der Hand.
Zu seinem Erstaunen drückte sie den Ausschaltknopf. „Was tun Sie da, Lady? Erst gehen Sie allein in die Suite zu einem fremden Mann, und dann schalten Sie Ihr Handy aus? Was ist los mit Ihnen?“
In ihren Augen flackerte Panik auf. „Aber Sie haben doch gesagt …“
„Ich meinte nur den Klingelton. Wenn ich Ihnen sage, Sie sollen sich unbekleidet eine Stunde lang auf den Balkon stellen, tun Sie das dann auch?“
Der Ausdruck in ihren Augen änderte sich. Etwas flackerte in ihnen auf, und ihre vollen Lippen zuckten. „Nur, wenn ich die Außenheizung einschalten darf.“
Das verschlug ihm für einen Moment die Sprache. Er sah zu, wie sie ihr Mobiltelefon wieder einschaltete und auf lautlos stellte. Dann öffnete sie ihren Block. „Fangen wir an?“
Nach einer halben Stunde kam der Butler herein und schob einen Servierwagen mit ihrem Lunch zum Esstisch. Inzwischen hatte Merry sich wieder genug unter Kontrolle, um sich nicht mehr wie eine komplette Idiotin aufzuführen.
Denn genau das hatte sie heute getan. Erst die Verachtung in Giovannis Augen hatte sie wachgerüttelt, als er vorgeschlagen hatte, sie solle sich nackt auf den Balkon stellen. Fast hätte sie laut darüber gelacht. Aber es zeigte ihr auch, dass sie sich seinen Respekt verdienen musste.
Auf Giovannis Zeichen gingen sie zum Esstisch und nahmen Platz. Merry füllte sich von allem etwas auf. Von der Burrata, die auf einem Bett von Tomaten und Pesto mit Pinienkernen serviert wurde. Von dem Hummer in einem Salat aus Mango und Eisbergsalat. Von den Röstkartoffeln unter geschmolzenem Gruyère.
Während sie aßen, stellte sie ihm Fragen und notierte seine Antworten. Wie erwartet, schmeckte das Essen köstlich. Aber in Giovannis Nähe schien ihr Magen Purzelbäume zu schlagen, und sie brachte kaum einen Bissen herunter.
Das lag an diesen Augen. Jedes Mal, wenn sie ihren Blick einfingen, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Bei jedem Bissen, den sie aß, bei jedem Satz, den sie in ihr Notizbuch schrieb, war sie sich seiner Nähe bewusst.
Sie fühlte sich zittrig, fast schwindelig. Als würde ein Schwarm von Schmetterlingen immer und immer wieder in ihrem Bauch umherflattern. Ihre Haut prickelte. Bei jedem Wort von ihm erschauerte sie.
Sie schob ihren halb vollen Teller zur Seite. Jetzt musste sie ihre volle Aufmerksamkeit dem Projekt widmen. Zwar wirkte Giovanni etwas gnädiger gestimmt als heute Morgen, aber sie wusste, dass dieses Meeting ein Test war. Wahrscheinlich war dieses Essen ihre letzte Chance, ihn von ihren Fähigkeiten zu überzeugen.
Also ignorierte sie die Anrufe und Textnachrichten ihres Bruders, die auf dem Display ihres Handys aufblinkten. Aber selbst wenn Giovanni ihr fünf Minuten Zeit gegeben hätte, um Martins Anruf anzunehmen, hätte sie abgelehnt. Auf keinen Fall wollte sie sich in seiner Gegenwart von ihrem Bruder beschimpfen lassen.
Wenn sie eins nicht ertragen konnte, dann vor anderen Menschen die Fassung zu verlieren. Noch schlimmer, zu weinen. Und seit ihrer Kindheit brachte sie keiner schneller zum Weinen als ihr Bruder.
Als sie eine weiterem Notiz in ihr Büchlein schrieb, leuchtete das Handy wieder auf. Sie hob den Blick zu Giovanni. „Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich den Anruf annehme?“, fragte sie vorsichtig. „Es ist geschäftlich.“
Zu ihrer Erleichterung nickte er.
Giovanni sah zu, wie Merry sich in den Ledersessel setzte und das Notebook öffnete. Selbst ohne Lautsprecher hörte er die aufgebrachte Stimme des Anrufers bis zum Esstisch. Obwohl der Mann ihr direkt ins Ohr schrie, wirkte Merry gefasst.
Doch ihre Stimme klang freundlich und entspannt. „Natürlich. Ja. Selbstverständlich, das ist kein Problem.“ Sie tippte etwas auf der Computertastatur. „Ich werde die Dekoration persönlich beaufsichtigen.“
Giovanni lauschte aufmerksam. Schwierige Kunden kannte er nur zu gut.
„Ich habe noch eine gute Nachricht für Sie. Deshalb wollte ich Sie anrufen. Die Gondeln werden noch rechtzeitig für die Hochzeit fertig. Ich weiß, wie begeistert Ihre Tochter von der Idee von einem Fondue in den Gondeln war. Also habe ich die Baufirma so lange mit Anrufen bombardiert, bis sie uns in ihrem Terminkalender vorgezogen haben.“
Aus dem Hörer schallte lautes Lachen.
Giovanni lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Während er nachdachte, lauschte er mit einem Ohr dem Telefonat.
Bis zu diesem Anruf von ihrem aufgebrachten Gast war er nicht sicher gewesen, ob Merry Ingles die Richtige für den Job war. Aber ihr professionelles Verhalten dem Kunden gegenüber gab ihm Hoffnung, dass Wolfgang ihr vielleicht doch nicht zu viel zutraute.
Als er sie jetzt beobachtete, musste er zugeben, dass sie in ihrem Job sehr viel besser war, als er gedacht hatte. Man brauchte ganz besondere Fähigkeiten, um einen so wütenden Klienten innerhalb von Minuten zu schallendem Gelächter zu bringen.
Nachdem sie dem Gast erklärt hatte, dass sie in den nächsten fünf Tagen nicht erreichbar sein würde, gab sie ihm die Kontaktdaten ihrer Vertretung. Dann beendete sie das Gespräch und kam zurück zum Esstisch.
„Bitte entschuldigen Sie.“ Sie nahm wieder Platz. „Nächsten Monat findet hier im Hotel die Hochzeit seiner Tochter statt.“
„Ich verstehe. Es klingt, als wäre er jetzt ein zufriedener Mann.“
Sie lächelte schwach. „Bis zur nächsten Krise.“
Er wusste genau, was sie meinte, und spürte, wie sich gegen seinen Willen seine Mundwinkel hoben. Na gut. Diese Frau wusste, wovon sie redete. Sie durfte bleiben.
„Was meinten Sie mit diesen Gondeln?“, fragte er neugierig.
„Das sind restaurierte Gondeln, die wir auf dem Hotelgelände aufstellen. Wir positionieren sie mit Blick über den See und die Stadt. Unsere Gäste können sie mieten und ein Fondue in kompletter Privatsphäre genießen.“
Er nickte. „Ich erinnere mich noch aus meiner Zeit hier im Hotel daran, dass Fondue immer sehr beliebt bei den Gästen war.“
„Ich glaube, Fondue gehört zur Schweiz wie die Pasta zu Italien. Oder wie Weinbergschnecken zu Frankreich.“ Plötzlich sah sie ihn überrascht an. „Haben Sie gerade gesagt, dass Sie hier gearbeitet haben?“
„Sì. Vor zwölf Jahren. Ich habe als Portier angefangen.“
„Meinen Sie das ernst?“
„Glauben Sie mir nicht?“
„Es überrascht mich nur. Also haben Sie es vom Portier zum …“ Sie hob die Hand und zeigte mit ausladender Geste durch den Raum. „... hierzu gebracht? In zwölf Jahren?“
Er nickte.
In ihrem Blick las er tiefe Bewunderung. Normalerweise fiel ihm die Bewunderung der Leute kaum noch auf. Schmeicheleien belustigten ihn höchstens. Aber etwas an dem Blick in Merrys Augen ließ Stolz in ihm aufsteigen.
„In dem Fall sollten wir uns zügig an die Arbeit machen.“ Sie lächelte, und plötzlich zeigten sich Grübchen auf ihren Wangen. „Immerhin haben wir nur noch ein paar Stunden Zeit. Nicht, dass Sie wieder als Portier arbeiten müssen.“
Giovanni lachte schallend. Zum ersten Mal, seit er von Gerhards Blinddarmentzündung erfahren hatte. Um genau zu sein, erinnerte er sich nicht einmal daran, wann er zum letzten Mal gelacht hatte.
Erst am späten Nachmittag verließ Merry Giovannis Suite. Zügig ging sie zum Aufzug, trat ein und drückte den Knopf zum Erdgeschoss. Unten angekommen, ging sie in ihr Büro und schloss die Tür hinter sich.
Endlich allein! Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und presste die Hände auf ihre glühenden Wangen. Das waren die schlimmsten sechs Stunden ihres Lebens gewesen.
Nach dem Lunch hatte sich Giovannis Haltung ihr gegenüber gewandelt. Er taute merklich auf, je länger sie sprachen. Einerseits erleichterte sie das sehr. Offenbar war er doch nicht so arrogant und überheblich, wie sie gedacht hatte. Sie bekam das Gefühl, dass sie gut mit ihm zusammenarbeiten könnte.
Aber wie hatte sie bloß glauben können, ihr Tag könnte nach dem katastrophalen Morgen nicht mehr schlimmer werden? Was konnte schlimmer sein, als sich unwiderstehlich zu ihrem neuen Boss hingezogen zu fühlen?
Wieder sah sie Giovanni vor sich, wie er in schallendes Gelächter ausgebrochen war. Wie seine kühle Miene aufgetaut war. Wie umwerfend attraktiv er aussah, wenn er lachte.
Sosehr sie auch versucht hatte, ihre unwillkürliche Reaktion auf ihn zu unterdrücken, war es nur noch schlimmer geworden, je mehr Zeit sie mit ihm verbracht hatte. Sie wusste noch immer nicht, woher sie die Kraft genommen hatte, ihn nicht ständig anzustarren.
Es war lange her, seit Merry zuletzt auch nur einen Funken Interesse an einem Mann gespürt hatte. Darum konnte sie nicht verstehen, warum sie so auf den italienischen Unternehmer reagierte. Ein Blick auf ihn reichte, um zu wissen, dass er ein Playboy war. Das lag nicht nur an seinem Aussehen, sondern an der Art, wie er sich bewegte, wie er sich gab.
Männer wie Giovanni interessierten sich nicht für Frauen wie sie.
Aber all diese Gedanken waren sinnlos. Sie wollte gar nicht, dass er sich für sie interessierte. Sie wollte nur eins – die nächsten fünf Tage überstehen, ohne ihren Job zu riskieren.
Dicke Schneeflocken fielen vom Himmel, als Merry am nächsten Morgen aus ihrem Haus trat. In einer Hand trug sie die Kleiderhülle mit einem Abendkleid, das Katja ihr gestern geliehen hatte, mit der anderen zog sie ihren Rollkoffer hinter sich her.
Zu der frühen Stunde zeigte sich nicht einmal der kleinste Sonnenstrahl über den Bergwipfeln. Sie zog die Mütze tiefer über die Ohren und ging den beleuchteten Weg zum Hotel hinauf.
Abgesehen von dem Nachtportier war das Foyer noch menschenleer. Vorsichtig legte Merry die Kleiderhülle über den Koffer und ihre Mütze obendrauf. Dann bereitete sie sich einen Kakao an der Kaffeemaschine im Foyer zu und setzte sich mit dem Becher in der Hand in einen Ledersessel vor dem Kaminfeuer. Obwohl sie nur wenige Stunden geschlafen hatte, vibrierte ihr ganzer Körper vor Adrenalin.
Erst spät am Abend war sie zurück in ihre Unterkunft gekommen und hatte ihren Bruder angerufen. Nach einem ziemlich lautstarken Streit, in dem Martin sie mit jedem Schimpfwort bedacht hatte, das er kannte, war sie ziemlich durcheinander gewesen.
Wie sehr sie wünschte, Santa wäre schon hier. Keiner sonst auf der Welt konnte so gut zuhören wie ihre beste Freundin. Die beiden waren als Nachbarskinder in einem kleinen Dorf in Oxfordshire aufgewachsen.
Obwohl Merry zwei Jahre älter war, hatten sie schon als Kinder zusammen gespielt. Sie hatten beide ihre Mütter früh in der Kindheit verloren und sich gegenseitig Trost gespendet.
Keine Entfernung der Welt konnte die Verbindung zwischen ihnen brechen. Santa war wie die Schwester, die Merry sich immer gewünscht hatte. Die einzige Person in ganz England, die Merry wirklich vermisste.
Kaum hatte sie aufgelegt, als Katja überraschend bei ihr anklopfte. Sie erklärte Merry, dass sie für die glamouröse Weihnachtsfeier im Zug ein passendes Outfit brauchte, und sie hatte ihr eins ihrer eigenen Abendkleider mitgebracht.
Merry hatte das Kleid angenommen, ohne auch nur einen Blick in die Kleiderhülle zu werfen. Dazu gab es keinen Grund. Katja und sie trugen dieselbe Größe, und falls es nicht ihr Geschmack war, besaß sie sowieso nichts Besseres.
Um genau zu sein, besaß sie auch für den Rest der Reise nichts Passendes. In ihrer Freizeit trug sie nur Jeans, je nach Jahreszeit T-Shirts oder dicke Pullover und bei ihrer Arbeit im Hotel die vorgeschriebene Uniform aus einem schwarzen Rock und Blazer.
Also war ihr nichts übriggeblieben, als ihre zwei schwarzen Röcke und dazu schlichte weiße Blusen einzupacken. Hoffentlich stellte man ihr im Zug eine Uniform zur Verfügung. Nachdem sie noch ein letztes Mal die Akten gelesen hatte, war sie übermüdet ins Bett gefallen.
Trotz ihrer Erschöpfung hatte sie nicht sofort einschlafen können. Alle Gedanken stürmten gleichzeitig auf sie ein. Giovanni. Ihr Bruder. Giovanni. Ihr Vater. Giovanni. Santa. Giovanni.
Als am nächsten Morgen ihr Wecker geklingelt hatte, war Giovanni ihr erster Gedanke gewesen. Das Wissen, die kommenden fünf Tage an seiner Seite zu verbringen, hatte gleichzeitig Nervosität und Vorfreude in ihr ausgelöst.
In diesem Moment bemerkte Merry, wie jemand das Foyer betrat. Ihr Herz begann wild zu klopfen, als sie sah, dass Giovanni Cannavaro mit langen Schritten auf sie zukam.
Giovanni hasste den Dezember. Wenn er könnte, würde er den gesamten Monat aus dem Kalender streichen.
Gerhards Blinddarmentzündung hatte seine deprimierte Stimmung noch vertieft. Noch war er nicht ganz überzeugt, dass Merry die Rettung für sein Projekt war. Aber nach ihrem Meeting war sein Vertrauen in sie etwas gewachsen.
Ihn unter solch angespannten Umständen zum Lachen zu bringen, schaffte nicht jeder. Ganz offensichtlich besaß Merry besondere Talente.
Als er sie jetzt am anderen Ende des Foyers entdeckte, bemerkte er zu seiner eigenen Überraschung, wie sich sofort seine Laune verbesserte.
Er ging zu ihr. „Ciao, Lady.“
Sie lächelte ihn strahlend an. „Guten Morgen.“
Einen Moment lang starrte er gebannt auf ihren vollen Mund und bewunderte die rosige Farbe ihrer Lippen. Wie Himbeeren.
Erschrocken über seine eigenen Gedanken, blinzelte er. Dann bemerkte er die Mütze, die auf ihrem Koffer lag. „Sie haben doch nicht vor, dieses alberne Ding zu tragen?“
Einen Moment lang starrte sie ihn wortlos an.
Giovanni wartete gespannt auf ihre Antwort. Würde sie ihre Mütze in das lodernde Kaminfeuer werfen und versprechen, nie wieder so etwas Albernes zu tragen?
„Meine Mütze ist nicht albern.“
„Ist sie doch.“
„Ist sie nicht.“
„Ich bin der Boss. Wenn ich sage, sie ist albern, dann ist sie albern.“
„Wenn Sie die Mütze albern finden, sollten Sie erst mal die passenden Handschuhe dazu sehen.“
Sein Blick wanderte zu ihren Händen, die in klobigen schwarzen Lederfäustlingen steckten.
Er hob den Blick wieder zu ihrem Gesicht und hätte schwören können, dass in ihren Augen Belustigung aufblitzte.
„Keine Sorge. Ich habe einen verloren. Darum muss ich jetzt diese langweiligen Dinger tragen.“
„Mit etwas Glück verlieren Sie die Mütze auch noch.“ Dann bemerkte er ihren Rock. „Warum tragen Sie die Hoteluniform?“
„Nicht die ganze Uniform, nur den Rock.“ Sie öffnete den Reißverschluss ihres riesigen Daunenmantels und zeigte ihm ihr schlichtes weißes Top.
Er schnitt eine Grimasse. „Ich hoffe, Sie haben noch andere Kleidung eingepackt.“
„Katja hat gesagt, die Kleiderordnung ist sportlich-elegant. Das hier ist die sportlich-eleganteste Kleidung, die ich besitze.“
„Sportlich-elegant, nicht langweilig.“ Bei dem Meeting gestern hatten sie nur den Ablauf der Reise besprochen. Alles andere hatte er Katja überlassen. „Mit Ihrem Auftreten und Ihrem Stil stehen Sie für die Meravaro Odyssee. Sie können den Gästen nicht in einer Kellnerinnenuniform gegenübertreten.“
Entschuldigend zuckte sie mit den Schultern. „Mein Kleiderschrank besteht nur aus Jeans, T-Shirts, Winterkleidung und der Hoteluniform. Gibt es denn keine Uniform für die Odyssee?“
„Nicht für Sie. Es ist Ihr Job, dafür zu sorgen, dass die Gäste eine fantastische Zeit haben. Unsere Gäste haben hohe Ansprüche, und dazu gehört auch, dass Sie hochwertig gekleidet sind und sich in das Gesamtbild der Passagiere einfügen. Aber das ist kein Problem. In Paris können Sie etwas Neues kaufen.“
Großartig. Also hatte sie nicht nur ihrer Familie das Weihnachtsfest ruiniert und kostbare Tage mit Santa verloren, sondern durfte jetzt auch noch ihr Erspartes für Kleidung ausgeben, die sie nie wieder anziehen würde.
Aber sie riss sich zusammen und lächelte. „Sehr wohl, Boss.“
Der Anflug eines Lächelns legte sich auf seine Lippen. „Eccellente. Sie verstehen, wie es läuft.“
Bei dem Anblick seines Lächelns klopfte Merrys Herz noch schneller.
Seine Miene wurde wieder ernst. „Haben Sie alles?“
Sie nickte.
„Dann ist es Zeit zu gehen, Lady. Der Chauffeur wartet.“
In dem immer dichter werdenden Schneegestöber brauchten sie eine Stunde für die Fahrt zum Flughafen.
Unter anderen Umständen hätte Merry die Fahrt durch den Schnee genossen. Aber eine Stunde auf engem Raum mit Giovanni Cannavaro zu verbringen und mit jedem Atemzug den Duft seines Aftershaves einzuatmen, brachte sie fast um den Verstand.
Um sich abzulenken, öffnete sie ihren Laptop und machte sich an die Arbeit. Auch Giovanni nutzte die Fahrt, um einige Anrufe zu erledigen. Aber die Zeit verging quälend langsam.
Als der Chauffeur endlich am Flughafen hielt und sie ausstiegen, ging plötzlich alles ganz schnell. Merry folgte Giovanni zu seinem Privatflugzeug und stieg hinter ihm die Gangway hinauf.
Als sie eintrat, verschlug die luxuriöse Inneneinrichtung ihr die Sprache. Das war eindeutig nicht die Touristenklasse. Sie nahm neben Giovanni in einem cremefarbenen Ledersitz Platz, der so komfortabel war wie ein Lehnsessel.
„Was für ein wunderschönes Flugzeug.“ Sie legte sich den Sicherheitsgurt um.
„Nicht schlecht für einen einfachen Portier, oder?“ Giovanni zwinkerte.
„Es macht mir Hoffnung“, scherzte sie.
Sie hatte sich fest vorgenommen, sich locker und entspannt zu verhalten. Auf keinen Fall würde sie sich anmerken lassen, wie sehr Giovanni sie durcheinanderbrachte.
Kurz nachdem sie losgeflogen waren, servierte eine Stewardess das Frühstück. Merry setzte sich zu Giovanni an den Esstisch. Ihr Magen knurrte laut. Schließlich hatte sie gestern nur wenig zu Mittag gegessen und das Abendbrot ausfallen lassen.
Aber heute fiel es ihr schon etwas leichter, in Giovannis Nähe zu essen. Voller Appetit biss sie in ein knuspriges Schokoladenbrötchen.
„Wie lange haben Sie als Portier gearbeitet?“, fragte sie ihn zwischen zwei Bissen.
„Zwei Monate lang. Dann hat Wolfgang mich zur Seite genommen, als ich gerade nach einer Teambesprechung die Tische abgeräumt habe. Nach dem Gespräch hat er mir eine Stelle als sein persönlicher Assistent angeboten.“
Überrascht sah Merry ihn an. Normalerweise sprach Wolfgang nicht viel mit seinen Angestellten. Nur den Managern gab er persönlich Anweisungen. „Wow. Ich frage mich, was sein Interesse geweckt hat.“
„Mein Lebenslauf.“ Giovanni trank einen Schluck Kaffee. „Wolfgang liest den Lebenslauf jeder einzelnen Person, die er einstellt.“
Erstaunt sah sie ihn an. Im Hotel arbeiteten Hunderte von Menschen. „Das wusste ich nicht.“
Er hob einen Mundwinkel. „Jetzt wissen Sie es.“
„Wissen Sie auch, warum Ihr Lebenslauf Wolfgang so beeindruckt hat?“
„Weil ich mein Wirtschaftswissenschaftsstudium kurz vor dem Abschluss abgebrochen habe.“
Überrascht hob Merry den Blick von ihrem Teller. Also hatte Giovanni studiert. Sie hatte ganz automatisch angenommen, dass er nur durch harte Arbeit und Talent zum Erfolg gekommen war.
„Warum haben Sie es abgebrochen?“
„Aus persönlichen Gründen.“ Sein Tonfall stellte klar, dass er nicht weiter über das Thema sprechen wollte.
Obwohl ihre Neugier geweckt war, fragte sie nicht weiter.
„Wie lange arbeiten Sie schon im Haensli?“, drehte er den Spieß um.
„Seit drei Jahren. Ich habe als Kellnerin angefangen. Vor einem Jahr kam dann Katja auf mich zu und hat mir die Stelle als ihre persönliche Assistentin angeboten.“
„Das wusste ich nicht.“
Sie lächelte. „Jetzt wissen Sie es.“
Giovanni konnte nicht anders, als ihr Lächeln zu erwidern. „Wie alt waren Sie, als Sie in die Schweiz gekommen sind?“
„Neunzehn.“
Interessant. Er hatte darüber nachgedacht, wie alt sie sein mochte. Äußerlich hätte er sie unter zwanzig geschätzt, aber ihrer Position im Hotel nach zu urteilen, musste sie älter sein.
Zweiundzwanzig. Elf Jahre jünger als er. Zu jung?
Schnell schob er den unangebrachten Gedanken zur Seite. Das musste noch eine Nachwirkung der Fahrt zum Flughafen sein, überlegte er. Auf so engem Raum neben Merry zu sitzen, hatte die verrücktesten Dinge mit ihm angestellt. Die ganze Fahrt über war sein Blick immer wieder zu ihren Beinen gewandert.
Dabei trug sie die unelegantesten Strumpfhosen, die man sich vorstellen konnte, und dazu die langweiligsten flachen schwarzen Stiefeletten, die er je gesehen hatte.
Trotzdem kehrte sein Blick immer wieder zu ihren Beinen zurück. Er musste sich zwingen, auf seinen Laptop zu schauen. Schließlich war Merry seine Angestellte. Na gut, nur für fünf Tage.
Aber das machte keinen Unterschied. Außerdem war sie nicht sein Typ. Auf ihre Weise war sie vielleicht ganz hübsch. Aber außer ihrer melodischen Stimme und ihrem überraschend sexy klingenden Lachen sah sie zu brav aus für seinen Geschmack. Zu unschuldig.
Er musterte ihr rundliches Gesicht. Nicht das kleinste bisschen Make-up. Das blonde Haar hatte sie zu einem ordentlichen Knoten am Hinterkopf zusammengenommen. Sie trug sogar den Rock ihrer Uniform auf Knielänge. Im Gegensatz zu dem Rest der weiblichen Angestellten, die ihn in der Taille aufrollten, um mehr Bein zu zeigen.
Er würde seinen Ferrari darauf verwetten, dass sie weniger Liebhaber gehabt hatte, als er Daumen besaß. Wenn es um Frauen ging, war er Experte.
Frauen wie Merry suchten immer nach etwas Festem. Daran gab es nichts auszusetzen. Aber er war kein Mann für eine Beziehung.
Warum dachte er überhaupt in dieser Weise über Merry nach? Seine eigenen Gedanken schockierten ihn. War er zu einem dieser Männer geworden, der keine Frau anschauen konnte, ohne sie sich in seinem Bett vorzustellen?
Nein. Viele von seinen Angestellten waren weiblich, und er hatte niemals diese Grenze überschritten. Nicht einmal im Geiste. Abgesehen davon, hatte Merry ganz offensichtlich einen Freund. Einen ziemlich eifersüchtigen und besitzergreifenden Freund, wenn er danach ging, wie oft bei ihrem Meeting der Name Martin auf ihrem Handydisplay aufgeblinkt war.
„Was war Ihr Grund, sich für die Schweiz zu entscheiden?“, fragte er, um die lästigen Grübeleien loszuwerden.
„Der Schnee.“
Er zog eine ungläubige Grimasse.
Sie lachte. „Es stimmt! Ich bin in Deutschland zur Universität gegangen, aber genau wie Sie habe ich abgebrochen. Ich hatte mich nur eingeschrieben, um von meiner Familie wegzukommen.“
Bei seinem fragenden Blick schüttelte sie den Kopf. „Kein besonderer Grund. Wir sind einfach alle sehr unterschiedliche Charaktere. Nachdem ich das Studium geschmissen hatte, wollte ich an einen Ort mit ganz viel Schnee gehen. Und hier bin ich.“
Er runzelte nachdenklich die Stirn. Sie beide hatten das Studium abgebrochen, wenn auch aus sehr verschiedenen Gründen. Dann hatte es sie beide in die Schweiz verschlagen, wo sie beide im Hotel Haensli gearbeitet hatten. Dann waren ihre Arbeitgeber auf sie zugekommen und hatten sie befördert.
Erstaunlich viele Gemeinsamkeiten.
„Warum haben Sie sich die Schweiz ausgesucht?“, fragte sie.
„Das war Schicksal.“
„Wie meinen Sie das?“
„Als ich Italien verlassen haben, habe ich das Schicksal für mich entscheiden lassen. Ich bin in Rom zum Flughafen gefahren und habe einfach ein Ticket für den nächsten internationalen Flug gekauft. Der Flug ging zufällig in die Schweiz, in die Nähe von Klosters. Dort habe ich dann in allen Hotels nach einem Job gefragt. Hotel Haensli hat mich eingestellt.“
Die schmerzerfüllten Monate vor jenem schicksalhaften Flug waren eine Zeit, an die Giovanni niemals dachte. Das erlaubte er sich nicht.
Damals hatte er aus dem Flugzeugfenster geschaut und zugesehen, wie Rom und dann Italien hinter ihm immer kleiner wurden. Er hatte kein Ziel gehabt, er hatte nur gewusst, dass sein altes Leben plötzlich jeden Sinn verloren hatte. Warum hätte er einem Lebensweg folgen sollen, den er mit Monica an seiner Seite geplant hatte?
Als er zum ersten Mal einen Fuß ins Hotel Haensli gesetzt hatte, hatte er nur vergessen wollen. Erst mit Wolfgangs Hilfe war seinem Leben eine neue Richtung gegeben worden.
Als Merry neben Giovanni auf den Bahnsteig in Paris trat, sah sie zum ersten Mal den Luxuszug. Auf der schwarz-goldenen Lokomotive stand in wunderschön geschwungenen goldenen Buchstaben Meravaro Odyssee.
An der Lok hingen zwanzig tiefrote Waggons. Der Anblick verschlug Merry die Sprache. Es kam ihr vor, als wäre sie in ein längst vergangenes Jahrhundert gestolpert.
Ihr Herz klopfte schneller. All ihre Zweifel, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, diesen Job anzunehmen, lösten sich in Luft auf. Das hier war eine einmalige Chance. Etwas, wovon sie noch ihren Enkelkindern erzählen konnte. Falls sie je Kinder bekam. Dafür musste sie zuerst einmal einen Partner finden.
Ihr Blick wanderte zu Giovanni. Dieser Mann würde sicher entzückende Babys hervorbringen. Sie seufzte. Aber er war auch ein Milliardär, der bestimmt schon unzählige Herzen gebrochen hatte.
Die Türen öffneten sich, und sie folgte Giovanni an Bord.
Sie musste aufhören, über ihn nachzudenken. Der Mann war nichts für sie. Wie konnte eine Frau Sicherheit in den Armen eines Herzensbrechers finden? Denn das war es, wonach sie sich mehr sehnte als nach allem anderen. Nach dem Gefühl von Geborgenheit. Seit sie ihre Mutter verloren hatte.
Giovanni führte sie in einen der drei Barwagen, die großzügige Loungebereiche besaßen.
„Haben Sie etwas dabei, um sich Notizen zu machen?“, fragte er.
Merry nickte und klopfte auf ihre geräumige Handtasche, in der sich ein Block und ihr Laptop befanden. Ihre Koffer waren bereits in das Hotel gebracht worden, in dem sie in den nächsten beiden Nächten übernachten würden.
Heute war ihre Aufgabe die gründliche Inspektion des Superzuges.
Alles in dem Luxuszug war maßgefertigt und edelstes Design, von den Türklinken über die Möbel bis hin zu den Gardinen und den Kissen.
Natürlich hatte schon eine technische Endabnahme stattgefunden, aber Giovanni war ein Perfektionist. Er wollte sich selbst davon überzeugen, dass seine Angestellten nichts übersehen hatten. Für den Fall, dass er einen Mangel feststellte, standen schon Handwerker und Spezialisten bereit.
Als er gerade einen Roulettetisch im zweiten Wagen, der wie ein Casino eingerichtet war, begutachtete, räusperte Merry sich. „Die Schrauben an diesem Wandpaneel haben nicht den gleichen Abstand zueinander.“
Er warf ihr einen scharfen Blick zu, dann stellte er sich neben sie und schaute auf das Wandpaneel. Sie hatte recht. Giovanni versprach seinen Gästen Perfektion, und die mussten sie bekommen.
Beeindruckt nickte er. „Notieren Sie das.“
Sie zog ihre Unterlagen aus der Tasche und machte eine Notiz.
Den Rest des Waggons kontrollierten sie schweigend. Es gefiel ihm, dass sie nicht versuchte, die Stille mit Geplauder zu füllen. Ohne dass er es ihr erklären musste, verstand sie, dass er seine volle Konzentration auf die Überprüfung richtete.
Als sie in der dritten Bar ankamen, bemerkte er, dass Merry den prächtigen Weihnachtsbaum kritisch musterte, der prominent in der Mitte des Wagens positioniert war. Etwas an der Art, wie sie die Nase kräuselte, erregte seine Aufmerksamkeit.
„Was ist los?“, fragte er und stellte sich neben sie.
Er bemerkte, wie sich eine zarte Röte auf ihre Wangen legte. „Nichts.“
„Wenn etwas nicht stimmt, muss ich das wissen.“
„Alles ist in Ordnung. Der Weihnachtsbaum wirkt sehr … elegant und edel.“
„Warum haben Sie dann die Nase gerümpft?“
An ihrer angestrengten Miene sah er, dass sie verzweifelt nach einer höflichen Antwort suchte. „Ich finde ihn einfach … langweilig.“
Wenn Giovanni eins nicht leiden konnte, dann Langeweile.
Langeweile gab einem ein falsches Gefühl von Sicherheit. Doch Sicherheit gab es nicht. Es konnte einem alles genommen werden. Ohne Vorwarnung. Innerhalb einer Sekunde konnte man so tiefen Schmerz fühlen, dass die Seele in Stücke zerbrach.
Besser, man ging Risiken ein und genoss das Leben voll und ganz.
„Die Tanne wurde von einem Experten dekoriert.“
„Das hat er auch gekonnt gemacht.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Mir gefallen einfach ein paar Farbtupfer besser. Aber mir muss es ja auch nicht gefallen, sondern Ihren Gästen.“
Er schaute sich den Baum genauer an. Hellblaues und silberfarbenes Lametta hing von den Zweigen, dazwischen baumelten Kristallkugeln in Form von Sternen, Schneeflocken und Glocken. Sehr geschmackvoll, wenn man Weihnachtsschmuck mochte. Was er nicht tat. Ihm gefiel nichts, was mit Weihnachten zu tun hatte. Aber die Weihnachtssaison war eine der wichtigsten Jahreszeiten für den Luxustourismus.
Als ihm der Geruch von Tannennadeln in die Nase stieg, trat er angewidert einen Schritt zurück.
Er schwieg einen Moment lang und überlegte, ob er seinem Gefühl nachgeben und ein Risiko eingehen sollte. Das könnte der erste Fehler seiner Karriere sein. Andererseits baute seine ganze Laufbahn darauf auf, dass er Risiken einging.
Wie bei diesem Zug. Alle Kritiker waren sich einig gewesen, dass das Projekt scheitern würde.
Aber er hatte sich nicht von seinem Ziel abbringen lassen. Schon vor drei Jahren hatte er fest an den Erfolg der Meravaro Odyssee geglaubt.
Jetzt stand er hier in Paris, und in zwei Tagen fand die Jungfernfahrt statt. Innerhalb einer Stunde war trotz der horrenden Preise jede einzelne Suite ausgebucht gewesen.
„In Ordnung, Lady“, entschied er. „Rufen Sie mein Team in Paris an und bestellen Sie alles, was Sie brauchen. Morgen früh ist es hier.“
Sie schaute ihn überrascht an. „Ich darf neu dekorieren?“
Seine Entscheidung überraschte Giovanni selbst mindestens so sehr wie sie. In nur vierundzwanzig Stunden hatte er seine Meinung von ihr hundertprozentig geändert. Zuerst hatte er sie für unfähig gehalten, und jetzt überließ er ihr die Verantwortung für die Weihnachtsdekoration.
„Keiner mag Langeweile“, sagte er.
Ihre Augen glitzerten vor Vorfreude. „Gibt es ein Motto oder etwas, woran ich mich halten sollte?“
Er zuckte mit den Schultern. „Tun Sie, was Sie für richtig halten.“
Sie schüttelte den Kopf. „Mögen Sie Weihnachten nicht?“
Ihre Frage überraschte ihn. Eigentlich war er geübt darin, seine wahren Gefühle zu verbergen. Selbst während der Feiertage setzte er immer eine fröhliche Miene auf. Schließlich konnte er seinen Gästen keine schöne Weihnachtsstimmung bieten, wenn man ihm seine Abneigung gegen das Fest ansah. Aber Merry schien seine Maske zu durchschauen.
„Nein“, sagte er knapp. „Die Feiertage sind nur für eins gut, zum Geldverdienen.“
Er drehte dem Baum den Rücken zu und ging zu den eleganten Sitzmöbeln, um die Kissen zu überprüfen. Bei dem vierten bemerkte er einen kleinen Faden, der aus der Naht ragte, und rief Merry zu sich.
Sorgfältig notierte sie den Fehler in ihrem Notizbuch.
Die warme Nachmittagssonne fiel durch die Fenster und tanzte auf ihrem goldenen Haar. Sie hob den Kopf, und durch die dicken Brillengläser sah er direkt in ihre großen babyblauen Augen.
Ein seltsames Prickeln lief über seine Haut. Es kam ihm vor, als pochte das Blut plötzlich schneller durch seine Adern. Was war nur los mit ihm? Wahrscheinlich lag es daran, dass er nichts zu Mittag gegessen hatte.
Ärgerlich schob er die Gedanken beiseite und prüfte das nächste Kissen.
Vier Stunden später beendeten sie die Inspektion. Erleichtert klappte Merry ihr Notizbuch zu und ging neben Giovanni zu der Limousine, die sie zum Hotel brachte.
Seite an Seite mit Giovanni zu arbeiten, war die reinste Qual. Noch nie war es ihr so schwergefallen, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren. Aber jetzt hatte sie es erst einmal geschafft. Sobald sie in ihrer Unterkunft ankamen, konnte sie ihm den Rest des Tages aus dem Weg gehen.
Je länger die Inspektion gedauert hatte, desto mehr Bewunderung empfand sie für die Meravaro Odyssee. Jeder Waggon, jedes Detail war sorgsam überlegt und perfekt umgesetzt worden. Jeder Zentimeter Platz wurde sinnvoll genutzt.
Die luxuriösen Suiten mit Doppelbetten und abgetrennten Wohnbereichen hatten ihr den Atem verschlagen. Nur mit Mühe hatte sie einen begeisterten Aufschrei unterdrücken können, als Giovanni ihr erklärte, dass zu ihrem Job eine eigene Junior-Suite gehörte.
In diesem Moment vibrierte ihr Handy. Sie zog es aus der Handtasche. Martin. Sie drückte einen Knopf, um es auf stumm zu stellen.
„Wollen Sie nicht annehmen?“
„Der Anruf ist privat. Ich rufe nach Feierabend zurück.“ Von Martin hatte sie sowieso nur eine zweite Runde an Beschimpfungen zu erwarten. „Er sollte wissen, dass er mich nicht auf der Arbeit anrufen kann.“
„Im Moment arbeiten wir nicht. Wenn Sie möchten, rufen Sie einfach jetzt zurück. Und wenn er Ihnen auf die Nerven geht, dann sagen Sie ihm einfach, er soll sich verkrümeln.“
Merry lachte laut über den unerwarteten Kommentar. Wie gerne würde sie ihrem Bruder genau das sagen. Aber es machte nicht den kleinsten Unterschied. Sie konnte nicht einmal mehr zählen, wie oft sie Martin schon gesagt hatte, er sollte sich aus ihrem Leben heraushalten und aufhören, ihr die Schuld an jedem Familienproblem zu geben.
Alle Probleme ihrer Familie hatten nach dem Tod ihrer Mutter vor vierzehn Jahren begonnen. Manche Familien wuchsen durch Trauer stärker zusammen, aber ihre Familie hatte sie zerstört. Wenn Santa nicht an ihrer Seite gewesen wäre …
Plötzlich fiel ihr ein, dass sie vergessen hatte, den Schlüssel zu dem Chalet für Santa zu hinterlegen.
„Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich kurz Katja anrufe? Ich habe etwas vergessen.“
Er hob belustigt einen Mundwinkel. „Was habe ich Ihnen gerade gesagt?“
Als ihr Blick seine Augen traf, erschauerte sie. Das passierte jedes Mal, wenn sie ihn direkt anschaute, und es wurde nur noch schlimmer.
Sie wandte sich zur Seite und wählte die Nummer ihrer Chefin.
Giovanni schrieb eine Notiz in seinen Terminkalender, während Merry mit Katja telefonierte.
„Kannst du mir einen Gefallen tun? Ich habe vergessen, meinen Schlüssel für das Chalet an der Rezeption abzugeben. Könntest du den Zweitschlüssel für Santa bereitlegen?“
Er spitzte die Ohren. Erwartete Merry Besuch? Hatte sie deshalb Urlaub genommen? Nicht für ein Date mit dem schrecklich aufdringlichen Martin, sondern für einen Mann namens Santos? Wie viele Liebhaber besaß diese so unschuldig wirkende Frau?
„Genau, in zwei Tagen. Danke!“
Nachdem Merry aufgelegt hatte, stieß sie hörbar die Luft aus und legte den Kopf an die Kopfstütze.
„Probleme?“, fragte er.
„Nichts Weltbewegendes.“
Gegen seinen Willen stieg plötzlich vor seinen Augen das Bild von ihr auf, wie sie im Bett auf ihren Liebhaber wartete. Bei dem Gedanken hätte er fast nach Luft geschnappt. Sein Körper reagierte sofort. Entsetzt über seine Reaktion, drängte er das Bild zurück.
Er musterte unauffällig ihr Profil. Die dicken Brillengläser auf ihrer Nase. Ihre strahlende Haut. Ihren strengen Zopf. Ihre sportliche, aber nicht besonders kurvige Figur. Das Versprechen von Sinnlichkeit in ihren rosigen Lippen.
Gefiel sie ihm? Oder hatte sein Interesse nur damit zu tun, dass sie scheinbar ein aufregendes Liebesleben führte?
Als spürte sie seinen Blick, drehte sie den Kopf zu ihm. Er sah in die blauen Augen hinter der Brille, und zum ersten Mal seit ihrem Meeting im Hotel Haensli hielt sie seinem Blick stand, statt ihm auszuweichen. Er sah, wie sie schluckte. Eine zarte Röte stieg in ihre Wangen.
Ihm fehlten nur selten die Worte, aber in diesem Moment konnte er keinen klaren Gedanken fassen. Ihm fiel nicht einmal eine scherzhafte Bemerkung ein, mit der er die Spannung auflockern konnte.
Zum Glück hielt in diesem Augenblick der Chauffeur vor dem Hotel. Sie waren angekommen.
Merry stolperte, so schnell sie konnte, aus dem Auto. Das Herz schlug so wild in ihrer Brust, als wollte es herausspringen. Dankbar hielt sie ihr Gesicht in den frischen Wind und genoss die Kälte auf ihren glühenden Wangen.
Mit all ihren Sinnen nahm sie wahr, dass Giovanni hinter ihr ausstieg. Sie hörte seine Schritte auf dem Kies, spürte seine Nähe mit jeder Faser ihres Körpers.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er die Hemdsärmel unter seinem maßgeschneiderten Jackett zurechtzog und sich zu ihr drehte. „Wir sind da, Lady.“ Dann ging er mit großen Schritten voraus.
Beim Anblick seiner breiten Schultern und der langen Beine in dem perfekt sitzenden Designeranzug setzte ihr Herz einen Schlag aus.
Hinter ihr räusperte sich der Chauffeur. Das Geräusch schreckte sie aus ihren Gedanken, und sie folgte Giovanni durch die Hoteltüren. Er hatte bereits eingecheckt und reichte Merry ihre Zimmerkarte, dann machten sie sich auf den Weg zu den Fahrstühlen.
Als ihr Handy klingelte, zog sie es ganz in Gedanken aus der Handtasche und nahm den Anruf entgegen, ohne vorher auf das Display zu schauen. Ein großer Fehler.
Merry hörte Martins wütende Stimme. Sie machte eine Geste zu Giovanni, dass er nicht auf sie warten solle, dann trat sie hinter eine große Säule. Während ihr Bruder am anderen Ende der Leitung tobte, lehnte sie erschöpft den Kopf an den kühlen Stein und schloss die Augen,
„Du bist unglaublich. Kannst du mir nicht wenigstens sagen, wann du nach Hause kommst?“, schimpfte er. „Es geht immer nur um dich, dich, dich.“
„Das ist nicht fair“, antwortete sie aufgebracht. „Ich habe dir erklärt, dass ich überraschend arbeiten muss. Wenn du mich jetzt beschimpfst, hilft das auch nicht weiter. Jetzt entschuldige mich bitte, ich habe einen Job zu erledigen.“
„Ja, richtig, benutze wie immer deine Arbeit als Ausrede …“
Sie legte auf und warf ihr Handy in die Handtasche, die sie auf dem Boden abgestellt hatte.
„Noch mehr Probleme?“, fragte eine tiefe Stimme. Als sie den Kopf drehte, trat Giovanni hinter der Säule hervor.
„Belauschen Sie mich?“, fragte sie vorwurfsvoll.
„Es war leider nicht möglich, Ihren Streit zu überhören. Ist alles in Ordnung?“
„Ja, alles gut“, murmelte sie und zwinkerte ihre Tränen fort. Auf keinen Fall durfte sie vor Giovanni die Fassung verlieren.
Das war ganz offensichtlich eine Lüge. Skeptisch hob er eine Augenbraue. „Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte er sanft.
Der Blick in ihren Augen wurde weicher, als hätte seine Frage etwas in ihr berührt. „Danke, aber es sind Familienangelegenheiten. Mein Bruder.“
„Ihr Bruder hat sie angeschrien?“
Sie nickte niedergeschlagen. „Martin ist Experte darin, mich zur Schnecke zu machen.“