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Jürgen Klinsmann ist seit 2011 Trainer der US-Nationalmannschaft und hat mit seinen weitreichenden Reformen die Amerikaner zu Achtungserfolgen bei der WM 2014 als Zweiter der "Todesgruppe" nur knapp hinter Deutschland und dann zwei Jahre später zum Halbfinale der Copa América Centenario 2016 geführt. Klinsmann, der als Trainer 2004–2006 die deutsche Nationalmannschaft mit tiefgreifenden Innovationen auf einen neuen Erfolgskurs gebracht hat, verfolgt mit dem gleichen Hunger und der Wissbegier, die ihn während seiner groß gefeierten Karriere als Spieler in Stuttgart, Italien, Monaco und England angetrieben haben, unermüdlich sein ehrgeiziges Ziel, die USA als Fußballnation auf- und auszubauen. Dabei hat er schon historische Erfolge gefeiert – aber mit seinen mutigen und unbequemen Erneuerungen nicht nur Freunde gewonnen. Klinsmann war als Stürmer zweimal Fußballer des Jahres in Deutschland, einmal in England, Weltmeister mit der deutschen Nationalmannschaft 1990 sowie Kapitän der Europameister-Mannschaft 1996. Er nahm zwischen 1988 und 1990 an 108 Länderspielen teil und erzielte dabei 47 Tore.
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Erik Kirschbaum
Jürgen Klinsmann
Fußball ohne Grenzen
Anmerkungen des Autors
Teil I: Klinsmann – die frühen Jahre
Wie alles begann
Der Anfang: die deutsche Einstellung
Der Aufstieg
Stuttgarter Kickers
Schule oder Fußball?
Die „Jungfernfahrt“ nach Amerika
Teil II: Deutschland, Italien, Monaco und England
Der Durchbruch in der Bundesliega
Fünf Tore
Das Tor, das ihn bekannt machte
Das Debüt gegen Brasilien
Der Umzug nach Italien
Gewinn des Weltmeistertitels 1990
Stark in Schweden
Von Mailand nach Monaco
Die Weltmeisterschaft in den USA
Anderes Klima in London
Zurück in Deutschland
Gewinn der Europameisterschaft in England
Die letzte Weltmeisterschaft
Teil III: Die deutsche Revolution
Ein Job, den andere nicht anfassen wollten
Ein Grillabend mit Folgen
Keine Zeit zu verlieren
Der neue Stil
„Made in USA“ für Deutschland
Der Confed Cup
Kritik wird laut
Patriotismus amerikanischer Art
Zeit für etwas Neues
Zur richtigen Zeit am richtigen Ort
Teil IV: Bayern München
BayernMünchenausandererPerspektive
Teil V: Der Aufstieg des Fußballs in den USA
Eine Vision für den Fußball in Amerika
Die Lage der Dinge
Das Puzzle wird zusammengefügt
Die Intensität des Wettbewerbs
Der beste College-Fußball der Welt
Die Begeisterung für College-Sport
Landon Donovan
Erfahrungen in Europa
Warum gibt es in Europa so wenige amerikanische Fußballspieler?
Wie die amerikanischen Skifahrer dadurch gewannen, dass sie nach Europa gingen
Beschuss aus den eigenen Reihen
Amerikanische Anomalitäten
Zehn-Punkte-Plan
Nachwort
Glänzende Zukunft
Literaturhinweise
Bücher
Interviews mit dem Autor
Impressum
Manchmal lohnt es sich, gleichsam geduldig und hartnäckig zu sein. Seit fast zehn Jahren hegte ich den Wunsch, dieses Buch mit und über Jürgen Klinsmann zu schreiben, und ich hätte es ohne die viele Hilfe, die mir zuteil wurde, nicht geschafft. Ich möchte zuallererst Jürgen Klinsmann danken, dass er schließlich damit einverstanden war, mich diese Geschichte aufschreiben zu lassen, für seine Offenheit in unseren Gesprächen und für seine Hilfe bei den unbequemen Fragen. Ich danke ferner Warren Mersereau für all seine Fußballweisheiten und seine Unterstützung sowie Berti Vogts und Roland Eitel dafür, dass sie mir zahlreiche faszinierende Details verraten haben.
Dank gebührt außerdem Lindsey Vonn, Phil McNichol, Fabian Johnson, DeMarcus Beasley und Philipp Köster für ihre Zeit und Einblicke. Dank an Detlef Kessler und Axel Mütze vom AMA Verlag für ihre kräftige Unterstützung so wie auch an Michael Kammarman bei U.S. Soccer für seine Ideen. So sehr ich es auch mag, unter dem Druck einer Deadline zu arbeiten, war dieses die Frist, die mich bisher am meisten gefordert hat. Dank auch an Dr. Maike Kessler und Brigitte Windolph, die das Buch ins Deutsche gebracht haben. Und Dank auch an alle Freunde und Verwandte, die dieses Buch altruistisch gelesen und kritisiert haben und ganze Kapitel und Abschnitte infrage gestellt haben: Tom Wagner, Karolos Grohmann, Scott Reid, Iain Rogers, Mike Collett, Simon Evans, Joseph Nasr, David Crossland, Julie Kirschbaum, Martin Simon, Markus Büttner, Miriam Dieter, Ingrid Kirschbaum, Karin Scandella, Don Grant, Lisa Luera, Tom Heneghan, Michelle Martin, Steven Kirschbaum, Rick Ostrow, Nick Fellows, Dean Grant, Thomas Krumenacker, Herbert Rossler, Markus Lepper, John Blau, Alex Mleczko, René Wagner, Deyan Sabourian, Georg Merziger, Udo Grelzik, Ramona Böttcher, Rüdiger Jaeger, Orrey Dean Kennedy und Christian Eisenbarth.
Erik Kirschbaum
Berlin, August 2016
Gemeinsam mit Millionen amerikanischer Baby-Boomer wuchs ich, was Fußball betrifft, in den USA im Dunkeln auf. Zunächst leider ziemlich unfähig, die Attraktivität dieses Spiels zu schätzen und zu verstehen, in dem so wenige Tore fallen, das so anders und unamerikanisch schien, von dem es kaum Fernsehübertragungen gab, das so fremdländisch anmutete, blieben die Feinheiten und der Reiz des Fußballs über Jahrzehnte für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Ich konnte die Begeisterung für eine Sportart, bei der für so wenige Tore so viel herumgerannt wird, einfach nicht begreifen.
Wie Millionen uneingeweihter Amerikaner behielt ich die Scheuklappen auf, in unbekümmerter Unkenntnis der Finessen dieses Spiels, das dem Rest der Welt schon lange ganz einfach als „the beautiful game“ bekannt war. Weltmeisterschaftsspiele wurden in den USA bis 1982 nicht einmal im Fernsehen übertragen und erst seit der WM 1998 in Frankreich werden alle Spiele live übertragen, wie dies in den meisten Ländern der Welt schon lange der Fall war.
Demnach war es für mich als Teenager 1976, unterwegs zu meinem ersten Fußballspiel im Stadion – ein New-York-Cosmos-Play-off-Spiel –, ein Schock, als ein Freund versuchte mir klarzumachen, dass Fußball tatsächlich die weltweit beliebteste Sportart sei. Was? Niemals! Der Rest der Welt muss da komplett falschliegen, war unsere ethnozentrische Denkweise im Bus auf dem Weg zum Shea-Stadion, um das Spiel zu sehen. Ausländer waren vermutlich nicht in der Lage, die Feinheiten von amerikanischen Sportarten wie Fußball, Basketball und Baseball zu verstehen. Behaltet nur euren Fußball zusammen mit eurem seltsamen metrischen System! Abgesehen davon machte die Erkenntnis, dass die Welt den Fußball Sportarten wie American Football vorzog, das Spiel für mich umso rätselhafter. Wie bizarr, dass so viele Leute einen Sport spielten und verfolgten, in dem es nicht einmal erlaubt war, die Hände zu benutzen – die geschicktesten Körperteile!
Sogar viele Jahre später, nachdem ich 1982 zum ersten Mal in das fußballverrückte Deutschland umgezogen war, schenkte ich der Sportart kaum Beachtung. Stattdessen blieb ich bis weit nach Mitternacht europäischer Zeit auf, um verwackelte NFL- oder NBA-Übertragungen auf dem American Forces Network (AFN) zu verfolgen, ein Kanal ohne Werbeunterbrechungen, der für die amerikanischen Streitkräfte eingerichtet worden war, die in Westdeutschland stationiert waren. Ich spielte in der Freizeit Touch Football (sanftere Art des American Football, bei dem der Gegner berührt wird, statt zu Fall gebracht zu werden) mit anderen amerikanischen Expatriates, und wir waren die Exoten in den Parkanlagen, wo es überall sonst von spontanen Fußballspielen wimmelte. Und ich erinnere mich daran, wie ich in Diskussionen mit deutschen Freunden und Arbeitskollegen stur darauf beharrte, dass die National Football League (NFL), National Basketball League (NBA) und Major League Baseball (MLB) alle weit interessanter seien als die Fußball-Bundesliga in Westdeutschland und sogar als die Fußball-Weltmeisterschaft – aber all diese Argumente entstammten meiner Ignoranz und waren auf bedauerliche Weise engstirnig.
Die Offenbarung kam spät in meinem Leben, nämlich 2004, als ich schon weit über 40 war und insgesamt fast zwei Jahrzehnte in Deutschland, Österreich und England verbracht hatte. Es dämmerte mir plötzlich, warum Fußball in Ländern wie Deutschland und England so viel mehr als ein Sport ist und warum seine Beliebtheit Kulturen, Grenzen, Religion und Politik überschreitet. 2004 feierte Deutschland das 50-jährige Jubiläum seines ersten Weltmeistertitels von 1954 und der Deutschlandfunk sendete eine Wiederholung der Rundfunkübertragung des Endspiels von 1954, in dem Westdeutschland Ungarn schlug. Die Übertragung wurde komplett wiederholt, und zwar zu der gleichen Uhrzeit wie die Originalübertragung am 4. Juli 1954. Es war ein magisches Erlebnis für mich, ein halbes Jahrhundert zurückversetzt zu werden und die Kraft dieses wunderbaren Momentes deutscher Fußballgeschichte nachzufühlen – die Ursprünge der Liebesaffäre dieses Landes mit dem Fußball zu verstehen und plötzlich den tiefen Einfluss zu begreifen, den dieses Spiel auf die Kultur dieses Landes, seine Psyche, Identität und seine gesamte Nachkriegsgeschichte ausübt.
Zur selben Zeit 2004 war es für einen Journalisten verwunderlich, Deutschlands monatelange, mühsame Suche nach einem neuen Fußballtrainer zu verfolgen, nachdem das Team bei der Europameisterschaft unerwartet in der ersten Runde ausgeschieden war, ohne ein einziges seiner Gruppenspiele zu gewinnen. Zeitweise schien für die meisten Deutschen die Suche nach einem neuen Fußballtrainer sogar wichtiger zu sein als ein neuer Bundeskanzler, und alle anderen Nachrichten in Deutschland verschwanden für fast einen Monat von den Titelseiten, während der DFB sich wochenlang abmühte, einen Trainer zu finden, der unerschrocken genug war, diesen schwierigen Job anzunehmen – und das nur zwei Jahre, bevor Deutschland Gastgeber der WM 2006 sein würde. Was als ein Problem begann, wurde zur kompletten Farce. Aber letztendlich entwickelte sich die Krise zu einer fantastischen Gelegenheit zur Veränderung, als die vom DFB ins Leben gerufene „Trainerfindungskommision“ (TFK) das Zepter an Jürgen Klinsmann überreichte.
Es war faszinierend, Klinsmann dann von einem Platz in der ersten Reihe aus zu sehen: ein Ex-Spieler ohne Erfahrung als Trainer, wie er dem ehrwürdigen DFB selbstbewusst seine revolutionären Reformen mit seinen weitreichenden Konsequenzen vorstellte. Er vollbrachte bei der deutschen Nationalmannschaft wahre Wunder mit seinen Ideen, die er zum Teil in den USA gesammelt hatte. Dass Klinsmann es schaffte, aus fast 10.000 Kilometer Entfernung von seiner Wahlheimat Kalifornien aus den DFB zu modernisieren und quasi einer Generalüberholung zu unterziehen, macht die ganze Geschichte umso spannender. Es war, wie Klinsmann selbst gerne sagt, eine dieser unglaublichen Geschichten, die nur der Fußball schreibt.
Mit seiner universellen Popularität hat Fußball die Kraft, die Weltgeschichte zu beeinflussen. Ganze Länder feiern vereint in der Hoffnung auf einen Sieg oder kollabieren gemeinsam bei einer Niederlage. Es ist fesselnd, das Schicksal, Wohlbefinden und Glücksgefühl einer ganzen Nation davon abhängig zu sehen, wie sich ihre Nationalmannschaft bei einem großen Turnier wie einer Weltmeisterschaft oder einer Europameisterschaft anstellt.
Es gibt viele Zutaten, die diesen Sport besonders machen, und er ist zugegebenermaßen etwas für Kenner. Für einen Amerikaner, der wie ich ohne Fußball im Fernsehen zu sehen aufwuchs und stattdessen aktiv und passiv mit einer Fülle an anderen Sportarten großgeworden ist, kann es eine Weile dauern, bis man die Schnelligkeit, das Können, die Kunstfertigkeit, das Durchhaltevermögen, die Genialität und die unglaubliche Athletik wertschätzen kann, welche die weltbesten Fußballer aufzeigen. Football, Baseball und Basketball erscheinen mir inzwischen viel weniger interessant, ja fast langweilig mit all ihren ständigen Unterbrechungen und Wiederanfängen, trotz der hohen Torfrequenz. Ich habe schon lange aufgehört, in Europa bis spät in die Nacht aufzubleiben um irgendwelche amerikanischen Sportarten im Fernsehen zu verfolgen und kann mich nicht einmal dazu aufraffen, wenn ich in den Vereinigten Staaten bin. Stattdessen herrschen bei mir inzwischen umgekehrte Verhältnisse, was so weit geht, dass ich extra früh aufstehe, um den europäischen Fußball zu verfolgen, wenn ich in den Vereinigten Staaten bin und in Übersee die Ergebnisse nachschaue.
Im Fußball gibt es keine Werbeunterbrechungen und keine Verletzungsauszeiten – es ist wie im wahren Leben, wo es keine Möglichkeit gibt, die Uhr anzuhalten. Es ist ein Sport, dessen Spiele seit seiner Erfindung vor mehr als einem Jahrhundert 90 Minuten dauern, die lediglich durch eine kurze Halbzeitpause unterbrochen werden. Es gibt nur wenige Sportmomente, die so fesselnd sind wie die ununterbrochene und unaufhaltsame Dramatik der letzten zwei oder drei Minuten eines engen Fußballspiels, in dem ein Team verzweifelt darum kämpft, ein Tor zu schießen, um das Spiel zu gewinnen oder ein Unentschieden zu erzielen – oder alles daransetzt, dies zu verhindern. Und es gibt nichts, was an die Freude herankommt, die in fast jedem Stadion auf der ganzen Welt ausbricht, wenn eine Mannschaft in einem wichtigen Spiel endlich ein Tor schießt. „Über Fußball macht man sich oft lustig, weil so wenige Tore fallen, aber eben weil Tore so rar sind, ist die Freude darüber größer als in jedem anderen Sport“, argumentierten Simon Kuper und Stefan Szymanski in ihrem 2009 erschienenen Buch Soccernomics.
Fußball kann so starke Emotionen auslösen, dass dadurch sogar einmal ein Krieg zwischen Honduras und El Salvador wurde. Dieser sogenannte „Fußballkrieg“ ereignete sich 1969 und dauerte 100 Stunden. Seine Ursachen gingen über den Fußball hinaus, aber er entbrannte unglaublicherweise, nachdem El Salvador Honduras mit 2:1 Spielen in der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1970 geschlagen hatte. Bei der Weltmeisterschaft 1994 schied Kolumbien aus, nachdem die USA die Südamerikaner dadurch 2:1 besiegt hatten, dass Kolumbiens Verteidiger Andrés Escobar durch ein Eigentor den Siegestreffer für die Vereinigten Staaten erzielt hatte. Escobar hatte versucht, den Pass von Amerikas Mittelfeldspieler John Harkes abzufangen, dabei den Ball aber versehentlich ins eigene Tor gelenkt. Zehn Tage später wurde er mit sechs Schüssen ermordet – der Täter schrie beim Schießen „Tor!“.
Fußball ist ein Sport, den Menschen eines jeden Alters auf sechs Kontinenten spielen. Es vereint die Welt wie keine andere Sportart, besonders während der alle vier Jahre ausgetragenen Weltmeisterschaften. Interessanterweise ist es ein Spiel, mit dem sich die Vereinigten Staaten in der internationalen Arena, wo Fußball mit so viel Leidenschaft gespielt wird, aus verschiedensten Gründen immer noch in der Lernphase befinden. Aber es ist auch ein Sport, in welchem die USA eines Tages zu den Weltbesten gehören könnten; vorausgesetzt, die Amerikaner wären in der Lage, Fußball als etwas ganz anderes wertzuschätzen und zu akzeptieren, dass es ein Sport mit internationalen Standards und Abläufen ist und kein Spiel, dessen Regeln und Richtlinien die Vereinigten Staaten bestimmen können.
Die USA haben ein enormes bisher ungenutztes Potenzial, was den Fußball angeht. Außerdem sind sie in der glücklichen Lage, einen der weltbesten Trainer zu haben mit einem reichen Erfahrungsschatz sowohl in Europa als auch in den Vereinigten Staaten – Jürgen Klinsmann.
Er gewann als Stürmer für Deutschland die Weltmeisterschaft 1990, indem er drei Tore schoss, und ist einer der erfolgreichsten WM-Torschützen aller Zeiten mit elf Toren in drei Turnieren. Nach seinem Rücktritt als Spieler zog er 1998 in die USA und erreichte später als Trainer der deutschen Nationalmannschaft den dritten Platz bei der WM 2006, während sein Hauptwohnsitz in Kalifornien blieb und er nach Deutschland pendelte: 42 Langstreckenflüge im Laufe jener zwei Jahre. 2011 wurde er als Trainer der amerikanischen Nationalmannschaft engagiert – nach einer rekordverdächtigen Anwerbephase, die mit vielem Hin und Her insgesamt fünf Jahre dauerte. Er brachte durchgreifende, teils umstrittene Reformen auf den Weg, die der amerikanischen Nationalmannschaft 2013 zu einem Rekord-Erfolgsjahr verhalfen. Die Mannschaft hatte zwölf Siege in Folge, qualifizierte sich zum siebten Mal für die Weltmeisterschaft und übertraf mit dem Erreichen der Runde der letzten 16 Mannschaften alle Erwartungen, nachdem das Team in der sogenannten „Todesgruppe“, der schwierigsten Vierergruppe des Turniers, Zweiter hinter Deutschland geworden war. Hierfür wurde Jürgen Klinsmann von der FIFA als einer von zehn Trainern für die Wahl zum weltbesten Trainer des Jahres nominiert. Klinsmann ist ein furchtloser, reformorientierter Trainer und technischer Leiter mit unerschütterlichen Überzeugungen, der innerhalb des wichtigen westeuropäischen Fußballnetzwerkes, Wiege des Sports, dessen Ursprungsländer bisher die Weltmeisterschaften dominierten, über gute Verbindungen verfügt. Klinsmann weiß, was nötig ist, um eine der weltbesten Fußballnationen zu formen, und die Herausforderungen dieser langen Reise faszinieren ihn.
Fußball ist anders. Seine Regeln, Bräuche, Traditionen und sein Erbe unterscheiden sich komplett von anderen amerikanischen Sportarten, obwohl es in den 20er-Jahren vor dem Zusammenbruch der Aktienmärkte und der folgenden Weltwirtschaftskrise eine bemerkenswert „goldene Ära“ gab, als Fußball, dank der hohen Anzahl neu angekommener Immigranten aus Europa, in einigen Gegenden der USA für eine kurze Zeit tatsächlich populärer als Football war. Aber rivalisierende Ligen und die steigende Popularität des College Footballs trugen zusammen mit dem Börsencrash zu einem frühen Niedergang des Profifußballs bei.
Dennoch ist Fußball kein Spiel, das leicht in das amerikanische Sportraster hineinpasst mit seiner Vorliebe für Fernseh-Auszeiten, mit Ausscheidungsspielen nach der Saison (post-season play-offs), mit der Parität der Ligen und amerikanischer Vorherrschaft. Es ist ein Spiel der Geduld und des Genusses, sowohl subtil als auch spektakulär. Es ist ein Spiel, in dem die Spieler auf dem Feld den Großteil der Entscheidungen treffen. Es ist ein Spiel mit etwa 400 oder mehr Pässen pro Mannschaft und eines, in dem der einzelne Spieler den Ball im Durchschnitt nur ungefähr 50 Sekunden hat, was bedeutet, dass er die verbleibenden 89 Minuten damit verbringt, zu laufen und zu versuchen, den Ball in die richtige Position zu bringen, um ein Tor zu schießen oder zu verhindern. Fußballspiele können durch Entscheidungen gedreht werden, die im Bruchteil einer Sekunde gefällt werden. So kann sogar eine überlegene Mannschaft innerhalb eines winzigen Moments von einem unterlegenen Gegner, einem Außenseiter, geschlagen werden, wenn er es schafft, einen „Glückstreffer“ zu erzielen, so wie ein deklassierter Boxer, der allen Wetten zum Trotz mit einem „lucky punch“ einen Knock-out-Sieg erlangt. Und es ist ein ungewöhnlich unvorhersehbares Spiel, in dem unterlegene Mannschaften überlegene Teams durch Angriffslust, Willenskraft und den wortwörtlichen „Schuss ins Blaue hinein“ so aus dem Konzept bringen können, dass der hohe Favorit letztlich als Verlierer vom Platz geht.
Auch über Fußball zu schreiben ist anders als bei anderen Sportarten. Wenn 50 Sportjournalisten zusammen auf der Pressetribüne sitzen, um über ein Fußballspiel zu berichten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass hinterher 50 verschiedene Interpretationen des Spielverlaufs dabei herauskommen. Fußball ist wie eine weiße Leinwand mit 22 Künstlern auf dem Feld, die sich abrackern, nachdenken, sprinten, angreifen und kämpfen und dabei ein Meisterwerk erschaffen mit Spielzügen und Bewegungen, die niemals wiederholt werden können. Einen ebenso wichtigen Bestandteil der Fußballkultur bilden die endlosen Diskussionen nach den Spielen darüber, wer gut oder wer schlecht gespielt hat, wer das Spiel für seine Mannschaft entschieden oder ruiniert hat, welches Team verdient hat zu gewinnen oder nicht, war es ein Tor oder war es keins? Fußballspiele lassen viel mehr Raum für Interpretationen als andere gängige amerikanische Sportarten, weil es so wenig messbare „Statistiken“ oder „Resultate“ aus den 90 Minuten gibt, abgesehen natürlich von den erzielten Toren, Eckstößen, Gelben oder Roten Karten oder gelaufenen Kilometern. Es gibt außerdem nur drei Schiedsrichter, um die 22 Spieler zu beaufsichtigen, was noch mehr Raum für Irrtümer, Interpretationen und Diskussionen schafft. Viele Deutsche beispielweise beharren heute noch darauf, dass Geoff Hursts Tor für England, in der Nachspielzeit des Weltmeisterschaftsfinales im Londoner Wembley-Stadion im Jahre 1966, also vor einem halben Jahrhundert, nicht über der Linie war und daher nicht hätte gezählt werden dürfen. Es ging als neues Wort sogar in die deutsche Sprache ein, indem das „Wembleytor“ zum Synonym für unverdiente oder unrechtmäßige Gewinne wurde.
Es mag sein, dass es in jedem Spiel besondere Wendepunkte gibt wie bei anderen Sportarten, auf die sich Sportjournalisten fokussieren. Aber Fußball ist weniger die Summe der Ergebnisse aus jedem Spiel, wie dies beim Football, Baseball oder Basketball der Fall ist. Stattdessen ist es ein Spiel voller Überraschungen, Impulsänderungen, blitzartiger Gegenangriffe, brillanter Rettungsaktionen von den Außenseitern, die plötzlich „entgegen dem Spielverlauf“ ein fabelhaftes Gegentor schießen, ausgeführt von einer Mannschaft, die zuvor komplett an die Wand gespielt schien. Und dann sind da die wirklich magischen Spiele, in denen beide Mannschaften plötzlich geradezu über sich hinauszuwachsen scheinen und die Menge mit kreativen Angriffen und nervenkitzelnden Torchancen oder Toren mitreißen.
Manchmal kann man geradezu fühlen, wie sich die Kraft der jubelnden Zuschauermenge von den Rängen hinunter auf das Spielfeld übertragt, ein Energiestoß, der die Spieler anzutreiben scheint, schneller zu rennen und alles zu geben.
Egal ob man auf dem Flughafen in Athen, in einem Bus in Berlin, in einem Café in Kairo, in einer Fan-Bar in Florenz, in einem Hotel in Helsinki, auf einem Markt in Moskau, in einem Nachtclub in Nigeria, in einem Pub in Pretoria, in einem Restaurant in Rio, in einem Taxi in Tokyo, in einer Sauna in Schweden oder sogar in einem Zoo in Zaire sitzt – die Chancen stehen gut, dass man es schafft, mit egal wem ins Gespräch zu kommen, wenn man anfängt, von Fußball zu sprechen, von dem letzten Champions-League-Spiel, der letzten Weltmeisterschaft oder der nächsten Weltmeisterschaftsqualifikation.
Fußball ist das Spiel, das die Welt mehr zusammenführt als die Vereinten Nationen. „Große Fußballereignisse liefern etwas von dem Gemeinsinn, für den früher Gewerkschaften, Kirchen und royale Hochzeiten zuständig waren“, schrieben Simon Kuper und Stefan Szymanski in Soccernomics. Wichtige Fußballspiele haben in fast allen europäischen Ländern diese einende Rolle ... Es gibt nichts, was eine Gesellschaft in der Weise zusammenschweißt wie eine Weltmeisterschaft, wenn die eigene Mannschaft dabei ist. Ausnahmsweise schaut fast jeder im Land plötzlich dasselbe Fernsehprogramm und spricht am nächsten Tag bei der Arbeit darüber.
Bezeichnenderweise nehmen die amerikanischen Soldaten Fußbälle, keine Football- oder Baseballbälle, wenn sie in der Nähe ihrer Militärstationen im Irak, in Afghanistan oder Lateinamerika versuchen, Kontakt zu den einheimischen Kindern aufzubauen. Mehr als Englisch ist Fußball die Lingua franca des 21. Jahrhunderts. Es ist das Spiel, das die Welt spielt. Warum ein Buch über Jürgen Klinsmann? Ich hatte das Glück, Jürgen Klinsmann während der zwei Jahre bis zur Weltmeisterschaft 2006 kennenzulernen, in denen er Trainer der deutschen Nationalmannschaft war.
Anfangs war ich nur einer der vielen nervigen Journalisten, die bei den Pressekonferenzen in Deutschland unbequeme Fragen stellten. Zu meiner angenehmen Überraschung beantwortete Klinsmann die Fragen mit klaren, ehrlichen und intelligenten Antworten, anstatt mit den üblichen Klischees oder „cleveren“ Ausweichmanövern zu reagieren. So etwas hatte ich noch nie zuvor erlebt. Ich hatte während dieser zwei Jahre auch mehrere Gelegenheiten, Klinsmann zu interviewen, zum Teil in seiner Wahlheimat in Südkalifornien, wo er jeden Monat einige Wochen zwischen den Spielen und Trainingseinheiten in Deutschland verbrachte. Ich lernte ihn als interessanten, unkomplizierten, unprätentiösen, ehrlichen und unglaublich sympathischen Gesprächspartner kennen. Als Journalist bewundere ich seit jeher Persönlichkeiten, die keine Angst haben, angestammte Weisheiten beziehungsweise den Status quo anzuzweifeln und Klinsmann war einer der mutigsten, der sich ohne Angst getraut hat, das System aufzurütteln und Dinge ins Rollen zu bringen. Wir setzten unsere Gespräche fort, nachdem Klinsmann aufgehört hatte, die deutsche Nationalmannschaft zu trainieren. Wir trafen uns teils in Deutschland, teils in den USA und die Gespräche drehten sich nicht notwendigerweise nur um Fußball, aber egal worüber wir uns unterhielten, waren sie gleichermaßen aufschlussreich, inspirierend und zutiefst erfreulich.
Die Interviews mit Jürgen Klinsmann zählen zu den denkwürdigsten, die ich in 40 Berufsjahren als Journalist hatte. Er war nicht nur enthusiastisch bezüglich seines Jobs und seiner Ziele, sondern sprühte auch vor Ideen. Er war neugierig und diese Neugierde beschränkte sich nicht nur auf den Sport. Ein paar Mal freute er sich zwar, mich zu treffen, wollte aber eigentlich kein Interview geben. Manchmal brachte ich meine Tochter oder meinen Sohn mit; einmal war auch seine Tochter dabei. Manchmal unterhielten wir uns auf Deutsch, manchmal auf Englisch. Dabei waren meine Deutschkenntnisse ähnlich seinen Englischkenntnissen: eigentlich ganz gut, aber mit unüberhörbarem Akzent. Manchmal stellte er mir fast genauso viele Fragen darüber, woran ich gerade arbeite und wie es mir ging, wie ich ihm stellte. Oft sprachen wir über die Vor- und Nachteile des Lebens in den USA im Vergleich zu Deutschland. Wir haben uns auch über Sprachen unterhalten und darüber, dass dabei war Spanisch zu lernen, unter anderem, um die vielen spanischsprachigen Fernsehübertragungen von Fußballspielen in den USA zu verstehen und um mit den aus Lateinamerika stammenden Spielern besser kommunizieren zu können; aber auch ganz einfach, weil er gern Fremdsprachen lernt. Gelegentlich unterhielten wir uns auch darüber, was er bei seinen mehrwöchigen Hospitanzen bei den Los Angeles Lakers oder dem USC-Football-Team gerade gelernt hatte. Jürgen Klinsmann zeichnet eine unstillbare Neugierde aus, und obwohl er zu der Zeit nicht als Trainer tätig war, löste es bei mir den Wunsch aus, seine Ideen und seine Art, den Status quo infrage zu stellen und immer nach einem Weg zu suchen, wie man die Dinge noch besser machen kann, in Ruhe und in der Tiefe in einem Buch nachlesen zu können. Aber ich musste feststellen, dass es ein solches Buch über Klinsmann nicht gab.
Also fragte ich ihn vor etwa acht Jahren, warum es keine englischsprachigen Biografien oder Bücher über seine Ideen gäbe und ob er sich vorstellen könne, dass ich ein Buch über sein Leben und seine Trainingsphilosophie schreiben würde. Ich fand den Gedanken spannend, Klinsmanns Wissen, Neugier und Tatkraft sowie seine Ideen bezüglich Fußball und Training im Allgemeinen auch in den USA einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Aber Klinsmanns Antwort lautete immer höflich, aber bestimmt: „Nein danke!“
Er war einfach nicht interessiert zurückzuschauen. Klinsmann genoss es sichtlich, in Kalifornien in relativer Anonymität leben zu können. Er genoss diese Freiheit und zeigt keine Spur von Eitelkeit. Über sich selbst zu sprechen, bereitet ihm irgendwie ein gewisses Unbehagen. Klinsmann wechselt in diesem Fall entweder zügig das Thema oder nutzt statt des „Ichs“ das unpersönliche „Man“. Eine rückblickende Biografie war das Allerletzte, was ihm wichtig war. Womöglich könnte irgendeine Zeitung sogar auf die Idee kommen, einzelne Aussagen aus dem Zusammenhang zu nehmen, um sie für eine reißerische Schlagzeile zu missbrauchen. Jürgen Klinsmann hatte keine alten Rechnungen zu begleichen und war mit sich im Reinen. Er sah überhaupt keine Notwendigkeit, in die Vergangenheit zurückzublicken. Das war eben nicht sein Ding.
Kurz nach der Weltmeisterschaft 2014, inmitten einer weiteren spannenden Diskussion darüber, wie unterschiedlich Amerikaner beziehungsweise besser und Deutsche die Begriffe Geduld und „Langzeitperspektive“ betrachten, wagte ich einen letzten Versuch, ihn doch noch umzustimmen: „Hey Jürgen, ich bin ein Amerikaner, der sein halbes Leben in Deutschland verbracht hat und du bist ein Deutscher, der bereits fast die Hälfte seines Lebens in den USA gelebt hat. Wer also könnte besser als ich in einem Buch für die Amerikaner darüber schreiben, woher du kommst und was du in den USA mit dem Fußball verwirklichen möchtest?“ Er lächelte und antwortete dieses Mal plötzlich anders: „Okay, ich denke mal darüber nach.“ Vielleicht gefiel ihm die Hartnäckigkeit? Oder dachte er, dass jemand, der die Dinge von außen betrachtet, vielleicht doch interessante Perspektiven aufzeigen könnte? Oder wollte er nur endlich seine Ruhe vor mir haben? Einige Wochen später rief er mich an und sagte mir, dass er auf keinen Fall eine Autobiografie wolle, dass er aber nichts dagegen habe, wenn ich unsere Gespräche und unsere Interviews in Form eines Buches veröffentliche.
Zu unseren frühmorgendlichen Treffen, oft bei bestem Kaffee in der Sonne Kaliforniens oder vor Freundschaftsspielen der amerikanischen Nationalmannschaft in Europa, hatte ich immer eine Menge Fragen im Gepäck. Manchmal schafften wir es nur, ein oder zwei oder drei dieser Fragen zu besprechen, weil seine Begeisterung über Fußball an sich und die Rolle des Fußballs in den Vereinigten Staaten derart mit ihm „durchging“, dass wir stundenlang nur darüber sprachen. Jürgen Klinsmann beantwortete geduldig Fragen zu seiner Vergangenheit, aber war eindeutig mehr an der Zukunft interessiert. Ich hatte mich immer gefragt, warum er in früheren Interviews Fragen zu seiner Vergangenheit als Spieler nur ungern beantwortet hatte. Jetzt verstand ich ihn: „Den Spieler Klinsmann gibt es nicht mehr“, sagte er.
Es wurde in unseren Gesprächen klar, dass Jürgen Klinsmann als Trainer der amerikanischen Nationalmannschaft nur ein Ziel hat und zwar, das Beste aus der Mannschaft herauszuholen und seiner so lieb gewonnenen Wahlheimat eines Tages vielleicht sogar zum Weltmeisterschaftstitel zu verhelfen. Die Erfolgsformel ist dabei der ähnlich, mit der er der deutschen Nationalmannschaft von 2004–2006 so sehr geholfen hat, aus der Versenkung heraus wieder an die Weltspitze zu kommen und mit deren Hilfe er den FC Bayern München zu einer neuen Stärke in der Champions League führte. Dabei ist sich Klinsmann bewusst, dass Wunschdenken und Wünsche allein nicht ausreichen. Herausforderungen müssen gemeistert werden und auch unbequeme Wahrheiten zur Sprache kommen.
Jürgen Klinsmann war ein achtjähriges blondes Energiebündel, als er das erste Mal in einem Verein Fußball spielte. Das war 1973, und wie die meisten Jungs in seinem Alter nutzte er zuvor schon seit frühester Kindheit jede Gelegenheit, um mit seinen Kumpels Fußball zu spielen: auf der Straße, in Parks und in den Pausen auf dem Schulhof.
Bevor Jürgen Klinsmann mit acht Jahren erstmals in einer Mannschaft spielte, mit Regeln, Trikots und einem Trainer, hatte er es ein Jahr zuvor mit Turnen versucht, wozu ihn sein Vater animiert hatte. Siegfried Klinsmann, zu der Zeit 40 Jahre alt und von Beruf Bäckermeister, hatte in seiner Jugend geturnt und war in seiner Freizeit Trainer im örtlichen Turnverein, dem TB Gingen. Er dachte, dass Turnen für seinen Sohn eine gute Herausforderung sein könne und ein Ventil, einen Teil von Jürgens reichlich vorhandener Energie abzubauen. Also nahm er seinen zweitältesten Sohn mit in den Turnverein, als dieser sieben war. Aber das Bodenturnen, der Grätschsprung und der Balancierbalken hinterließen bei Jürgen keinen bleibenden Eindruck. Es fehlten ihm Spannung und „Action“, wie er sich erinnert. Ein wenig später nahmen ihn seine Kumpels mit zum Handballtraining. Aber auch das konnte ihn nicht nachhaltig überzeugen.
Im Winter 1973, einige Monate nachdem Deutschland 1972 die erste von drei Europameisterschaften gewonnen hatte, nahmen Freunde ihn mit zum Training der Fußballmannschaft des Turnerbund Gingen. Er war damals achteinhalb Jahre alt und liebte das Spiel in seiner organisierten Form sofort genauso, wie er zuvor das Kicken mit Freunden geliebt hatte. Die Schnelligkeit, Bewegung, die Energie des Sports faszinierten ihn und ganz besonders das Freudengefühl, wenn es ihm gelang, ein Tor zu schießen.
„Ich habe es einfach geliebt, viel zu laufen, alle Energie auf dem Feld herauslassen zu können, und ich liebte das großartige Gefühl danach“, erzählt Klinsmann in der Erinnerung an seine ersten Trainingseinheiten im Verein. „Fußball war ein so wunderbares Ventil für all die Energie, die ich hatte. Ich war besessen davon, zu rennen und zu spielen. Ich hatte so viel Energie, dass ich stundenlang Fußball spielen konnte. Es machte mir einfach großen Spaß und ich liebte es von Anfang an. Es gab mir ein richtig gutes Gefühl.“
Er wurde Mitglied im Fußballverein und trug die rot-weißen Trikots des TB Gingen. Vergleicht man die Hierarchie des Fußballs mit einer Pyramide, so befand sich der TB Gingen ganz am Fuße derselben, auf der Eingangsstufe des organisierten Fußballs. Aber für Jürgen führte der Weg von der breiten Pyramidenbasis in den darauffolgenden Jahren stetig nach oben bis zur Spitze. Tausende Jungen in seinem Alter begannen 1973 in einem Verein Fußball zu spielen, aber nur wenige erreichten die obere Stufe der Pyramide, die Bundesliga, und noch weniger schafften es wie er bis zur Spitze, in die Nationalmannschaft.
In den USA fehlen diese klaren Strukturen in der Fußballpyramide noch immer, und es ist eine nicht unwichtige Sache, die Klinsmann zu ändern versucht, seit er 2011 Trainer und 2013 Technischer Direktor der amerikanischen Nationalmannschaft wurde.
Als Kind hatte Klinsmann keine Vorstellung davon, wie weit er es im Fußball bringen würde. Er liebte es einfach, Fußball zu spielen und gemeinsam mit seinen Mannschaftskameraden und Freunden seine Fähigkeiten weiterzuentwickeln. Sein Ziel damals war es, in die erste Mannschaft des TB Gingen zu kommen, einem Verein, der 1870 als Turnverein gegründet wurde. Im Laufe der Zeit kamen eine Handball-, eine Leichtathletik- und eine Fußballabteilung dazu. Viele Turnvereine wurden in Deutschland als Teil der nationalen Bewegung des 19. Jahrhunderts gegründet, lange bevor im Jahre 1874 der Fußball aus England importiert wurde. Aus diesem Grund tragen auch heute noch viele deutsche Spitzenclubs den Zusatz „Turnen“ im Vereinsnamen.
Jürgen Klinsmann genoss es, in einer Mannschaft Fußball zu spielen und merkte, wie sich seine Fähigkeiten durch das stundenlange Üben im Verein und zu Hause rasch und wie von selbst verbesserten. Im Gegensatz zu den USA gibt es in Deutschland keine Sportclubs als Teil der schulischen Aktivitäten, so dass die Kinder und Jugendlichen für diese Wettkampfaktivitäten Mitglied in einem Sportverein werden müssen. Klinsmanns tiefe langjährige Verbundenheit mit dem Fußballsport geht also ganz klar auf seine Zeit im TB Gingen zurück.
Es gibt zwischen den Städten in den USA und in Deutschland viele kleinere und größere kulturelle Unterschiede. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass in einem Dorf wie Gingen, einer verschlafenen 4.000-Seelen-Ortschaft am Ufer des Flusses Fils, die vor mehr als 1.000 Jahren gegründet wurde, Zeit und Fortschritt mit einem anderen Maßstab gemessen werden als in den USA. Wenn die Bewohner eines Städtchens mit mehr als 1.000-jähriger Geschichte von einer Langzeitperspektive sprechen, so meinen sie damit nicht Wochen oder Monate. Geduld ist ein Bestandteil ihres Lebens. Wenn Jürgen Klinsmann von einer Langzeitperspektive für den US-amerikanischen Fußball spricht, dann tut er dies vor dem Hintergrund seiner deutschen Wurzeln und denkt dabei in Zeiträumen von Jahren oder Dekaden oder eventuell sogar Generationen anstatt von Monaten oder ein bis zwei Jahren.
Die Wochenend-Spiele des TB Gingen zogen dutzende von Zuschauern aus dem Ort an und zwar nicht nur Eltern und Freunde, sondern zahlreiche Bürger, die Freude daran fanden, den Kindern bei der Ausübung des beliebtesten deutschen Sports zuzuschauen. Klinsmanns Vater kam regelmäßig auf den Platz und schaute, wenn irgend möglich, bei jedem Spiel zu, nachdem die Arbeit in der Bäckerei für den Tag getan war.
Der organisierte Fußball ist bekanntermaßen eine ernsthafte Angelegenheit in ganz Deutschland. Der DFB, der Deutsche Fußball Bund, ist mit 6,9 Millionen Mitgliedern die größte Organisation dieser Art weltweit. Als sich Klinsmann beim TB Gingen einschrieb, war er damit eines von 112.858 Kindern in der Bundesrepublik Deutschland, die 1973 Mitglied eines Fußballvereins wurden. Die Mitgliedsgebühren waren mit ungefähr 30 DM im Jahr bezahlbar, so wie sie es auch heute noch sind. Trainer waren damals wie heute meist ehemalige Vereinsspieler, welche die Traineraufgabe in der Regel ehrenamtlich übernahmen. Dies steht in einem weiteren Gegensatz zur Situation in den Vereinigten Staaten, wo Trainer meistens hauptamtlich tätig sind, dafür aber nicht unbedingt über eigene Erfahrungen als Spieler verfügen. Dadurch, dass Fußball in Deutschland seit jeher eine relativ preiswerte Sportart war, war und ist er bei Kindern aus allen gesellschaftlichen Schichten beliebt, vor allem in Familien mit eingeschränkten finanziellen Mitteln. „Wir kamen alle aus Familien mit einem bescheidenen Einkommen und haben uns durchgekämpft“, erzählt Klinsmann. „International betrachtet, ist Fußball ein Sport, den hauptsächlich Kinder aus Familien der Unter- und Mittelschicht ausüben. In den USA ist dies anders.“
Es gab 1973 insgesamt 98.911 Mannschaften in den 15.980 Clubs, die damals beim DFB registriert waren. Von 1972 bis 1973, dem Jahr, in dem Klinsmann Vereinsmitglied wurde, stieg die Mitgliederzahl der beim DFB eingeschriebenen Spieler von 3.084.901 auf 3.197.759 an. In den nächsten vier Jahrzehnten verdoppelte der DFB seine Mitgliederzahl auf 6.889.115 im Jahr 2015. Anders ausgedrückt, spielten 2015 in Deutschland mehr Menschen Fußball, als Dänemark, Finnland oder Jordanien Einwohner haben.
Die Punktspiele der Kinder und Jugendlichen waren in vielen kleinen und größeren Städten in ganz Deutschland wichtige Ereignisse, die nicht nur den Kindern ein Ventil boten, sondern gleichzeitig eine wichtige gesellschaftliche Funktion in den Gemeinden einnahmen, die sportbegeisterte Kinder und Jugendliche mit ihren Eltern und innerhalb der Gemeinden verbinden. Die Zahl der neuen Vereinsmitglieder steigt normalerweise in den auf einen EM- oder WM-Sieg der deutschen Nationalmannschaft folgenden Jahren signifikant an, nachdem praktisch die gesamte Nation das Turnier im Fernsehen verfolgt hat mit Rekordeinschaltquoten von bis zu 86 %. Das Jahr 1973, ein Jahr, nachdem die Bundesrepublik die Sowjetunion mit 3:0 geschlagen hat und damit bei der EM in Belgien erstmals den Europameistertitel gewann, stellte hierbei keine Ausnahme dar. Tausende Kinder im ganzen Land wurden wie Klinsmann dadurch motiviert, Mitglied in einem Fußballverein zu werden.
Die klassische amerikanische „soccer mom“ gibt es in Deutschland in dieser Form nicht und erfordert in Deutschland und in vielen anderen Ländern der Welt großen Erklärungsbedarf. Denn Fußball ist in Deutschland ein Sport, der Menschen aller gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen gleichermaßen begeistert und ist nicht auf die Hausfrauen aus den besser gestellten Vororten beschränkt, die ihre Kinder zu diversen außerschulischen Aktivitäten kutschieren. In Deutschland schauen bei den Spielen Mütter, Väter, Geschwister, Tanten und Onkel, Oma und Opa zu und fahren und begleiten ihre Kinder, Geschwister oder andere Familienmitglieder freudig zum Training und zu Punktspielen. „Als Kind wird man von seiner Umgebung geprägt, und meine Umgebung war halt ein kleiner Verein in meinem Heimatort, der verschiedene Sportarten anbot – Turnen, Handball und Fußball“, erzählt Klinsmann, der in den USA versucht, eine ähnlich breitbasige Struktur für den Fußballsport aufzubauen, die Spieler aus den Jugendmannschaften bis ganz an die Spitze führt. „Meine Familie war dem Turnen verbunden, daher probierte man das zuerst aus. Dann nimmt ein Freund dich mit zum Handballtraining, und du versuchst es damit. Der nächste Freund nimmt dich dann zum Fußballtraining mit, und dort stellst du fest, dass dir das am meisten Spaß macht. So funktionierte es damals in Deutschland. Das ist das Schöne an dem dortigen Vereinssystem. Du kannst ganz einfach verschiedene Dinge ausprobieren, um herauszufinden, was das Richtige für dich ist. Es hängt außerdem viel davon ab, was deine besten Freunde machen und das wird in Deutschland in 90 % der Fälle Fußball sein.“
Klinsmann wurde am 30. Juli 1964 in Göppingen geboren, in der Nähe von Gingen. Dieses Jahr markierte den Gipfel des Babybooms in Deutschland mit der Rekordgeburtenrate von 1.357.304 Kindern in West- und Ostdeutschland zusammengenommen. Niemals davor oder danach wurden in Deutschland in einem einzigen Jahr so viele Kinder geboren.
Klinsmann war von den Wettbewerbsbedingungen innerhalb der Jugendmannschaft des TB Gingen fasziniert und gleichzeitig durch seine sich ständig verbessernden Leistungen angespornt. Schon im zarten Alter von acht Jahren war er hoch motiviert und besaß den unstillbaren Wunsch, sich zu verbessern. Er wollte der beste Spieler auf dem Platz sein und in den Spielen so viel wie möglich eingesetzt werden. Natürlich wollte er außerdem gewinnen und möglichst viele Tore schießen – ein Ehrgeiz, der ihn das nächste Vierteljahrhundert über antreiben und bis ganz nach oben bringen sollte.
Klinsmann vermeidet es im Großen und Ganzen, in der Vergangenheit zu schwelgen. Dennoch huscht ein Lächeln über sein Gesicht, wenn er an seine Fußballbegeisterung als Kind zurückdenkt. „In dieser kleinen Gemeinschaft war man einfach davon besessen, Fußball zu spielen. Also machst du das mit deinen Kumpels auf der Straße, und irgendwann probierst du es im örtlichen Fußballverein. So habe ich angefangen. Damals war acht Jahre in etwa das früheste Einstiegsalter, um im Verein zu spielen. Für jüngere Kinder gab es damals noch keine Strukturen. Das hat sich heute komplett geändert. Heutzutage fangen viele Kinder bereits mit fünf Jahren an, im Verein zu spielen!“
Fußball war ein Jahrzehnt vor Klinsmanns Geburt ein wichtiger Baustein der nationalen Identität geworden. Dies resultierte zum Teil aus der Euphorie, die ausbrach, als das Land 1954 durch den Sieg über Ungarn die Weltmeisterschaft gewann und aus den Nachwirkungen dieses historischen Triumphes. Der unerwartete Erfolg des Teams der jungen Bundesrepublik war einer der auslösenden Faktoren des deutschen „Wirtschaftswunders“ und der unerwartete Aufstieg aus den Ruinen des 2. Weltkrieges. Der starke Einfluss, den der Fußball auf die deutsche Psyche ausübte, kann zu einem erheblichen Anteil auf diesen legendären Weltmeisterschaftssieg zurückgeführt werden. Der Gewinn der Weltmeisterschaft nach und in so schwierigen Zeiten leistete einen wichtigen Beitrag zu einer sozialen, kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Kettenreaktion, von der Volkswirtschaftler behaupten, dass sie geholfen habe, das legendäre Wirtschaftswunder, den Boom der 50er-Jahre auszulösen. Nach einem Jahrzehnt der Nachkriegsdepression und Verzweiflung hellte sich die Stimmung schlagartig auf. Der Fußball half mehr als alles andere, das Land aus seiner Nachkriegslethargie zu befreien. Der Titelgewinn 1954 verbesserte die Grundstimmung und half Millionen von Deutschen, sich nach Jahrzehnten der Ächtung und Isolation als Folge der Nazi-Vergangenheit wieder als Teil der Weltgemeinschaft fühlen zu können. Verständlicherweise war und ist Fußball seitdem mehr als nur ein Spiel für die Deutschen.
Klinsmanns zweiter Geburtstag hätte ein Freudentag für ganz Deutschland werden können, wurde stattdessen aber ein Tag der Trauer. Das Land war weder 1958 noch 1962 in der Lage, den Erfolg des Weltmeisterschaftssieges von 1954 zu wiederholen. 1958 verloren sie das Halbfinale gegen den Gastgeber Schweden 3:1 und 1962 schieden sie durch eine 1:0-Niederlage gegen Jugoslawien im Viertelfinale aus. Aber 1966 waren sie nahe dran, nach zwölf Jahren wieder eine Weltmeisterschaft zu gewinnen. Sie erreichten das Finale gegen Gastgeber England. Aber sie verloren, als Englands Geoff Hurst in der elften Minute der 30-minütigen Nachspielzeit ein umstrittenes Tor zugesprochen wurde und der Spielstand dann 3:2 lautete. Hursts Schuss war gegen die Latte geprallt und auf, aber eventuell nicht ganz über die Linie gesprungen, bevor ein deutscher Verteidiger den Ball aus dem Torbereich klären konnte. War es wirklich ein Tor oder nicht? Es ist eine der ganz großen Kontroversen des Fußballs und wird vermutlich nie abschließend gelöst werden. England schoss eine Minute vor Abpfiff ein viertes Tor, als Deutschland nach vorne stürmte in dem verzweifelten Versuch, ein Ausgleichstor zu schießen.
Eine Woche, nachdem Jürgen Klinsmann 1973 in die Jugendmannschaft des TB Gingen eingetreten war und einen ersten Eindruck vom Fußball mit festen Regeln bekommen hatte, wurde er in den letzten zehn Minuten eines Punktspiels gegen einen Verein namens FTSV Kuchen als Ersatzspieler eingesetzt. Er wurde aufs Feld geschickt, nachdem man ihm noch eine kurze Einweisung in eine Regel gegeben hatte, um die sich beim Spielen mit seinen Kumpels bisher niemand Gedanken gemacht hatte. „Hei, was isch eigentlich Abseits?“, fragte Klinsmann, bevor er aufs Feld lief. So beschreibt Roland Eitel Klinsmanns Anfänge beim TB Gingen in seiner Biografie Jürgen Klinsmann – Der Weg nach oben. Beim nächsten Spiel, eine Woche später gegen den SV Altenstadt, schoss Klinsmann bei einem 5:1-Sieg für seine Mannschaft sein erstes Tor. In der E-Jugend, in der die Acht- bis Zehnjährigen spielen, wurde Klinsmann für sein Talent als Torjäger bald bekannt.
Wie man weiß, sind die Deutschen in den meisten Dingen sehr gut organisiert, und das trifft ganz besonders auf den Fußball zu. Obwohl er in seiner offiziellen Form wenig an Schulen und Universitäten gespielt wird – im Gegensatz zu den USA –, gibt es das eingangs beschriebene pyramidenförmige System mit seiner klaren Hierarchie, in der Spieler nach Alter und nach Leistung Stufe für Stufe erklimmen können.
Als Klinsmann anfing Vereinsfußball zu spielen, begann die nach Alter strukturierte Einteilung mit der E-Jugend, in der im Gegensatz zu den Jugend- und Erwachsenenteams nur sieben statt elf Spieler auf dem Feld sind. Im Jugendbereich folgten auf die E-Jugend vier weitere Altersstufen, D (11 bis 13 Jahre), C (14 bis 15 Jahre), B (16 bis 17 Jahre) und A (18 bis 19 Jahre), bevor die Jugendlichen in die Erwachsenenmannschaft aufgenommen werden konnten. Wobei spätestens nach dem Durchlaufen der A-Jugend viele Spieler den Vereinsfußball zunächst verließen, da sie entweder leistungsmäßig nicht mithalten konnten oder wollten beziehungsweise oft durch Beruf oder Studium anderweitig eingebunden waren.
Dies hat sich bis heute kaum geändert. Der Unterschied besteht vor allem darin, dass die Kinder heutzutage wesentlich früher anfangen, in einer Mannschaft zu spielen, sodass es bereits eine G-Jugend für die unter Siebenjährigen gibt und eine F-Jugend für die Sieben- bis Achtjährigen. „Durch diese organsierte Form des Fußballsports werden auch für die Jüngeren die Ergebnisse aufgeschrieben, man hat seine feste Mannschaft in einer vorgegebenen Liga und man trägt Mannschaftstrikots“, sagt Klinsmann. „Dies ist der Moment, in dem man das, was man beim Spielen auf der Straße gelernt hat, auf den organisierten Fußball überträgt und weiterentwickelt.“
Unterschwellig verbreitet dieses strikte Einteilungssystem eine subtile Botschaft, indem es den Kindern und Jugendlichen einen ständigen Anreiz bietet, die nächsthöhere Stufe zu erreichen. Es weckt ab einem frühen Alter bei den Kindern den Wunsch, besser zu werden. Die subtilen Druckmittel und Belohnungen, die in diesem System versteckt sind, sollen die Spieler beständig darin bestärken, die nächste Stufe der Pyramide erklimmen zu wollen und ihnen gleichzeitig das Gefühl geben, dies sei die natürlichste Sache der Welt.
Klinsmann hatte als Achtjähriger eine unbegrenzte Energie und Antrieb, aber nicht die leiseste Ahnung, dass er eines Tages seinen Lebensunterhalt durch Fußball spielen verdienen würde und noch viel weniger, dass er mit elf Toren bei drei Weltmeisterschaften einer der profiliertesten Torschützen seines Landes werden würde. Wie die meisten seiner Freunde beim TB Gingen überstieg es seine Vorstellungskraft, dass er im Fußball weit genug kommen würde, um dies beruflich auszuüben. Er liebte es einfach, zu spielen und genoss von Anfang an den damit einhergehenden Leistungsdruck. „Zu dem Zeitpunkt hast du keine Ahnung, wie sich dein Leben entwickeln wird“, sagt er. „Du spielst Fußball, weil es dir Spaß macht und weil es das ist, was deine Freunde tun.“
Klinsmann bewahrte sich diese kindliche und ansteckende Begeisterung auf dem Spielfeld, während er Stufe um Stufe die Pyramide des Fußballs höherstieg. Auch in späteren Jahren war es für Klinsmann-Fans eine Freude zu sehen, dass er sich diese jugendliche Begeisterung bewahrt hatte, die sich vor allem in seinen ungebremsten Freudenstürmen bei Toren für sein Land oder seine jeweiligen Vereine in Deutschland, Italien, Frankreich und England zeigte. Diese sorglose Unschuld schien im Widerspruch zu stehen zu seinem Alter, seiner jahrelangen Erfahrung und seinem Status als Profi. Der Jubel, wenn er ein Tor schoss, schien sich nicht von dem zu unterscheiden, wie der zehnjährige Jürgen Klinsmann seine Tore für den TB Gingen gefeiert hatte. Sogar vier Jahrzehnte später muss sich jeder, der beobachtet, wie Klinsmann sich beim Training auf dem Platz mit den Spielern der amerikanischen Nationalmannschaft in „5 gegen 2“-Fußball-drills stürzt, über die jugendliche Begeisterung dieses über 50-jährigen Trainers wundern.
In einem auf Fußball fixierten Land wie Deutschland lag eine mögliche Karriere als Profi für die meisten Jugendlichen außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Die Bundesliga und gar der Profibereich schienen Lichtjahre entfernt. Die Bundesligaspiele wurden damals nicht einmal live im Fernsehen übertragen. Stattdessen gab es die Sportschau, in der die Höhepunkte der einzelnen Spiele oft in kurzen Filmbeiträgen zusammengefasst und diskutiert wurden. Zu der Zeit hatte Klinsmann ganz andere Zukunftspläne. Er erzählte jedem, der ihn danach fragte, dass er Pilot werden wolle, wenn er groß sei. Fußball spielte er nur zum Spaß. „In diesem Umfeld einer Fußballnation hatte jedes Kind, das mit ein bisschen Talent gesegnet war, zunächst ein einziges Ziel, und zwar jenes, das sich direkt vor ihnen in Sicht- und Reichweite befand“, erzählt Klinsmann. Er bewundert das kühne Selbstbewusstsein der Kinder des 21. Jahrhunderts in den USA, wo die Träume groß sind und die Kinder sich ohne zu zögern vorstellen, dass sie später selbst einmal die Stars in einem NBA-Finale, einem Super Bowl oder einem Weltcup sein könnten. „Als ich ein Kind war, dachte man eher: Du wirst niemals gleich ein Ziel erreichen, das hunderte von Kilometern entfernt liegt. Das war alles so weit weg“, erzählt er mit nicht wenig Verwunderung über die Fähigkeit junger Amerikaner, ihre Ziele so hoch zu stecken.
Er war im Juli 1973 gerade neun Jahre alt geworden und hatte hart trainiert, sowohl im Verein beim TB Gingen als auch zu Hause mit Freunden, wo sie stundenlang gegen Wände und Garagentore spielten. Eines Tages spielte er für Gingen gegen einen Fußballclub aus Aichelberg. Obwohl er erst seit wenigen Monaten im Verein spielte, schoss Klinsmann 16 Tore, und seine Mannschaft gewann 20:0. Das Ergebnis war umso beeindruckender, wenn man bedenkt, dass die Punktspiele in dieser Altersklasse nur aus zwei Halbzeiten à 20 Minuten bestehen. Klinsmann fühlte, dass sich die tausenden Stunden, die er mit seinen Freunden und im Verein geübt hatte, auszuzahlen begannen. Seine Pässe, sein Ballgefühl und seine Schüsse wurden kontinuierlich besser. Für Klinsmann war das eine wichtige Lektion über den Sinn und den Lohn harter Arbeit, die er für sein ganzes weiteres Leben verinnerlichte.
„Es war dieser enorme Antrieb durch das Spielen in der Nachbarschaft“, erinnert sich Klinsmann. „Der Verein war mit einem Spiel und einer Trainingseinheit nur eine Ergänzung. Das echte Training fand in einer Umgebung statt, die sich selbst antrieb, jeden Tag. Das war meine Hauptfreizeitbeschäftigung in der Nachbarschaft damals. Ich ging nach draußen und spielte täglich nach der Schule – oder wenn ich mit meinen Hausaufgaben fertig war – drei, vier oder fünf Stunden Fußball. Ich hatte keine Vorstellung davon, wie gut oder wie schlecht ich war. Ich wollte einfach besser werden – und Tore schießen. Ich hatte keine Ahnung, wie die Dinge sich entwickeln würden. Ich liebte ganz einfach das Gefühl, Tore zu schießen, egal ob beim Punktspiel auf dem Feld oder zwischen zwei Stöcken oder zwei Kleiderhaufen. Wann immer ich ein Tor schoss, rannte ich in das Tor hinein, holte den Ball und brachte ihn so schnell ich konnte zurück zur Mittellinie. Ich legte den Ball ab und sagte zu der anderen Mannschaft: Los, weiter.“
Klinsmanns Erfolgsbilanz nach seiner denkwürdigen ersten Saison in der Jugendmannschaft belief sich auf 106 Tore in 18 Spielen. Anders ausgedrückt also sechs Tore pro Spiel. Das war eine beachtliche Leistung für einen Neuling in einer Gegend, die als eine von vielen Brutstätten des Fußballs in Deutschland galt. Seine Torerfolge weckten Klinsmanns Appetit auf mehr ...
„Kurz nach seinem neunten Geburtstag wurde er sogar über die engen Grenzen von Gingen hinaus bekannt“, schreibt Eitel über diesen außerordentlichen Star in seiner Biografie über Klinsmann. Eitel war Sportreporter für die Stuttgarter Zeitung und wurde später Klinsmanns Freund und sein Medienberater in Deutschland. „Das große Talent Jürgen Klinsmann wurde dort in Gingen entdeckt. Es dauerte nicht lange, bis er, die Sporttasche tragend, die fast so groß war wie er selbst, nach Hause kam und auf Schwäbisch verkündete: Mir hen g’wonne, i han a Tor g’schosse. Mit der Zeit betrat Jürgen immer öfter am späten Samstagnachmittag das Haus der Klinsmanns mit dieser Kunde.“
Die modernen Fußballregeln wurden 1863 zunächst in England standardisiert. Aber in der Folgezeit wurde der Fußballsport untrennbar mit der deutschen Geschichte verwoben. Man könnte sogar behaupten, dass er der deutschen Nation seit 1954 einen neuen Lebenssinn gegeben hat, nämlich in dem Jahr, in dem die Außenseiter aus der Bundesrepublik Deutschland allen Einschätzungen zum Trotz die Weltmeisterschaft gewannen. Mit insgesamt vier WM-Titeln 1954, 1974, 1990 und 2014 sowie dem zehnmaligen Erreichen des Halbfinales bei den letzten 13 Weltmeisterschaften zählt Deutschland zur weltweit erfolgreichsten Fußballnation der letzten 60 Jahre. Das Spiel mag in England erfunden worden sein, aber perfektioniert wurde es in Deutschland. Warum? Warum ist Deutschland so erfolgreich?
Zunächst ist die Anzahl der Deutschen, die Fußball spielen, im internationalen Vergleich erstaunlich hoch. Es gibt weltweit keine andere Fußballorganisation oder eine andere Sportorganisation mit so vielen Mitgliedern wie dem deutschen Fußballbund. Wie schon beschrieben, hatte der DFB 2015 6.822.233 Mitglieder, die in 165.229 Mannschaften spielten. Im Jahr 1900 gegründet, bedeutet der DFB das Rückgrat des Spiels in Deutschland, dem mit 82 Millionen Menschen einwohnerreichsten Land Westeuropas. Ein wichtiger Grund, dass Fußball ein so hohes Ansehen in Deutschland genießt, ist eindeutig die Weltmeisterschaft von 1954 und der Einfluss, den sie auf die wiederauferstandene deutsche Nation hatte. Das Turnier wurde erstmals 1930 in Uruguay als separater Wettkampf ausgetragen. Davor war es seit 1900 Teil der Olympischen Spiele. Bei den Spielen von 1932 in Los Angeles stand es allerdings, welch Überraschung, nicht auf dem Plan, da es in den USA als nicht beliebt genug angesehen war.
Bei der Weltmeisterschaft 1934 wurde Deutschland Dritter; 1938 schieden sie in der ersten Runde aus. Die Weltmeisterschaften 1942 und 1946 fielen wegen des Zweiten Weltkrieges aus. 1945 wurde Deutschland geteilt und von den Siegermächten USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion besetzt. Von der Weltmeisterschaft 1950 in Brasilien wurde Deutschland ausgeschlossen. Als sie 1954 wieder eingeladen wurde teilzunehmen, galt die zusammengestückelte bundesdeutsche Mannschaft bei dem Turnier in der Schweiz als ungesetzter sicherer Verlierer. Umso größer war die Überraschung, als das Team in Bern bis zum Finale kam. Die deutsche Mannschaft hatte bei ihrem zweiten Spiel des Turniers schon einmal 3:8 gegen die Ungarn, die amtierenden Olympiasieger, verloren. Ungarns „Goldene Elf“ („Aranycsapat“ auf Ungarisch) hatte auf dem Weg ins Finale gegen Deutschland seit 32 Spielen während der letzten zwei Jahre eine beeindruckende Siegessträhne.
Das Spiel wurde am regnerischen Nachmittag des 4. Juli 1954 auf einem durchgeweichten Spielfeld im Wankdorf-Stadion durchgeführt. In der Bundesrepublik gab es zu der Zeit nur 4.000 Fernsehgeräte, aber Millionen verfolgten das Spiel im Radio und die Straßen waren wie leergefegt. Die Menschen in Deutschland hockten dichtgedrängt in Kneipen oder in den Häusern der Leute, die ein Radio besaßen und lauschten, als die deutsche Mannschaft nach den ersten acht Minuten schon 2:0 zurücklag, bevor sie tapfer zurückschlug, den Ausgleich zum 2:2 erreichte und schließlich dank eines späten Tors von Helmut Rahn mit 3:2 siegte. Die Deutschen waren wie in Trance, als der Radioreporter Herbert Zimmermann die unsterblichen Worte brüllte: „Aus, aus, aus, das Spiel ist aus! Deutschland ist Weltmeister!“
Zimmermanns emotionale Berichterstattung treibt manch einem Deutschen, der alt genug ist und das Spiel damals live verfolgt hat, immer noch Tränen in die Augen und auch die jüngeren, nach 1954 geborenen Deutschen bekommen eine Gänsehaut. Dieser völlig unerwartete Weltmeistertitel gab der Bundesrepublik von damals 52 Millionen Menschen eine neue Lebenszuversicht und einen Grund, ihren Kopf wieder aufrecht zu tragen. Der Zweite Weltkrieg war erst seit neun Jahren zu Ende und dieser Sieg im Fußball half, die internationale Isolierung zu überwinden, die viele Deutsche nach dem Krieg erlebt hatten. Dieser unerwartete Triumph bei dem Turnier, an dem 16 Mannschaften teilnahmen, wurde in der Bundesrepublik als das „Wunder von Bern“ bekannt. Es gab dem gebrochenen, zerbombten, vom Krieg erniedrigten und entehrten Land eine neue Identität –„Fußballweltmeister“. Besonders für die jüngere Generation, wie für Klinsmanns damals 21-jährigen Vater, bedeutete der Gewinn der Weltmeisterschaft einen Wendepunkt in der Geschichte ihres Landes. „Wir sind wieder wer“, war das Gefühl, das die Deutschen empfanden und aussprachen. „Mein Vater sprach viel über 1954 und wie viel der Weltmeisterschaftssieg damals bedeutete“, erzählt Klinsmann, der als Trainer im Jahr 2004 sicherging, dass auch die jüngeren Spieler in der Mannschaft alles über den Zauber von 1954 wussten, indem er CDs mit den Höhepunkten des Spiels von Bern verteilte. „Das Land machte damals nach dem Krieg eine schwierige Zeit durch, und Fußball gab den Leuten Hoffnung und etwas, an das sie wieder glauben konnten.“
Einige Historiker haben den Gewinn der Weltmeisterschaft als den Augenblick bezeichnet, in dem die Nation wiedergeboren wurde. Dieses Ereignis durfte in mancher Hinsicht wichtiger gewesen sein als die neue Verfassung und die Wahl des ersten Nachkriegsparlamentes 1949. Es war vielleicht sogar bedeutsamer als Zündung für das „Wirtschaftswunder“ als die Währungsreform 1948, bei der die Deutsche Mark die Reichsmark ersetzte und sogar wichtiger als die „Stunde Null“, als der Krieg in dem besiegten Land im Mai 1945 vorüber war. Der Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 war ein Augenblick des unbeschreiblichen Stolzes für die junge Bundesrepublik Deutschland. Es war ein unverhoffter Sieg, der in der Tat half, Deutschlands legendäres ökonomisches Wunder, das „Wirtschaftswunder“, in Gang zu bringen. Es führte zu einer Phase des schnellen wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands, durch welche das Land aus der Nachkriegsrezession herausgelangte. Deutschlands Wirtschaft bewegte sich auf einem atemberaubenden Expansionskurs. Am Ende des Jahrzehnts gehörte es zu den führenden Industrienationen der Welt.