Junior der Lebensretter - Emanuele Tiburzio - E-Book

Junior der Lebensretter E-Book

Emanuele Tiburzio

4,9

Beschreibung

Emanuele Tiburzio ist ein Mann mitten im Leben. Sportlich, gutaussehend, durchtrainiert. Er hängt sehr an seinem Hund Junior, einer dreijährigen französischen Bulldogge. Doch plötzlich im Mai 2013 ändert sich etwas in Juniors Verhalten: Er schleckt sein Herrchen ununterbrochen ab, selbst wenn Emanuele schon im Bett liegt. Junior wird sogar aggressiv und versucht, eine bestimmte Stelle an Emanueles Körper herauszubeißen. Als Emanuele Junior abwehren will, stellt er bei sich einen Knoten fest, den er vorher noch nicht gespürt hatte. Er geht sofort zum Arzt und erhält die Diagnose Lymphdrüsenkrebs im fortgeschrittenen Stadium. Durch den Krebs enthielt Emanueles Körpergeruch plötzlich eine zusätzliche Note, von der Junior erkannt hat, dass sie nicht gut für sein Herrchen war. Damit rettete er ihm wohl auch das Leben, denn nach sechs Zyklen Chemotherapie und Bestrahlung ist Emanuele seit Anfang 2014 krebsfrei. Bob, der Streuner mag das Leben seines Besitzers verändert haben, Junior hat das Leben seines Herrchens gerettet. Dieses Buch erzählt die Geschichte einer ganz besonderen Beziehung zwischen Mensch und Tier, die schon vor der Erkrankung sehr innig war, die danach aber zu etwas Einzigartigem wurde.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der ­Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
[email protected]
Originalausgabe
1. Auflage 2016
© 2016 by mvg Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH,
Nymphenburger Straße 86
D-80636 München
Tel.: 089 651285-0
Fax: 089 652096
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
Redaktion: Antje Steinhäuser
Umschlagabbildungen: © Pervin Inan-Serttas/Foto Seven e. K.
Bilder Innenteil: privat
Umschlaggestaltung: Karen Schmidt
Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN Print 978-3-86882-651-7
ISBN E-Book (PDF) 978-3-86415-901-5
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-86415-902-2
Weitere Informationen zum Verlag finden Sie unter
www.mvg-verlag.de

Inhalt

I Wie ich auf den Hund kam
Kinderträume
Hundejahre
Wolfsjunge
Abschiedsschmerz
Prophezeiungen
Seeabenteuer
Bühnensucht
Treibgut
II Junior, der Lebensretter
Junior
Hiobsbotschaft
Heimaturlaub
Aplasie
Krähennest
Walter
Tatjana
Mutterliebe
Famir
Loveparade
Don Quijote
Freundschaftsdienst
Aprikosenkerne
Bergbesteigung
Lieblingslied
Selbstbehauptung
Kniestrümpfe
Glaubensfrage
Countdown
Frauentausch
Bildteil
III Die singende Bulldogge
Rückkehr
Lebenslust

Am Anfang war nicht der Krebs. Weder beginnt meine Geschichte mit ihm, der mich unvorbereitet traf und von heute auf morgen alles veränderte, noch geht sie mit ihm zu Ende.

Der Krebs fraß sich in meine Eingeweide, ein Parasit, ein Monster. Er quälte mich, verunstaltete mich, er machte mich zu einem fremden Wesen, dessen Anblick ich fürchtete. Verhangene Spiegel, Schmerz und Angst. Ein Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab.

Der Krebs stellt auch die Liebe auf die Probe. Er trifft dich ins Herz und bringt dich um den Verstand. Er will dich aus allem lösen, was dich am Leben hält. Irgendwann flüstert er dir zwei Sätze ein, die so furchtbar sind, dass du sie nicht einmal dem Menschen sagst, den du am meisten liebst:

»Gib auf. Was hält dich noch?«

Um ein Haar hätte der Krebs mich gebrochen, er wollte mich umbringen, aber es ist ihm nicht gelungen.

Ich bin noch da.

Der Krebs wird sich nicht auf diesen Seiten breitmachen, und falls er meint, diese Geschichte gehöre ihm, will ich sie ihm entreißen, genauso, wie wir ihm mein Leben entrissen haben. Nur wird es mir diesmal eine Freude sein.

Wir, das sind Walter, der Mensch, dem seit Jahren mein Herz gehört, ich und eine fünfjährige französische Bulldogge mit schwarzen Flecken: Junior, mein Lebensretter.

Diese Geschichte widme ich ihnen beiden, einem Mann und einem Hund. Es ist eine Geschichte über Freundschaft. Darüber, dass es sich lohnt, Ja zum Leben zu sagen, auch wenn du schon das Ende kommen siehst.

Emanuele Tiburzio im März 2016

IWie ich auf den Hund kam

Kinderträume

Junior hat viele Talente, mittlerweile ist er eine kleine Berühmtheit, ein Star, es vergeht kaum ein Tag, an dem er nicht auf der Straße erkannt wird. Er erhält Nachrichten aus aller Welt – Fanpost, Kuscheltiere, selbst gehäkelte Kissen, Tausende Freundschaftsanfragen auf Facebook – und zugleich ist er einfach ein Bully. Na ja, er singt gerne; mein Hund mag italienische Opern, und er liebt Autofahren, das soll hier nicht verschwiegen werden, aber dazu kommen wir später. Zunächst sei vor allem gesagt, dass er ein freundliches Wesen hat. Junior ist umgänglich, verspielt und aufgeweckt.

Während ich erzähle, liegt er neben mir auf der Couch, die Ohren gespitzt, wachsam und voller Zutrauen. Als wüsste er, dass alles ein gutes Ende nehmen wird, wie jeder seiner Hundetage, die mit einer Runde in unserem Viertel im ­Süden der Kölner Altstadt beginnen – mit einem Wurstzipfel vom Metzger oder einem Leckerli aus der Hand der Apothekersfrau, mit geheimnisvollen Duftmarken am Straßenrand, mit der Spur einer schönen Hündin − und die mit jedem tapsigen Schritt bunter und aufregender werden.

Andere Hundebesitzer bewundern Junior für seinen ungewöhnlich massigen Schädel, den kräftigen Rumpf und die lustige Fellzeichnung. Bullys sind keine Ballerinas – bei diesen kleinen, kompakten Hunden darf’s ruhig ein bisschen mehr sein –, vielleicht liegt ihr Charme gerade in der Verbindung ihrer etwas ungestümen Art, ihres lustigen Aussehens und sympathischen Wesens.

Junior ist aus meinem Leben nicht mehr wegzudenken, er ist mein Freund und Lebensretter, aber vor ihm hatte ich andere Hunde, und meine Tierliebe wurde in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort geweckt. Walter sagt immer: »Leuten, die Hunde mögen, kannst du vertrauen. Die haben ein gutes Herz.« Meine Herzensbildung begann in einer kleinen Stadt, die wie eine Festung in den Hang gehauen ist, in Luxemburg, in einem über hundert Jahre alten Haus am Waldrand.

Bei dem Gedanken an das Haus, in dem ich als jüngstes von drei Geschwistern aufwuchs, kitzelt ein Geruch meine Nase. Feuchtigkeit und scharfe Sauberkeit; Moder und Weichspüler. Und dann denke ich an meine Mutter. Sie brachte Leben in alle Räume, und ich weiß noch, dass ich manchmal in einen der Bauernschränke im Schlafzimmer der Eltern kroch, um zwischen den frisch gebügelten Hemden und Hosen ihren Duft zu atmen. Mama. Eine zierliche Frau mit braunen Augen, die an Gott und den Teufel glaubt, an die großen Versuchungen und die kleinen Sünden und den immerwährenden Kampf gegen das Böse und die uns Kinder mit aller Kraft liebte. Sie ist Portugiesin, und an den Wochenenden sang sie im Weinkeller für Freunde und Familie Fado. Bei Kerzenschein, zwischen Räucherschinken und Salami, eingekochter Tomatensoße und Marmeladen, schwang sich ihre Stimme in dem halbdunklen Gewölbe empor, schwebte und machte uns glücklich.

Fado wurde im achtzehnten Jahrhundert in den Kneipen der Arbeiterviertel von Lissabon geboren, es ist eine schwermütige Musik mit vielen Molltönen. Man singt es in der Dämmerung, wenn der Tag geht und die Stille der Nacht anbricht. Würdet ihr fragen: »Und, Manu, wie war ihre Stimme? Sang sie Sopran? Oder Bariton?«, müsste ich, ein Mann von über vierzig Jahren, bekennen: »Sie sang wie ein Engel! Freunde, es war eine Engelsstimme.«

Und schon sind alle beisammen: Gott und der Teufel, der Tod und das Leben, alle Englein, Walter und ein gescheckter, kräftiger kleiner Hund mit sicheren Instinkten. Womöglich wird Walter aufblicken, wenn er diese Zeilen liest, und kaum merklich den Kopf schütteln – seine Gesten haben eine Zurückhaltung, die mich anfangs verblüffte; was für ein Aufgebot, schon von der ersten Seite an. »Na, das fängt ja gut an, Manu. Drunter machst du’s nicht, oder?« Möglicherweise gibt er mir aber auch einen Kuss. Und gewiss ist er brennend neugierig …

Mein Vater war Ältester der Zeugen Jehovas, ein ernster, großzügiger Mann, und unser Haus stand ­Glaubensbrüdern und -schwestern immer offen. Später würde ich diese Gemein­schaft gegen eine andere eintauschen, aber zunächst war ich dort geborgen.

Ich war ein lebhaftes, verträumtes Kind, ich träumte bei Tag und bei Nacht, ich sah Dämonen und Geister, und manchmal klopfte der Teufel an meine Zimmertür. Auch wenn der Versucher sich vor den Blicken der anderen verbarg – mir konnte er nichts weismachen.

Zum Glück hatte ich imaginäre Verbündete – Gaston, der mich zum Lachen brachte, wenn ich traurig war, Fury, den glänzenden Rappen, den ich mit einem Pfiff zwischen den Zähnen herbeirief, wann immer ich mich an einen anderen Ort wünschte, und nicht zuletzt den »Unglaublichen Hulk«, der schon mal einem Marvel-Comic entstieg, um mir beizustehen. Hulk hatte ein verborgenes Leben: Nachdem er hoher Strahlung ausgesetzt gewesen war, verwandelte er sich bei jedem Anflug von Wut in ein grünes Monster mit Superkräften. Er explodierte förmlich, seine Supermuskeln sprengten seine Kleider und von einem Augenblick zum nächsten wurde er ein anderer, jemand, dessen Anblick die schlimmsten Schurken in greinende Schulkinder verwandelte. Ich war beeindruckt von Hulks Kräften, aber am meisten liebte ich den Augenblick, wenn er sich nach einem Ausbruch zurückverwandelte.

Hulk wacht irgendwo auf, sieht sich verwirrt um, blickt an seinen zerrissenen Klamotten herab und bekommt es mit der Angst zu tun. »Wo bin ich?«, fragt er sich. »Und was zum Teufel ist mit mir passiert?« Ein Mensch, mutterseelenallein und ohne Erinnerung. Dann läuft er los, so schnell und so weit er kann.

Im Kampf gegen das Böse hatte ich starke Verbündete, und ich hatte einen Vater, der sich mit dunklen Geschicken auskannte. »Vor dem Versucher darfst du nicht davonlaufen. Nur wenn du feig bist, kommt er dich holen. Sieh ihm ins Angesicht.«

Also ging ich ihn suchen. Mit schlotternden Knien stahl ich mich nachts aus meinem Zimmer, auf Zehenspitzen. Ich kannte das Haus in- und auswendig und wusste, welche Diele mich mit ihrem Knarren verraten würde, wenn ich nicht aufpasste. Leise schlich ich die Treppen hinab, stieß die Tür auf und stolperte in die Dunkelheit, ohne mich umzudrehen.

Der Wald begann direkt an der Grundstücksgrenze – dort wollte ich, ein dicklicher Junge mit Löwenmut, mich meinen Ängsten stellen. Ich suchte das Böse in mondhellen Sommernächten, im Herbst, wenn der Sturm die Äste auseinanderbog, und auch im verschwiegenen Winterwald.

Ich habe gesagt, Luxemburg sei wie eine Festung in den Hang gebaut. Tatsächlich ist die Stadt buchstäblich in Stein gehauen; der Boden dort ist sehr kalkhaltig, Sandstein, wie man ihn aus Teilen der Eifel kennt.

Nur wenige Minuten von unserem Haus entfernt lag, gut versteckt im Unterholz, der Eingang zu einer kleinen Höhle. Er war so eng, dass er Erwachsenen versperrt blieb – und für mich war es der Durchgang zu einem geheimen Ort. Wer hindurchkroch, fand sich auf einer Naturterrasse wieder; ein Plateau in ungefähr fünfzehn Meter Höhe, im Schatten einer großen Kiefer, mit Blick über die Stadt. Ich taufte das Plätzchen »La Vallée des Démons«: Dämonenschlucht. Ein Name, der einem John-Sinclair-Heft Ehre gemacht hätte. Stundenlang saß ich unter meinem Lieblingsbaum und sah auf die Stadt hinab; die Schule, den Fluss, der sich funkelnd durchs Tal schlängelte, und das hohe Backsteingebäude der alten Moselbrauerei. Hier schlug ich Fantasieschlachten, ich träumte und ritzte mit einem Taschenmesser Nachrichten in die Rinde, Botschaften, die nur für mich Sinn ergaben, wie der Name eines Mädchens, das ich heimlich verehrte. Irgendwann vergrub ich eine kleine Holzkiste mit Liebesbriefen und Bildern am Fuß der Kiefer.

Als ich kürzlich meine Eltern besuchte, ging ich in den Wald und suchte die Stelle, wo ich als Junge so viel Zeit verbracht hatte. Der Eingang zu meiner Höhle war verschüttet, und ohnehin hätte ich nicht mehr hindurchgepasst. Ich gebe zu, dass ich ein bisschen traurig war und irgendwie verletzt – als hätte mir jemand, der mir wichtig war, die Freundschaft gekündigt. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden. Das ist kein Ort für Erwachsene.

Geblieben ist mein Faible für alte Bäume. Noch immer habe ich den Impuls, ihre schönen, starken Stämme zu umarmen. Einmal habe ich sogar Walter dazu gebracht, einen Baum zu umarmen.

»Wie fühlst du dich?«, fragte ich gespannt.

»Wie ich mich fühle?«, gab er gequält zurück. »Ich habe Ameisen im Gesicht.«

Walter ist ganz anders als ich, und wenn ich ihm von meinen Fantasien erzähle, runzelt er verwirrt die Stirn. Mir ist der Junge, der ich war, noch sehr vertraut: Die Mutter brachte ihm bei, was Lieben heißt, und der Vater sagte ihm: Setz dich dem Leben aus.

Das habe ich immer getan.

Bevor ich mich entschied, in Köln zu bleiben, war ich ständig unterwegs, ich suchte das Abenteuer als Broker bei der Deutschen Bank, in der Crew eines Kreuzfahrtschiffes auf den Weltmeeren, als Musicalsänger in London und in den Hügeln von L.A., wo sich das Leben vollkommen und kalt anfühlte, wie die Marmorskulpturen auf dem Anwesen meines damaligen Freundes. Immer habe ich mich allem ausgesetzt, und oft entschied ich mich von einem Tag auf den anderen für den Aufbruch ins Ungewisse. Aber das sind Geschichten aus einer anderen Zeit, heute habe ich manchmal das Gefühl, sie gehören in ein anderes Leben, und auch die Unruhe, die mich damals antrieb, ist mir inzwischen fremd. Erst mit Walter und Junior bin ich angekommen – nicht in Rom oder Barcelona, nicht in Paris oder Madrid, sondern in Köln, ein Umstand, der meine Eltern bis heute verblüfft. Mir geht es gut hier. Aber ich will nicht vorgreifen.

Zurück nach Luxemburg.

Zu den Prüfungen, die ich damals bestand, gehörte auch das Abenteuer des Andersseins.

Ich wuchs in vielen Sprachen auf – dem Portugiesisch meiner Mutter, dem Italienisch meines Vaters, Deutsch, Französisch und »Lëtzebuergesch«, den Amtssprachen unseres Stadtstaats. Später kamen Englisch und Spanisch dazu. Dann gab es die religiöse Sprache, die Sprache des Gebets und der Kanzel, mit ihren geheimnisvollen Bildern und ihrem getragenen Tonfall.

Jede der Sprachen war eine Eintrittskarte für einen anderen Lebensraum; die Familie, die Schule oder die Gemeinde. Und überall galten eigene Gesetze. Nicht selten hatten Umgangsformen, die hier ein Muss waren, dort etwas Unpassendes, wenn nicht gar Anstößiges. Die frisch gebügelten dunklen Anzüge, die meine Mutter mir kaufte, trug ich mit Stolz, solange ich unter Brüdern und Schwestern des Glaubens war. Sobald ich aber das schmiedeeiserne Schultor aufstieß, verloren sie ihren Reiz. Zwischen Jungen und Mädchen, die in Jeans und T-Shirt über den Schulhof stürmten, machten sie mich zu einem Außenseiter. Zu jemandem, der sich auf den ersten Blick von den anderen unterschied.

Ich lernte rasch, dieses Anderssein zu überspielen. Ich fand Schlupflöcher, Geheimgänge, bald stand mir alles offen. Wie die Superhelden, deren Abenteuer mich elektrisierten, hatte ich ein verborgenes Leben, ich hatte ein zweites Gesicht, von dem die Welt, in der ich mich gerade bewegte, nichts ahnte. Es war ein Spiel, und ich war ziemlich gut darin.

Hundejahre

Ein Leben lässt sich anhand von Prüfungen, von Umzügen oder runden Geburtstagen erzählen. Von Liebesbeziehungen, Scheidungen oder Jobwechsel. Ich will mich an den Hunden orientieren, die mir zur Seite standen.

Wenn ich Jacky, Joyko, Barneby und Monti hier einen Platz einräume neben Junior, der bestimmt eifersüchtig wäre, wenn er lesen könnte, erscheint es mir nur recht und billig. Jedes dieser Tiere vertraute mir so bedingungslos, war mir so treu, wie es nur echte Freunde sind.

Ich weiß nicht, ob Jacky oder Monti wie Junior die Veränderung meines Körpergeruchs bemerkt hätten, die der Krebs bewirkte, aber möglich ist es. Es ist eine Frage des Instinktes, der Biologie. Und eine Frage der Verbindung zwischen Mensch und Tier.

Schon als kleiner Junge habe ich Tiere geliebt. Mit Vierbeinern verstand ich mich blind; ich mochte die Tiere auf den Bauernhöfen, die Rehe, Hasen und Füchse aus dem Wald und auch die Streuner von der Straße. Fiel ein Vogeljunges aus dem Nest, trug ich es in der hohlen Hand nach Hause und pflegte es gesund. Heimlich fütterte ich wilde Katzen an, und wenn ich kranke oder angeschossene Tauben fand, brachte ich sie in einem Schuhkarton zum Tierarzt.

Nichts wünschte ich mir sehnlicher, als einen Hund zu haben. Leider war ich in meiner Familie mit meiner Tierliebe allein. Im Süden, wo meine Eltern geboren sind, hält man Nutztiere. Es gibt das Vieh und die Hunde, die das Haus bewachen. Du respektierst sie, aber du liebst sie nicht – sie sind nicht Teil des Hauses, Teil der Familie, wie wir es kennen. Ich hatte also schlechte Karten – was die Unbedingtheit, mit der ich mein Ziel verfolgte, kein bisschen ­schmälerte.

In einem besonders heißen Sommer ergab sich plötzlich die ersehnte Chance.

Wie jedes Jahr verbrachten wir die Ferien in den Abruzzen, wo meine Eltern ein Haus haben. Es lag auf dem flachen Land, umgeben von Höfen und Feldern. Abends holten wir frische Milch, und die Bauern schenkten uns, was ihr Land zu bieten hatte: Käse, Tomaten, Olivenöl. Für mich mischte sich das Aroma des Südens mit Stallgeruch – wann immer ich Zeit hatte, lief ich zu den Ställen und Zwingern, streichelte Kälbchen, die mir mit rauer Zunge die Hand abschleckten, spielte mit den Kätzchen oder sprach mit Zwingerhunden, die mich durch die Gitterstäbe neugierig ­ansahen.

Am Abend vor unserer Abreise begleitete ich den Bauern des Nachbarhofes – einen kleinen, sonnengebräunten Mann mit lustigen Augen, der stets Stroh an der Hose hatte – in den Stall, um dort die Kälbchen zu streicheln. Am Rand eines großen Heuhaufens entdeckte ich eine Hundemutter mit ihren Welpen. Es waren fünf Stück. Kleine, schwarz-weiße Körper, Minischnäuzchen, geschlossene Augen. Sie waren noch blind und hilflos, erst vor drei, vier Tagen auf die Welt gekommen, und schon sollten sie sich wieder von ihr verabschieden.

Der Bauer beugte sich zu mir herunter, während ich die Welpen streichelte. »Tja, morgen stecke ich sie in einen Sack, und dann knalle ich ihn gegen die Wand.« Als er das Entsetzen in meinen Augen sah, zuckte er mit den Schultern. »Glaub nicht, mir macht das Spaß, Junge. Aber wir können sie nicht durchfüttern. Wir haben genug Mäuler zu stopfen.« Was für mich undenkbar war, gehörte für ihn zum Alltag, wie die Heuernte oder das Stroh dreschen. Die Welpen würden nicht leiden, ihr Tod wäre schnell und schmerzlos, sagte er.

Noch während er redete, nahm ein Plan in meinem Kopf Gestalt an. Ich würde eines dieser kleinen Wesen retten. Ein Leben bewahren. Endlich einen Hund haben.

Nachts schlich ich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer, das ich mir mit meiner großen Schwester Martha teilte, lief die fünfhundert Meter zum Nachbarhof und drückte vorsichtig die Stalltür auf. Sekunden später fiel der Lichtkegel meiner Taschenlampe auf ein Knäuel, aus dem kleine Hundeschnauzen, Beine und Schwänzchen hervorlugten. Beherzt griff ich nach dem Welpen, der mir schon am Abend aufgefallen war. Ich verbarg ihn rasch in meinem Anorak und sprintete zurück ins Haus.

Wenige Stunden später war das Auto beladen, und jeder saß an seinem Platz: mein Vater und meine Mutter auf den Vordersitzen, mein Bruder Nathan, der Älteste von uns Geschwistern, Martha und ich auf der Rückbank. Außer meiner Schwester wusste niemand, dass wir einen blinden Passagier an Bord hatten, handtellergroß und weiß, mit schwarzen Ohren. Die Sommerferien waren vorbei, und kaum hatten wir die Autobahn erreicht, kam der Verkehr zum Stehen. Nun hieß es geduldig sein. Nichts tat sich, und irgendwann, bei Hitze und Stillstand, flog mein Geheimnis auf. Ich weiß nicht, ob mein Vater oder meine Mutter die Bewegung unter meinem Pulli im Rückspiegel wahrnahm, aber ich erinnere mich, dass mein kleines Versteckspiel nicht ohne Folgen blieb.

Sofort war Papa auf hundertachtzig.

»Keiner von uns hat Zeit für einen Hund, keiner kennt sich mit Tieren aus, wie konntest du nur so eigenmächtig, unverantwortlich …« et cetera pp. Mein Vater klang so wütend, dass ich fürchtete, er würde dem Wagen vor uns hinten auffahren. Während er auf mich einredete, musterte meine Mutter das kleine Leben in meinem Arm. Dieses Tier sah nicht aus, als würde es auch nur fünf Minuten länger in einem überhitzten Wagen überleben. Sie entschied, dass sein Leben an einem seidenen Faden hing und dass es sich lohnte, darum zu kämpfen.

»Das Tier braucht Wasser«, sagte sie entschieden. »Wasser. Und Milch.« Damit war die Diskussion beendet. Mein Vater schwieg und konzentrierte sich aufs Fahren. Wir hatten Familienzuwachs und basta. Während der nächsten vier Stunden waren wir damit beschäftigt, dem Welpen aus einem Ministrohhalm Milch einzuflößen. In Anbetracht der besonderen Umstände, die seine Aufnahme in die Familie begleiteten, schlug Martha vor, ihm den Namen bouchon (französisch für »Stau«) zu geben. Aus bouchon wurde tappo, das italienische Pendant, und irgendwann hörte unser kleiner Freund auf den Namen Jacky.

Jacky war vom Glück begünstigt. Er war dem Tod in der Scheune entkommen, er überlebte die Fahrt und auch die nächsten Wochen, Monate und Jahre.

Noch heute sprechen meine Mutter und ich gern über die erste Zeit mit ihm. Jacky wuchs zu einem wunderschönen kniehohen Setter mit seidigem Fell heran. Wenn jeder meiner Hunde eigen war, wenn jeden etwas anderes auszeichnete, dann war es in Jackys Fall Eitelkeit. Er liebte es, gebürstet zu werden, gestreichelt und gekost. Ich sehe ihn noch in der Sonne im Garten liegen, eine sanfte Brise streicht durch sein helles Fell, er hat die Pfötchen übereinandergeschlagen und schaut zufrieden zu uns herüber. Jacky badete in unserer Aufmerksamkeit wie eine kleine Diva. Dass sein Leben in einem Heuhaufen im Kuhstall begonnen hatte, war bald nur noch schwer vorstellbar.

Jacky war der erste Hund in meinem Leben – und für mich nahm die Geschichte mit ihm kein gutes Ende. Ein paar Jahre nachdem wir ihn bei uns aufgenommen hatten, unternahmen meine Eltern mit Martha und mir eine Kreuzfahrt. Mein Bruder Nathan blieb mit Jacky zu Hause. Als wir nach zwei Wochen zurückkamen, begrüßte uns Jacky nicht wie üblich an der Haustür. Ich trat an meinem Bruder vorbei, lief durch das leere Haus und rief mit wachsender Unruhe nach meinem Hund. Alles blieb still.

Wenig später gestand Nathan mit hochrotem Kopf, was passiert war: Ihn hatte die Verantwortung genervt, er litt unter einer Hundeallergie, und er behauptete, der Geruch des Hundefutters habe ihm Übelkeit bereitet. Dann war ihm ein verhängnisvoller Einfall gekommen. Er würde Jacky einfach vorübergehend – nur für die Zeit unserer Abwesenheit – in ein Tierheim bringen. Der Hund wäre versorgt, und er hätte seine Ruhe. Ich erinnere mich noch gut an seine Verlegenheit und an meine Wut – stumm vor Zorn stand ich vor meinem großen Bruder, die Hände in der Hose zu Fäusten geballt, und hasste ihn aus ganzem Herzen.

Natürlich fuhren wir sofort ins Tierheim. Wir wollten den Irrtum aufklären und Jacky nach Hause holen. Die Dame, die uns empfing, schüttelte verständnislos den Kopf.

»Hören Sie, Ihr Hund hat schon nach wenigen Tagen ein neues Zuhause gefunden. Kein Wunder, so ein hübsches, freundliches Tier.« Sie erklärte uns, dass seine neue Familie ihn nicht mehr hergeben würde – schon gar nicht an Leute, die so herzlos waren, einen Hund einfach in ein Tierheim abzuschieben, nur weil sie ein paar Wochen Ferien genießen ­wollten.

Mir brach dieser unsinnige Abschied das Herz. Monatelang konnte ich meinem großen Bruder nicht ins Gesicht sehen. Wahrscheinlich hätte ich ihn ohne Zögern ins Heim geschickt, zum Tausch gegen Jacky. Damals begriff ich, wie schmerzhaft es ist, sich von einem Tier zu trennen. Bis heute habe ich es nicht gelernt. Vielleicht gibt es dafür einfach kein Rezept. Ich weiß nur, dass das Glück, ein Tier zu haben, den Schmerz bei Weitem überwiegt.

Wolfsjunge

Jacky war fort und ich wuchs zu einem breitschultrigen Teenager heran. Plötzlich interessierte ich mich für anderes. Die Geheimnisse der Erwachsenen. Ich brannte vor Neugier auf das Leben. Verliebt war ich nicht. Verliebtsein bleibt bei den Zeugen Jehovas lange eine ziemlich abstrakte Angelegenheit. Scheue Blicke im Versammlungsraum, Briefe und Gedichte, bei Kerzenschein verfasst. Das hat etwas Romantisches und zugleich etwas Weltfernes, Entrücktes. Sex vor der Ehe gibt es nicht. Wenn du dich verlobst, bist du gewissermaßen noch ein Kind, du warst noch nie mit einer Frau zusammen, und die Lust ist dir so fremd wie ein unbekannter Kontinent. Du weißt, dass da etwas ist, aber du fürchtest dich auch vor der Entdeckung.

Natürlich hatte ich keinen Schimmer davon, dass es Männer gab, die Männer liebten, und Frauen, die mit ihren Freundinnen zusammenlebten. Da war nur dieses Drängen in der Brust, das ich nicht deuten konnte. Vielleicht ahnte ich bereits, dass draußen etwas auf mich wartete – weit draußen, jenseits der Mauern, die die Gemeinde errichtete.

In dieser ungewissen Zeit freundete ich mich wieder mit einem Tier an – und zwar mit einem Wolf. Kaum habe ich Wolf gesagt, höre ich förmlich, wie Walter sich räuspert. Wie so oft ist er die Stimme der Vernunft, und wie so oft muss ich ihm recht geben. Gut, Joyko war kein Wolf; er war ein Husky, aber er sah aus wie ein Wolf, und er verlor nie das Ungezähmte, Wilde, das mich so faszinierte.

Joykos Geschichte ist untrennbar mit der Geschichte eines Jungen verknüpft, mit dem ich damals befreundet war. Er hieß Orazio und lebte mit seiner Familie in unserer Nachbarschaft. Eva, seine Mutter, war eine fromme Frau. Sie war alleinerziehend und bat meinen Vater oft um Rat in Lebens- und Glaubensfragen. In ihrem Haus fühlte ich mich wohl. Ich mochte diese Familie, in der es keinen Vater gab, aber eine schneeweiße Huskyhündin und einen riesigen wilden Garten. Als Teenager zogen Orazio und ich zusammen um die Häuser. Er war ein hübscher, kräftiger Junge, der jeden Wettkampf gewann, den wir auf der Straße austrugen. Als seine Hündin einen Wurf Welpen hatte, lief er quer über die Straße und klingelte bei uns. »Mira hat Junge, Manu!«, rief er aufgebracht. »Die musst du dir ansehen!« Natürlich war ich Feuer und Flamme.

Keine Ahnung, wie ich Papa dazu brachte, Joyko bei uns aufzunehmen. Wichtig ist ohnehin nur, dass es mir gelang.

Mein Wolfshund und ich wurden unzertrennlich. Anders als Jacky blieb Joyko nie länger als nötig bei uns im Haus. Drinnen war es meinem grauen Riesen zu eng. Seine Welt war draußen, in der Kälte, im Freien, und nur wenn Vollmond war, machte er sich bemerkbar. Dann fing er markerschütternd an zu heulen. Ich erinnere mich, dass mein Vater irgendwann den Verdacht äußerte, dieser Hund habe etwas Diabolisches. Sicher ist, dass er einen Heidenrespekt vor Joyko hatte – und dass mir das gar nicht so schlecht gefiel. Welcher Halbwüchsige hätte nicht gerne einen Wolf an seiner Seite, ein stolzes Tier mit hellen blauen Augen, das auf niemand anderen hört. Joyko zu erziehen war eine Herausforderung. Mit ihm spürte ich ganz deutlich, was ich vorher schon geahnt hatte: Ich hatte eine besondere Verbindung zu Hunden. Eine Art Einverständnis, etwas, das weit über das tägliche Füttern und Gassigehen hinausging. Joyko wurde mein ständiger Begleiter, ich liebte es, ihm zuzusehen, und die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen, die Sicherheit seiner Instinkte verloren mit den Monaten und Jahren nicht im Mindesten an Reiz.

Im Winter war er wie ein Wesen aus Schnee und Eis, und im Sommer, wenn ihm in dichten Büscheln das Fell ausfiel, sah er aus, als hätte er mit einem Bären gekämpft. Joyko war mein Beschützer, mein Kompagnon, und an seiner Seite fühlte ich mich unverwundbar. Stundenlang streiften Orazio und ich mit den Hunden durch den Wald, und stets blieb Joyko in Blickweite. Wenn im Unterholz ein Reh aufsprang, reichte ein leises Wort, um ihn zurückzuhalten.

Er war es auch, der meine imaginären Freunde ablöste; wozu brauchte ich Hulk oder Fury, wenn mein Wolfshund in der Nähe war.