Paulus, der Gründer des Christentums - Gerd Lüdemann - E-Book

Paulus, der Gründer des Christentums E-Book

Gerd Lüdemann

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Beschreibung

In seinem neuen Buch ebnet Gerd Lüdemann einen Weg zum historischen Paulus durch das Gestrüpp gefälschter Paulusbriefe und kirchlich-dogmatischer Auslegungstraditionen hindurch. In thematischen Blöcken und unter ständiger Berücksichtigung der vorhandenen Quellen versucht er zu rekonstruieren, was Paulus wirklich dachte, wollte und tat. Nicht Jesus, sondern Paulus ist die entscheidende Gestalt des frühen Christentums. Gerd Lüdemann vermag aufzuzeigen, daß erst Paulus die Bildung einer christlichen Kirche möglich gemacht hat. Was aber ist mit seinem Wahrheitsanspruch? Lüdemann zeigt, daß Paulus aus drei Gründen dem eigenen Anspruch nicht gerecht werden kann. Erstens hat er die griechische Aufklärung verteufelt, weil er ihr nicht gewachsen war, und Vernunft durch blinden Glauben ersetzt. Zweitens hätte Paulus unwillentlich den Untergang des Judentums heraufbeschworen, wenn die jüdischen Zeitgenossen auf ihn gehört hätten. Drittens leitet sich der Autoritätsanspruch des Paulus von der Vision eines Menschen her, den er persönlich nicht gekannt hat. Auch hier ist er einer Selbsttäuschung erlegen.

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Zum Inhalt

In diesem Buch ebnet Gerd Lüdemann einen Weg zum historischen Paulus – durch das Gestrüpp gefälschter Paulusbriefe und kirchlich-dogmatischer Auslegungstraditionen hindurch. In thematischen Blöcken und unter ständiger Berücksichtigung der vorhandenen Quellen versucht er zu rekonstruieren, was Paulus wirklich dachte, wollte und tat.

Der Titel des Buches enthält bereits seine These: Nicht Jesus, sondern Paulus ist die entscheidende Gestalt des frühen Christentums. Paulus selbst hätte es zwar weit von sich gewiesen, als Gründer der christlichen Religion zu gelten. Denn er selbst fühlte sich durch eine Vision des himmlischen Christus zum Apostel der Heiden berufen. Dennoch vermag Gerd Lüdemann aufzuzeigen, daß erst Paulus die Bildung einer christlichen Kirche möglich gemacht hat.

Die weltgeschichtliche Bedeutung des Paulus steht somit außer Frage. Was aber ist mit seinem Wahrheitsanspruch? Lüdemann zeigt, daß Paulus aus drei Gründen dem eigenen Anspruch nicht gerecht werden kann. Erstens hat er die griechische Aufklärung verteufelt, weil er ihr nicht gewachsen war, und Vernunft durch blinden Glauben ersetzt. Zweitens hätte Paulus unwillentlich den Untergang des Judentums heraufbeschworen, wenn die jüdischen Zeitgenossen auf ihn gehört hätten. Drittens leitet sich der Autoritätsanspruch des Paulus von der Vision eines Menschen her, den er persönlich nicht gekannt hat. Auch hier ist er einer Selbsttäuschung er legen.

Gerd Lüdemann

Paulus, der Gründer des Christentums

Zweite Auflage 2014

© 2001 zu Klampen Verlag · Röse 21 · D-31832 Springe

www.zuklampen.de

Umschlaggestaltung: Groothuis & Consorten · Hamburg

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

ISBN 978-3-86674-424-0

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel I: Einleitung

Kapitel II: Chronologie und Leben des Paulus

Kapitel III: Der Brief an Philemon

Kapitel IV: Paulus, der Jude

Kapitel V: Paulus, der Grieche und Römer

Kapitel VI: Paulus, der Christ

Kapitel VII: Paulus, der Apostel Jesu Christi

Kapitel VIII: Paulus und Jesus

Kapitel IX: Paulus, der Gründer des Christentums

Kapitel X: Die Bedeutung des Paulus für heute

Epilog: Nachruf auf Paulus

Beigabe 1: Der Zweite Brief des Paulus an die Thessalonicher – eine raffinierte Fälschung

Beigabe 2: Kritik des Porphyrius an Paulus

Stellenregister (Auswahl)

Über den Autor

Dieses Buch ist Dr. John Bowden gewidmet.

Vorwort

Die Wissenschaft gießt dann ihren wohltätigsten Segen auf das Leben aus, wenn sie dasselbe gewissermaßen zu vergessen scheint.

(Wilhelm von Humboldt)

All unsere Wissenschaft ist, gemessen an der Wirklichkeit, primitiv und kindlich – und doch ist sie unser kostbarstes Gut.

(Albert Einstein)

Das vorliegende Buch, das dem neugierigen Leser im Epilog (»Nachruf auf Paulus«) einen raschen Zugang anbietet, ist das Ergebnis einer mehr als fünfundzwanzigjährigen Beschäftigung mit Paulus. Mein eigenes Paulusverständnis erhielt einen wichtigen Anstoß während eines Forschungsaufenthaltes an der Duke University von 1974 bis 1975, als ich Assistent von W. D. Davies sein durfte. Während dieser Zeit lernte ich die von John Knox entwickelte »neue« Chronologie des Paulus kennen und durch den Einfluß von W. D. Davies die jüdische Seite des Paulus schätzen. Als Waliser und Schüler von C. H. Dodd1 sorgte Davies außerdem dafür, daß ich mit dem britischen Ansatz der Actaforschung vertraut wurde, der den historischen Angaben der Apostelgeschichte für die Geschichte des frühen Christentums eine relativ hohe Bedeutung beimißt.2 Solche Anregungen ergänzten meine theologische Bildung aus der Studien- und Promotionszeit an der Universität Göttingen (1966-74). Sie zeichnete sich dadurch aus, daß unter maßgeblichem Einfluß Rudolf Bultmanns die hellenistische Seite des Paulus eine größere Berücksichtigung erfuhr und der historische Wert der Apostelgeschichte als gering eingestuft wurde, sofern man ihn überhaupt thematisierte.3

Bisher habe ich verschiedene Aspekte des Paulus in den folgenden Büchern behandelt: Paulus, der Heidenapostel. Band I: Studien zur Chronologie (1980); Paulus, der Heidenapostel. Band II: Antipaulinismus im frühen Christentum (1983); Das frühe Christentum nach den Traditionen der Apostelgeschichte. Ein Kommentar (1987); Die Auferstehung Jesu. Historie, Erfahrung, Theologie (1994); Ketzer. Die andere Seite des frühen Christentums (1995). Im vorliegenden Buch versuche ich unter Weiterführung meiner bisherigen Monographien ein vorläufiges Gesamtbild des Apostels zu zeichnen.4 Gleichzeitig dient das Buch als Vorläufer einer größeren Arbeit, die eine Neuübersetzung und Kommentierung aller echten Paulusbriefe enthält, die erhalten sind. Dieses Buch wird in absehbarer Zeit unter dem Titel Paulus nach 2000 Jahren im zu Klampen Verlag erscheinen.

Bei meinen Forschungen über Paulus möchte ich entdecken, was er wirklich dachte, wollte und tat. Mich leitet die Überzeugung: Nicht nur Christen, sondern auch Nichtchristen steht es gut an, die wichtigste Gestalt der frühen Kirchengeschichte kennenzulernen und ihr gegenüber das eigene Verhältnis zur christlichen Religion zu finden.

Vorweg sei betont: In diesem Buch bezeichnet der Name »Paulus« immer die historische Gestalt und nicht den interpretierten Paulus. Nicht nur Jesu Worte und Taten, sondern auch die des Paulus wurden nachträglich verändert und ergänzt. Dieses sekundäre Gut ist von dem authentischen Material zu unterscheiden, das allein die Grundlage für eine Rekonstruktion des historischen Paulus liefern kann.

Im Anschluß an Albert Schweitzer sei der Ausgangspunkt meiner Rekonstruktion und Interpretation gezeichnet:

»Altmodisch bin ich in meiner Arbeitsweise darin geblieben, daß ich darauf ausgehe, die Gedanken Pauli in ihrer historisch bedingten Form darzustellen. Ich glaube, daß von der jetzt so vielfach und oft mit blendender Virtuosität geübten Vermengung unserer religiösen Betrachtungsweise mit der geschichtlichen die geschichtliche Erkenntnis gar nichts und unser religiöses Leben auf Dauer nicht sehr viel hat. Die Erforschung der geschichtlichen Wahrheit als solcher gilt mir als ein Ideal, dem die wissenschaftliche Theologie nachzustreben hat. Noch immer bin ich überzeugt, daß die bleibende geistige Bedeutung, die das religiöse Denken der Vergangenheit für das unsrige hat, sich am stärksten auswirkt, wenn wir mit jener Frömmigkeit, so wie sie wirklich war, nicht wie wir sie uns zurechtlegen, in Berührung treten. Ein Christentum, das die historische Wahrheit nicht in den Dienst der geistigen zu stellen wagt, ist innerlich nicht gesund, auch wenn es sich stark vorkommt. Die Ehrfurcht vor der Wahrheit als solcher, die in unserem Glauben sein muß, wenn er nicht zum Kleinglauben werden soll, begreift auch die Achtung vor der historischen Wahrheit in sich.«5

Nun ist mir bewußt, daß die Suche nach objektiver Erkenntnis oder nach Geschichte, wie sie wirklich gewesen ist, sich großen Schwierigkeiten gegenüber sieht. Diese nehmen zu, je mehr Quellen zur Verfügung stehen. Der in diesem Zusammenhang regelmäßig gegebene Hinweis dar auf, daß z. B. verschiedene Personen einen Verkehrsunfall unterschiedlich wahr nehmen können, darf keineswegs zur Annahme verführen, es sei prinzipiell unmöglich, den Verlauf zu rekonstruieren. Ich verstehe die Aufgabe, nach der historischen Wahrheit zu suchen, mit Schweitzer so, daß die Forschung sich der historischen Wahrheit immer mehr annähert und die Fähigkeit besitzt, sich durch Selbstkritik unablässig zu korrigieren.

Andere, die mit der so verstandenen Aufgabenstellung der historischen Kritik sympathisieren, wollen die Geschichte der Interpretation als zusätzliche Quelle der Erkenntnis des historischen Gegenstandes hinzunehmen, weil sie meinen, Paulus könne man nur verstehen, wenn man die späteren Auffassungen von ihm mitberücksichtigt.

Doch setzt sich auch dieser Versuch dem Verdacht aus, Realität letztlich zu verschleiern, wie man dies ähnlich in der Jesusforschung6 und vor allem in den Darstellungen der Maria7 beobachten kann. Die Folgerung in bezug auf Paulus kann daher nur lauten: Obwohl wir nie vollständig wissen werden, wer er wirklich war, müssen wir ihm möglichst weit nahe zukommen versuchen, und das hat durch historische Forschung zu geschehen.

Der Titel des Buches, Paulus, der Gründer des Christentums, enthält seine Hauptthese: Nicht Jesus, sondern Paulus ist die entscheidende Gestalt des frühen Christentums. Zwar hätte es Paulus weit von sich gewiesen, als Gründer der christlichen Religion zu gelten, denn er selbst fühlte sich durch eine Vision des himmlischen Christus zum Apostel der Heiden berufen. Doch legt dieses Buch gewichtige Argumente dafür vor, daß erst Paulus die Bildung einer Kirche jenseits von Judentum und Heidentum erkämpft hat.

Angesichts der weltgeschichtlichen Bedeutung des Paulus setzt sich das Buch aber auch mit dessen Wahrheitsanspruch auseinander. Dieser muß – die Thesen des Buches vorwegnehmend – aus zwei Grün den zurückgewiesen werden. a) Paulus hat die griechische Aufklärung verteufelt, weil er ihr nicht gewachsen war, und er hat Vernunft durch blinden Glauben ersetzt – gewiß keine gute Voraussetzung zur Erkenntnis von Wahrheit. b) Der Autoritätsanspruch des Paulus leitet sich von der Vision eines Menschen her, den er persönlich nicht gekannt hat und für dessen Lehre und Wollen er sich auch wenig interessiert zu haben scheint. Er ist an dieser Stelle einer Selbsttäuschung erlegen, die weitreichende Folgen hatte.

Im übrigen leitet mich bei der Beschäftigung mit Paulus zunächst die alleinige Absicht, ihn zu verstehen. Daher versuche ich, das Ziel der Unparteilichkeit immer vor Augen, ihn so, wie er wirklich war, darzustellen. Dies schließt freilich auch das Ziel ein, seinen jüdischen, heidnischen und christlichen Gegnern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

In diesem Buch sind mehr Quellentexte abgedruckt, als es in einem Werk dieses Formats üblich ist. Dies hat den Vorteil, daß Zeugnisse der damaligen Zeit als Grundlage für die Ergebnisse leicht greifbar sind. Und indem der Leser die Textanalysen nachvollzieht, erwirbt er sich ein Urteil, das auch im Umgang mit religiös begründeten Wahrheitsansprüchen der Gegenwart von Nutzen sein kann.

Die im Buch gegebenen Übersetzungen stammen, sofern nicht anders angegeben, von mir. Gelegentliche Unterstreichungen sowie Fettdruck und Kursivsetzung dienen der besseren Durchdringung der jeweiligen Texte. Der expliziten Auseinandersetzung mit Sekundärliteratur waren durch Format und Zielsetzung des Buches Grenzen gesetzt. Trotzdem hoffe ich, alles Wichtige berücksichtigt zu haben. (Eventuelle Versäumnisse werde ich in der angekündigten größeren Arbeit nachholen.) Von Interesse mag die Information sein, daß ich das Buch zuerst auf Englisch geschrieben und es anschließend ins Deutsche übertragen habe. Das englische »Original« erscheint bei Prometheus Books, Amherst, N.Y. Beide Fassungen sind in Dankbarkeit meinem Freund Dr. John Bowden (London) gewidmet, der die meisten meiner Bücher ins Englische übersetzt und mir bis zum Ende seiner Tätigkeit als Direktor der SCM Press (London) die Treue auch in den letzten bewegten Jahren gehalten hat.

Pfarrer i.R. Harald Bedenbender, Pastor Dr. Winfried Stoellger und Dr. Arnd Wülfing haben das Manuskript gelesen und mir zahlreiche Beobachtungen mitgeteilt. Dafür danke ich Ihnen von Herzen. Frank Schleritt war auch bei diesem Buch ein verläßlicher Mitarbeiter. Silke Röthke danke ich für gute Zusammenarbeit auch bei diesem Projekt.

Göttingen, den 26. Juni 2001

Gerd Lüdemann

Kapitel I

Einleitung

Denn das, was jetzt seit etwa 50 Jahren durch die historische Auffassung geleistet ist, hat zu einer Revolution geführt, die viel größer ist als die Reformation Luthers!

(Hugo Greßmann)

Wir, die wir von der liberalen Theologie herkommen, hätten keine Theologen werden oder bleiben können, wenn uns in der liberalen Theologie nicht der Ernst der radikalen Wahrhaftigkeit begegnet wäre; wir empfanden die Arbeit der orthodoxen Universitätstheologie aller Schattierungen als einen Kompromißbetrieb, in dem wir nur innerlich gebrochene Existenzen hätten sein können.

(Rudolf Bultmann)

Viele Christen halten Paulus für einen der größten Jünger Jesu. Die organisierte Kirche hat seinen Schriften einen maßgeblichen Platz im neutestamentlichen Kanon zugewiesen. Aber auch in der akademischen Theologie ist Paulus eine der Grundlagen des Nachdenkens über den Glauben in wissenschaftlicher Verantwortung. Im Laufe der Kirchengeschichte führte die Neubesinnung auf Paulus und seinen Brief an die Römer zu wichtigen Entwicklungen, wie an den Römerbriefauslegungen des Kirchenvaters Augustin (354-430), der Reformatoren Martin Luther (1483-1546) und Johannes Calvin (1509-1564) sowie des einflußreichsten Dogmatikers des 20. Jahrhunderts, Karl Barths (1886-1968), zu beobachten ist. Ja, man könnte vielleicht sogar anhand der Interpretation des Römerbriefs die Geschichte der christlichen Theologie schreiben.8

In der Kirchengeschichte spielten jedoch von Anfang an nicht nur Paulus, sondern auch seine Freunde und Feinde eine wichtige Rolle. Von den 13 Paulusbriefen des Neuen Testaments stammen nach allgemeinem Konsens sieben von Paulus selbst9 und sechs von seinen Anhängern10, die den Namen ihres Helden als Absender einsetzten.11 Eine weitere Schrift, der Brief an die Hebräer, wurde mit einem paulinisch klingenden Ende ausgestattet (13,23-25). Diese Tat eines Paulusanhängers sicherte ihm einen Platz im neutestamentlichen Kanon.12

Der Zweite Brief an die Thessalonicher – ein Rätsel

Dieses Dokument von nur 47 Versen verdient mehr Aufmerksamkeit, als ihm herkömmlich zuerkannt wird. Zunächst springt seine Ähnlichkeit mit dem 1Thess in Aufbau und Vokabular ins Auge. Diesem Phänomen hat zuerst der Breslauer Neutestamentler William Wrede (1859-1906) eine tiefschürfende Studie gewidmet.13 Sie kommt zum Ergebnis: Bei Annahme der Echtheit des 2Thess scheidet die Möglichkeit aus, daß dieser Brief kurz nach der Abfassung des 1Thess an dieselbe Gemeinde in Thessalonich geschickt worden ist. Diese Annahme vertreten aber regelmäßig Vertreter der Echtheit des 2Thess, um die verblüffenden Übereinstimmungen zwischen beiden Briefen zu erklären. So enthält auch der 2Thess die auffälligste Eigenart des 1Thess, eine zweite Danksagung (vgl. 2Thess 2,13 mit 1Thess 2,13), und viele sprachliche Übereinstimmungen kommen noch hinzu (vgl. unten, S. 247-248).

Weiter sollte der Widerspruch hinsichtlich des Eintritts des Weltendes beachtet werden. 1Thess 4,13-17 zufolge geschieht die Wiederkunft Jesu in der allernächsten Zukunft, während der 2Thess den Tag des Herrn (= das Ende der Welt) für noch nicht unmittelbar bevorstehend hält. Erst müsse nämlich der »Mensch der Gesetzlosigkeit« enthüllt werden, »der Sohn des Verderbens, der sich widersetzt und erhebt über alles, was Gott oder Heiligtum genannt wird, so daß er sich in den Tempel Gottes setzt, indem er vorgibt, er sei Gott« (2Thess 2,3-4). Auch dieser Widerspruch muß gegen die Annahme der Echtheit des 2Thess gewertet werden.

Zwei Versuche, die These der Unechtheit abzuwenden, führen nicht weiter: Erstens, der 2Thess sei älter als der 1Thess; zweitens, der 1Thess, in dem ausdrückliche Schriftbezüge fehlen, sei an den heiden-christlichen Teil der thessalonischen Gemeinde gerichtet, der 2Thess, der das Alte Testament öfters zitiert, an den judenchristlichen Teil. Denn die zuletzt genannte These steht in Widerspruch dazu, daß die überwiegend heidenchristlichen Gemeinden des Paulus von Anfang an in der Schrift unterwiesen wurden. Die zuerst genannte Auffassung wiederum erklärt nicht die auch so bestehen bleibende Schwierigkeit der verschiedenen Enderwartung. Sie sieht sich zudem dem eindeutigen Befund gegenüber, daß 1Thess 2,1-3,5 auf den noch nicht lange vergangenen Gründungsaufenthalt zurückblickt. Wie bleibt dann noch Raum für einen Brief in der Zwischenzeit?

Auch wenn 2Thess nicht von Paulus stammt, so bleibt doch das Motiv seiner Abfassung ein Rätsel. Dient er etwa nur als Kommentar zum rechten Verständnis des 1Thess?14 Oder ist er etwa das Beispiel einer raffinierten Fälschung? (Vgl. dazu unten, S. 247-255.)

Die Apostelgeschichte als Verteidigungsschrift für Paulus

Die Apg, deren zweiter Teil (Kap. 16-28) fast ausschließlich Paulus gewidmet ist, könnte man als eine Paulusbiographie mit ausführlicher Einleitung bezeichnen. Paulus ist für Lukas15 wichtig als das Verbindungsglied zwischen der Jerusalemer Kirche und der eigenen Gemeinde. Deswegen ist er gleichzeitig die entscheidende Legitimationsfigur des luk. Christentums, d. h. an seiner rechten Auslegung scheiden sich die Geister. Das gilt erstens gegenüber der gnostischen Paulusauslegung (= a) und zweitens gegenüber judenchristlicher Kritik an Paulus (= b).

a) Lukas läßt Paulus in der Rede an die Ältesten von Ephesus in Milet folgendes ankündigen: Nach ihm würden aus ihrer Mitte Wölfe im Schafspelz kommen und Verkehrtes sagen (Apg 20,29f; analog wird 1Joh 2,19 auf einen Bruch innerhalb ein und derselben Gemeinde verwiesen). Höchstwahrscheinlich vertraten die in V. 29f angegriffenen Lehrer eine eigene Paulusinterpretation und beanspruchten, eine nur den Vollkommenen zugängliche Geheimlehre zu besitzen. Daher dürfte es sich um Gnostiker paulinischer Prägung handeln.16 Dagegen nehmen V. 20 und V. 27 mit ihrer Aussage Stellung, Paulus sei in seiner Evangeliumsverkündigung nichts schuldig geblieben. Das bedeutet dann aber, daß eine christliche Gemeinde paulinischer Prägung in Kleinasien auseinandergebrochen ist. Lukas ist der Repräsentant einer Pauluspartei, die in hoffnungslosem Gegensatz zur Partei der christlichen »Wölfe« steht. Wie diese über Lukas und seine Anhänger geurteilt haben, wissen wir nicht. Ein Streit um den Apostel hat begonnen, der sich in Gebieten abspielt, in denen der Apostel selbst gewirkt hat.

Die Authentizität des von Lukas Berichteten soll durch den Wir-Bericht, der die Milet-Rede rahmt, bekräftigt werden, denn das »Wir« suggeriert den Lesern, daß eine wirkliche Paulusrede überliefert werde. Sie erhalten angeblich von einem Paulusschüler genaue Kunde davon, was Paulus in Milet den Presbytern von Ephesus gesagt hat.17

b) Lukas zeichnet Paulus in der Apg so, daß die Leiter der Jerusalemer Gemeinde ihn anerkennen und daß er durchweg das Gesetz beachtet. Er beschneidet Timotheus (16,1-3), nimmt auf Anraten des Jakobus das Nasiräat bzw. die Auslösung von Nasiräern auf sich (21,23-27) und versteht sich als Pharisäer auch in seiner christlichen Zeit (23,1-10). All dies hat zum Ziel, ihn gegenüber Vorwürfen in Schutz zu nehmen, ein Gesetzesbrecher zu sein und die Jerusalemer unbotmäßig angegriffen zu haben (vgl. demgegenüber Gal 2,11ff). Offenbar lagen beide Vorwürfe damals in der Luft.

Andere Testfälle: Markion und Polykarp

Markion, der Sohn eines Bischofs aus Sinope am Schwarzen Meer, verdankte seine religiöse Urerfahrung der wiederholten Lektüre des Gal. Er lernte dort, daß das Evangelium ausschließlich Geschenk ist und mit keinem Ding dieser Welt verglichen werden kann. Es wiederherzustellen, sah er als seine ureigene Aufgabe an. Auf ihn geht die erste kanonische Sammlung der Paulusbriefe mit dem Gal an der Spitze zurück. Zusätzlich fügte er seiner Bibel ein Evangelium – das von angeblich späteren Zutaten befreite Evangelium des Lukas – hinzu, denn sein Held Paulus hatte ebenfalls nur ein Evangelium anerkannt (vgl. Gal 1,6-9). Das Alte Testament nahm er nicht auf, dafür bildete ein von ihm selbst komponiertes Werk, die Antithesen, die hermeneutische Richtschnur seiner Sammlung. In der Einleitung zu den Antithesen, die jeweils Stellen aus dem Alten Testament mit Jesus- oder Paulusworten vergleichen, heißt es:

»O Fülle des Reichtums, Torheit, Macht und Entzücken, daß man nichts über es (das Evangelium) sagen oder denken oder mit ihm vergleichen kann.«18

Auf dem Weg nach Rom soll Markion Bischof Polykarp von Smyrna begegnet sein. Darüber erzählt Bischof Irenäus von Lyon, ein Schüler Polykarps, folgende Anekdote:

Als Markion einst Polykarp in einem Badehaus traf und zu ihm sagte: ›Erkenne uns an!‹, da antwortete Polykarp: »Ich erkenne dich, den Erst geborenen Satans!« (haer. III 3,4).

Diese Episode ist besonders lebendig erzählt, wie es haßerfüllte Anekdoten immer sind. Doch dürfte sie das geschichtliche Wissen widerspiegeln, daß Polykarp sich selbst zu Markion in einem radikalen Gegensatz sah. Konsequenterweise vermied Polykarp nicht nur jeglichen Kontakt mit Markion19, sondern verfaßte wohl auch die Pastoralbriefe (1/2Tim und Tit) als Gegenschrift. Tatsächlich findet man einen direkten Verweis auf Markions Hauptwerk, die Antithesen, am Ende von 1Tim. Hier lautet die Aufforderung an Timotheus:

1Tim 6,20

Timotheus, bewahre das dir anvertraute Gut. Halte dich fern vom heillosen Geschwätz und den Antithesen der fälschlich so genannten Gnosis!

Wir sehen also, zwischen einem radikalen Paulusnachfolger und einem Bischof, der sich ebenfalls für einen Paulusschüler hält20, ist der Kampf um den Apostel und sein Erbe voll entbrannt.

Kritik an Paulus von anderen Christen: Brief des Jakobus, Zweiter Petrusbrief und judenchristliche Paulusfeindschaft

Einige Schriften, die nicht zur Paulustradition gehören, äußern unverhüllt Kritik am Apostel. Der Verfasser des Jak wendet sich gegen die paulinische Lehre, daß das Heil allein aus Glauben geschenkt werde (Jak 2,24). Weiter schärft er ein, daß der Glaube ohne Werke nutzlos sei, während der Autor des 2Petr sich mit Paulusanhängern auseinandersetzt, die ihren Helden wohl so interpretieren, als ob das Heil eine rein gegenwärtige Größe sei. Dabei sieht er sich zu der Aussage veranlaßt, daß einige Dinge in den paulinischen Briefen schwierig zu verstehen seien und von den »Ketzern« umgebogen würden (2Petr 3,16).

Zusätzlich bleibt immer zu beachten, daß Paulus unter christlichen Gruppen jüdisch-ethnischer Herkunft eine feindliche Reaktion provozierte (vgl. oben, S. 16). Sein Name war dort so verhaßt, daß die Feindschaft gegen Paulus von einer Generation zur anderen weitergegeben wurde. Noch im zweiten Jahrhundert verfaßten Angehörige dieser Gruppen Schriften gegen Paulus (s. unten, S. 93-95). In polemischer Absicht schreiben diese Texte Paulus unter anderem eine heidnische Herkunft zu. Daran sieht man, zu welchen Mitteln damals bei der Auseinandersetzung um den Apostel gegriffen wurde.

Paulusverehrer außerhalb des Neuen Testaments

Wie wir bereits bei Markion sehen konnten, blieb der Kampf um Paulus nicht auf die Dokumente des Neuen Testaments beschränkt. Hier lohnt sich ein Blick auf den Fall eines Presbyters im zweiten Jahrhundert.21 Dieser verfaßte die sogenannten Paulusakten, in denen Paulus den Frauen ausdrücklich gestattete zu lehren und zu taufen. Unter Hinweis auf den Widerspruch dieser Erlaubnis zu den Inhalten der Paulusbriefe wurde das Werk des Presbyters aber als Fälschung entlarvt. Zur Rechenschaft gezogen, trat er freiwillig von seinem Amt zurück und sagte zur Entschuldigung, er habe die Paulusakten »aus Liebe zu Paulus« verfaßt. Das Schicksal war seiner Schrift nicht so freundlich wie einer stattlichen Anzahl anderer Fiktionen, die in den Kanon des Neuen Testaments aufgenommen wurden.

Orthodoxe Nachfolger des Paulus im 2. Jahrhundert: Der dritte Korintherbrief

Ein weiteres interessantes Dokument ist der sogenannte dritte Korintherbrief22, der sich – ausgehend vom Apostolischen Glaubensbekenntnis – im 2. Jahrhundert gegen markionitische und gnostische Lehren richtet, die vom Erzhäretiker Simon Magus vertreten worden seien. Diese Schrift gehörte sogar einmal zum neutestamentlichen Kanon der syrischen und auch der armenischen Kirche. Sie gibt sich als Antwort des Paulus auf einen Brief der Korinther über die Auferstehung Jesu und die Allmacht Gottes, die beide von Simon und einem sonst nicht näher bekannten Cleobius in Frage gestellt worden seien. Indem »Paulus« beides nachhaltig bejaht, wird er zum Verteidiger des Glaubensbekenntnisses der katholischen Kirche (und übrigens auch der Jungfrauengeburt).

Der fingierte Dialog des Philosophen Seneca mit Paulus

Am Schluß dieses Überblicks muß noch der vierzehn Stücke umfassende Briefwechsel zwischen dem stoischen Philosophen Seneca und Paulus genannt werden.23 Beide drücken in den Briefen ihre gegenseitige Hochschätzung aus. Allerdings kritisiert der Philosoph den Briefstil des Apostels. Diese Korrespondenz hielt man bis zur Renaissance allgemein für echt. Sie wurde dann aber als Fälschung aus dem vierten Jahrhundert erwiesen – ersonnen aus der Absicht, für Paulus die Anerkennung durch einen führenden stoischen Philosophen zu beanspruchen, vor dessen Bruder Gallio er sich lt. Apg 18,12-17 vor Gericht verantworten mußte.

Ertrag

Angesichts solch verschiedener Reaktionen auf den Apostel wird klar, wie schwierig sich die Aufgabe gestaltet, zum wirklichen Paulus vorzudringen. Welche Vorgehensweise empfiehlt sich? Wie ist der Stoff zu gliedern?24 Ich werde zunächst Chronologie und Leben des Paulus beschreiben (II). Dieser Teil rekonstruiert die wesentlichen Ereignisse des Lebens des Paulus und nimmt deshalb mehr Raum in Anspruch als die anderen Einzelkapitel. Danach wende ich mich dem Brief an Philemon zu, um so einen ersten Einblick in Person und Denken des Apostels zu vermitteln. Dieses Schreiben ist das kürzeste unter den erhaltenen echten Paulusbriefen und wird in Form eines durchlaufenden Kommentars untersucht. Im Anschluß an die Kommentierung versuche ich, den Inhalt des Phlm dem Denken des Paulus als Gesamtheit zuzuordnen (III). Auf diese Weise ist eine Basis geschaffen für die sich anschließenden Kapitel, Paulus, der Jude (IV), Paulus, der Grieche und Römer (V), Paulus, der Christ (VI), Paulus, der Apostel Jesu Christi (VII), Paulus und Jesus (VIII) und Paulus, der Gründer des Christentums (IX). Das Abschlußkapitel stellt sich unter der Überschrift Die Bedeutung des Paulus für heute (X) vor allem einem Problem: Falls der Grund des Glaubens des Paulus, die Auferstehung Jesu, auf einer Selbsttäuschung beruht, welche Bedeutung kommt dann heute der wissenschaftlichen Erforschung des Apostels zu? Ein Epilog versucht unter der Überschrift Nachruf auf Paulus in der Form eines Essays das Phänomen Paulus zu erhellen. Beigabe 1 liefert die Begründung dafür, daß es sich beim 2Thess um eine raffinierte Fälschung handelt, und legt damit schlagend dar, was im frühesten Christentum im Umgang mit Paulus alles möglich war. Beigabe 2 enthält einen Abdruck der Kritik des Neuplatonikers Porphyrius an Paulus. Da sie mitten in die heutige Diskussion um Paulus hineinführt und wenig bekannt ist, mag ihre Wiedergabe willkommen sein.

Kapitel II

Chronologie und Leben des Paulus25

Paulus ist der einzige Mensch im Urchristentum, den wir wirklich kennen.

(Albert Schweitzer)

Die Quellen lesen heißt, rücksichtslos die geistige Form, in der Geschichte überliefert ist, wie eine Maske abzustreifen und sie in die Realität des noch gärenden Lebensvorgangs zu übersetzen.

(Eduard Meyer)

Gerade darin liegt die nicht durch den Willen des Einzelnen geschaffene Hauptschwierigkeit unserer ganzen theologischen Situation: die Kirche ist auf Historisches gestellt, das Historische aber kann der Forschung nicht entzogen werden, und die Erforschung des Historischen trägt ihre Gesetze in sich selbst.

(William Wrede)

Der bisher allgemein übliche Weg zur Erstellung einer Chronologie des Paulus besteht darin, die historischen Angaben der Paulusbriefe und die der Apostelgeschichte vorsichtig miteinander zu kombinieren. Das einzige äußere Datum ergibt sich aus der Erwähnung des Statthalters Gallio (Apg 18,12), eines Bruders des Philosophen Seneca, dessen prokonsularische Amtszeit sich aufgrund einer in Delphi gefundenen Inschrift etwa auf das Jahr 51/52 nChr berechnen läßt. Unter der Voraussetzung, daß Paulus in Korinth sich vor Gallio gerichtlich verantworten mußte, wird von diesem Fixpunkt die Zeit davor und danach bestimmt.

Ein weiteres Datum aus Apg 18, das gleichfalls profangeschichtlichen Angaben entspricht, dient als Bestätigung dieses Ausgangspunktes. Apg 18,2 berichtet, Paulus habe in Korinth angetroffen »einen Juden namens Aquila, aus Pontus gebürtig, der kürzlich aus Italien gekommen war, und Priskilla, seine Frau, denn Claudius hatte befohlen, daß alle Juden Rom zu verlassen hätten.« Diese Angabe wird mit einer bei dem christlichen Historiker Orosius (5. Jahrhundert) überlieferten Nachricht in das Jahr 49 nChr verlegt. Das wiederum läßt sich scheinbar gut dem Gallio-Datum (51/52 nChr) zuordnen, denn lt. Apg 18,11 fand der Prozeß vor Gallio achtzehn Monate nach der Gründung der Gemeinde von Korinth statt.

Von diesem Eckpfeiler der Paulus-Chronologie berechnet man die Zeit vor und nach dem ersten Aufenthalt in Korinth.

Die Zeit nach dem Gründungsaufenthalt in Korinth

Nach dem ersten Korinthbesuch reiste Paulus nach Ephesus, dann nach Palästina und anschließend zurück nach Ephesus (vgl. 1Kor 16,8; Apg 18,18-19,1). Dort und in Makedonien, wohin er im Anschluß an den Aufenthalt in Ephesus gegangen war (vgl. 2Kor 2,12; 7,6-7; Apg 20,1), schrieb er die beiden Briefe oder Teile von ihnen an die Korinther. Danach fuhr er von Korinth aus nach Jerusalem, um die Kollekte zu übergeben (vgl. Röm 15,25; Apg 21,15-17).

Die Zeit vor dem Gründungsaufenthalt in Korinth

Vor dem Korinthaufenthalt missionierte Paulus in Philippi, Thessalonich und Athen (vgl. 1Thess 2-3; Apg 16-17). Zuvor soll er als Mitglied einer antiochenischen Delegation nach Jerusalem gereist sein (Gal 2,2; Apg 15,2). Das Datum der Jerusalemer Konferenz wird auf der Grundlage der Zeitangaben des Paulus in Gal 1,18 (»nach drei Jahren«) und 2,1 (»nach vierzehn Jahren«) ermittelt. Im Anschluß an die Konferenz kam es zum Zwischenfall von Antiochien, wie dies Gal 2,11-14 drastisch schildert und Apg 15,36-39 als Bestätigung des Berichts des Paulus belegt. Denn vierzehn Jahre vor der Jerusalemer Konferenz arbeitete Paulus im Rahmen der antiochenischen Mission (vgl. Gal 1,21; Apg 9,30; 13-14), aus der er sich erst als Folge des Zwischenfalls von Antiochien löste.

Sollte diese auf einer Kombination der Angaben der Paulusbriefe mit denen der Apg beruhende Chronologie Bestand haben, so würden sämtliche erhaltenen echten Paulusbriefe in die ungefähr fünf Jahre zwischen der Konferenz und dem letzten Jerusalembesuch des Apostels zu datieren sein. Ihr Verfasser wäre jemand, der bereits ungefähr zwanzig Jahre Christ und ein altgedienter Missionar gewesen ist. (Paulus bezeichnet sich in Phlm 9 als »Älteren« , d. h. als einen Mann von ungefähr 55 Jahren.26) Entsprechend sollte man eine große Übereinstimmung der Briefe in allen wesentlichen Punkten erwarten mit wenig Raum für die in der neueren Forschung aufgestellten Hypothesen einer theologischen Entwicklung des Paulus. Vielmehr würde die Chronologie die beste Begründung dafür liefern, die Gedanken des Paulus nach dem theologischen Prinzip darzulegen, daß die Schrift sich selbst auslege (scriptura sui ipsius interpres).27

Einwände

a) Paulus war weder Delegat der antiochenischen Gemeinde vor der Jerusalemer Konferenz noch Juniorpartner des Barnabas. In Gal 2,2 schreibt Paulus, er sei wegen einer Offenbarung nach Jerusalem gereist. Dies steht allgemein in Widerspruch zum luk. Bild, daß Paulus vor der Konferenz Barnabas untergeordnet gewesen sei (vgl. Apg 11,25; 12,25). Weiter unterstreicht Paulus in Gal 2,2 seine Absicht, den Jerusalemern das Evangelium vorzulegen, das er unter den Heiden verkündige. Daraus folgt eine selbständige Missionsarbeit des Apostels vor der Konferenz. Außerdem muß er in dieser Mission bereits Mitarbeiter gehabt haben, die ihm untergeordnet waren. Nur so erklärt sich die Bemerkung, er habe Titus mitgenommen (Gal 2,3), während die im gleichen Atemzug gemachte Aussage, er sei mit Barnabas nach Jerusalem gezogen, auf eine Gleichrangigkeit der beiden vor der Konferenz schließen läßt. Die Mitnahme des Heidenchristen Titus, den die Apg an keiner Stelle direkt nennt, zeugt von einem erheblichen missionarischen Selbstbewußtsein des Paulus. Er unterstrich damit, daß fortan unbeschnittene Heiden zum Gottesvolk gehörten – eine Provokation, die Hauptgegenstand der Konferenz werden sollte. Da wir umgekehrt Titus aus der Mission in Griechenland kennen, legt sich die Vermutung nahe, daß er von dort zusammen mit Paulus nach Jerusalem angereist ist.

b) Das Datum 49 nChr für eine Judenaustreibung aus Rom ist mit Unsicherheiten belastet. Wie bereits angemerkt, stammt diese Angabe erst aus einer christlichen Quelle des 5. Jahrhunderts (Orosius). Diese führt im Anschluß an Josephus für das 9. Jahr des Kaisers Claudius (41–54 nChr) eine Maßnahme gegen die Juden an. Doch findet sich nichts Entsprechendes in den wohl vollständig erhaltenen Werken des Josephus. »Was man vielerorts lesen kann, das Jahr 49 für das Claudiusedikt passe genau zur relativen Chronologie der Apostelgeschichte, ist genau das, was die Notiz des Orosius verdächtig machen könnte.«28 An anderer Stelle habe ich begründet, daß ein unbekannter Chronist das 9. Jahr des Claudius als Datum von dessen Judenedikt auf der Grundlage der Apg gewonnen hat. Er brauchte nur die dort erwähnten 18 Monate (Apg 18,11) von der Zeit der Statthalterschaft Gallios in Achaja, die im lokalen Archiv nachzulesen war, abzuziehen.29 Das kombinierte Zeugnis des Sueton (frühes 2. Jahrhundert) und des Dio Cassius (spätes 2. Jahrhundert) legt eher das Jahr 41 nChr als Zeitpunkt des Judenedikts des Claudius nahe.30

c) Die Hinweise auf weltgeschichtliche Ereignisse im luk. Doppelwerk treffen oft nicht zu.

Als Belege seien vier Punkte angeführt: 1. Apg 4,6 und Lk 3,2 nennen inkorrekterweise Hannas (6-15 nChr) statt Kaiphas (18-37 nChr) als den Hohenpriester während der Wirksamkeit Jesu.31 2. Lk 2,1-2 datiert den Zensus zu früh, denn eine Volkszählung unter Quirinius fand erst ein Jahrzehnt nach Herodes’ Tod statt. Außerdem bezog sich der Zensus nicht auf das ganze römische Reich, sondern war auf Syrien und Judäa beschränkt.32 3. Lukas datiert in Apg 5,36-37 Theudas falsch und begeht einen groben historischen Schnitzer, indem er Judas zeitlich nach Theudas auftreten läßt.33 4. Die Vorstellung einer weltweiten Hungersnot in Apg 11,28 befindet sich in Widerspruch sowohl zur Weltgeschichte als auch zur Apg selbst. Denn im unmittelbaren Kontext steht, daß die Gemeinde Antiochiens – trotz der weltweiten Hungersnot – Hilfe nach Jerusalem schicken konnte (Apg 11,29-30).34

d) Lukas datiert in der Apg manche Episoden sehr vage (6,1: »in diesen Tagen«; 12,1 und 19,23: »zu jener Zeit« usw.). Stellt man die Zeitangaben der Apg mit denen des Paulus zusammen, so ist festzustellen: Der Bericht in 9,3-26 (von der Bekehrung des Paulus bis zum ersten Jerusalembesuch) umfaßt einen Zeitraum von etwa drei Jahren, die Erzählungen in 11,26-15,1 (Paulus in Antiochien bis zum zweiten Jerusalembesuch) mindestens dreizehn Jahre, während für die restlichen vierzehn Kapitel der Apg sechs bis sieben Jahre zu veranschlagen sind. Daraus folgt, daß die Apg nur ausgewählte Episoden enthält und keine fortlaufende Geschichtserzählung. Hält man diesen schwerpunktartigen Berichtsstil mit der Unbestimmtheit der chronologischen Angaben zusammen, empfiehlt sich das Gebot der methodischen Skepsis gegenüber den chronologischen Angaben der gesamten Apg. Es ist ja nicht auszuschließen, daß Lukas in der Chronologie des Paulus wesentliche Ereignisse ausgelassen und durch die vagen Angaben eine falsche Verknüpfung zwischen Episoden vorgenommen hat.

e) Die chronologischen Informationen des Lukas sind oft durch seine theologischen Absichten bestimmt. Er will das Christentum als politisch ungefährliche Religion darstellen, die sich dazu eignet, Weltreligion zu werden.35 Außerdem entwirft Lukas eine Heilsgeschichte. Ihr letztes Stadium beginnt mit der Formulierung und Übergabe des Aposteldekrets auf der Jerusalemer Konferenz (Apg 15). Das Dekret, das Jakobus formuliert (15,19-20), besteht aus vier Vorschriften für Heidenchristen: sich zu enthalten von Götzenopferfleisch, von Blut, von Ersticktem und von Unzucht. Diese Dinge sahen Juden generell als heidnische Frevel an. Nach der Formulierung und Weitergabe des Dekrets an die Gemeinde Antiochiens (15,23-29) ist die Bahn für die Heidenmission des Paulus frei. Das heißt aber auch: Paulus steht in Kontinuität mit der Urkirche. Die Erzählung von der paulinischen Mission nach der Jerusalemer Konferenz erfüllt demgemäß eher heilsgeschichtliche als historische Zwecke.

f) In der Apg liegt ein eigenartiger Befund hinsichtlich der Gruppierung von Einzeltraditionen vor. So läßt sich zeigen, daß Lukas Einzelnachrichten über verschiedene Aufenthalte des Paulus an ein und demselben Ort zusammenzuziehen pflegt. Dies gilt für Korinth (18,1-17), wo der Apostel später drei Monate lebt (20,2-3), gleichfalls für Thessalonich (17,1-9), für das ebenfalls ein anderer paulinischer Aufenthalt bezeugt wird (20,2), und auch für Philippi (16,12-40), wohin Paulus noch zweimal gereist sein soll (20,2.3-6). Auch Ephesus macht keine Ausnahme: In Kap. 19 finden sich mehrere Traditionen über die Wirksamkeit des Paulus in der Stadt, während 18,19-21 lediglich als lukanische, im Anschluß an Tradition komponierte Vorschaltung zu Kap. 19-20 zu verstehen ist.

Die Folgerung aus diesem auffälligen Befund kann nur lauten, daß die eigentliche chronologische Ansetzung der Einzeltraditionen erst noch zu leisten ist. Als Fingerzeig für die spätere Analyse der Erzählung des Prozesses vor Gallio ist dem Befund aber schon dies zu entnehmen, daß die restlichen Nachrichten aus 18,1-17 nicht unbedingt auf denselben Korinthaufenthalt des Paulus zurückgehen müssen, dem die Tradition des Prozesses vor Gallio gegebenenfalls zuzuordnen ist.

Aufgabe und Methode

Die vorgebrachten Einwände haben gezeigt, wie fragwürdig der auf einer Harmonisierung von Paulusbriefen und Apg basierende Ansatz der Chronologie des Paulus ist. Historische Nachfragen zeigen, daß man den chronologischen Angaben des Lukas zu leichtgläubig gefolgt ist. Aus diesem Grunde erweist es sich bei der Rekonstruktion der Chronologie des Paulus als notwendig, zunächst dessen Briefe auszuwerten und erst in einem zweiten Schritt die Traditionen der Apg zu berücksichtigen.

Diese Einsichten verdanke ich Ferdinand Christian Baur und John Knox, die beide den im Vergleich mit den Briefen weit unterlegenen historischen Wert der Apg eingeschärft haben. So schrieb Baur bereits im Jahre 1845:

»Es erscheint natürlich anzunehmen, dass in all jenen Fällen, wo der Bericht der Apostelgeschichte nicht vollständig mit den Angaben des Apostels übereinstimmt, die Wahrheit nur bei dem letzteren liegen kann … Die Vergleichung dieser beiden Quellen muss zu der Überzeugung führen, dass bei der grossen Differenz der beiderseitigen Darstellungen die geschichtliche Wahrheit nur entweder auf der einen oder der anderen Seite sein kann … Für die Geschichte des apostolischen Zeitalters müssen die paulinischen Briefe in jedem Fall einen Vorrang vor allen anderen neutestamentlichen Schriften als authentische Quellen haben.«36

John Knox meinte, daß der winzigste Hinweis in den Paulusbriefen von größerem Wert als eine klare Angabe in der Apg sei. Außerdem müsse jeder Widerspruch zwischen Briefen und Apg zu Lasten letzterer gehen. Nur dort, wo die Briefe die Angaben der Apg bestätigten, verdienten diese Zutrauen. Besonders verdächtig sind für Knox solche Aussagen der Apg, die einer bestimmten Absicht dienen. Man müsse sie als redaktionell ansehen und könne sie für die historische Rekonstruktion nicht verwenden.37

Ein Problem, dem sich Knox nicht direkt stellte, betrifft jene Passagen zu Ereignissen im Leben des Paulus, die durch die Paulusbriefe nicht gedeckt sind und die keinerlei Tendenz zeigen. Obwohl Knox diesen Texten wahrscheinlich skeptisch gegenübersteht, bin ich mit der Zeit zu einem begrenzt positiven Urteil gelangt und halte sie für durchaus verwendbar. Sie werden auf folgende Weise untersucht: in einem ersten Schritt unter besonderer Berücksichtigung der Erzählabsicht des Lukas, in einem zweiten Schritt unter versuchsweiser Rekonstruktion der zugrundeliegenden Überlieferung und in einem dritten Schritt mit dem Ziel, den historischen Wert der mutmaßlichen Tradition zu bestimmen. Gewiß, der evtl. historische Wert ist nie als so hoch zu veranschlagen wie bei den Angaben der paulinischen Briefe. Aber immerhin, eine Überlieferung zu besitzen ist mehr als eine eigene Vermutung davon, wie es gewesen sein könnte – ohne Anhalt an der Tradition oder in einer anderen Quelle. In jedem Fall kommt bei der Acta-Analyse den paulinischen Briefen eine hohe Bedeutung zu, so daß man cum grano salis geradezu sagen kann: Was Mk für Mt und Lk ist, sind die Paulusbriefe für die Apg.

Antwort auf Einwände

Manche Kritiker betrachten diesen Ansatz als überholt.38 Sie wenden ein, daß die Rekonstruktion der Tradition in den allerwenigsten Fällen gelinge, und bemängeln, daß die historische Frage nur an die mutmaßliche Tradition und nicht an die Redaktion selbst gestellt werde. Ich bin mit den Kritikern darin einig, daß jeder Text eigentlich eine für ihn passende Methode erfordert.39 Aber wenn Lukas bei den von ihm geschilderten Ereignissen nicht anwesend war, sehe ich keine andere Möglichkeit, als zunächst immer nach den Intentionen zu fragen, mit denen er das ihm überlieferte Material geformt und verändert hat. Als Parallele sei auf die Analyse der drei synoptischen Evangelien verwiesen, wo aus der Art der Veränderung der Mk-Vorlage durch Mt und Lk die Erzählabsicht der Seitenreferenten erschlossen werden kann und bestimmte historische Möglichkeiten von vornherein auszuschließen sind. Wer käme zum Beispiel auf den Gedanken, die Antrittspredigt Jesu in Nazareth, wie Lukas sie erzählt (Lk 4,16-30), für historisch zu halten? Das scheidet aus, weil die Mk-Vorlage einen ganz anderen Verlauf zeichnet und Lukas kein Sondermaterial für diese Szene zur Verfügung hatte. Die gute Erfahrung mit der redaktionsgeschichtlichen Analyse bei der Auslegung der Synoptiker legt es nahe, die Redaktionskritik auch bei der Untersuchung der Apg als ein nützliches Arbeitsinstrument zu verwenden.40 Um hier ganz sicherzugehen, werde ich aber gelegentlich auch die Frage nach dem Wert der Redaktion für den historischen Verlauf stellen.

Das Arbeitsprogramm

Die Analyse von Gal 1-2 steht am Anfang. Eine besondere Bedeutung für die Erstellung einer Chronologie kommt der Kollekte für die Jerusalemer Gemeinde zu, die sich wie ein roter Faden durch viele paulinische Briefe zieht (vgl. Gal 2,10; 1 Kor 16,1-4; 2Kor 8-9; Röm 15,25-27). Erst nach der Analyse der paulinischen Texte wende ich mich den Daten der Apg zu, um sie in den auf der Grundlage der Briefe gewonnenen Rahmen einzufügen.41

Rekonstruktion einer Chronologie des Paulus

Die Rekonstruktion einer Chronologie des Paulus setzt am besten bei einer Analyse von Gal 1-2 ein. In diesen beiden Kapiteln muß Paulus, herausgefordert durch Jerusalemer Christen, die in seine galatischen Gemeinden eingedrungen sind, einen chronologischen und sachlichen Abriß seines Verhältnisses zu den Jerusalemer Aposteln geben. Offensichtlich behaupten die Gegner die Unterlegenheit der paulinischen Verkündigung gegenüber dem eigenen Evangelium, das die Beschneidung von Heidenchristen vorsieht. Paulus sei, so die Gegner weiter, in seiner Verkündigung von Jerusalem abhängig.

Um der Übersichtlichkeit willen unterteile ich den Text Gal 1,62,10 in Unterabschnitte und kommentiere diese jeweils nach der Übersetzung.

Gal 1,6-10

(6) Ich wundere mich, daß ihr euch so schnell von dem, der euch durch die Gnade Christi berufen hat, abwendet zu einem anderen Evangelium, (7) das kein anderes ist; einige verwirren euch nur und wollen das Evangelium von Christus verkehren.

(8) Wenn aber auch wir oder ein Engel aus dem Himmel euch etwas als Evangelium entgegen dem verkündigten, was wir euch als Evangelium verkündigt haben: er sei verflucht! (9) Wie wir zuvor gesagt haben, so sage ich auch jetzt wieder: Wenn jemand euch etwas als Evangelium verkündigt entgegen dem, was ihr empfangen habt: er sei verflucht! (10) Denn rede ich jetzt Menschen zuliebe oder Gott? Oder suche ich Menschen zu gefallen? Wenn ich noch Menschen gefiele, so wäre ich Christi Knecht nicht.

Erläuterung

Dieser Abschnitt bezieht sich auf eine antipaulinische Agitation in den galatischen Gemeinden. Einige »Unruhestifter« hatten ein Evangelium verkündigt, das dem paulinischen entgegengesetzt war. Paulus betrachtet daher deren Predigt als Abfall vom Evangelium (V. 6-7). Zweimal spricht er einen konditionalen Fluch über die aus, die entgegen seinem eigenen Evangelium predigen (V. 8-9). Dieser entspricht dem konditionalen Segenswunsch am Ende des Briefes über diejenigen, die in Übereinstimmung mit dem paulinischen Kanon wandeln (6,16: »Friede und Erbarmen über alle, die nach dieser Regel wandeln, [und] über das Israel Gottes«).

V. 10 enthält mehrere rhetorische Fragen und bildet eine Art Übergang zum nächsten Abschnitt.

Zwar sagt Paulus nicht ausdrücklich, daß die Eindringlinge ihn angegriffen hätten. Doch geht das indirekt aus dem hier Gesagten hervor und auch aus den später genannten Forderungen der Gegner; sie verlangen nämlich die Beschneidung (6,12) und führen die Beobachtungen von bestimmten Tagen, Monaten und Jahren ein (4,10).

Um die gegnerische Behauptung abzuwehren, er sei von Jerusalem abhängig, mußte Paulus genau Auskunft geben. Man beachte, daß er später die Korrektheit seiner Angaben mit einem Eid bekräftigt (Gal 1,20). Aus diesen Gründen liegt in diesen beiden Kapiteln historisch wertvolles Material vor.

Gal 1,11-24

(11) Ich teile euch aber mit, Brüder, daß das von mir verkündigte Evangelium nicht von menschlicher Art ist. (12) Ich habe es nämlich weder von einem Menschen empfangen noch erlernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi.

(13) Denn ihr habt von meinem früheren Verhalten im Judentum gehört, daß ich die Gemeinde Gottes über die Maßen verfolgte und sie zu vernichten suchte (14) und im Judentum mehr Fortschritte machte als viele Altersgenossen in meinem Volk; denn ich war ja im Übermaß ein Eiferer für meine väterlichen Überlieferungen.

(15) Als es aber dem, der mich von meiner Mutter Leibe an ausgewählt und durch seine Gnade berufen hat, gefiel, (16) mir seinen Sohn zu offenbaren, damit ich ihn unter den Heiden verkündigte, zog ich nicht Fleisch und Blut zu Rate. (17) Ich ging auch nicht nach Jerusalem hinauf zu denen, die vor mir Apostel waren, sondern ich ging sogleich fort nach Arabien und kehrte wieder nach Damaskus zurück.

(18) Darauf, nach drei Jahren, ging ich nach Jerusalem hinauf, um Kephas kennenzulernen und blieb fünfzehn Tage bei ihm. (19) Keinen anderen der Apostel aber sah ich außer Jakobus, dem Bruder des Herrn.

(20) Was ich euch aber schreibe – siehe, vor Gott! –, ich lüge nicht.

(21) Darauf ging ich in die Gegenden von Syrien und Kilikien.

(22) Ich war aber den Gemeinden in Judäa, die in Christus sind, von Angesicht unbekannt. (23) Sie hatten aber nur gehört: »Der, der uns einst verfolgte, verkündigt jetzt den Glauben, den er einst zu vernichten suchte«; (24) und sie lobten Gott um meinetwillen.

Erläuterung

V. 11-12: Die Verse nehmen die Eingangssätze des Briefes (1,1-2) auf und bilden gleichzeitig die Überschrift für das Folgende: Paulus verweist in ihnen zur Legitimierung auf den ihm von Gott gegebenen Auftrag.

V. 13-14: Der Apostel bezieht sich auf das Wissen der Empfänger über sein vorchristliches Leben und seinen Eifer im Judentum, der ihn nicht nur über die meisten seiner Altersgenossen erhob, sondern ihn auch zur Verfolgung der Kirche trieb (vgl. V. 23). Auf der Grundlage dieses und anderer Texte sind folgende Aussagen zur vorchristlichen Zeit des Paulus möglich: Paulus war Pharisäer (Phil 3,5; vgl. Apg 23,6) und hat in Jerusalem studiert, denn die pharisäische Bildung konnte nur dort erlangt werden.42 Doch wuchs er in einer hellenistischen Stadt, Tarsus in Kilikien, auf (Apg 22,3). Wahrscheinlich besuchte der junge Paulus während seiner Zeit in Jerusalem die Synagoge der Juden aus Kleinasien und aus Kilikien (vgl. Apg 6,9).

V. 15-16: S. dazu weiter unten, S. 165.

V. 17: Diese Angabe erlaubt den Schluß, daß Paulus in oder bei Damaskus Christen verfolgte. Man kehrt zu einem Ort zurück, an dem man vorher war.43 Der Vers stellt die weitere Information bereit, daß Paulus fast sofort nach der Bekehrung einige Zeit in Arabien verbracht hat. (Die Apg enthält darüber keine Angabe.) Da der Apostel hier nichts über die Absicht des Aufenthalts und seine Dauer sagt, sind wir auf andere Stellen angewiesen. Erstens dürfte die Aktion des nabatäischen Ethnarchen des Aretas, von der Paulus in 2Kor 11,32-33 berichtet (vgl. dazu unten, S. 40f), auf diesen Aufenthalt des Paulus in Arabien zu beziehen sein. Zweitens hat Paulus in Arabien wahrscheinlich Heidenmission betrieben, denn die Nabatäer waren zwar mit den Juden verwandt, doch galten sie als Heiden.44 Diese Missionierung der Nabatäer ließ ihn in den Augen der dortigen Machthaber zu einem politischen Risiko werden. Man schritt gegen ihn ein. Doch sei sofort hinzugefügt: Wahrscheinlich handelte es sich lediglich um tastende Missionsversuche. Paulus kann sie im übrigen nur mit anderen Christen zusammen unternommen haben, denn eine Mission durch eine Einzelperson ist in der Antike genauso undenkbar wie das Reisen ohne Begleitung.

Es ist zu vermuten, daß der Aufenthalt in Arabien nur kurz war. Paulus dürfte als gerade bekehrter Christ bald Verbindung mit den von ihm früher verfolgten Gemeinden in und um Damaskus aufgenommen haben, zumal einige ihrer Mitglieder ihm unmittelbar nach der Stunde von Damaskus zur Seite gestanden haben werden. (Zur Rolle des Ananias vgl. unten S. 172 Anm. 179.). Ich setze ein volles Jahr für die Zeit der Reise von Damaskus nach Arabien, den Aufenthalt dort und die Rückreise nach Damaskus an.

V. 18: Das Wort »darauf« zu Beginn dieses Verses und später in 2,1 liefert die chronologischen Einschnitte der Periode vor der Jerusalemer Konferenz. Während es sich in V. 18 auf die Bekehrung zurückbezieht, so in 2,1 auf den in V. 18 genannten ersten Jerusalembesuch.45

Zur Begründung: Immer, wenn Paulus »darauf« in einem zeitlichen Sinn verwendet, verbindet er zwei aufeinander folgende Episoden miteinander (vgl. 1Kor 15,5.6.7.23; 1Thess 4,17). Da dieser Gebrauch sicher in Gal 1,21 vorliegt, sollte man dieselbe Bedeutung sowohl in V. 18 als auch in 2,1 voraussetzen. Hieraus folgt: Der erste Jerusalembesuch, den ich im folgenden auch Kephasbesuch nenne, fand drei (in Wirklichkeit: zwei46) Jahre nach der Bekehrung statt und der zweite 14 (in Wirklichkeit: dreizehn) Jahre nach dem ersten Jerusalembesuch. Der zweite Besuch sei im folgenden auch als Konferenzbesuch bezeichnet.

V. 18 enthält demnach einen Kurzbericht über den ersten Jerusalembesuch des Paulus in seiner christlichen Zeit. Seine Absicht war, Kephas, den damaligen Leiter der Gemeinde, kennenzulernen. Dieser Besuch dauerte aber nur zwei Wochen.

Wir besitzen zwei weitere Überlieferungen zum Kephasbesuch des Paulus. Die eine ist in Gal 2,7-8 enthalten, die andere in Apg 9,19b-30. Ich untersuche sie in der angegebenen Reihenfolge.

Gal 2,7-8 – eine auf den Kephasbesuch zurückgehende Überlieferung47

Um Gal 2,7-8 in vollem Maße als eine auf den ersten Jerusalembesuch zurückgehende Tradition erkennen zu können, sei in der nachfolgenden Analyse Gal 2,9 mitberücksichtigt – eine Überlieferung, die den auf der Konferenz erzielten Kompromiß wiedergibt (s. unten, S. 45 bis 47).

Gal 2,7-9

(7) Als sie aber sahen, daß ich mit dem Evangelium der Unbeschnittenheit betraut worden bin wie Petrus mit dem der Beschneidung (8) – der nämlich in Petrus zum Apostelamt für die Beschnittenen wirkte, wirkte auch in mir für die Heiden –, (9) und als sie die Gnade erkannten, die mir gegeben worden ist, gaben Jakobus und Kephas und Johannes, die als Säulen angesehen werden, mir und Barnabas den Handschlag der Gemeinschaft, damit wir zu den Heiden (gingen), sie aber zur Beschneidung.

Erläuterung

Es scheint möglich, V. 7-8 als Bestandteil einer Personaltradition vor der Konferenz zu verstehen, die unmittelbar auf den Kephasbesuch des Paulus zurückgeht.

In der Forschung wurden diese beiden Verse oftmals mit der Jerusalemer Konferenz in Verbindung gebracht, weil V. 9 davon spricht: die Säulen Jakobus, Kephas, Johannes hätten Paulus und Barnabas die Rechte der Gemeinschaft gereicht mit der Einigung, daß sie zu den Juden, Paulus und Barnabas aber zu den Heiden gingen. Die hier vorausgesetzte Situation ist jedoch eine andere als in V. 7-8. Denn in V. 9 ist

erstens von einer Gegenüberstellung Petrus - Paulus keine Rede mehr,

zweitens gebraucht Paulus wieder den Namen Kephas,

drittens werden Paulus und Barnabas zusammen genannt,

viertens steht Jakobus an erster Stelle.

Dieser Befund legt nahe, einen Machtwechsel in der Urgemeinde zu erschließen, denn V. 7-8 und V. 9 spiegeln die Jerusalemer Autoritätsverhältnisse zu jeweils verschiedener Zeit wider.

Nun aber reflektieren V. 7-8 Überlieferungen. Sie machen die Annahme zwingend, daß Paulus bereits in V. 7-8 aus einer Art Protokoll zitiert.

So nennt Paulus abweichend von seiner sonstigen Regel (vgl. Gal 2,9.11, vorher Gal 1,18) in V. 7-8 den Herrenjünger Simon nicht Kephas, sondern Petrus. Diese Ausnahme verlangt eine Erklärung, zumal der Befund hinzukommt, daß in V. 7 der Ausdruck »Evangelium der Unbeschnittenheit« bzw. »Evangelium der Beschneidung« ein Begriff ist, der dem sonstigen paulinischen Sprachgebrauch fremd ist. Nach Paulus gibt es nur ein Evangelium und nicht ein für die Heiden bzw. Juden verschiedenes (vgl. Gal 1,6-9).

Daß diese Erinnerungen aus V. 7-8 mit einem zurückliegenden Ereignis zu verbinden sind, wird aus V. 7 deutlich. Hier heißt es: »Sie sahen, daß ich mit dem Evangelium der Unbeschnittenheit betraut worden bin wie Petrus mit dem der Beschneidung.« Die in der Tradition enthaltene Nachricht über die Heidenmission des Paulus (»Evangelium der Unbeschnittenheit«) findet eine Parallele in Gal 2,2: Paulus geht nach Jerusalem, um das Evangelium vorzulegen, das er unter den Heiden verkündigt. Diese Mission des Paulus wird auf der Konferenz vorausgesetzt und anerkannt. Der Sachverhalt, daß Paulus bis in die Gegenwart der Konferenz hinein (Perfekt: »ich bin betraut worden«) das Evangelium unter den Heiden anvertraut ist, ist der Grund dafür, daß die drei Säulen Paulus (und Barnabas) die Rechte der Einigung geben.

In V. 8 fügt Paulus eine Parenthese in der Zeitform des Aorist ein, die denselben Inhalt wie V. 7 hat. Aus dieser Zeitform geht hervor, daß das Betrautsein des Paulus und des Petrus mit der Heiden- bzw. Judenmission zu einem bestimmten, wohl länger zurückliegenden Zeitpunkt vor der Konferenz erfolgte. Ferner kann aus der Partikel »nämlich« in dem Satz »der nämlich wirkte …« erschlossen werden: Paulus kann eine seine Person betreffende Tradition voraussetzen und die Parenthese einfügen, um an dieses Wissen zu erinnern. Man darf vorsichtig schließen, daß dieses Einzelelement einer paulinischen Personaltradition, die in den griechischsprachigen paulinischen Gemeinden48 umlief, seine Wurzeln in dem Kephasbesuch hat. Schon damals mag eine Abmachung zwischen Petrus und Paulus getroffen worden sein, die in direkter Verbindung mit der in Gal 2,7 erhaltenen, in den paulinischen Gemeinden bekannten Nachricht stand. Daß die in ihr Ausdruck findende Gleichstellung des Petrus und Paulus nicht historisch ist, sondern sich den Anhängern des Paulus bzw. diesem selbst verdankt, dürfte einleuchten.

Die soeben angestellten Erwägungen liefern auch ein deutliches Argument für ein ausgeprägtes Sendungsbewußtsein des Paulus vor der Konferenz, was der These einer frühen unabhängigen Mission des Paulus günstig ist. Wenn Paulus außerdem parenthetisch auf eine auch in den galatischen Gemeinden bekannte Personaltradition anspielt (V. 8), ergibt sich ein zusätzliches Indiz für die Gründung der galatischen Gemeinden vor der Konferenz. Denn es ist unwahrscheinlich, daß nach ihr noch Traditionen aus der Zeit davor verbreitet wurden, um so weniger, als die Tradition »Paulus-Petrus« sich durch die Erweiterung zum Personenkreis »Paulus-Barnabas-Jakobus-Kephas(Petrus)-Johannes« modifizierte.

Apg 9,26-30 – eine Parallelversion zum ersten Besuch des Paulus in Jerusalem

Dieser Text ist bemerkenswert, denn er stimmt mit Gal 1,17 darin überein, daß der Apostel nach Jerusalem reiste, nachdem er einem Anschlag in Damaskus entronnen war. (Aus diesem Grund behandle ich im folgenden die vorher in Apg 9,19b-25 erzählte Damaskusepisode mit.) Doch sind die für den Anschlag gegen Paulus verantwortlichen Personen verschieden von dem, den Paulus in einem anderen Brief erwähnt: Apg 9,23 zufolge sind es Juden, lt. 2Kor 11,32-33 – ich setze voraus, daß diese Episode zu dem in Gal 1,17 erwähnten Aufenthalt in Damaskus gehört – ist es der Ethnarch des Aretas.

Im folgenden sei Apg 9,19b-30 mit dem Ziel analysiert, neue Informationen über den ersten Jerusalemaufenthalt des Paulus zu gewinnen oder zumindest die bisher verfügbaren Informationen über diesen Jerusalembesuch und die Zeit davor abzusichern. Der Text wird in vier Schritten untersucht. Nach der Übersetzung folgt a) die Gliederung, b) die Ermittlung der Absicht des Lukas, c) die Rekonstruktion der Tradition und d) ein Urteil über den historischen Wert des Textes.

Apg 9,19b-30

(19b) Er war aber einige Tage bei den Jüngern in Damaskus.

(20) Und sogleich predigte er in den Synagogen Jesus, daß dieser der Sohn Gottes sei. (21) Alle aber, die es hörten, gerieten außer sich und sagten: »Ist dieser nicht der, welcher in Jerusalem die vernichtete, die diesen Namen anrufen, und dazu hierher gekommen war, daß er sie gebunden zu den Hohenpriestern führe?« (22) Saulus aber erstarkte noch mehr (im Wort) und brachte die Juden, die in Damaskus wohnten, in Verwirrung, indem er bewies, daß dieser der Christus sei. (23) Als aber viele Tage verflossen waren, beschlossen die Juden, ihn umzubringen. (24) Es wurde aber dem Saulus ihr Anschlag bekannt. Und sie bewachten auch die Tore sowohl bei Tag als bei Nacht, um ihn umzubringen. (25) Die Jünger aber nahmen ihn und ließen ihn bei Nacht durch die Mauer in einem Korb hinab.

(26) Als er aber nach Jerusalem gekommen war, versuchte er, sich den Jüngern anzuschließen; und alle fürchteten sich vor ihm, da sie nicht glaubten, daß er ein Jünger sei. (27) Barnabas aber nahm ihn und brachte ihn zu den Aposteln und erzählte ihnen, wie er auf dem Weg den Herrn gesehen habe und daß der zu ihm geredet und wie er in Damaskus freimütig im Namen Jesu gesprochen habe. (28) Und er ging mit ihnen aus und ein in Jerusalem und sprach freimütig im Namen des Herrn. (29) Und er redete und stritt mit den Hellenisten; sie aber trachteten, ihn umzubringen. (30) Als die Brüder es aber erfuhren, brachten sie ihn nach Cäsarea hinab und sandten ihn weg nach Tarsus.

Gliederung

V. 19b-25: Saulus in Damaskus

19b-20: Predigt des Paulus in der Synagoge von Damaskus

21: Staunende Reaktion der Zuhörer (Verweis auf die Verfolgertätigkeit des Saulus)

22: Verstärkte Predigt des Saulus

23-25: Saulus verläßt Damaskus wegen des Planes der Juden, ihn zu töten

V. 26-30: Saulus in Jerusalem

26: Saulus sucht vergeblich Anschluß bei den Jüngern in Jerusalem

27: Barnabas’ Vermittlerrolle

28-29a: Umgang des Saulus mit den Jüngern in Jerusalem, Predigt daselbst und Auseinandersetzung mit hellenistischen Juden

29b-30: Saulus wird von Brüdern über Cäsarea nach Tarsus gesandt, weil die hellenistischen Juden ihn töten wollen

Erzählabsicht

V. 19b-25: V. 19b-20 gehen ganz auf Redaktion zurück. Die Zeitangabe »einige Tage« (V. 19b) ist unbestimmt, die Anknüpfung bei den Juden entspringt dem luk. Schema. Die Verkündigung Christi als des Sohnes Gottes erinnert entfernt an Gal 1,16. Wahrscheinlich zeigt Lukas hier absichtlich seine Kenntnis der paulinischen Tradition (vgl. ähnlich Apg 13,38; 20,33). V. 21a ist sprachlich lukanisch. V. 21b bringt in wörtlicher Rede, was bereits zuvor gesagt worden war (8,1.3; 9,1.14), wobei der Schriftsteller Lukas durch das vorher noch nicht gebrauchte Verb »vernichten« (porthein