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Hans Falladas unveröffentlichte Geschichten.
Welch ein Fund: Von den Erzählungen, die Hans Fallada im Laufe seines Lebens geschrieben hat, sind über zwanzig bedeutende Texte den Lesern unbekannt, da sie noch nie veröffentlicht wurden oder direkt für eine Zeitschrifte verfasst waren. Sie zeigen den vertrauten Autor in Hochform und lassen uns zugleich neue Seiten an ihm entdecken. Diese Geschichten aus vier Jahrzehnten führen in Falladas Welten – zu gefährlichen Büchern und glücklichen Schreibstunden, zu einer Bestatterin mit ungewöhnlicher Vorliebe, zu einem alten Pott in der U-Bahn, der unerwartet zur Liebeserklärung wird, und zu einer jungen Liebe, die sich zwischen den Trümmern der Nachkriegszeit behaupten muss.
»Fallada hatte die Energie, die Welthaltigkeit, das Gespür für gesellschaftliche Konflikte und das Talent, sie virtuos zu erzählen.« Thomas Hüetlin, DER SPIEGEL.
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Seitenzahl: 388
Rudolf Ditzen alias HANS FALLADA (1893–1947), zwischen 1915 und 1925 Rendant auf Rittergütern, Hofinspektor, Buchhalter, zwischen 1928 und 1931 Adressenschreiber, Annoncensammler, Verlagsangestellter, 1920 Roman-Debüt mit »Der junge Goedeschal«. Der vielfach übersetzte Roman »Kleiner Mann – was nun?« (1932) machte Fallada weltberühmt. Sein letztes Buch, »Jeder stirbt für sich allein« (1947), avancierte rund sechzig Jahre nach Erscheinen zum internationalen Bestseller. Weitere Werke u. a.: »Bauern, Bonzen und Bomben« (1931), »Wer einmal aus dem Blechnapf frißt« (1934), »Wolf unter Wölfen« (1937), »Der eiserne Gustav« (1938).
Peter Walther, geboren 1965 in Berlin, studierte u. a. in Falladas Geburtsstadt Greifswald Germanistik und Kunstgeschichte und wurde 1995 in Berlin promoviert. Zusammen mit Birgit Dahlke, Klaus Michael und Lutz Seiler gab er die Literaturzeitschrift »Moosbrand« heraus. Heute leitet er gemeinsam mit Hendrik Röder das Brandenburgische Literaturbüro in Potsdam. Er ist Mitbegründer des Literaturportals »literaturport« und veröffentlichte Bücher zur Geschichte der Fotografie sowie zu Schriftstellern wie Johann Wolfgang von Goethe, Peter Huchel, Günter Eich und Thomas Mann.
Die akribische Suche des Hans-Fallada-Biographen Peter Walther hat Überraschendes zutage gefördert: Von den rund siebzig Geschichten, die Fallada im Laufe seines Lebens geschrieben hat, ist ein nicht unerheblicher Teil den Lesern unbekannt. Manche dieser Erzählungen widmen sich typischen Fallada-Sujets: So nimmt es Pogg in Kauf, für »das prahlerische Glück, als ein großer Mann dazustehen«, ins Gefängnis zu gehen; eine Verkäuferin fragt sich, ob sie weiterhin arm und »solide« oder nicht doch besser als Tanzdame leben soll; und ein Paar findet im rauen Nachkriegsberlin unverhofft privates Glück und kann es gegen die Umstände behaupten. Die Auswahl zeigt zugleich neue Facetten, etwa eine »Detektivgeschichte«, sowie autobiographische Texte – und eine Warnung: »Bücher sind auch die gefährlichsten Freunde; sie machen unendlich anspruchsvoll.«
Hans Falladas unveröffentlichte Geschichten
Welch ein Fund: Von den Erzählungen, die Hans Fallada im Laufe seines Lebens geschrieben hat, sind über zwanzig bedeutende Texte den Lesern unbekannt, da sie noch nie veröffentlicht wurden oder direkt für eine Zeitschrifte verfasst waren. Sie zeigen den vertrauten Autor in Hochform und lassen uns zugleich neue Seiten an ihm entdecken.
Diese Geschichten aus vier Jahrzehnten führen in Falladas Welten – zu gefährlichen Büchern und glücklichen Schreibstunden, zu einer Bestatterin mit ungewöhnlicher Vorliebe, zu einem alten Pott in der U-Bahn, der unerwartet zur Liebeserklärung wird, und zu einer jungen Liebe, die sich zwischen den Trümmern der Nachkriegszeit behaupten muss.
»Fallada hatte die Energie, die Welthaltigkeit, das Gespür für gesellschaftliche Konflikte und das Talent, sie virtuos zu erzählen.« Thomas Hüetlin, DER SPIEGEL
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Hans Fallada
Junge Liebe zwischen Trümmern
Erzählungen
Herausgegeben und mit einem Nachwortvon Peter Walther
Inhaltsübersicht
Über Hans Fallada
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Junge Liebe
Junge Liebe
Aufzeichnungen des jungen Rudolf Ditzen nach dem Scheinduell mit seinem Schulfreund
Pogg, der Feigling
Der Strafentlassene
Die Verkäuferin auf der Kippe
Der blutende Biber
Schwierig oder leicht
Schwierig oder leicht –?
Warnung vor Büchern
Vom Kuhberg nach Carwitz. Vom Feuerherd zum Elektroherd
Märchen vom Unkraut
Gesine Lüders oder Eine kommt – eine geht
Vom Entbehrlichen und vom Unentbehrlichen
Vom Entbehrlichen und vom Unentbehrlichen
Das EK Eins
Genesenden-Urlaub
Der Maler
Junge Liebe zwischen Trümmern
Oma überdauert den Krieg
Junge Liebe zwischen Trümmern
Der Pott in der U-Bahn
Pfingstgruß an Achim
Die schlimme Tochter
Jeder fege vor seiner Frau
Unser täglich Brot
Ich, der verlorene Findling
Die Bucklige
Meine lieben jungen Freunde
Meine Ahnen
Ein Roman wird begonnen
Meine lieben jungen Freunde
Anhang
Im Spiegelkabinett von Literatur und LebenNachwort von Peter Walther
Anmerkungen
Editorische Notiz
Impressum
Er war kaum siebzehn Jahre und unglaubhaft schüchtern. Sein blondes Haar fiel ihm, sooft es auch zurückgekämmt wurde, in einer Welle über Stirn und Augen: dann warf er es mit einer ungeduldigen Bewegung zurück. Dieses Rückwerfen des Kopfes gab ihm etwas Kühnes, aber er war nicht kühn, er war schüchtern und besonders schüchtern gegenüber jungen Mädchen. Er sehnte sich nach der großen Liebe, aber er hatte noch nie gewagt, ein junges Mädchen anzusprechen.
Ein unbegreiflicher Ratschluss seines Vaters hatte den jungen Erwin Ruden zu einem Generalsuperintendenten in Pension gegeben, einem hassenswerten Mann von falscher Salbung, den zwei Eigenschaften noch hassenswerter machten. Er zwang alle seine Hausbewohner des Sonntags dreimal die Kirche zu besuchen, um der Gemeinde mit gutem Beispiel voranzugehen, und er hatte eine widerliche Vorliebe für Wildbraten mit dem stärksten Hautgout-Geschmack: das ganze Haus stank wie ein Aashaufen, wenn an den Wildbrettagen das Essen zubereitet wurde. Dann schüttelte es den Erwin Ruden vor Ekel, und bei solchen Mahlzeiten konnte er nicht einen Bissen hinunterwürgen.
Erwin wohnte im obersten Stock der Superintendentur, seine Fenster gingen auf die sogenannte Lumpengasse hinaus. Da er erst neu in dies thüringische Städtchen gekommen war und keinen Freund auf dem Gymnasium hatte, saß er oft viele Stunden an seinem Fenster und sah auf den Schlossberg mit der gelben Scheune des herzoglichen Schlosses hinaus oder auch in die nahen Fenster in der Lumpengasse.
Ihm grade gegenüber, so nahe, dass man sich fast über die Gasse weg die Hände reichen konnte, wohnte eine Schneiderin, eine dürre, ältliche, immer geschäftige Person, die sich für Erwin Ruden nur dadurch auszeichnete, dass sie den ›feineren‹ Töchtern der Stadt Unterricht im Wäschenähen und Sticken gab. Zweimal wöchentlich, dienstags und freitags von vier bis sechs, saß dort ein junges Mädchen am Fenster, und wenn der junge Erwin Ruden sie ansah, so schaute sie zurück – und dann trennten sich langsam ihre Blicke. Sie sah auf ihre Weißnäherei nieder, und die Hand nahm, als käme sie aus tiefem Schlaf, die Nadelarbeit wieder auf; er aber sah, die ungebärdige Locke in kühnem Schwung zurückwerfend, auf die wehenden Sommerkronen der Bäume am Schlossberg und die gelbe Scheune, die Großherzogliches Schloss genannt wurde.
So ging das zwischen den beiden manchen Tag, bis einmal plötzlich beim Blickewechsel der junge Erwin Ruden ein weißes Briefblatt vom Schreibtisch nahm und ihr winkend zeigte, als eine Aufforderung, in Briefwechsel miteinander zu treten. Sie nickte überraschend heftig zurück, und als er wieder hinsah, erblickte er sie schon eine Treppe tiefer im Schneiderhaus.
Unwillkürlich lief auch er, das leere Briefblatt in der Hand, das Treppenhaus der Superintendentur hinab, und so sahen sie einander immer wieder an den Treppenfenstern, sie ihm stets eine Stiege voraus. Bis sich die beiden am hellen Sommernachmittag auf der Lumpengasse gegenüberstanden, beide grenzenlos verlegen, beide atemlos, und das nicht nur von ihrem Treppenlauf, und einander nahe in die Augen schauten.
So standen sie eine Weile voreinander, dann machte das Mädchen eine Bewegung, sachte zog sie ihm das Briefblatt aus der Hand. Er flüsterte flehend: »Oh nein, bitte nicht!«, aber da hatte sie ihm schon kurz zugenickt und lief wieder in das Schneiderhaus zurück. So kehrte denn auch er in seine Superintendentur heim, aber beim Hinaufsteigen in sein Zimmer war sie ihm mehr als nur eine Stiege voraus, so langsam nahm er die Stufen.
In seinem Zimmer angekommen, ging er auch nicht wieder ans Fenster, so sehr schämte er sich. Er glaubte, die Schande nicht überleben zu können, dass er ihr ohne alle Erklärung ein leeres Briefblatt in die Hand gegeben hatte. Entweder musste sie ihn jetzt für einen unheilbaren Trottel halten oder für einen Frechling, der sie verspottet hatte. Er saß völlig zusammengebrochen auf seinem Sofa; ab und an warf er die Haarwelle aus Stirn und Augen, das sah kühn aus, aber er war unüberwindlich schüchtern, und er wusste das.
Aber ihm wurde nicht lange Zeit gelassen, sich diesen selbstbedauernden Gefühlen hinzugeben. Er wurde zum Generalsuperintendenten gerufen: das Stelldichein auf der Lumpengasse war nicht unbemerkt geblieben. Gewaltig blitzte und donnerte der alte zürnende Jahwe aus der Gewitterwolke, und bald bleich, bald rot stand der junge Erwin Ruden vor dem Zürnenden und erfuhr, was für ein infam sittenloser Bursche er sei, der seine Eltern noch einmal vor Kummer und Schande in die Grube bringen würde. Keinen Tag mehr dürfe er dies reine geistliche Haus durch seine Anwesenheit beschmutzen –! Jedes Wort der Verteidigung wurde ihm niedergeschrien, und schließlich wurde er mit der Drohung aus der Stube gejagt, sein Vater werde ihn noch ganz anders züchtigen –!
Da saß er nun wieder oben auf seinem Sofa und dachte darüber nach, wie doch dem einen im Leben alles glückt und dem andern – zum Beispiel ihm – gar nichts. Seine Mitschüler aus der Prima gingen jeden Nachmittag ganz offiziell mit ihren Tanzstundenflammen auf den ›Bummel‹ der kleinen Stadt, er aber brauchte nur einem jungen Mädchen ein leeres Briefblatt in die Hand zu drücken, und schon war er ein angehender sittenloser Verbrecher! – Trat er aber zwischen solchen Gedanken einmal wieder ans Fenster und sah hinüber in die Schneiderstube, so war sie leer, oder aber – noch schlimmer! – die ältliche Schneiderin stand dort und drohte, sobald sie seiner ansichtig wurde, mit der Faust! Alle Menschen dachten schlecht von ihm, und das junge Mädchen, von dem er nicht einmal den Namen wusste, dachte wegen des leeren Briefblattes auch schlecht von ihm! Es war, um sich glatt zu erschießen, ein Gerichteter, wie er war.
Am nächsten Morgen kam dann sein telegraphisch herbeigerufener Vater, und wenn er auch nicht so donnerte und blitzte wie der Generalsuperintendent, so war er doch tief bekümmert über all die Schwierigkeiten, die ihm dieser Unglückssohn bereitete. Es mussten Entschuldigungsbesuche gemacht werden bei der Mutter des jungen Mädchens (er erfuhr so wenigstens, dass ›Sie‹ Erna hieß, aber er bekam sie nicht zu sehen) und beim Direktor des Gymnasiums (zu dem die Geschichte natürlich auch bereits gedrungen war). Dann wurde Erwin Ruden in eine andere Pension gegeben, zu einem Oberst a.D., der ein so milder Mann war, wie der Generalsuperintendent ein streitbarer Mann gewesen war. Erwin brauchte dort kein verdorbenes Wildfleisch zu essen, und am Sonntag musste er auch nicht dreimal in die Kirche gehen, ja, nicht ein Mal. Ob er aber jungen Mädchen Briefblätter zusteckte, weiß oder beschrieben, darum kümmerte sich der Oberst überhaupt nicht.
So war denn der Weg frei zu Erna, und er sah sie auch wieder, und sie war es sogar, die den Schüchternen mit dem kühnen Kopfwurf zuerst ansprach. Von da an gingen sie regelmäßig miteinander auf den Bummel, die Sache mit dem weißen Briefblatt war befriedigend aufgeklärt, und Erna galt allgemein als Rudens Flamme.
Aber es war kein Glück, und es wurde auch kein Glück, es wurde nicht einmal eine Liebelei daraus – alle Aufregungen und Leiden waren vergeblich gewesen! Aus der Nähe gesehen, hatte der junge Erwin Ruden entdeckt, dass Erna das Gesicht voller Pickel hatte: er konnte sich nie dazu überwinden, ihr einen Kuss zu geben. Das Mädchen war lieb und freundlich zu ihm, sie ertrug geduldig all seine Launen, sie tat ihm zuliebe, was sie nur von seinen Wünschen erraten konnte – er aber dachte: ›Du armer Kerl, du wirst nie im Leben Glück haben – genau wie ich nicht. Wir sind von vorneherein gezeichnet – du äußerlich, ich innerlich. Ach, wie lustig du mir bist –!‹
Er zog sich immer mehr von ihr zurück, ging nicht mehr auf den Bummel und beantwortete ihre Briefe nicht. Schließlich fuhr er mit dem bestandenen Abitur aus der kleinen thüringischen Stadt fort, gottlob, er musste sie nicht wiedersehen.
Jahre später sah er sie doch wieder. Die Pickel der Entwicklungsjahre waren vergangen, sie war eine strahlend schöne Frau geworden. Vielleicht hätte er sie jetzt lieben mögen, aber – und er warf die Haarlocke mit einem kühn wirkenden Schwung zurück –, aber er hatte jetzt Angst, sie würde ihm seine frühere Missachtung nie verzeihen und ihn zu ihrem Sklaven machen, wie sie einst seine Sklavin gewesen war. Er zog sich ganz von ihr zurück und sah sie nicht wieder, sie, die ihn noch immer liebte und immer lieben würde …
Nach einem Aufenthalt von annähernd vier Wochen wurde ich aus dem Rudolstädter Krankenhaus nach Jena in die Psychiatrische Klinik überführt. Ich kann kaum sagen, dass mir die Zeit im Rud. Krankenhaus unangenehm oder peinlich gewesen wäre. Das, was ich getan, lag so fern von mir, dass es zu dem, was ich jetzt tat, in kaum einer Beziehung zu stehen schien. Ich war völlig losgelöst von »allem«, was früher war, mag sein, dass ich gestürzt war, aber dieser Sturz war so stark und plötzlich gewesen, dass außer einem augenblicklichen harten Schmerz wenig Nachwirkungen zu bleiben schienen. Denn aus den Nachwirkungen wurden Fernwirkungen, die umso stärker waren, je später sie kamen. Und dann vergaß ich nichts. Ich hatte mich in der Zeit meines Rud. Aufenthalts völlig darüber zu täuschen gewusst, was ich getan und wie ich getan. Und das »wie« war am Ende stärker als das »was«. Über die Tatsachen und Bemerkungen über die Schul- und Ferienzeit in Rud. werde ich später reden, wenn alles mir noch klarer geworden als jetzt, denn es pflegt oft so zu sein, dass wir uns über das Nähere eher klarer werden als über das Ferne. Jetzt genügt wohl die Bemerkung, dass ich wegen Tötung im Zweikampf – ich habe meinen besten Freund erschossen – eine gerichtliche Strafe zu erwarten hatte. Ich hatte Selbstmord begehen wollen, auch zwei Schüsse auf mein Herz abgegeben, die beide ausgezeichnet trafen, leider aber doch nicht so gut, dass ich dieses langweiligen Elends, das man Leben nennt, überhoben gewesen wäre. Beide Schüsse hatten das Herz gestreift, waren durch die Lunge hindurchgegangen und hatten zwei Rippen zerbrochen. Beide Verletzungen, schon jede für sich allein, stark genug, um selbst einer Bärennatur ein Ende zu machen, doch mein zäher Körper überstand sie völlig, so wie er ja auch schon vieles davor an Krankheiten überstanden hatte.
Nach einer Zeit lang, die ich still am Platze, auf den ich gestürzt, gelegen hatte, suchte ich mich zu erheben. Es misslang. Der Atem pfiff unheimlich in meine Lunge, das zerrissene und halb verkohlte Hemd entblößte meine linke Brust, in der sich direkt an der Brustwarze zwei schwarze runde Löcher befanden, in denen das Blut, bald höher steigend, bald tiefer sinkend, zischte. Ich zwang mich, nicht dahin zu sehen. Zwei Schüsse hatte mein Freund auf mich abgegeben – beide vorbei –, einen ich auf ihn, zwei auf mich selbst, blieb noch einer, denn der Revolver musste doch sechs Schüsse enthalten. Ich suchte ihn. Er lag ein wenig entfernt im bereiften Gras. Ich streckte meine Hand nach ihm aus und konnte ihn noch mit Mühe erreichen. Meine erstarrten Finger schlossen sich schlecht um seinen Kolben, es war diesen Morgen sehr kalt – kaum vermochte ich den Drücker zu ergreifen, dann drückte ich ein wenig, die Trommel setzte sich mit einem kurzen Ruck in Bewegung – Gut, er war also noch in Ordnung. Ich fasste ihn fester, dann setzte ich ihn an meine Schläfe. Es wäre eine Lüge, wenn ich sagen würde, ich hätte keine Furcht gehabt. Aber ich hatte auch nicht Furcht. In mir war eine völlige Gleichgiltigkeit gegen alles, was da kommen konnte. Ich tat wie eine Maschine das, was ich mir nun einmal vorgenommen, ohne viel zu denken, oder doch, ohne wenigstens am geringsten an die Folgen meiner Handlungsweise zu denken. Ich dachte anderes, während ich den Revolver an der Schläfe hatte, ganz blitzschnell glitt alles vorüber. Über mir die Tannenwipfel so ruhig im Blau, alles selber so gleichgiltig, Liebe vermochte ich nicht mehr in der Schönheit der Natur zu sehen und im Glanze des sonnigen Blaus. Nein, diese Schönheit war wie die Schönheit eines dummen eitlen Geschöpfes, von außen herrlich, aber innen ist nichts als der Tod. Um mich wagte ich nicht zu sehen, denn hinter mir musste der liegen, dessen Röcheln eben erst verstummt war, und dann würde ich doch vielleicht nicht so handeln können, wie ich sollte und musste. Ich drückte ganz langsam. Die Trommel drehte sich, dann schnappte sie – jetzt, jetzt musste es kommen – doch nein, alles blieb still, der Schuss hatte versagt. Alles andere hatte ich erwartet, nur nicht das. Was sollte ich tun? Ich warf den Revolver weit weg. Einen Augenblick kam mir der Gedanke, dass da hinten ja noch Patronen lagen, dass ich wieder hätte laden können. Meine Willenskraft war dazu viel zu schwach, und dann – da hinten lag er ja, und ich hätte an ihm vorbeigemusst. Und ich begann zu rufen, ganz maschinenmäßig, ich hatte gelesen, dass Verwundete um Hilfe zu rufen pflegen, und ich rief um Hilfe: Hilfe … Hilfe … Immer in langen Pausen. Der Atem versagte oft. Das Echo warf mir das Wort aus dem Walde wieder auf die kleine Lichtung zurück, schwächer, wie Hohn, wie eine Parodie klang es: Hilfe … Hilfe … Dann rief ich mit Verzweiflung: Ach Gott, hilft mir denn niemand? Hilfe … Hilfe … Hilfe … Alles blieb still. Die Verzweiflung war auch mehr in meiner Stimme als in meinen Gedanken. Ich war völlig apathisch. Und immer wieder dasselbe monotone Hilfe … Hilfe … Und immer wieder dieses selbe monotone Echo: Hilfe … Hilfe … Ganz erschöpft schwieg ich still. Doch nach all dem Lärm und Schreien war die Stille mir fürchterlich, eine grenzenlose Leere gähnte auf. Und ich überlegte fieberhaft: Hier durfte ich nicht liegen bleiben. Das war gewiss. Vor 11 Uhr würde meine Abwesenheit nicht gemerkt werden, und vor Abend würde ich nicht gefunden werden, wenn ich dann immer noch lebte und dann später sterben würde. Denn der Tod war mir ja gewiss. Aber die ganze Zeit hier mit dem Toten allein wäre mir furchtbar. Das Rufen half nichts. Ein Ort war zwar nicht weit – eine halbe Stunde etwa –, aber dieser Platz hier lag so viel höher, dass all mein Schreien verschallen würde. So gab es nur zwei Möglichkeiten: ich musste sehen, dass ich mich wegschleppte, auf den kleinen Fußpfad hier in der Nähe, da könnte ja durch Zufall ein Mensch entlangkommen, und die zweite Möglichkeit, eine Ohnmacht, herbeigeführt durch die Überanstrengung beim Hinschleppen auf den Weg. Vielleicht auch der Tod, jetzt gleich, aber das war schließlich gleichgiltig, wann der kam. Aber ich würde so nicht gehen können, ich brauchte meinen Stock. Und der war hinten, da hinten, wohin ich nicht einmal zu sehen wagte, war nur ein Schritt, er steckte neben den Füßen des Toten, aber was für ein Schritt! Eine Weile lag ich wieder still und dachte darüber. Dann, ganz plötzlich, erhob ich mich schnell, griff, halb gebückt, nach dem Stock und warf mich sofort mit ihm wieder auf den Rücken. Doch zu spät. Gerade ins Gesicht hatte ich ihm gesehen. Diese Dinge vergesse ich nicht. Er lag auf dem Rücken, das Gesicht der Sonne zugewendet, die jetzt langsam über die Tannenwipfel emporstieg. Und die gläsernen offnen Augen sahen starr in sie hinein. Das Gesicht ganz gelb. Der obere Teil etwas erhoben, der Unterkiefer schlaff, so dass der Mund halb offen war. In dem Ganzen lag ein unauslöschlicher Durst und ein Hunger nach Sättigung. Aus dem Spiele war ein Ernst geworden, der stark war. Durch das starke Hinfallen begannen die Wunden zu bluten, und ich erbrach auch heftig Blut. Ich war zu schwach, den Kopf zur Seite zu schieben, so lief das Blut mir über das Gesicht und die Brust. Das ekelte mich an, und ich erhob mich plötzlich und begann zu laufen. Bald fiel ich hierhin, bald dorthin, aber allmählich konnte ich immer länger laufen. – Hier war auch schon der Weg, auf dem ich gestanden, hier die Patronenschachtel fürs Gewehr, das lag weit dahinten, fünfzehn Schritt von hier, da ist ein Haufen Steine, dass ich nur nicht auf ihn fall, nein, ich komme vorbei, hier ist der Fußweg nach Blankenhain, da ist die frisch gestrichene Bank, nun den steilen Weg hinab. Dass ich nur nicht falle. Während ich liege, rufe ich immer wieder um Hilfe, doch es verhallt. Und ich höre doch jeden Lärm aus dem Dorf, das ich jetzt schon sehe. Meinen Stock habe ich verloren. Meine Mütze auch. Und immer das Blut, immer das Blut, rastlos läuft es aus den beiden kleinen Löchern, die ich so deutlich, viel zu deutlich, auf der Brust sehe, wo ich gelegen habe, ist Blut, und wo ich gegangen bin, ist Blut. Hemd und Hose sind ganz durchtränkt davon. – Jetzt die kleine Berghütte – noch einmal rasten – und nun der erste Mensch. Ich rufe ihn an.
Jena 1911 oder 1912
Rudolf Ditzen
Diese Geschichte muss erzählt werden, indem man sich streng an die Tatsachen hält. Ich habe längst aufgegeben, sie zu verstehen. Ich präsentiere sie dem Leser so, wie ich sie erfuhr, und muss es ihm überlassen, das Beste – oder das Schlechteste – aus ihr zu machen, wie nun eben seine Geschmacksrichtung liegen mag. Dass mein Tatsachenmaterial lückenhaft ist, kann ich nicht bestreiten, es bleibt jeder Phantasie frei, diese Lücken zu ergänzen: Kolportage oder Wirklichkeit, auch hier sind keine Grenzen gezogen.
Jedenfalls war Julius Pogg aus guter Familie. Sein Vater war irgendein hohes Tier in der Verwaltung oder Justiz, das habe ich vergessen. Sicher, dass er viele Orden trug und dass der Verkehr mit seinem einzigen Sohn sich darauf beschränkte, vierteljährlich seine Zeugnisse durchzusehen.
Die waren jämmerlich genug. Pogg Vater blieb es unverständlich, dass sein Sohn solche Noten nach Haus bringen konnte. Da stand dieser Bursche nun, käsig, zum Umpusten, und auf zehn Schritte gegen den Wind roch man ihm Angst an. Pogg Vater wusste nicht was tun, er händigte Julius seiner Mutter aus, die ihn an den Arzt weitergab. Der Arzt verordnete Eisen, Lebertran, kalte Abwaschungen, Sanatogen, Biomalz, Brom, und Julius blieb geduckt und schiech, kroch an den Wänden entlang und tat das Maul nicht auf.
Umso größer war das Entsetzen, als sich herausstellte, Julius könne noch anders als schiech sein: die Gouvernante der Schwestern meldete erregt, dass Julius regelmäßig ihr im Nachttisch aufbewahrtes Portemonnaie bestehle. Es war unglaubhaft, doch stellte man eine Falle, in die Julius mit rührendem Ungeschick ging.
Diesmal nahm der Vater selbst die Kur in die Hand. Er verordnete Pfeifenrohr, mehrere köstliche Weichselrohre mussten daran glauben, und Julius wurde in eine strenge Pension geschickt.
Überraschenderweise lauteten die Berichte von dort nicht ungünstig, die Zeugnisse wurden besser und gut, der Vater musste zu seinem Staunen erleben, dass Julius Zweiter wurde. Er wäre Erster geworden, hätte er nicht einen Tadel wegen Frechheit erhalten – der Schieche wegen Frechheit, Gott bewahre! Er durfte zum ersten Mal wieder in den Ferien heimkommen und zeigte sich als ein sorgfältig gekleideter Jüngling, dessen Sicherheit zu betont war, um nicht Schüchternheit zu verbergen. Die Frivolität, mit der er seinem Vater zur Begrüßung entgegenschrie: »Tag, alter Knabe!«, wobei seine Augen abirrten, war derartig bestürzend, dass der Vater nach einer Weile Atmens nichts entgegnen konnte als: »Du scheinst ja eine nette Pflanze geworden zu sein! Ein sauberes Früchtchen!«
Julius reiste wieder ab, sein Abitur zu bauen, nicht ohne vorher zweimal um vier Uhr früh betrunken nach Haus gekommen zu sein. Die Eltern mussten dies übersehen, obwohl der Sohn – zum Entzücken der Dienerschaft – vornehmlich auf Treppe und Vorplatz seinen ledernen Herrn Papa angesungen hatte –, mussten es übersehen, weil sie einfach nicht wussten, wie Julius eine Reprimande aufnehmen würde.
Aus dem Abitur wurde nichts. Vier Wochen vorher schlug der Blitz ein: Der Sohn hatte seinen Freund erschossen. »Einfach so«, erklärte er ruhig bei der Vernehmung. »Er wollte es gerne. Er dachte, er hätte einen Hundewurm im Hirn. Der Blödsinn war ihm ja nicht auszureden.« Übrigens hatte sich Julius auch mit seinem eigenen Körper an der Sache beteiligt, nur war seine Hand in persönlicher Angelegenheit nicht so sicher gewesen wie in fremder. Er lag acht Wochen krank und siedelte dann in eine Heil- und Pflegeanstalt über. Nach drei Jahren war er gesund und ging ins Bankfach, nun zwanzig Jahre alt.
In den nächsten fünfzehn Jahren entwickelte sich Julius im Allgemeinen gedeihlich. Die Nachrichten aus diesem Zeitabschnitt sind rar. Immerhin weiß man, dass er eine außergewöhnliche Begabung in vielen Materien zeigte, er wurde nicht nur ein tüchtiger Bankfachmann, er handelte auch mit Autos, fuhr in Rennen mit, schrieb ein nicht erfolgloses Libretto, kam wegen zweifelhafter Geschäfte in Untersuchungshaft und wieder frei, kaufte eine blühende Zeitschrift und arbeitete sie in sechs Wochen in den Grund – kurz, war ein normales Mitglied der besseren Menschheit im ersten Viertel des 20.Jahrhunderts.
Man weiß auch, dass er sich zu Anfang dieser Laufbahn mit einem ganz unmöglichen Mädchen verlobte und sogar vom Papa, der mittlerweile Exzellenz geworden war, auf nicht feststellbare Weise die Anerkennung dieser Verlobung erzwang. Vierzehn Tage nach der offiziellen Veröffentlichung löste er dieses zarte Band wieder, da er seine Braut, wie er ernst mitzuteilen pflegte, nicht ihrem eigentlichen Beruf als Jüngerin der Venus vulgivaga abtrünnig machen wollte. Von diesem Zeitpunkte ab darf man seine Beziehungen zum Elternhaus als erkaltet oder doch lau ansehen.
Man erzählt ferner noch aus dieser Zeit von seinem Verhältnis mit einer berühmten Schauspielerin, die, in keiner Weise kleinlich, es später nie über sich gebracht haben soll, ihn wiederzusehen. Schon bei der Nennung seines Namens soll sie ein Schauder, eine Art physischen Grauens gefasst haben. Doch mag das Geschwätz sein.
Der Schwanz, den dieser Stern nach sich zog, erlischt, wir verlieren ihn völlig aus dem Auge, für Jahre wissen wir nichts von ihm zu berichten. Als er wieder auftaucht, heißt er schlicht Julius Pogg – ohne Titel –, er ist fünfunddreißig Jahre alt und erster Buchhalter einer kleinen Bank. Ein Bild von ihm aus dieser Zeit liegt vor mir: das bartlose Gesicht ist eckig, flächig und fahl, die Lippen sehr stark und rot, die Stirn niedrig. Man würde ihn auf Mitte der Zwanziger taxieren, wenn die Augen nicht wären, die glanzlos und vollkommen kalt sind. Er ist sehr sicher, geschäftlich die Zuverlässigkeit selbst, von außerordentlichem Fleiß, das Entzücken seines Chefs und – in Männergesellschaft – ein fabelhafter Erzähler.
Und erst jetzt teile ich dem Leser mit, den ich erbarmungslos bis hierher geschleppt, wo er schlechterdings bis zu Ende wird lesen müssen, wenn er erfahren will, warum Pogg außergewöhnlich sein soll – erst jetzt teile ich ihm mit, dass nun meine eigentliche Erzählung beginnt. Alles bisher Berichtete bietet ja schließlich nichts Besonderes, nun aber fange ich an:
Bradley, Inhaber von Bradley & Fischer, Bankgeschäft, Königstraße, lädt seinen Buchhalter Julius Pogg zum Wochenende nach Wildhof ein. Pogg kommt und findet, dass Wildhof ein wundervolles Barockschlösschen in einem riesigen Park ist. Das Schlösschen hallt von Leben: Bradley hat eine Tochter, diese Tochter hat eine Unzahl Freundinnen, und ein halbes Dutzend dieser Freundinnen ist immer zu Besuch auf Wildhof.
Pogg meint, er träumt. Er, der Fünfunddreißigjährige, der alte Gauner, der sich nach Ruhe und einem gleichförmigen Leben sehnt, trifft zum ersten Mal die Tochter aus gutem Haus. Er trifft sie nicht einmal, er trifft sie gleich siebenmal. Alice, Lotte, Irmgard, Irene, Luise, Hertha und Bertha – wo noch hätte er je so viel Jugend gefunden? Gesund, gepflegt, körperlich und geistig gut genährt, siebzehn-, achtzehn-, zwanzigjährig, alles in der Theorie wissend und nichts in der Praxis, schlagfertig, tollkühn, keusch – Julius Pogg kann abends nicht einschlafen.
Es zeigt sich, dass er vielleicht wirklich erst Mitte der Zwanziger ist. Und kaum das. In den dämmernden Park huschen zwei oder drei, in Laken gehüllt, und fahle Gespenster erschrecken die Liebenden unter der Dienerschaft. Bradley, der nach dem Abendessen einschlummerte, erwacht jäh von dem Rascheln eines Igels, fängt ihn ungeschickt in einem Perserteppich, setzt ihn in den Garten und findet, zurückgekehrt, sein Zimmer mit zehn, zwölf, zwanzig Igeln bevölkert. Sie kriechen unter Sofa und Schreibtisch hervor, im Papierkorb raschelt’s, im Uhrgehäuse fiepen sie. Aus den Fenstern steigen nächtens Verschwörer, kapern Boote und liefern Seegefechte, bei denen alle ins Wasser stürzen. Am Tage gibt es Wettschwimmen, Springkonkurrenzen, die staunende Dorfschaft erlebt, dass ein dutzend Männlein und Weiblein schweigend, ernst und auf den Zehenspitzen stundenlang im Regen die Straße auf und ab wandeln: eine Wette!
Je öfter Pogg zum Wochenende hinauskommt, umso belebter werden seine Augen. Schon ist er anerkannter Führer. Manchmal abends überlegt er: »Merken sie nicht, wie viel älter ich bin? Was alles schon durch mich hindurchging?« Und ist der Erste morgens, an Türen zu schlagen, Wasser durch Schlüssellöcher zu pusten, Programme zu entwerfen. Singt er nicht sogar Volkslieder abends im Boot? Er hat sie nie richtig gekonnt, nun lernt er sie. Bei einem singt er nicht mit: Irmgard sitzt am Klavier, die kurzen schwarzen Haare fallen nach vorn, sie singt allein:
Es ist nicht alle Tage Sonntag,
Es gibt nicht alle Tage Wein,
Doch du sollst immer lieb zu mir sein.
Pause. Gefasst, ein Versprechen:
Und bin ich einmal in der Ferne,
So sollst du immer an mich denken,
Aber weinen sollst du nicht.
Hat sie ihn angesehen? Sie hat ihn angesehen. Wundervoll! Eigentlich ein Nichts, nicht einmal Verse, es muss die Melodie sein. Nein, es muss die Stimme machen, dieser Alt: »Doch du sollst immer lieb zu mir sein.«
Weiter geschieht nichts. Scheue Blicke vielleicht, der Händedruck ein wenig fester als bei den andern, sie ist so gesund, nichts Schwüles, sie weiß nichts von dem schließlichen Ende, an das er immer denken muss. Sie gehen vielleicht langsamer durch den dunkelnden Park, aber die andern sind immer dabei. Einmal geraten sie in Streit, sie findet es furchtbar gleichgiltig, ob die Sonne eine Kugel oder eine Scheibe ist. Er ist empört. Am nächsten Morgen geben sie sich besonders betont die Hand.
Was ist schließlich? Er ist verliebt, es ist vielleicht das Schicksal fünfunddreißigjähriger verlebter Männer, sich in siebzehnjährige Gänse zu verlieben. Einmal bezeichnet er Irmgard zu Bradley als ›Flammenseele‹ und schämt sich hinterher bis aufs Mark. Mitten in der Woche trinkt er sich abends einen an und schreibt einen Brief an Irmgard, nein, keinen Brief, ein Liebesgedicht, ein schlichtes, kleines Gedicht, das er aus einem Buche stiehlt.
Bei der nächsten Begegnung ist sie wie starr, kaum gibt sie ihm die Hand, sie steht nicht auf. Die andern Mädels sehen ihn sonderbar an, tuscheln. »Ich habe sie erschreckt«, sagt er sich. »Solch ein Seelchen. Es war viel zu früh.« Und wütend: »Verfluchte Ziererei! Diese Weiber – alle sind sie Affen!«
Es ist keine rechte Stimmung. Irmgard singt nicht: ›Es ist nicht alle Tage Sonntag.‹ Als er das nächste Mal kommt, ist sie abgereist, fort, nach Weimar, studiert Musik. Ende. Schluss. Herbst. »Und all die Männer draußen, die sie treffen wird, die aus ihr machen können, was sie wollen, die keine Ahnung haben von dem Edelmaterial, das diese Irmgard ist –!«
»Ach was! Ganz egal! Ein kleines Flittchen. Vergessen wir schon.«
Er kommt noch ein, zwei Male nach Wildhof. Er fragt sogar: hatte sie geschrieben? Sie hatte geschrieben. Und? Ja, es ginge ihr gut. Nun also, das war ja erfreulich.
Ende. Schluss. Herbst. Pogg bleibt von Wildhof fort. Arbeit. Überarbeit. Er sitzt bis in die Nacht. Eines Morgens kommt er nicht zum Dienst. Krank geworden? Nein, abgereist. Abgereist? Ja, mit der Kasse. Bradley versteht nicht. Pogg mit der Kasse? Und nicht zu knapp. Nun geht alles seinen vorgeschriebenen Weg: Polizei, Vernehmungen, Buchprüfungen, Steckbriefe …
Ehe die noch recht wirken, kommt ein Telegramm aus Süddeutschland, irgendeinem Nest: Pogg hat sich selbst gestellt. Und das Geld? Geld –? Keins.
Polizeigefängnis, Transport, Untersuchungshaft, Vernehmung. Diese Vernehmung muss etwas Stupendes gewesen sein. Der Richter stieß kaum an, und Julius Pogg legte los. Er gestand, und er gestand, er hörte überhaupt nicht auf zu gestehen. Er gestand, was man wissen wollte und was man nicht wissen wollte. Er gestand frische Unterschlagungen und alte Diebstähle, aus der ersten Zeit seiner Laufbahn wusste er Dinge zu berichten, die nie ein Mensch gemerkt hatte, er gestand einfach um des Gestehens willen. Nun stellte es sich heraus, dass er sogar schon vorbestraft war, jawohl, dieser Mensch hatte schon ein Jahr gesessen, nicht umsonst war dieser Komet eine Weile erloschen gewesen. Pogg machte clean breast, wie er es selber nannte. »Endlich mal den ganzen Salat erledigen, dass man Ruhe hat«, sagte er.
Da saß Julius Pogg, Exzellenzensohn, und schüttete sein Herz aus, halblaut, rasch erzählend, wie etwas Belangloses. Der Richter war wie erschlagen. Von Zeit zu Zeit hob er die Hand und strich über den Tisch, als wolle er diesen tollen Wust fortwischen, aber vorläufig redete der da drüben noch und ließ sich nicht dämmen. Als dann der Richter sprach, war sein Satz sehr kurz. Er hieß: »Das Geld?«
Auch hier zeigte sich Pogg ungewöhnlich vorbereitet. Es erwies sich, dass er Buch geführt, sorgfältig vom Zeitpunkt seiner Unterschlagung an jeden Pfennig aufgeschrieben hatte. Auch gab es Belege, Quittungen, sauber nummeriert. Der Richter sah lange die Zahlenkolonnen durch, Pogg schien mit offenen Augen zu schlafen, als sei nun alles erledigt, die Welt endgiltig abgetan. Da fragte der Richter: »Und warum?«
Pogg schreckte auf: »Warum?«
»Nun ja, Herr Pogg, warum? Schließlich müssen Sie doch einen Grund haben. Wozu diese Geständnisse, warum vor allem diese letzte Unterschlagung? Sinnloser wurde nie Geld verschleudert. Sie müssen sich doch etwas dabei gedacht haben, als Sie die Mädchen öffentlicher Häuser mit Tausenden beglückten?«
Pogg wiegte zweiflerisch lächelnd das Haupt: »Ah, Herr Amtsgerichtsrat, unterschätzen Sie nicht das prahlerische Glück, als ein großer Mann dazustehen.«
»Möglich. Aber ich glaube nicht, dass das für Sie den Grund abgab.«
Pogg war plötzlich müde. Dieses Salbadern irritierte ihn. »Vielleicht, dass ich mich hier bei Ihnen, in Ihren Zellen, zur Ruhe setzen wollte?«
Der Richter dachte lange nach. »Kann sein, der Grund. Aber die Ursache –?«
»Müde, Herr Amtsgerichtsrat, müde. Nichts als das.«
Wieder eine lange Pause. Dann: »Wenn ich es Ihnen nun nicht gönne, dass Sie sich hier zur Ruhe setzen? Stoße Sie noch einmal für eine Weile wieder hinaus? Fluchtverdacht liegt nicht vor, Sie blieben nur zu gern hier. Und Verdunkelungsgefahr nach dem, was Sie mir erzählt haben, nein! Übermorgen sind Sie frei, Herr Pogg.«
Weiß Gott, was sich dieser Richter dachte. Vielleicht glaubte er Pogg doch nicht so ganz, Geld mochte beiseitegebracht sein, das nur durch Beobachtung des Freigelassenen aufzufinden war, vielleicht auch war dieser Psychologe auf die ›Ursache‹ gespannt, gleichviel, er tat das, was für Pogg das Schmerzlichste war: er ließ ihn frei.
So geschah es, dass Pogg an einem trüben Novembertage aus dem Gefängnis entlassen wurde. Er war frei, zu gehen, wohin er wollte, wobei man voraussetzte, dass er sich zu seinem Termin einfinden werde. Da man ihm sein sonstiges Hab und Gut gepfändet hatte, trug er jene Sachen, in denen er sich vor einigen Wochen der Polizei gestellt hatte: Smoking, Lackschuhe, Abendmantel, Zylinder, eine ungewöhnliche Kleidung für diesen fröstelnden Spätherbstmorgen. Es troff von den Bäumen, die Menschen strichen eilig und missvergnügt an ihm vorüber, Pogg fror, wusste nicht wohin. Freunde, die aufzusuchen wären, hatte er nicht, die Welt war groß, so viele Wege, Pogg wusste sich keinen, den zu gehen ihn noch gereizt hätte. Von vorne anfangen? Und wozu etwa?
In seiner Hilflosigkeit dachte er schon an einen Ladendiebstahl, dass sie ihn wieder würden verhaften müssen und in seine kleine, saubere, warme, stille Zelle stecken, vor deren Tür die Welt aufhörte, als ihm der Duft einer Zigarette in die Nase stieg. Dieser Zigarettenduft machte aller Unentschlossenheit ein Ende, Pogg wurde nach so langer Abstinenz von einem rasenden Rauchhunger erfasst und entschied, das Leben möge sich anlassen, wie es wolle, erst einmal müsse geraucht werden.
Das Weitere entwickelte sich logisch. Zwei Stunden später bummelte Pogg über den Güterbahnhof, nicht mehr elegant, doch warm in eine Joppe gekleidet. In ihrer Tasche steckten Brot, Wurst, Zigaretten, Streichhölzer und an die zehn Mark. Der Verkauf seiner Sachen war nicht unlohnend gewesen. In seinem Kopfe steckte ein fester Plan. Nicht umsonst hatte er im Gefängnis gesessen, er wusste, was ›Schwarzfahren‹ ist und wie man es angeht.
Als die Nacht da war, saß Pogg schon im Bremserhäuschen eines Güterwagens, frierend und rauchend, zwischen Berlin und Luckenwalde. Er hatte sich entschlossen, noch einmal eine Reise zu tun, und zwar nach Weimar.
Diese Reise ging nicht ohne Hindernisse vonstatten und war langwierig. Entweder fehlte es Pogg noch an der nötigen Routine, oder er war nicht geistesgegenwärtig genug. Einmal wurde sein Wagen auf ein Nebengleis verschoben, und er hatte einen halben Tag zu laufen, bis er einen anständigen Güterbahnhof fand, der Wagenauswahl bot. Einmal erwischte ihn ein Schaffner, und erst nach einer kleinen Schlägerei und Drängelei konnte Pogg den Hasen machen. Zwischendurch landete er in Leipzig, was außer dem Plan lag.
Doch seine Energie verließ ihn nicht: nach fünf oder sechs Tagen war er in Weimar. Ausgehungert, mager geworden, bis auf die Knochen durchgefroren, aber entschlossener als je. Wozu eigentlich entschlossen –? Nun, sie jedenfalls erst einmal zu sehen, zu stellen. Das Weitere würde sich finden.
Vorerst einmal fanden sich Essen, Schnaps, Rauchwaren und Schlafen in der Herberge. Für Letztes als Entgelt war Holz zu sägen, worin seine Leistungen unzureichend befunden wurden.
Unschwer stellte er das Konservatorium fest, eine Zigarre an den Portier verschaffte ihm Einsicht in die Schülerinnenliste: hier jedenfalls war Irmgard nicht. Also Privatunterricht. Es war erstaunlich, wie viel Musiklehrer es in Weimar gab, sie wohnten an allen Ecken und Enden, sogar in den Dörfern rundum. Und da Poggs Geld mit dem Entschwinden des November entschwand, verband er, getreu seiner Aufgabe, die Erkundungen nach Irmgard mit einer sanften Hausbettelei, wobei ihn einige Male nur seine Beine vor Wachtmeister und Arbeitshaus retteten.
Eines Sonntags vormittags, als er es bald satthatte, weil er sonst nichts satt hatte, traf er sie im Park, ein wenig oberhalb des Grottenhäuschens. Sie ging, das Profil aufmerksam geneigt, neben einem Jüngling, der eifrig auf sie einsprach. Pogg kam grade auf sie zu, sein Herz tat einige aufzuckende Schläge. Plötzlich war es ihm, als trete er einer ungeheuren Gefahr entgegen. Er zitterte.
Dann waren sie vorüber. Sie hatten ihn überhaupt nicht gesehen. Eine Weile stand Pogg wie betäubt und starrte ihnen nach. Dann raffte er sich zusammen, stürmte hinterdrein und rief atemlos: »Verzeihung, Fräulein Irmgard, ein Wort bitte –!«
Sie fuhr herum. Ein klein wenig Rot trat in ihr Gesicht, als sie ihn sah. Dieses Gesicht! Dieses Gesicht! (›Doch du sollst immer, doch du sollst immer lieb zu mir sein!‹, sang es in ihm.)
Das Gesicht wurde finster und kalt. Er flehte: »Ein Wort nur, Fräulein Irmgard.«
Ganz kurz und hart: »Was wollen Sie?«
Töricht, stammelnd: »Ich schrieb Ihnen …«
»Ich kenne Sie nicht.«
»Aber, Fräulein Irmgard! Pogg. Julius Pogg. Wir lernten uns bei Fräulein Bradley kennen …«
Unbewegt: »Nein. Ich kenne Sie nicht.«
Verzweifelt, wie ein Unsinniger: »Vielleicht meine veränderte Kleidung –?«
»Ich kenne Sie nicht.«
Sie dreht sich um. Sie geht von ihm. Ihr Mantel flattert ein wenig. Sie geht weiter, Menschen schieben sich dazwischen, sie ist f ort.
(›… So sollst du immer an mich denken …‹)
Worauf Pogg, der Feigling, kehrtmachte, die Stadt betrat, eine Ladenkasse ausraubte und abends betrunken aufgegriffen wurde.
Wie ich schon sagte, ich verstehe diese Geschichte nicht. Für die Wahrheit der Details könnte ich nur Pogg als Zeugen anrufen, doch ist der leider zurzeit unabkömmlich, die nächsten fünf, sechs Jahre noch.
Sagen Sie mir nicht, dass Sie ihn noch nicht gesehen haben. Vielleicht haben Sie ihn nicht erkannt, das ist möglich, aber gesehen haben Sie ihn ein Dutzend Mal – was sage ich? – hundertmal, tausendmal! Denn er ist überall, Jahr für Jahr werfen ihn die Gefängnisse zu Zehntausenden auf die Straße.
Der junge Mann, der Ihren Autoschlag zuwarf und sich nur verlegen fortwandte, als der erwartete Groschen nicht kam – das war er. Der Reisende mit einer unmöglichen Zeitschrift (inklusive Versicherungspolice), der Ihre Frau eine halbe Stunde mit seinem aufgeregten Geschwätz langweilte und sich befangen fortdrückte, als sie gerade abonnieren wollte – das war er.
Vielleicht hatten Sie ein Zimmer zu vermieten, und ein junger Mann kam, erledigte forsch alle Fragen wegen Heizung, Stiefelputzen, Licht, Miete, und plötzlich, als er die sieben Mark für die erste Woche anzahlte, sagte er bedrückt: »Das Leben ist nicht leicht«, und gleich darauf ohne den rechten Glauben: »Es wird schon gehen.«
Vor den Aushängebogen der Zeitungen mit dem Stellenmarkt können Sie ihn jeden Tag sehen, und vielleicht sind Sie einmal nachts über den Rathausmarkt gekommen und haben ihn in der Wartehalle dort schlafen gesehen. Unter der verdrückten Heilsarmeemütze, der man die Wanderung über viele Köpfe ansieht, ist er ebenso zu finden wie an den Heizkörpern der Wartesäle, in den Museen und vor den Steckbriefanschlägen der Polizei.
Er ist überall, er treibt im gesunden Blut des Volkskörpers, ein kranker Tropfen, der bald wieder ausgeschieden sein wird.
Als er aus dem Gefängnis entlassen wurde, 25 Jahre alt, nach zweijähriger Haft wegen Unterschlagung, mit 82 M Arbeitsverdienst in der Tasche, war er entschlossen, »keine Dummheiten« zu machen. Nicht, dass er sich gebessert fühlte. Bei dem Gedanken grinste er bloß. Aber er hatte eingesehen, dass sein Einsatz in diesem Spiel viel zu hoch gewesen war, kein möglicher Gewinn konnte solchem Verlust die Waage halten.
Er hatte sich ausgerechnet, dass er mit seinen 82 M einen Monat leben könnte, in dieser Zeit musste er Arbeit finden. Seine erste Enttäuschung erlebte er, als er in die Wohnung kam, in der er vor seiner Haft gelebt hatte. Er war dort wie ein Kind im Hause gehalten worden, mit der Tochter hatte er ein kleines, harmloses Gspusi gehabt.
Jetzt machte man ihm kaum die Tür auf, Verhandlung durch die Spalte, mit der Kette davor. Natürlich seien seine Sachen noch da, eigentlich müsste man Lagergeld verlangen, aber man wolle nicht so sein.
Als er dann im eilig gemieteten Zimmer seinen Koffer auspackte, sah er, dass man wirklich nicht so gewesen war: die beiden besten Anzüge fehlten, Wäsche und Schuhe waren um die Hälfte vermindert. Noch einmal hingehen, kämpfen? Aber was konnte er beweisen? Und dann – war ihm nicht geschehen, was er andern getan? Nur Ruhe!
Aber er hatte keine Zeit zur Ruhe. Bei den Aushängen war der Stellenmarkt einzusehen, möglichst rasch waren Bewerbungsschreiben fortzuschicken, und trotzdem musste die Schrift erstklassig sein. Zu jeder Briefseite nahm er eine neue Feder. Und dann das Porto – alles lief ins Geld.
Zu Anfang hatte er noch geglaubt, eine warme Mahlzeit am Tage müsse sein, dann sah er, dass er sie sich nicht leisten konnte, Brot, Butter und Aufschnitt, Brot, Margarine und ein Bückling, Brot und Margarine, Brot … Schritt für Schritt ging es zurück. Und doch flog das Geld. Kein Tag, an dem er nicht etwas ausgeben musste. Wäsche, Fahrgeld, Stiefelsohlen, Porto …
Ein paar Male wurde er auf seine Bewerbungen hin zur Vorstellung aufgefordert, aber irgendetwas in seinem Wesen … etwas Scheues, Sprunghaftes … die Lücke in seinen Zeugnissen … gewiss, er ist seit zwei Jahren selbständig gewesen, es wird ihm schon geglaubt, aber hat er nicht vielleicht doch einen Nachweis, einen kleinen Ausweis des Gemeindevorstehers aus dem Kaff, von dem er erzählt? So viele warten vor der Tür, und er startet später als alle andern, fühlt er.
Vierzehn Tage ist er solide gewesen, dann spricht ihn nachts eine Frau an. Zwei Jahre hat er von Frauen nur geträumt, in quälenden Träumen seine Erinnerungen immer wiederholt, er kann nicht widerstehen. Als er am nächsten Morgen sein Geld nachzählt, merkt er, dass er eine Woche früher Arbeit finden muss, in einer Woche muss er Arbeit haben.
Er überwindet seinen Stolz, er geht zum Wohlfahrtsamt, zur Gerichtshilfe. Ja, Arbeit. Für körperliche Arbeit ist er wohl zu schwächlich? Natürlich. Auch gibt es so viele Nichtvorbestrafte, die körperliche Arbeit tun möchten. Aber vielleicht Adressenschreiben? Es gibt irgendeine Organisation, die so etwas vergibt; er geht hin, ja, man wird ihn beschäftigen.
Nun sitzt er dort Tag für Tag und schreibt Adressen. Im Anfang bringt er es nur auf 2 M den Tag, aber dann steigert er es auf 3, 4, ja, sogar 5 Mark an ganz günstigen Tagen. Abends ist er wie tot, sein Hirn öde, die Hand verkrampft. Aber er kann weiterleben, von heute auf morgen, gerade das Leben hat er, das nackte Leben.
Dann hört er flüstern. Die Arbeit wird knapp. »Heute nur jeder Mann 500 Adressen«, sagt der Bureauvorsteher. »Morgen werden ein paar aufhören müssen.« Er zittert; aber dann darf er noch drei, vier Tage kommen.
Was hilft es? Der Verdienst reicht nicht mehr. Der Groschen, so fest er um ihn die Hand schließt, das Leben dreht ihn heraus. Er trägt die Wäsche, die Kleidung fort, einzeln, zum Pfandhaus. Auch sein Zimmer ist zu teuer, nun er nur noch die Sachen hat, die er auf dem Leibe trägt, genügt eine Schlafstelle. Schließlich kann man auch bei der Heilsarmee schlafen, im Asyl, in Wartehallen.
»Ich schreibe Ihnen eine Karte, wenn wieder was ist«, sagt der Bureauvorsteher. »Wo wohnen Sie?« »Ich komme mal vorbei, da sparen Sie noch das Porto«, und er versucht zu lachen.
Nun geht es reißend schnell bergab. Wozu sich noch mühen, er hat eben kein Glück. Einer auf der Schreibstube hat mal eine Mark gefunden, nun bringt er die Tage damit zu, verlorenes Geld zu suchen auf der Straße. Er sieht die Frauen nicht mehr, nicht mehr die Auslagen der Delikatessenläden, nicht mehr die Autos, das Flimmern, den Glanz der Lampen, die Wolken, frohe Gesichter.
Alles ist Geld. Sein Traum ist Geld. Sein Wachen ist Geld. Diese runden Markstücke, diese vollen Fünfmärker, deren Druck er durch den Stoff auf dem Körper fühlte wie eine Lust, sie sind überall, in jedermanns Hand. Abends, in den dunklen Straßen – könnte er es nicht wagen, ein Griff nach einer Handtasche, ein paar Sprünge um die nächste Ecke?
Und der rote Bau mit den vergitterten Fenstern baut sich wieder vor ihm auf; hat er je geglaubt, das Leben war dort schlimm? Leicht war es, er hatte zu essen, keine Geldsorgen, niemand verachtete ihn. Er war unter seinesgleichen. Und das ist ja nur die schlimmste Möglichkeit, die wahrscheinlichste heißt Geld, schönes, rundes Geld.
Vielleicht, vielleicht, vielleicht wird er es heute Abend wagen …
Fräulein! Ja, Fräulein! Hansa 8576 bitte, 8576, ja doch! Könnte ich wohl Frau Eschwege sprechen? Selbst? Tag, Trudel. Bist du allein? Dein Chef ist zum Mittag –? Na also!
Nein, ich rufe vom Automaten. Ich musste dich durchaus gleich sprechen. Also, Trudel, vor allen Dingen, wenn der Hans heute zu euch kommt, erzähl ihm, ich war gestern Abend bei euch. Sag’s auch deinem Mann, dass er sich nicht verquatscht.
Was? War schon da? Gestern Abend? Und du konntest gar nicht schwindeln? Ach, Trudel, Trudel, wie ich das finde! Ich zittere am ganzen Leibe. Erzähle doch bloß. Jedes Wort muss man dir …
Blass ist er gewesen? Aufgeregt? Kunststück! Ich bin auch aufgeregt. Ob er Verdacht hat? Dir hat er kein Wort gesagt?