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"Rocking the Wall" ist dem legendären Bruce-Springsteen-Konzert gewidmet, das in Ost-Berlin am 19. Juli 1988 stattfand, das die Mauer erschütterte und die Welt veränderte. Erik Kirschbaum sprach mit vielen Fans und mit Veranstaltern in Ost und West, darunter Jon Landau, Springsteens Manager und Freund. Er schildert Szenen hinter den Kulissen und Erinnerungen von Leuten, die dabei waren, er hat Presse und Fernseh-Aufzeichnungen ausgewertet; sogar die Berichte der Stasi, die das Konzert im Auge hatte, standen ihm zur Verfügung. Das Buch begleitet den Leser auf eine unvergessliche Reise mit Springsteen durch die geteilte Stadt bis zum Open-Air-Gelände in Berlin-Weißensee, wo der Boss, auf der Bühne, eine mutige Rede gegen die Mauer hielt, während ihm eine alle Rekorde brechende Zuschauermenge von mehr als 300.000 begeisterten jungen Ostdeutschen zujubelte.
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Seitenzahl: 179
Erik Kirschbaum
ROCKING THE WALL-BRUCE SPRINGSTEENin OST-BERLIN 1988 DAS LEGENDÄRE KONZERT
VORWORT
EINLEITUNG
Kapitel 1: KÖNIG DER WELT
Kapitel 2: TRÄUME IN DER MAUERSTADT
Kapitel 3: VERLORENE KINDER
Kapitel 4: ÜBER SIEBEN BRÜCKEN
Kapitel 5: SONDERZUG NACH PANKOW
Kapitel 6: ICH STEH‘ AUF BERLIN
Kapitel 7: VÖLKER, HÖRT DIE SIGNALE
Kapitel 8: GESCHICHTE WIRD GEMACHT
Kapitel 9: AM FENSTER
Kapitel 10: VERDAMP LANG HER
NACHWORT
LITERATURHINWEISE
Bücher, Fernsehsendungen, Archive und Zeitungsartikel
Interviews mit dem Autor
Ausgewählte Artikel aus dem Internet
Impressum
Ich möchte mich bei allen bedanken, die geholfen haben, die „verrückte Idee“, ein Buch über ein einziges Konzert zu schreiben, zu realisieren, vor allem Jon Landau, Bruce Springsteens Manager und Freund, der mir Einblicke hinter die Kulissen des Konzerts gab. Dave Marsh danke ich für seine fortwährende Unterstützung. Ein besonderes Dankeschön geht an Dave Graham, Daniel Remsperger, Karin Scandella, Dean Grant, Ingrid Kirschbaum, Stephen Brown, Axel Hansen, Christian Rüttger, Tom Wagner, Thomas Krumenacker, Scott Reid und Steven Kirschbaum, die geduldig Entwürfe des Manuskripts lasen und es verbessern halfen.
Ich hätte dieses Buch nicht schreiben können, wenn nicht viele Menschen ihre Erinnerungen an das größte Ereignis der DDR-Musikgeschichte mit mir geteilt hätten. Ob als Konzertbesucher, journalistische oder wissenschaftliche Beobachter, als Organisatoren auf DDR-Seite oder Mitarbeiter im Springsteen-Tross: Herzlichen Dank an Cherno Jobatey, Jochen Staadt, Peter Schwenkow, Gerald Ponesky, Yvonne Wagner, Georg Kerwinski, Conny Günther, Birgit Walter, Herbert Schulze und Roland Claus.
Mein Dank gilt Craig Werner, Thomas Wilke, Philip Murphy, Matthias Döpfner, und besonders Danae Grant. Anerkennen möchte ich auch, dass meine Vorgesetzten bei Reuters, Olaf Zapke und Stephen Brown, mir den Freiraum gewährt haben, dieses Buch zu schreiben. Ein großer Dank geht an Detlef Kessler und Axel Mütze vom OSNATON Verlag, die das Projekt vorangetrieben haben. Bedanken möchte ich mich auch bei allen, die geholfen haben, das Projekt zu verwirklichen, allen voran Jane Driscoll und Brian J. Bohling. Und auch, wenn ich nicht einmal seinen Namen kenne: Meine herzliche Dankbarkeit gilt jenem langhaarigen Berliner Taxi-Fahrer, dessen grenzenloser Enthusiasmus noch mehr als ein Jahrzehnt nach dem Konzert mich inspiriert hat, dieses Buch zu schreiben. Vielleicht erfährt er ja auf diesem Wege davon.
Erik Kirschbaum
Berlin, im Mai 2016
Für meine Eltern, Danae und Donald
Zum ersten Mal hörte ich von der ganzen Sache in einem Taxi in Berlin. Nach einem mitreißenden Springsteen-Konzert 2002 in der Hauptstadt ließ ich mich müde, aber zufrieden nach Hause chauffieren. Ich hatte gerade noch einen Korrespondentenbericht für die Nachrichtenagentur Reuters über das Konzert und über Springsteens harsche Worte über den damaligen US-Präsidenten George W. Bush abgesetzt. Der hatte Deutschland gescholten, weil es nicht beim Irak-Krieg mitmachte. Nun wollte ich ein wenig entspannen und das Konzert in meinen Gedanken nachwirken lassen.
Aber das ging einfach nicht. Denn der Taxifahrer redete in einem fort auf mich ein und sprach über ein Konzert, das mehr als ein Jahrzehnt zuvor stattgefunden hatte. Springsteen, ja, der habe im Juli 1988 das beste Konzert aller Zeiten gegeben. In Ostberlin! Der „Boss“ habe nicht nur die DDR in ihren Grundfesten erschüttert mit seinem Auftritt vor 300.000 Menschen. 300.000! Nein, das ganze kommunistische System hat er zum Wanken gebracht, sagte der langhaarige und vollbärtige Fahrer voll Überzeugung.
„Ja“, antwortete ich ihm matt. „Springsteen-Konzerte sind immer Super-Ereignisse, der Mann hat’s drauf, die Massen mitzunehmen. Ich hab‘ auch schon viele Springsteen-Konzerte gesehen.“
„Nein, Nein, Nein“ – der Taxifahrer war jetzt nicht nur enthusiastisch, sondern schon leicht aufgebracht. „Du verstehst nicht, es war nicht irgendein gutes Konzert“, beharrte er und wandte sich mir zu. Dann erzählte er weiter: 300.000 Leute hätten es live gesehen, Millionen im Fernsehen, das ganze Land sei in Aufruhr gewesen. Er drehte den Kopf wieder in meine Richtung und mit knoblauchversetztem Atem sagte er feierlich: „Es war das Unglaublichste, was jemals in der DDR stattgefunden hat.“
Für Millionen von Menschen, die in den 60er-Jahren aufwuchsen, ist die Musik von Springsteen so etwas wie der Soundtrack ihres Lebens. Die Texte seiner Songs aus vier Jahrzehnten sind fest im kollektiven Gedächtnis einer ganzen Generation verankert, so wie: „It’s a death trap, it’s a suicide rap, we gotta get out while we’re young, cuz tramps like us, baby, we were born to run“, aus Born to Run, oder: „It ain’t no sin to be glad you’re alive“, aus Badlands. Die grenzenlose Begeisterung jenes Berliner Taxifahrers war ansteckend, und ich begann mich zu fragen: Spielte sich an jenem Sommerabend 1988 im kommunistischen Ostberlin wirklich etwas ganz Besonderes ab, etwas, das weit über ein gutes Springsteen-Konzert hinaus Bedeutung hatte?
Je mehr ich über jenes Konzert erfahren habe, desto stärker fesselte mich die Geschichte. Etwa, als ich zum ersten Mal hörte, dass Springsteen den Mut hatte, eine kurze Rede gegen die Mauer zu halten – in Ostberlin! Mich faszinierte auch zu erfahren, dass sich 300.000 Menschen – mehr als jemals zuvor und danach bei einem Springsteen-Konzert – aufgemacht hatten, den amerikanischen Rockstar live zu erleben, ganz abgesehen von den Millionen von Zuschauern am Fernseher. Und natürlich war ich ergriffen und begeistert, als ich erfuhr, wie Zehntausende einfach die Absperrungen gestürmt hatten, um auf das Veranstaltungsgelände zu gelangen. Das alles im abgeschotteten, autoritär beherrschten Ostberlin, der „Hauptstadt der DDR“.
Irgendwann dämmerte mir, dass der Springsteen-Auftritt am 19. Juli 1988 mehr als nur ein musikalisches Highlight gewesen sein könnte. Er spielte im Sommer 1988, und keine 16 Monate später sollte die Mauer fallen. Gab es einen Zusammenhang zwischen dem Konzert, der friedlichen Rebellion, die sich nur Monate später Bahn brechen sollte und dem Fall der Mauer am 9. November 1989? Diese Frage beschäftigt mich seitdem. Für mich steht fest, dass es eine enge Verbindung gibt zwischen der Begeisterung, die Springsteens Auftritt in Ostberlin auslöste, zwischen der Ermutigung an die Jugend der DDR durch seinem Appell, alle Barrieren zu überwinden und der Aufbruch- und Wechselstimmung, die das Land in den Monaten danach ergriff und an dessen Ende der Mauerfall stand.
Ich wollte mehr über die Ereignisse im Juli 1988 in Ostberlin herausfinden, als Springsteen auf die andere Seite des Eisernen Vorhangs reiste. Aber würde ich ein Vierteljahrhundert später noch jemanden finden, der mir aus erster Hand berichten konnte? Diese Sorge erwies sich als völlig unberechtigt, es war viel einfacher, als ich dachte und das hatte einen guten Grund: Das Konzert hinterließ einen so bleibenden Eindruck, dass es bei meinen Recherchen schien, als könnten sich wirklich alle an das erinnern, was sie damals erlebt hatten. Es schien, als sei die ganze DDR entweder live beim Konzert dabei gewesen oder habe es zumindest am Fernseher verfolgt. Es war wie einer jener historischen Momente, bei denen man auch nach Jahrzehnten noch genau weiß, was man damals gemacht hat.
Ich habe für dieses Buch mit zahllosen Augenzeugen gesprochen – mit Fans und professionellen Beobachtern, Historikern und Soziologen –, immer auf der Suche nach der Antwort auf die eine Frage: Hatte die Vier-Stunden-Vorstellung Springsteens, hatte sein furchtloser Ruf nach einem Ende der Mauer etwas mit der friedlichen Revolution zu tun, die bald danach folgte?
Ob man Springsteen einen Beitrag zur Wende in der DDR und ihrem Ende zubilligt oder nicht, hat auch damit zu tun, wie viel revolutionäre Sprengkraft man der Rockmusik generell zugesteht, ob man an die Macht von Rock ’n’ Roll glaubt oder nicht.
Zu denen, die an die politische Kraft der Rockmusik glauben, gehört Philip Murphy, langjähriger US-Botschafter in Deutschland und begeisterter Springsteen-Fan. Auch wenn er selbst damals nicht in Ostberlin war, bescheinigt Murphy seinem Landsmann aus New Jersey beachtlichen Einfluss auf die Stimmung in der damaligen DDR. „Ich kenne und liebe die Musik Springsteens und kann mir vorstellen, welche Wirkung das Live-Konzert auf ein ostdeutsches Publikum gehabt haben muss, auf Menschen, die unter einem autoritären Regime lebten und litten und sich so sehr nach Wandel sehnten.“ Noch deutlicher formuliert es Jörg Beneke, der als Zuschauer dabei war: Das Konzert sei „der Sargnagel“ für die DDR gewesen, der Anfang vom Ende der kommunistischen Herrschaft, dessen ist er sich noch heute sicher.
Ohne jeden Zweifel ist das Springsteen-Konzert in Ostberlin ein herausragendes Beispiel für den Einfluss, den Rockmusik auf gesellschaftlichen Wandel haben kann, wenn sie auf ein Publikum trifft, das hungrig auf und bereit zu Veränderungen ist. Dies ist die bislang unerzählte Geschichte eines einzigartigen Konzerts in Ostberlin und die Rolle, die Bruce Springsteen – vielleicht unwissentlich – gespielt hat, als er eine Rebellion, die sich bereits warmlief, weiter anheizte und einen Aufstand befeuerte, der schließlich die Mauer wegfegen sollte.
Erik Kirschbaum
Das originale Konzertticket mit „Nikaragua“-Aufdruck
Foto: Gerald Ponesky
You can’t start a fire without a spark
Dancing in the Dark
Bruce Springsteen bereitete sich backstage auf das vielleicht wichtigste Konzert seiner Karriere vor, eingepfercht in ein Kabuff, das provisorisch als Umkleidekabine hergerichtet war. Auch die Bühne, vor der sich das riesige Gelände der einstigen Ostberliner Trabrennbahn an diesem 19. Juli 1988 zunehmend mit Hunderttausenden Menschen füllte, war eilig und reichlich improvisiert errichtet worden. Springsteen war mit 38 Jahren auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Unterwegs auf seiner „Tunnel of Love Express“-Tour durch Europa hatte sich überraschend die Möglichkeit ergeben, ein Konzert hinter dem Eisernen Vorhang in Ostberlin zu geben. Und so wurde der Abstecher in die DDR nur wenige Wochen vor dem Konzert in den Tourplan aufgenommen. Trotz aller Improvisation und fehlender Perfektion: Diese Gelegenheit wollte sich Springsteen nicht entgehen lassen, und so saß er nun in seiner Kabine auf dem riesigen Feld im Ostberliner Stadtteil Weißensee – in der „Hauptstadt der DDR“.
Die Luft war angespannt mit Vorfreude und Aufregung über den Besuch eines der größten westlichen Rockstars seiner Zeit. Springsteen mag die Inspiration für seine Songs über die Flucht der Unterprivilegierten aus der Trostlosigkeit, den Kampf der einfachen Leute um Würde und Gerechtigkeit aus seinen Erlebnissen in seinem Heimatstaat New Jersey gewonnen haben. Aber die Botschaft seiner Songs, die mal melancholisch, mal explosiv-kraftvoll vorgetragene Sehnsucht nach Freiheit und Geborgenheit, nach Liebe und Aufbruch, die Mischung aus Verzweiflung und Aufbegehren – diese Botschaft war universell und sie verfing auch und gerade bei einem Publikum in der DDR, der Deutschen Demokratischen Republik, das von einem autoritären Regime alter Männer drangsaliert und hinter der Mauer und dem Eisernen Vorhang eingesperrt wurde. Und so wälzte sich ein nicht enden wollender Strom von Menschen schon seit dem frühen Nachmittag dieses milden Sommertages auf das regennasse Wiesengelände, das einmal die traditionsreiche Berliner Pferderennbahn gewesen war.
Trotz der erwartungsvollen und friedlichen Atmosphäre auf dem Feld war die Stimmung hinter der Bühne angespannt, als der Konzertbeginn näher rückte, und die Menge auf dem Gelände weniger als fünf Kilometer von der Mauer entfernt auf 300.000 Menschen – vielleicht sogar eine halbe Million – angewachsen war.
An den Eingängen hatte es ein derartiges Gedränge gegeben, dass die Veranstalter der FDJ (Freie Deutsche Jugend), des Jugendverbandes des kommunistischen Landes, kurzerhand die Absperrgitter beiseite räumten und die Leute fast unkontrolliert auf das Gelände strömen ließen. Allein das war eine bemerkenswerte Kapitulation in einem strikt autoritär strukturierten Land wie der DDR. Die Szene hat im Nachhinein etwas Visionäres, gleichen die Bilder doch frappant jenen beim Fall der Mauer im November 1989.
Die Menge war begeistert, viele konnten noch nicht recht glauben, dass der „Boss“ wirklich in ihr abgeschottetes Land gekommen war, um ihnen für ein paar wunderbare Stunden eine Vorstellung von der Freiheit zu geben, die für die allermeisten trotz der geografischen Nähe zum Westen unerreichbar war.
Auch für Springsteen selbst erfüllte sich mit dem Auftritt in Weißensee ein lang gehegter Wunsch. Seit er 1981 als ganz normaler Tourist erstmals einen Blick auf die östliche Seite der Mauer geworfen hatte, wollte er für die Menschen dort spielen, ihnen eine seiner legendären Vier-Stunden-Nonstop-Shows liefern, die ihn auch im Osten berühmt gemacht hatten.
Aber nun, kurz vor Konzertbeginn, war die Stimmung hinter der Bühne gedämpft, und dies lag an einer überraschenden Entdeckung, die Springsteen und sein Tross am Vortag gemacht hatten. Als die Band in Ostberlin eintraf, mussten sie feststellen, dass die Konzertkarten mit dem Label „Konzert für Nikaragua“ versehen waren. Unabhängig davon, ob Springsteen Sympathien für die sandinistische Regierung in Lateinamerika hegte oder nicht, war ihm sofort klar: Hier handelte es sich um einen Versuch, sein Konzert und vor allem ihn persönlich für die politischen Zwecke der DDR-Führung zu instrumentalisieren. Und wenn es etwas gab, was Springsteen nicht ausstehen konnte, dann war es genau das: Das Ausschlachten seiner Berühmtheit und seiner Werte für eine bestimmte politische Absicht.
Um die ganze Tragweite der Provokation ermessen zu können, muss man daran erinnern, dass Nicaragua zu jener Zeit ein Symbol für eine erfolgreiche sozialistische Revolution war. Die linken Sandinisten hatten ein reaktionäres Regime gestürzt – und die USA unter Präsident Ronald Reagan setzten über Jahre hinweg alles daran, mit einem heimlichen Kontra-Krieg nun wiederum eben diese Regierung zu stürzen. Auch viele Linke im Westen pilgerten damals nach Nicaragua, um die Sandinisten zu unterstützen oder tranken nur noch Kaffee aus dem mittelamerikanischen Land, um dem erfolgreichen, vom Volk getragenen Sozialismus wirtschaftlich beizuspringen. Vor allem aber in den kommunistischen Ländern wurde „Solidarität mit Nikaragua“ (so die damalige Schreibweise im Osten) zu einem Synonym für den Kampf gegen die Vorherrschaft der USA, für die Konfrontation der Machtblöcke, zur Gleichung Sozialismus gegen Kapitalismus.
Vor dem Hintergrund dieser aufgeheizten Symbolik musste Springsteen die Deklarierung seines Auftritts als „Konzert für Nikaragua“ als das sehen, was sie war: den Versuch, den US-Star, der selbst längst zum amerikanischen Symbol geworden war, gegen sein eigenes Land in Stellung zu bringen, ihn für die Sache des Sozialismus zu vereinnahmen, ihm den Stempel des Klassenkampfes aufzudrücken. Das wollte und konnte Springsteen nicht akzeptieren, wie sehr er auch Ronald Reagan und die Politik seiner Regierung ablehnen mochte.
Noch weit mehr empört über den plumpen Vereinnahmungs-Versuch zugunsten offizieller DDR-Politik war Springsteens langjähriger Manager und enger Freund Jon Landau. „Es war eine Ausnutzung seines Namens und eine komplette Fehlinterpretation der Absicht, die wir mit unserem Kommen verfolgten“, sagt Landau, noch heute verärgert. Schnell war man sich einig: Keinesfalls werde Springsteen sich unwidersprochen für eine kommunistische Propaganda hergeben. Den FDJ-Organisatoren wurde dies rasch klargemacht. Nach einigem Hin und Her – die FDJ fürchtete schon, das ganze Konzert könne abgesagt werden – wurden die meisten der schon angebrachten Transparente eilig entfernt.
Zwar war der Albtraum eines in letzter Minute abgesagten Konzerts vermieden worden, doch Springsteen wollte nach all der Propaganda im Vorfeld ein paar direkte Worte an das Publikum richten, um klarzustellen, warum er nach Ostberlin gekommen war. Dabei hatte er nur Landau eingeweiht, was er seinen ostdeutschen Fans sagen wollte.
Um die Botschaft auch unmissverständlich zu vermitteln, entschied sich Springsteen, auf Deutsch zu sprechen. Also wandte er sich an den einzigen Deutschen in seinem direkten Umfeld, seinen Fahrer und gelegentlichen Dolmetscher, einen jovialen Bayern namens Georg Kerwinski. Kerwinski hörte sich an, was Springsteen sagen wollte und skizzierte einen Vorschlag für die deutsche Übersetzung. Springsteen dankte ihm und verschwand eilig in Richtung Bühnentreppe. Sekunden später ertönte der gewaltige Eröffnungsapplaus der größten Menschenmenge, vor der der Rockstar jemals gespielt hatte. Springsteen begann ein Konzert, das Geschichte schreiben sollte.
Er wollte offenbar keine Zeit verlieren, um dem Publikum mächtig einzuheizen und legte mit einer ohrenbetäubenden Version von Badlands los, jenem Aufschrei eines jungen Mannes, der sich nach einem besseren Leben sehnt – vielleicht schon die erste Message des immer noch aufgebrachten US-Stars an die DDR-Führung. Das Publikum reagierte frenetisch, selbst viele der zur Sicherung abgestellten zahllosen Soldaten und Sicherheitsleute bewahrten nur kurze Zeit ihre Distanz, dann erlagen auch sie der schieren Kraft der Springsteen-Musik und der überbordenden Stimmung und sangen und tanzten mit.
Hinter der Bühne allerdings beschlich Kerwinski ein ungutes Gefühl. War es wirklich eine so gute Idee, heimlich einem prominenten US-Amerikaner dabei zu helfen, eine – wenn auch kurze – Rede gegen die Mauer auf Deutsch zu formulieren? Eine Ansprache, die vielen Menschen mächtig Ärger einbringen konnte? Kerwinski liebte Springsteen, seine ungeteilte Loyalität gehörte aber seinem eigenen Boss. Und so wandte sich der bayerische Chauffeur und Redenschreiber an seinen Brötchengeber, den Konzertveranstalter Marcel Avram.
Avram war ein erfahrener westdeutscher Konzertmanager, und ihm war sofort klar, dass Ärger drohte. Entgeistert wandte er sich an Landau: Der Amerikaner müsse verhindern, dass Springsteen sich an die Menge wandte und dabei Dinge sagte, die sie alle noch bedauern könnten, forderte Avram eindringlich. Das Konzert war mittlerweile schon in seiner zweiten Stunde und Landau war auch selbst überzeugt, dass er etwas unternehmen musste. Niemand wusste, wann sich Springsteen an die Menge wenden wollte, die Bombe konnte jeden Augenblick hochgehen! Landau eilte an den Bühnenrand und winkte, um Springsteens Aufmerksamkeit zu erhaschen. Schließlich kam der Sänger die kurze Treppe von der Bühne in den Backstage-Bereich herunter zu seinem Freund und Manager. Auch Kerwinski wurde herbeigerufen. Oben auf der Bühne spielte die Band derweil weiter. Landau machte Springsteen deutlich, dass sie die Rede leicht abwandeln müssten. Kerwinski schrie sich die Kehle aus dem Leib, um dem US-Sänger, der kein Wort Deutsch konnte, in Lautsprache die neue Formulierung beizubringen. Beide konnten sich wegen des Lärms von der Bühne kaum verstehen.
Aber nach einer Weile reckte Springsteen den Daumen nach oben und lächelte – er hatte verstanden und eilte wieder die Treppe hinauf ins Rampenlicht. Nur Minuten später, nach einer phänomenalen und aufpeitschenden Version von Born in the USA trat Springsteen einen Schritt zurück, griff nach seinem Zettel und hielt sein flammendes Plädoyer für die Freiheit.
Ostdeutsche Fans halten ein Transparent mit einer handgemachten amerikanischen Flagge hoch.
Foto: Herbert Schulze
I was a serious young man, you know?
Bruce Springsteen
Bruce Springsteen war im Sommer 1988 einer der weltweit erfolgreichsten Rockmusiker. Vier Jahre zuvor hatte er sein Album Born in the USA veröffentlicht, jene Platte, die ihn endgültig zum Superstar rund um den Globus gemacht hatte. Mit 38 war er immer noch so schlank wie als 18-Jähriger, fast ein Meter achtzig groß, und dabei, sich vom Künstler zum Aktivisten zu entwickeln, auch auf der Bühne. Springsteen genoss den Erfolg, doch gelegentlich war ihm anzusehen, dass er dem ganzen Starkult nicht besonders viel abgewinnen konnte. Er befand sich damals in einer Phase des Umbruchs, musikalisch wie privat. Drei Jahre zuvor hatte er Julianne Philipps geheiratet, eine Schauspielerin und Model. Aber die Ehe kriselte so sehr, dass die Klatschblätter bereits darüber schrieben. Und kurz nach der „Tunnel of Love Express“-Tournee gaben die beiden auch tatsächlich die Trennung bekannt.
Und auch die ersten Anzeichen für eine Midlife-Krise machten sich bemerkbar. Schon ein Jahrzehnt zuvor, an der Schwelle zu seinem 30. Geburtstag, hatte Springsteen darüber gesprochen, dass der Spruch der 1968er-Generation „Trau keinem über 30“ schwer auf seinen Schultern lag. Nun, kurz vor seinem 40. Geburtstag, war er abermals an einer Wegkreuzung angekommen und versuchte, sich neu zu orientieren. Das spiegelte sich auch auf seinem Album Tunnel of Love wider, das eine musikalische Abkehr von früheren Schallplatten war.
Zur Zeit des DDR-Auftritts waren Springsteen und seine E Street Band bereits seit sechzehn Jahren zusammen. Nach bescheidenen Erfolgen in den frühen 70er-Jahren brachten sie es mit Born to Run 1975 zu amerikaweitem Ruhm. 1978 folgte Darkness on the Edge of Town. Spätestens mit The River etablierten sich Springsteen und seine Band 1980 in der internationalen Top-Klasse. Nebraska (1982) und vor allem Born in the USA (1984) festigten die Position Springsteens als Weltstar. Springsteen und seine Band zählten nun zu den meistbegehrten Künstlern in fast allen Ländern. Wo immer sie wollten, der „Boss“ und die E Street Band konnten nun überall binnen kürzester Zeit jede Halle und jedes Stadion fast nach Belieben füllen. Springsteen nutzte den Ruhm und tourte mit der Band rund um die Welt. Zwischen Juni 1984 und Oktober 1985 absolvierte er mit Born in the USA eine Tournee mit 156 Auftritten auf vier Kontinenten. Springsteen war in dieser Zeit trotz des überwältigenden Erfolges alles andere als selbstzufrieden oder überheblich. Vielmehr befand er sich in einer „Sturm und Drang“-Phase, in der er erstmals jene über Monate andauernde überwältigende Energieleistung zeigte, für die er bis heute berühmt ist: Während dieser 16 Monate sahen fünf Millionen Menschen auf der ganzen Welt Springsteen live. Der Konzertmarathon brachte 100 Million Dollar ein. Alleine Born in the USA wurde mit 20 Millionen verkauften Alben eine der meistverkauften Platten in der Musikgeschichte. Keine andere seiner Platten verkaufte sich vorher oder nachher so gut. Und sieben der zehn Songs schafften es in die US-Top-Ten.
Die musikalische Umorientierung hin zu gefälligerem Pop zahlte sich aus. Plötzlich war Springsteen nicht mehr nur der Star der US-Ostküste und einiger Inseln im Mittleren Westen und vielleicht noch dem Süden der USA – hauptsächlich in Universitätsstädten. Die Musik des US-Rockers begann, eine wichtige Rolle im Leben vieler Menschen in aller Herren Länder zu spielen. In Europa war Springsteen vor Born in the USA zwar bereits einem breiteren Publikum bekannt, und seit seiner ersten Europa-Tournee mit The River war er vom Geheimtipp zum etablierten Star aufgestiegen, doch wie andernorts schaffte er auch hier mit dem Tunnel of Love den Durchbruch zu einem Millionenpublikum.
Anders als bei vielen anderen Musikern, hatte der Erfolg Springsteen zum Glück nicht seine Freude am Experimentieren genommen. Und auch sein permanenter Drang, etwas Neues, Anderes zu machen, litt nicht unter dem sensationellen Kommerz-Erfolg, wie die folgenden Jahrzehnte seines Schaffens zeigen sollten. Und, typisch für Springsteen, machte sich nur kurz nach der „Born in the USA“-Tour wieder seine Experimentierfreude bemerkbar.
„Irgendwann in den 80er-Jahren hatte ich das Gefühl, dass ich alles erzählt hatte, was ich aus meiner Erfahrung schöpfen konnte, die Erfahrung meines Vaters, meiner Familie, der Stadt, wo ich aufgewachsen war“, sagte Springsteen in einem Interview mit dem Fachmagazin Double Take. „Nun wollte ich meine Musik lieber in etwas Praktisches verwandeln, so dass sie einen Einfluss auf die Menschen hat und auf die Gemeinschaften, denen ich begegnet bin.“ Schon mit Tunnel of Love habe er etwas Neues versucht, sagte er einmal. Der Versuch war erfolgreich, mit Tunnel of Love, Two Faces und Brilliant Disguise landete er große Hits. „Nach 1985 hatte ich genug und wandte mich mehr mir selbst zu. Ich schrieb über Männer, Frauen und Liebe, Themen, die bei mir bis dahin eher marginal vorkamen“, sagte er. Tunnel of Love enthielt tatsächlich keine einzige der Rockhymnen, für die Springsteen und seine Band zuvor mit Born in the USA gefeiert worden waren.
Viele Songs in Tunnel of Love loten die dunkleren Seiten von persönlichen Erfahrungen und Liebesbeziehungen aus – die Platte ist teilweise auch ein Spiegel seiner eigenen scheiternden Beziehung zu Philipps. Das Album verkaufte sich zwar respektable fünf Millionen Mal, doch von den erfolgsverwöhnten Erbsenzählern in der Musikindustrie wurde dies bereits als schwach im Vergleich zum Megaseller Born in the USA gewertet.
Springsteen schien von derlei Kritik aber nicht besonders beeindruckt zu sein, als er Anfang 1988 zu einer weiteren Welttournee aufbrach. Die „Tunnel of Love“-Tour führte ihn zunächst in zahlreiche amerikanische Städte, darunter Philadelphia, Pittsburgh, Atlanta, Detroit, Los Angeles und New York, bevor er dann im Mai nach Europa kam. Der Zusatz „Express“ im Titel der Tournee sollte signalisieren, dass die einzelnen Konzerte mit unter drei Stunden deutlich kürzer waren, als die über vier Stunden dauernden Marathon-Shows, die zu seinem Markenzeichen geworden waren. Auf dem Album findet sich auch eine der bis heute populärsten Balladen Springsteens, Brilliant Disguise. Sie handelt von einem Mann, der an seiner eigenen und der Treue seiner Frau zweifelt und fesselt mit poetischen Zeilen wie:
I walk this world in wealth, I want to know if it’s you I don’t trust, ’cause I damn sure don’t trust myself.