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Die Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria ist eine dogmatische Grundfeste der christlichen Kirchen. Zwar ist diese Feste, besonders in protestantischen Kreisen, längst aufgeweicht. Aber ohne die Annahme einer unbefleckten Empfängnis lässt sich der Glaube an Jesus als dem Sohn Gottes nicht aufrechterhalten. In »Jungfrauengeburt« untersucht der bedeutende Bibelforscher Gerd Lüdemann alle Hinweise in den Schriften der ältesten Kirche und in den konkurrierenden jüdischen Quellen. Er erhellt die Aussageabsichten der biblischen Quellen und behandelt die Frage, was im Zusammenhang mit der Geburt Jesu geschah. Das Bild von der Geburt der zentralen Person des christlichen Glaubens wird durch Lüdemanns Arbeit scharf korrigiert. Eine aufrichtige Diskussion der theologischen Zusammenhänge und ihrer gesellschaftlichen Auswirkungen ist ohne seine Arbeit nicht denkbar.
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Gerd Lüdemann
Jungfrauengeburt?
Die Geschichte von Maria
und ihrem Sohn Jesus
© 2008 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 [email protected] · www.zuklampen.de
Umschlag: Matthias Vogel (paramikron), Hannover
Coverfoto: © Roberto A. Sanchez
Satz: thielenVERLAGSBÜRO, Hannover
(Gesetzt aus der Linotype Life und der Neuen Helvetica)
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016
ISBN 978-3-86674-456-1
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.ddb.de› Jungfrauengeburt? abrufbar.
Cover
Titel
Impressum
Vorwort
KAPITEL 1:Maria in Dogmatik und Frömmigkeit
Einleitung
Protestantischer Wirrwarr
Die Macht der Liturgie und die Konsequenzen
Die ökumenische Lage
Zum weiteren Vorgehen
Maria bei Martin Luther und in den lutherischen Bekenntnisschriften
Martin Luther
Lutherische Bekenntnisschriften
Maria in der römisch-katholischen Lehre
Göttliche Mutterschaft
Immerwährende Jungfräulichkeit
Unbefleckte Empfängnis
Aufnahme in den Himmel
Maria in der römisch-katholischen Frömmigkeit
Die Marienerscheinungen vor Elisabeth von Schönau
Die Marienerscheinungen vor Anna Katharina Emmerich
Der subjektive Charakter von Marienerscheinungen
Berühmte Marienerscheinungen in neuerer Zeit
Theologische Begründung der Marienerscheinungen
Empirische Gründe für Marienerscheinungen
Gründe für die kirchliche Anerkennung von Marienerscheinungen
Ertrag
Maria in der protestantischen Dogmatik und in Stellungnahmen aus der evangelischen Kirche
Vorbemerkung
Das Thema »Maria« bei Karl Barth
Andere protestantische Stellungnahmen zur Jungfrauengeburt
Ein neuerer protestantischer Beitrag zum Thema »Maria«
Zum weiteren Vorgehen
KAPITEL 2 Maria im Neuen Testament und in anderen frühchristlichen Quellen
Überblick. Zur Vorgehensweise
Paulus
Gal 4,4: Die Geburt des Gottessohnes aus einer Frau
Röm 1,3–4: Die fleischliche Abstammung und die Einsetzung des Gottessohnes
Markusevangelium
Mk 3,20–21.31–35: Jesu wahre Familie
Mk 6,1–6a: Die Ablehnung Jesu, des Sohnes der Maria, in seiner Vaterstadt
Matthäusevangelium
Mt 1,1–17: Der Stammbaum Jesu
Mt 1,18–25: Die Ankündigung der Geburt Jesu
Mt 2,1–23: Die Magier aus dem Osten und der Kindermord des Herodes
Mt 12,46–50 Die wahren Verwandten Jesu
Mt 13,54–58: Die Ablehnung Jesu in seiner Vaterstadt
Lukanisches Doppelwerk
Allgemeines zur Komposition von Lk 1,5–2,52
Lk 1,5–25: Die Ankündigung der Geburt Johannes des Täufers
Lk 1,57–66: Die Geburt Johannes des Täufers
Lk 1,67–80: Der Lobgesang des Zacharias (»Benedictus«)
Lk 1,26–38: Die Ankündigung der Geburt Jesu
Lk 1,39–45: Der Besuch der Maria bei Elisabet
Lk 1,46–56: Der Lobgesang der Maria (»Magnificat«)
Lk 2,1–21: Die Geburt Jesu und seine Beschneidung
Lk 2,22–40: Die Darstellung Jesu im Tempel. Symeon und Hanna
Lk 2,41–52: Der zwölfjährige Jesus im Tempel
Lk 3,23–38: Der Stammbaum Jesu
Lk 4,16–30: Die Predigt Jesu in Nazareth
Lk 8,19–21: Die wahren Verwandten Jesu
Lk 11,27–28: Eine Seligpreisung der Mutter Jesu
Apg 1,14: Maria in der Urgemeinde
Johannesevangelium
Joh 1,12–13: Der Ursprung der Kinder Gottes
Joh 1,45: Jesus, der Sohn des Joseph (I)
Joh 2,1–12: Das Weinwunder auf der Hochzeit in Kana
Joh 6,42: Jesus, der Sohn des Joseph (II)
Joh 19,25–27: Der Lieblingsjünger und die Mutter Jesu unter dem Kreuz
Thomasevangelium
ThEv 105: Jesus – Sohn einer Hure?
Protevangelium des Jakobus
Protev 19,3–20,4: Der Beweis für die Jungfräulichkeit der Maria
Zur Traditionsgeschichte. Der historische Verlauf
Schaubild
KAPITEL 3 Kritische Synthese
Zum Vorgehen
Eine Klarstellung
Die zwei Wurzeln der Jungfrauengeburt
Maria – zur Stummheit verdammt
Das Waffenarsenal der Christologie
Befreiungstheologie und Herrschaft Christi
Funktionalisierung Marias in einem Beispiel aus der Befreiungstheologie
Besingen wir allezeit diese süße Jungfrau, der ihr Sohn nichts abzuschlagen weiß, denn im Himmel tut man alles, was sie will. Die Welt ist nicht allein erlöst durch das Blut Christi, sondern auch gereinigt durch die Milch der Maria, diese erste Nahrung des Gotteskindes auf Erden, die den Himmel ihm zurückrief.
Walther von der Vogelweide
Das vorliegende Buch überprüft die historische Zuverlässigkeit des christlichen Bekenntnisses, dass Jesus von der Jungfrau Maria geboren worden sei, und beleuchtet die verschiedenen theologischen Deutungen dieses Dogmas. Es versucht, den Schleier zu lüften, der sich seit den Anfängen der christlichen Kirche über Maria gelegt hat. Grundlage meiner Arbeit sind Übersetzungen und Analysen sämtlicher Texte aus der ältesten Kirche, die direkt oder indirekt von der Geburt Jesu und von seiner Mutter Maria handeln. Diese Analysen widerlegen die Historizität der Jungfrauengeburt und führen auch zu neuen Erkenntnissen.
Für die zweite Auflage wurde die Originalausgabe, die in englischer Sprache weiter erhältlich ist (Virgin Birth? The Real Story of Mary and Her Son Jesus, London/Harrisburg 1998), durchgehend überarbeitet.
Aus aktuellem Anlass – 2008 ist das hundertfünfzigjährige Jubiläum der Marienerscheinungen von Lourdes – habe ich einen Zeitungsaufsatz »Wider die Mariendogmen« beigegeben, dessen Lektüre sich als Einstieg eignet.
Dr.Frank Schleritt, Walter Höfig und Hans Jürgen Uhl danke ich sehr herzlich für Hilfe und Kritik.
Göttingen, im Juli 2008 Gerd Lüdemann
Allsonntäglich bekennen Christen, dass Jesus von der Jungfrau Maria geboren worden sei. Indes stellen Protestanten die Historizität der Jungfrauengeburt nicht selten in Abrede und verstehen sie in übertragenem Sinn. Einige Beispiele mögen dies belegen. Wilfried Joest (1914–1995) schreibt zur Jungfrauengeburt:
»Die Frage, ob es sich wirklich um die Tatsache eines von Gott gewirkten realen Zeichens oder (was mir … wahrscheinlicher ist) um ein im Glaubensdenken früher Christen erwachsenes symbolisches Zeichen für das Ursprungsgeheimnis Jesu handelt, sollte offen bleiben … Auch wenn es sich nur um ein symbolisches Zeichen handelt, behält es für den Glauben seinen Sinn als Ausdruck der Wahrheit, daß Jesus der ›eingeborene‹ Sohn ist, nicht aus menschlicher Möglichkeit geworden, sondern aus dem Willen und der Tat Gottes zu uns gekommen« (Joest 1989: 241).
Kritik: Die Unterscheidung von »real« und »symbolisch« wird den biblischen Texten zur Jungfrauengeburt nicht gerecht. So fragt Maria Lk 1,34 zufolge nach der Ankündigung ihrer Schwangerschaft: »Wie wird das sein, da ich von keinem Mann weiß?« Der Engel Gabriel antwortet, dass die normale Zeugung eines Kindes durch einen Mann außer Kraft gesetzt werde: Nicht ein Mann werde mit ihr schlafen und sie befruchten, sondern »heiliger Geist wird über dich kommen, und Kraft des Höchsten wird dich überschatten« (Lk 1,35). Das ist real und nicht symbolisch gemeint.
Wolfhart Pannenberg (geb. 1928) führt aus: »… der heutige Christ (kann) sehr wohl die Intention bejahen …, aus der die Geschichte der jungfräulichen Geburt Jesu entstanden ist, wenn auch diese Intention über den Ausdruck, den sie in der Geburtslegende gefunden hat, hinausgewachsen ist zum Gedanken der Präexistenz der Sohnschaft Jesu im ewigen Wesen Gottes. Der heutige Christ kann ferner auch die Intentionen teilen, deretwegen diese Formel in das Bekenntnis aufgenommen worden ist. In erster Linie ging es dabei darum, daß der Sohn Gottes wirklich identisch ist mit dem geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth … Dazu gehört zweitens, daß Jesus nicht erst von irgendeinem Zeitpunkt seiner Geschichte an zum Sohne Gottes wurde, sondern in seiner Person von Anfang an dieser eine Sohn Gottes, der Mittler der Herrschaft Gottes für die Menschheit gewesen ist und ist. So gesehen bringt die Formel von der Jungfrauengeburt die Endgültigkeit der Offenbarung Gottes in Jesus, der Verbindung Gottes mit diesem Menschen und durch ihn mit der Menschheit zum Ausdruck« (Pannenberg 1990: 84).
Man kann es nur als inkonsequent bezeichnen, wenn Pannenberg es befürwortet, die auch von ihm als unhistorisch bezeichnete Jungfrauengeburt weiterhin zu bekennen. Er selbst ist sich dieser Inkonsequenz bewusst: »Die Alternative wäre ja nicht eine Änderung nur dieser Formulierung, sondern damit des ganzen Bekenntnisses überhaupt, das nur in seiner klassisch gewordenen Form das Zeichen der Einheit der Christenheit durch die Geschichte hin ist« (Pannenberg 1990: 85).
Die Dinge auf den Kopf stellt Wilfried Härle (geb. 1941). Ihm zufolge kann die Lehre von der Jungfrauengeburt zum einen dazu führen, dass Jesus Christus als eine Art Halbgott erscheine, der weder wahrhaft Mensch noch wahrhaft Gott sei (Härle 1995: 349). Zum anderen könnte sie in der Weise missverstanden werden, dass »die menschliche Sexualität ausgeschlossen werden müsse, um den göttlichen (und damit sündlosen) Ursprung Jesu Christi beschreiben zu können. Damit würde aber … die menschliche Sexualität in einem solch gefährlichen Maß in die Nähe der Sünde gerückt, daß ihre Kreatürlichkeit und damit gegebene Natürlichkeit kaum noch unbefangen wahrgenommen werden kann« (Härle 1995: 350). Diese theologischen – »und nicht etwa die ebenfalls zu bedenkenden naturwissenschaftlich-medizinischen Einwände« – seien »die Hauptgründe, warum die Lehre von der Jungfrauengeburt als problematisch, ja als gefährlich zu beurteilen ist« (Härle 1995: 350). Härle fährt fort:
»Aber trotz dieser Gefährlichkeit scheint es mir nicht richtig, die Bekenntnisformulierung: ›empfangen durch den Heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria‹ für ›erledigt‹ zu erklären. Sie weist nämlich auf ein theologisch zu bedenkendes Problem hin und enthält zur Lösung dieses Problems einen bedenkenswerten Hinweis. Das gilt freilich nur dann, wenn man die Rede von der Jungfrauengeburt, wie alle anderen Aussagen, die die Wirklichkeit und das Wesen Gottes betreffen, als metaphorische Rede erkennt und anerkennt … In der Jungfrauengeburt ist die menschliche Beteiligung nicht ausgeschaltet oder ausgeschlossen, aber auf das Einwilligen und Empfangen beschränkt … Die spezifisch männliche Art der Beteiligung (die freilich keineswegs auf Männer beschränkt ist) wird also durch die Rede von der Jungfrauengeburt als für das Geheimnis des göttlichen Ursprungs Jesu Christi ungeeignet ausgeschlossen, womit keineswegs die menschliche Beteiligung überhaupt ausgeschlossen ist« (Härle 1995: 350–351).
Zu der in allen diesen Voten betriebenen Umdeutung der Jungfrauengeburt bemerkt Christoph Türcke treffend:
»Die Methode ist jedesmal gleich: Unterteilung der dogmatischen Aussagen in diejenigen, die man noch für bare Münze nehmen kann, und diejenigen, die man besser metaphorisch nimmt. Das Kriterium dabei ist aber gerade nicht die innere Logik, die einst den Zusammenhang der Dogmen zu einem geistigen Gebilde ersten Ranges machte, sondern die Frage, womit moderne Menschen sich noch identifizieren mögen und womit nicht mehr. So kommen etwa das Heilshandeln Gottes und der Erlösungstod Christi ins Töpfchen der Fakten, die Jungfrauengeburt und der Teufel ins Kröpfchen der Metaphern« (Türcke 1992: 67).
Zieht man demgegenüber die offiziellen Äußerungen der Evangelischen Kirche in Deutschland heran, so stellt sich der Befund etwas anders dar. In den Ausführungen zu Maria ist die fehlende Historizität der Jungfrauengeburt niemals Thema. Dies ist auch verständlich, denn Liturgie und Lieder heben nicht nur zum Weihnachtsfest unmissverständlich die Jungfräulichkeit der Maria hervor. Mag man im Religions- oder im Konfirmandenunterricht auch noch so viele Argumente dagegen vernehmen, so werden diese in den Ritualen und Liturgien des Gottesdienstes doch sofort wieder eingeschränkt, wenn nicht aufgehoben. Welche Bedeutung die Jungfräulichkeit der Maria in Kirchenliedern – zu verschiedenen Zeiten und Anlässen des Kirchenjahres – hat, soll an einigen Beispiele aus dem Evangelischen Gesangbuch (= EG, 1994) illustriert werden.
EG 4,1:
Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
daß sich wunder alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
EG 12,3:
Zions Hilf und Abrams Lohn,
Jakobs Heil, der Jungfrau Sohn,
der wohl zweigestammte Held
hat sich treulich eingestellt.
EG 23,1:
Gelobet seist du, Jesu Christ,
daß du Mensch geboren bist
von einer Jungfrau, das ist wahr;
des freuet sich der Engel Schar.
Kyrieleis.
EG 24,2:
Euch ist ein Kindlein heut geborn
von einer Jungfrau auserkorn,
ein Kindelein so zart und fein,
das soll eu’r Freud und Wonne sein.
EG, Nordelbischer Liederteil 541,1–3:
1. Der Tag, der ist so freudenreich
aller Kreature;
denn Gottes Sohn vom Himmelreich
über die Nature
von einer Jungfrau ist geborn.
Maria, du bist auserkorn,
daß du Mutter wärest.
Was geschah so wundergleich?
Gottes Sohn vom Himmelreich,
der ist Mensch geboren.
2. Ein Kindelein so löbelich
ist uns geboren heute
von einer Jungfrau säuberlich,
zu Trost uns armen Leuten.
Wär uns das Kindlein nicht geborn,
so wärn wir all zumal verlorn;
das Heil ist unser aller.
Ei du süßer Jesu Christ,
daß du Mensch geboren bist!
Behüt uns vor der Hölle.
3. Groß Wunderding sich bald begab,
wie uns die Schrift tut melden:
ein Engel kam vom Himmel herab
zu’n Hirten auf das Felde.
Ein großes Licht sie da umfing,
der Engel Gottes zu ihn’ ging,
verkündt ihn’ neue Märe,
daß zu Bethlehem in der Stadt
ein zart Jungfrau geboren hat
den Heiland aller Welte.
EG 76,1:
O Mensch, bewein dein Sünde groß,
darum Christus seins Vaters Schoß
äußert und kam auf Erden;
von einer Jungfrau rein und zart
für uns er hier geboren ward,
er wollt der Mittler werden.
Den Toten er das Leben gab
und tat dabei all Krankheit ab,
bis sich die Zeit herdrange,
daß er für uns geopfert würd,
trüg unsrer Sünden schwere Bürd
wohl an dem Kreuze lange.
Aus EG 191:
Du König der Ehren, Jesu Christ,
Gott Vaters ewger Sohn du bist;
der Jungfrau Leib nicht hast verschmäht,
zu erlösen das menschlich Geschlecht.
EG 203,1:
Ach lieber Herre Jesu Christ,
der du ein Kindlein worden bist,
von einer Jungfrau rein geborn,
dass wir nicht möchten sein verlorn …
EG 341,6:
Der Sohn dem Vater g’horsam ward,
er kam zu mir auf Erden
von einer Jungfrau rein und zart;
er sollt mein Bruder werden.
Gar heimlich führt er sein Gewalt,
er ging in meiner armen G’stalt,
den Teufel wollt er fangen.
Zusätzlich ist die ökumenische Situation im Auge zu behalten. Vertreter der russisch-orthodoxen Kirche zum Beispiel fassen sich an den Kopf, wenn sie in den westlichen Kirchen die historische Bibelkritik mit den sich daraus ergebenden Folgen zur Kenntnis nehmen. Insbesondere kann weder die Ordination von Frauen noch eine positive Bewertung der Homosexualität von russisch-orthodoxer Seite akzeptiert werden. Daher ist ein großer Teil der russisch-orthodoxen Bischöfe ökumenefeindlich eingestellt. Und für die orthodoxe Kirche besteht kein Zweifel daran, dass Maria selbstverständlich immerfort Jungfrau geblieben sei.
Nun ist der deutsche Protestantismus der ökumenischen Idee, dem Streben nach der Einheit aller Christen, verpflichtet. Die Dachorganisation der deutschen Protestanten, die Evangelische Kirche in Deutschland, finanzierte noch vor zehn Jahren fast die Hälfte des Haushaltes des Ökumenischen Rats der Kirchen, doppelt so viel wie zum Beispiel ihre evangelischen Partnerkirchen in den USA (vgl. die Zahlen bei Besier 1997: 61). Indes versteht die Mehrheit der Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rats der Kirchen – getreu der Bibel und der christlichen Tradition – die Jungfrauengeburt wörtlich. Daher überrascht es nicht, dass führende Vertreter der Evangelische Kirche in Deutschland trotz eindeutiger historischer Fakten und trotz besserer eigener Einsicht die Ungeschichtlichkeit der jungfräulichen Geburt Jesu aus Maria nicht thematisieren.
Angesichts des oben dargestellten protestantischen Wirrwarrs und der heiklen ökumenischen Lage ist es nicht verwunderlich, dass meist unbekannt ist, was die Kirchen bezüglich der Jungfrauengeburt wirklich lehren und was die Christen glauben (sollen).
Um an diesem Punkte Klarheit anzubahnen, will ich zunächst darstellen, wie Martin Luther und die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (= BSLK) Maria verstanden haben. Danach wende ich mich der römisch-katholischen Lehre zu.