Just for Clicks - Kara McDowell - E-Book

Just for Clicks E-Book

Kara McDowell

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Beschreibung

Du brauchst mehr als nur Herzchen und Likes, um dich selbst zu lieben. Claire und Poppy waren schon als kleine Mädchen auf Insta. Ihre Mutter hält jedes Detail über die beiden Schwestern in ihrem erfolgreichen Mami-Blog fest. So sind die siebzehnjährigen Zwillinge mittlerweile zu weltweit bekannten Social-Media-Stars herangewachsen. Poppy genießt ihr Leben als Influencerin in vollen Zügen. Claire dagegen verabscheut es und fragt sich: Wird man sie jemals einfach nur als "Claire" akzeptieren? Und dann trifft sie Rafael, der noch nie ein Smartphone besessen hat und für den Claire ein ganz normales Mädchen ist. Unterhaltsamer und hochaktueller Jugendroman für Jugendliche ab 14 Jahren über eine erfolgreiche Influencerin, die in einer von sozialen Medien dominierten Welt den Weg des Digital Detox wählt. Dabei kombiniert Kara McDowell die Fragen nach Privatsphäre, Popularität im Internet, Cyber-Mobbing und Loyalität auf einfühlsame Weise mit einer romantischen Liebesgeschichte.

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Inhalt

Kapitel 1 – Ich brauche einen …

Kapitel 2 – Zwanzig Minuten später …

Kapitel 3 – »Poppy ist auf …

Kapitel 4 – »Sucht euch einen …

Kapitel 5 – New York Fashion …

Kapitel 6 – »Es ist keine …

Kapitel 7 – FASHION-VLOGGER FRISST SCHEISSE …

Kapitel 8 – »Hey, Claire! Willst …

Kapitel 9 – Das verschwitzte und …

Kapitel 10 – PIEEEEP.

Kapitel 11 – »Guten Morgen, Sonnenschein«, …

Kapitel 12 – »Ich freue mich …

Kapitel 13 – Ich kann nicht …

Kapitel 14 – Jede Menge Schmetterlinge …

Kapitel 15 – Das sogenannte »Sonnental« …

Kapitel 16 – »Keine Angst. Wir …

Kapitel 17 – Olivia …

Kapitel 18 – Poppy schließt das …

Kapitel 19 – »Komm, wir gehen …

Kapitel 20 – Es stellt sich …

Kapitel 21 – Am Morgen nach …

Kapitel 22 – Aus Tagen werden …

Kapitel 23 – Samstagmorgen werde ich …

Kapitel 24 – Vor meinen Augen …

Kapitel 25 – Mit fahrigen Händen …

Kapitel 26 – Später in dieser …

Kapitel 27 – Ich öffne den …

Kapitel 28 – Poppy blockiert die …

Kapitel 29 – In meiner Eile, …

Kapitel 30 – Poppy lässt hinten …

Kapitel 31 – »Tu’s nicht!« Ich …

Danksagung – Die Idee zu …

Für Scott

KAPITEL 1

Ich brauche einen Balkon. Von mir aus auch ein Rankgitter mit Efeu oder so. Ein stabiles Regenrohr direkt neben dem Fenster wäre genauso okay. Oder ein Bungalow. Zu meinem Pech bin ich mit nichts von all dem gesegnet. Egal, was die Leute online behaupten, offensichtlich repräsentiere ich nicht nur die »Teenager Goals« – mein Leben ist sicher nicht der Traum eines jeden Teenagers.

Die Flip-Flops in der Hand, öffne ich langsam meine Zimmertür und halte den Atem an. Ich lausche auf jedes Geräusch, das nicht von dem kläffenden Beagle meines Nachbarn kommt. In den Flur fällt ein Streifen Frühmorgensonne und beleuchtet meinen Fluchtweg. Ideal ist das hier nicht. Warum konnten sich meine Existenzkrise und der damit einhergehende Drang zu fliehen nicht im Schutz der Dunkelheit abspielen?

Zum Glück hört wenigstens der Hund auf zu bellen, sodass im Haus nun alles still und reglos ist, abgesehen von den winzigen Staubkörnchen, die im Lichtschein tanzen. Vorsichtig trete ich aus meinem Zimmer und laufe auf Zehenspitzen zur Treppe. Als ich den Fuß auf die erste Stufe stelle, wird die Ruhe vom gedämpften Rauschen einer Dusche durchbrochen. Mein Herz pocht aufgeregt, bevor mir klar wird, dass es eigentlich ein gutes Zeichen ist. Wenigstens eine Person in diesem Haus ist anderweitig beschäftigt.

Sich rauszuschleichen stand nicht auf der heutigen Tagesordnung. Zumindest nicht auf der, die Mom mir gestern vor dem Schlafengehen noch geschickt hat und auf der von 6Uhr30 bis 7Uhr30 »Outfit-Fotos« vorgesehen waren. Der Job ist monoton, aber nicht unerträglich, und für gewöhnlich ist es leichter, sich zu fügen, statt sich zu beschweren. Allerdings hat meine Gute-Miene-zum-bösen-Spiel-Einstellung bereits zu einer Menge Outfit-Fotos geführt.

So ein Internet-Troll behauptet sogar, es gäbe online mehr Fotos von mir, als Kunstwerke im Louvre ausgestellt sind.

Eigentlich bin ich davon ausgegangen, ich hätte bereits jeden bescheuerten Kommentar gelesen, den das World Wide Web zu bieten hat, doch dann kam DixonDummies16 an und hat behauptet, es gäbe so viele Bilder von mir, dass man damit die größte Kunstgalerie der Welt füllen könnte. Das ist das Verrückteste, was ich je über mich gehört habe, und das will was heißen – denn angeblich habe ich mir letzten Herbst den Busen vergrößern lassen (klar doch, … wenn Pubertät als Synonym für Brustvergrößerung gilt), gehen meine Waden direkt in meine Knöchel über, was man angeblich nur als »Wöchel« bezeichnen kann, und eine kleine, aber ambitionierte Gruppe von Leuten ist davon überzeugt, dass meine Zwillingsschwester und ich gar nicht miteinander verwandt sind.

So schnell und geräuschlos es der Marmorboden zulässt, schleiche ich nun die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, wo ich prompt mit dem Gesicht voran gegen den größten Beleuchtungsschirm knalle, den meine Mutter in petto hat, um während der Fotoshootings im Zimmer für ausreichend Licht zu sorgen. In meinem Mund breitet sich der warme, metallische Geschmack von Blut aus. Ich drücke mir die Finger gegen die Lippe, um die Blutung zu stoppen, und suche mir durch das Labyrinth aus mobilen Kleiderstangen einen Weg zur Haustür, steige über Berge von Stiefeln, Schuhen mit Keilabsätzen und Stilettos. Als ich den Ausgang endlich erreicht habe, gestatte ich mir einen kleinen Siegestanz, der jedoch vom Knurren meines Magens unterbrochen wird.

Verräter.

Kurz verharren meine Finger auf der Türklinke, während ich das Pro und Kontra davon abwäge, aufs Frühstück zu verzichten. Pro: Ich schaffe es definitiv unbemerkt aus dem Haus und gewinne eine Stunde in der Bibliothek, um Colleges zu recherchieren. Kontra: Wenn ich nicht gleich etwas esse, bin ich bis zur ersten Stunde am Verhungern und total mies drauf. Seufzend sehe ich ein, dass ich eigentlich keine Wahl habe, und schleiche durch den Haute-Couture-Hindernisparcours in die Küche. Aus der Speisekammer schnappe ich mir einen Müsliriegel und gerade als ich mir einen erdnussbuttrigen Bissen gönne, wird die Ruhe von dem allzu vertrauten Zipp-Geräusch eines Kleidersack-Verschlusses zerrissen.

»Claire!« Moms übliche Morgenfröhlichkeit fällt heute besonders intensiv aus. Ich schiebe mir den Rest des Müsliriegels in den Mund und mache mich auf das gefasst, was mir nun wieder bevorstehen könnte. Als ich mich umdrehe, hält Mom eine Zehntausend-Dollar-Abendrobe in der Hand.

»Schau dir an, was endlich gekommen ist!« Sie reckt mir das zartrosa Kleid entgegen und schwenkt es wie eine Nationalflagge. Ich deute auf meinen vollen Mund und kaue übertrieben langsam und gründlich, um Zeit zu schinden.

»Schlüpf doch gleich mal rein!« Sie legt mir das Kleid über die Arme und steuert mich Richtung Bad.

Ich schlucke und versuche, ihr das Kleid zurückzugeben. »Poppy sollte das tragen.«

»Es hat deine Größe!« Sie weigert sich, es zu nehmen.

»Perfekt! Das heißt, es ist auch Poppys Größe!« Dafür hat Mom gesorgt – nach einem peinlichen Zwischenfall auf der New York Fashion Week vor drei Jahren.

»Für Poppy ist es zu kurz. Warte! Was ist mit deiner Lippe passiert?« Sie runzelt besorgt die Stirn. »Egal, spielt keine Rolle. Heute machen wir nur Testfotos.« Mit einem letzten, endgültigen Stoß befördert sie mich über die Schwelle ins Bad und schließt entschlossen die Tür hinter mir.

»Danke für dein Verständnis«, murmle ich, während ich Jeans und T-Shirt abstreife.

»Es ist eine Neuinterpretation von dem Kleid, das ihr zu eurem ersten Geburtstag getragen habt.« Ihre Stimme ist laut, selbst durch die Tür.

»Ich weiß.«

»Ich muss euch die Fotos zeigen. Ihr Mädchen habt wie Prinzessinnen ausgesehen!«

»Ich kenne die Fotos.« Hätte ich jedes Mal einen Dollar bekommen, wenn ich mir diese Fotos ansehen musste, könnte ich dieses Kleid inzwischen kaufen – und verbrennen.

Es hat lange Ärmel, einen hochgeschlossenen Kragen und Rosenapplikationen entlang der Taille. Ich öffne die Tür und drehe mich, bevor ich die Haare hochhalte, damit Mom die Knöpfe am Rücken schließen kann. Der letzte zieht den Kragen um meinen Hals so fest zu wie eine Schlinge. Als Mom fertig ist, drehe ich mich zu ihr um.

»Oh, Claire.« Tränen wie auf Knopfdruck.

»Ich muss hier raus.« Weil ich irgendwann doch atmen muss, stecke ich einen Finger zwischen Kragen und Hals, während ich zur Badezimmertür hechte.

»Nein! Ich muss noch sehen, wie es sich auf den Fotos macht.« Sie dirigiert mich zum Fuß der großen Treppe und hantiert an der Beleuchtung herum.

Elf Monate. Immer wieder sage ich mir diese Worte in Gedanken vor, während Mom mich auf der Suche nach dem günstigsten Blickwinkel wie eine Requisite im Raum hin- und herschiebt. Ich muss das nur noch elf Monate durchstehen, dann habe ich es geschafft. Ich habe es bisher überlebt, die letzten elf Monate halte ich es auch noch aus.

Schließlich kann ich mich für eine kurze Pause in die Küche retten, wo ich mir auf die Schnelle einen Smoothie für ein zweites Frühstück zusammenmische. Zurück im Wohnzimmer lege ich mir ein Handtuch über den Schoß, damit Allegra Espositos handgesticktes Werk keine grünen Smoothieflecken abbekommt, und beobachte meine Arbeitgeberin in Aktion.

Mom steht hinter den Beleuchtungsschirmen und scrollt mit geschürzten Lippen durch die Bilder auf ihrer Kamera. Eine klassische Ashley-Dixon-Pose. Ihr goldbraunes Haar fällt ihr in die Augen und über ihre Nase, auf der einige Sommersprossen zu finden sind. So viele Sommersprossen wie ich hat sie nicht, allerdings trifft das vermutlich auf weltweit keinen anderen Menschen zu.

»Alexa, wie viele Kunstwerke sind im Louvre ausgestellt?«, frage ich den smarten Lautsprecher auf dem Beistelltisch am anderen Ende des Zimmers.

»Verteilt auf acht kuratorische Abteilungen, gibt es im Musée du Louvre fünfunddreißigtausend Exponate zu sehen.« Die kühle weibliche Stimme klingt beinahe süffisant, als wäre sie stolz darauf, die Antwort gefunden zu haben. Ihr Tonfall spiegelt nichts von dem Grauen wider, das diese Auskunft verdient hätte.

Fünfunddreißigtausend. Wenn es von mir tatsächlich so viele Fotos gibt, dann gibt es von meiner Zwillingsschwester Poppy mindestens genauso viele. Trotz des offensichtlichen Unterschieds, was Kommentare und Likes angeht, hat Mom immer extrem darauf geachtet, dass die Anzahl an Bildern ausgeglichen ist. Sie behauptet, es liege daran, dass sie uns beide gleich liebt, doch ich glaube, es liegt eher daran, dass sie ihre Fans bei Laune halten will. Es wäre schlecht fürs Geschäft, kämen die Leute auf die Idee, sie würde eine ihrer Töchter der anderen vorziehen.

Nur die Fans dürfen sich für einen Liebling entscheiden.

»Sind wir fertig?«, frage ich, weil ich dringend eine Ablenkung brauche. Mein Hirn versucht, fünfunddreißigtausend durch die siebzehn Jahre meines Lebens zu teilen, um herauszufinden, wie viele Bilder das im Jahresdurchschnitt sind. Obwohl ich das genaue Ergebnis gar nicht brauche, um zu wissen, dass die Zahl Stephen-King-mäßig furchteinflößend ist.

Mom schaut auf ihre Armbanduhr und nickt. »Wie läuft es mit eurem neusten Vlog-Beitrag?«

Wie aufs Stichwort durchdringt ein schrilles Kreischen die Luft. Meine Zwillingsschwester prescht mit dem Handy in der Hand die Treppe runter. »Ihr glaubt nicht, was gerade passiert ist!« Ihr Siegestanz ähnelt stark meinem, den ich vor nur einer Stunde aufgeführt habe, nur fällt er lauter aus. Sie hält Mom das Handy vor die Nase. Als diese einen Blick auf den Bildschirm wirft, fällt sie in Poppys Kreischen mit ein, und zwar noch lauter.

»Verrät mir vielleicht mal jemand, was los ist?«

Poppy wirft mir das Handy in den Schoß. »Wir haben gerade eine Million Abonnenten erreicht!«

»Was, echt?« Ich schaue auf ihr Handy, auf dem unser Online-Videochannel geöffnet ist. Unter unserem letzten Beitrag (Fünf total süße Outfits, die so bequem sind wie Schlafanzüge) ist ein kleiner Kasten, in dem steht: ABONNENTEN: 1Million. Auf diesen Augenblick freut sich Poppy schon lange, doch mir liegt diese neue Tatsache wie ein Stein im Magen.

»Das ist der Wahnsinn!« Poppys Finger fliegen bereits über ihr Handy, wahrscheinlich um ein paar begeisterte Nachrichten an ihre Freundinnen zu schicken. Mom brennt genauso darauf, die freudige Botschaft zu verkünden, und eilt hastig aus dem Zimmer.

Ich greife mir meinen Smoothie und schlürfe ihn langsam.

Poppy schaut mir mehrere Sekunden dabei zu. »Freust du dich gar nicht?«

»Doch, klar«, lüge ich. Als Poppy und ich uns quasi selbstständig gemacht und unsere eigene Marke gegründet haben, wollten wir beide noch dasselbe: Abonnenten, Ruhm, Reichtum. Influencen, wie Poppy es immer nennt. Wir saßen im selben Boot, oder besser gesagt im Schnellzug Richtung gemeinsame Zukunft. Nur dass ich irgendwo unterwegs abgesprungen bin, was Poppy allerdings noch nicht begriffen hat. Und ich habe es noch nicht über mich gebracht, es ihr klarzumachen.

Mom steckt den Kopf durch die Tür. »Claire hat mir bisher noch keine Antwort gegeben. Wie läuft es mit dem Video-Blog?«

»Na ja …« Poppy schaut zu mir. »Nicht gerade super.«

Seufzend kommt Mom zu uns. »Wo liegt das Problem?«

»Mir hängt es zum Hals raus, Frisur-Tutorials zu machen«, sage ich.

»Das liegt daran, dass du nicht so ›hair goals‹ bist wie ich«, sagt Poppy und spielt auf die vielen »Goals«-Kommentare an, die sich auf unserem YouTube-Account tummeln. Sieht unser Haar gut aus, wird es kommentiert mit »Hair Goals«. Posten wir ein süßes Bild von uns beiden, verkörpern wir »Sister Goals«. Travel Goals, Mom Goals, Life Goals. Was wir auch tun, irgendjemand findet immer einen Weg, uns darum zu beneiden.

»Wir haben die gleichen Haare, du Genie«, sage ich, obwohl es eigentlich nicht stimmt. Wir sind zweieiige Zwillinge, was heißt, dass wir uns auch nicht ähnlicher sehen als gewöhnliche Schwestern. Wir haben beide dickes Haar, das uns bis über die Schulterblätter fällt – ihres hat einen warmen Braunton, meins ist fast schwarz. Trotzdem hat Poppy recht, was die Kommentare unserer Viewer angeht, und das trifft mich. Egal, was ich mache, meine Haare glänzen nie genau so wie ihre und sie erreichen auch nie diesen magischen Zustand zwischen natürlich und zu gewollt.

»Ich will nicht noch ein Tutorial machen, weil ich jedes Mal einen IQ-Punkt verliere, wenn ich mir die Haare vor laufender Kamera flechten muss.« Hilfe suchend wende ich mich an Mom, obwohl mich meine ganze bisherige Lebenserfahrung gelehrt hat, dass sie sich kaum auf meine Seite schlagen wird. »Können wir diesmal bitte was anderes machen?«

»Wie wäre es mit einer Frage-Runde für eure Fans, als eine Art Dankeschön, weil ihr die Eine-Million-Marke geknackt habt?«

Tja, da ging mein Plan glatt nach hinten los. Ich hatte gehofft, uns mehr Zeit zu verschaffen, nicht, das Tutorial gegen intime Fragen von Leuten einzutauschen, die ich nicht kenne.

Poppy steigt sofort darauf ein. Blöde Ja-Sagerin. Sobald Mom ins andere Zimmer verschwunden ist, drehe ich mich zu meiner Schwester um. »Irgendein Ekel im Internet behauptet, dass es von uns mehr Fotos gibt als Exponate im Louvre.«

Sie lächelt amüsiert. »Ich dachte, du liest keine Kommentare mehr?«

»Stimmt ja auch.« Das ist zwar eine Lüge, aber keine große.

»Schon klar.«

»Jetzt mal im Ernst. Macht dich das nicht nachdenklich?«

Das Lächeln auf ihrem Gesicht wird zu einem verschlagenen Grinsen. »Ja. Und weißt du auch, woran ich denke? Die Mona Lisa ist nichts gegen uns!«

Ich rolle mit den Augen und nehme einen Schluck von meinem Smoothie. »Sobald ich aufs College gehe, könnt ihr, du und Mom, es unter euch ausmachen, wer die Berühmtere ist.«

»Es geht nicht um Ruhm, es geht ums Influencen.«

Da ist es wieder. Poppys Schlagwort. »Natürlich.«

Sie macht ein langes Gesicht. »Willst du das alles wirklich jetzt schon aufgeben?« Sie zeigt auf mein total übertriebenes Kleid und deutet mit ausgebreiteten Armen auf den Raum, der vor Gratisklamotten und Kameraausrüstung nur so überquillt.

Meine Antwort wird von einem Piepen verzögert. Ich zucke zusammen, ein alter Reflex von damals, als mein Handy mich noch über den Eingang neuer Vlog-Kommentare benachrichtigt hat. Diese Einstellung habe ich schon vor Monaten geändert, trotzdem läuft mir bei diesem Ton manchmal noch immer ein Schauer über den Rücken.

»Damit hätte ich schon lange kein Problem mehr.«

E-Mail von Mom

Von: [email protected]

An: [email protected]

Betreff: Tagesordnung für morgen

6:30 – 7:30Uhr: Outfit-Fotos (Testaufnahmen mit euren

neuen Esposito-Roben)

8:00 – 15:00Uhr: Schule

15:00 – 16:30Uhr: Schwimmtraining (Poppy), Vlog-Kommentare beantworten (Claire)

17:30Uhr: Abendessen mit der Familie

19:00 – 20:00Uhr: Haar-Tutorial fertig filmen und bearbeiten

PS: Mit meiner Seite stimmt etwas nicht! Die Fotos brauchen viel zu lange zum Laden. Claire, das musst du dir ansehen – SO BALD WIE MÖGLICH.

KAPITEL 2

Zwanzig Minuten später fahre ich hinter Poppy auf den Schulparkplatz. Wie üblich sind wir spät dran. Ganz hinten auf dem Platz finden wir zwei freie Lücken, zwischen einem rostigen Pick-up, auf dessen Ladefläche sich leere To-go-Becher türmen, und einem uralten Prius. Bevor ich das Schwimmteam verlassen habe, sind wir immer gemeinsam gefahren, aber diese neue Regelung ist gar nicht so übel. Vorteil Nummer eins, aus der Schwimmmannschaft ausgetreten zu sein: volle Kontrolle über die Musik. Vorteil Nummer zwei: Ich muss nicht länger mit Leuten rumhängen, die mich insgeheim hassen.

Draußen ist es hell und klar, für einen Septembermorgen erledigt die Sonne ihren Job fast schon ein wenig zu gut. Instinktiv halte ich die Luft an, doch da es windstill ist, ist der Geruch des Milchhofs in der Nähe noch nicht so weit in den Norden vorgedrungen.

Als wir den Haupteingang der Highland Highschool erreichen, halte ich Poppy die Tür auf. Statt hineinzugehen, greift sie in ihre Tasche, allerdings ohne fündig zu werden. »Hast du Lippenbalsam?«

»Glaube schon.« Ich stemme mich mit dem Rücken gegen die Tür und wühle in meinem Rucksack herum. Eins nach dem anderen ziehe ich lauter Dinge hervor, die nicht Lippenbalsam sind: Lipgloss, Taschenrechner, Handy, Wasserflasche, ein Buch.

»Es kommt der Tag, da wirst du auf die Schnelle was brauchen und dann hörst du meine Stimme, die dir sagt, du sollst nicht so schlampig sein.«

Ich ignoriere sie und suche weiter. Inzwischen halte ich in der linken Hand lauter, na ja, Kram, trotzdem kann ich den Lippenbalsam nicht finden. Seufzend versuche ich, alles aus der linken in die rechte Hand zu kriegen. Doch als ich mich zum Suchen weiter vorbeuge, löst sich die Tür und donnert mir gegen den Rücken. Alles fliegt mir aus den Händen. Lipgloss und Taschenrechner landen vor meinen Füßen, aus meinem Buch Grafikdesign für Profis rutscht ein Lesezeichen, meine Wasserflasche rollt über die Betonstufen und mein Handy scheppert hinterher.

Mein Handy! Poppy und ich bücken uns beide danach, doch Poppy ist schneller und hebt es auf. Ihr entsetztes Keuchen macht überdeutlich, dass es hinüber ist.

»Oh Mann.« Voller Mitleid reicht sie es mir. »Das ist ja richtig übel.«

Ja, SO ein Jammer! »Jetzt werde ich verpassen, wie wir die eine Million und eins erreichen.« Meine Stimme trieft vor Sarkasmus, während ich das Gerät mit dem geplatzten Bildschirm voran in den Tiefen meines Rucksacks versenke.

»Ich geb dir Bescheid.« Sie hilft mir dabei, den Rest meiner Sachen einzusammeln, als der erste Gong ertönt.

Der Vormittag vergeht langsam. Zwischen den Unterrichtsstunden greife ich volle sechs Mal in meinen Rucksack, bevor mir jedes Mal einfällt, dass mein Handy ja tot und hinüber ist, bestattet unter einem Haufen Gedöns. Eigentlich ist das kein großes Problem, zumindest bis ich allein an unserem üblichen Mittagstisch sitze und auf Poppy und Olivia warte. Als sie nach mehreren Minuten immer noch nicht aufgetaucht sind, breitet sich virusartig Unsicherheit in mir aus. Es gibt Schlimmeres, als allein zu essen, doch weil ich mich mit niemandem unterhalten kann, wissen meine Hände nicht, womit sie sich beschäftigen sollen. Noch einmal hole ich mein Handy aus dem Rucksack und starre auf den Bildschirm, tue so, als würde ich total vertieft etwas lesen. Bringt nichts. Außer, dass ich mir noch dämlicher vorkomme als zuvor und sicher bin, dass jemand das geborstene Glasspinnennetz auf meinem Bildschirm entdecken wird. Seufzend stecke ich das Gerät weg.

Der allgemeine Geräuschpegel aus Gelächter, Unterhaltungen und dem Quietschen von Stühlen, die über den Boden gezogen werden, wird von einem vertrauten hohen Kichern durchbrochen. Emily und Erica schweben an mir vorbei, doch da wir nicht mehr gemeinsam im Schwimmteam sind, schauen sie noch nicht einmal in meine Richtung. Paranoia kriecht in meinen Kopf und ich muss mich daran erinnern, dass ihr Lachen noch lange nicht bedeutet, dass sie über mich lachen. Ich greife noch einmal in meinen Rucksack, hole diesmal jedoch mein Buch heraus.

Ich höre, wie sich mir gegenüber jemand laut auf den Stuhl fallen lässt.

»Endlich.« Als ich aufblicke, sehe ich in die dunklen Augen eines Jungen. Das ist definitiv nicht meine Schwester.

»Genau das habe ich auch gerade gedacht.« Er lächelt, klaut einen Tortillachip von meinem Teller und wirft ihn sich in den Mund. Er hat hellbraune Haut und dunkelbraunes Haar, das er als Undercut trägt: an den Seiten kurz rasiert und oben lang. Es steht in sämtliche Richtungen ab. Der Look ist lässig und wirkt auf den ersten Blick mühelos, ist aber harte Arbeit, genau wie meine lässigen Haarknoten, für die ich volle zehn Minuten brauche.

Mein Buch rutscht mir aus den Fingern und knallt auf den Tisch. Schnell reiße ich es an mich, während ich sein makelloses Haar bestaune und mich frage, warum ich ihn noch nie zuvor gesehen habe.

»Und, was stimmt nicht mit dir?«

»Verzeihung?«

»Wo ist dein Bildschirm? Dein Gerät? Deine schicke neumodische Technologie?«

»Wovon redest du?« An meinen Mundwinkeln macht sich ein Lächeln bemerkbar, doch ich verberge es schnell, indem ich einen Schluck Wasser trinke.

»Du bist die Einzige hier, die nicht auf einen Bildschirm glotzt.«

»Quatsch«, sage ich, doch ein schneller Blick durch den Raum bestätigt, was er sagt. Selbst die Schüler, die in diesem Moment nicht gebannt auf einen Bildschirm starren, halten ihre Handys in der Hand oder spielen damit auf dem Tisch, während sie sich mit ihren Freunden unterhalten.

Er beobachtet mich dabei, wie ich mich umblicke, und grinst zufrieden. »Siehst du?«

Ich stütze beide Ellbogen auf den Tisch und beuge mich ein Stück vor. »Warum sitzt du eigentlich hier?« Poppys Stimme geistert durch meinen Kopf und ermahnt mich, mich Fremden gegenüber nicht wie ein Arsch zu verhalten. Allerdings wirkt er kein bisschen eingeschnappt, sondern nimmt sich noch einen Chip, bevor ich etwas dagegen tun kann. Dass fremde Leute mich oder meine Sachen anfassen, ist für mich nichts Neues, aber es ist sehr wohl ungewohnt, dass ich es zulasse.

»Nun, wie gesagt: Alle anderen sind schwer beschäftigt.«

»So wie ich.« Zum Beweis halte ich mein Buch hoch.

»Grafikdesign für Profis: Denken wie ein Künstler, handeln wie ein Businessman und designen wie ein Gott. Klingt … faszinierend.« Den amüsierten Tonfall kann man nicht überhören.

»Von der genderspezifischen Wortwahl mal abgesehen, ist es das tatsächlich. Also wenn du mich dann in Ruhe lesen lassen würdest.« Ich gebe eine, wie ich finde, möglichst überzeugende Darbietung der Rolle Person, vertieft in das Buch, das sie gerade liest zum Besten. Mein Blick richtet sich auf die schwarzen Zeilen, ohne ihren Sinn zu begreifen, während mein Puls sich verausgabt. Mir fehlt einfach die nötige Kapazität, um mich mit süßen Fremden zu unterhalten. Wann kapiert er’s endlich?

Er sagt zwar kein Wort, macht aber auch keine Anstalten zu gehen. Ich riskiere einen verstohlenen Blick über meine Buchseite hinweg. Er verschränkt die Arme vor der Brust und lächelt. »Bist du so was wie ein Genie?«

Mein Kopf schießt hoch und meine Wangen werden heiß. »Nein!« Es ist schon ewig her, dass jemand von meinem Hobby beeindruckt war.

»Gehörst du zu dieser Non-Profit-Organisation Girls Who Code?«

Ich schüttle den Kopf und schließe mein Buch. »Nein. Ich meine, ich bin ein Mädchen.« Sein Grinsen wird breiter. Ich verziehe das Gesicht, rede jedoch trotzdem weiter. »Und ich kann coden, aber ich habe noch eine Menge zu lernen. Ich habe mir CSS und HTML beigebracht, an JavaScript arbeite ich gerade, was essenziell ist für Front-end-Sachen und das Programmieren von –« Ich klappe den Mund zu, als mir klar wird, dass ich diesen Typen rein gar nicht kenne und wirklich aufhören sollte zu reden. »Warum grinst du so?«

»CSS? HTML? Nerdige T-Shirts, die ich nicht kapiere?«

Ich schaue auf mein Shirt, auf dem steht: ALLE WEGE FÜHREN NACH 127.0.0.1.

»Das ist eine IP-Adresse mit Schleifenschaltung, über die man immer wieder beim eigenen Computer landet.«

»Klingt für mich wie Geniesprache.«

»Ehrlich, wirklich nicht.« Grundlegendes Webdesign kann jeder lernen, der sich dafür interessiert. Nicht jeder bringt es sich selbst mit dreizehn bei, andererseits ist auch nicht jeder im Internet aufgewachsen. So wie ich es sehe, wurde mir Webdesign praktisch in die Wiege gelegt.

»Wie bist du zu dem Kram gekommen?« Er deutet auf mein Buch.

Ich habe keine Lust, über meine Mom zu reden, also ignoriere ich die Frage. »Wie heißt du?«

»Rafael Alejandro Luna.« Er streckt mir mit einem breiten Grinsen die Hand entgegen.

»Wie darf ich dich nennen?«

Ich hebe die Augenbrauen, völlig unvorbereitet auf diese Frage. Auf die Gefahr hin, wie der eingebildetste Mensch der ganzen Weltgeschichte zu klingen, muss ich zugeben, ich hatte angenommen, er wüsste, wer ich bin.

Im Großen und Ganzen haben Poppy und ich zwei Sorten von Fans. Zunächst einmal die Frauen mittleren Alters, die vor Urzeiten auf den berühmten Fashion-Blog meiner Mom abgefahren sind. Ihre Fans haben von Beginn an gespannt ihre Schwangerschaft mitverfolgt, daher postete sie nach unserer Geburt jede Woche einen Beitrag, den sie »Zwillingsdienstag« nannte. Sie schrieb über unsere ersten Schritte, Tanzaufführungen, Wackelzähne und alles andere.

Die Leute waren begeistert. Sie haben die Bilder von uns geliebt. Als wir aus der Süße-Baby-Phase rausgewachsen waren und Social Media sich veränderte, zog Mom mit dem Großteil ihrer Fashion-Posts um in Richtung Instagram und legte für Poppy und mich einen Videokanal an. Auftritt der zweiten Generation von Leuten, die wissen, wer wir sind: Teenager, die sich unsere Videos ansehen, um sich Frisur-, Make-up- und Modetipps zu holen. Man sollte meinen, dass es damit ein Ende hatte, doch aus mir völlig unverständlichen Gründen weigert Mom sich, den »Mami-Blog«-Teil ihrer Marke aussterben zu lassen. Noch immer postet sie jede Woche einen Zwillingsdienstagsbeitrag, was zur Folge hat, dass uns hin und wieder wildfremde Menschen ansprechen, weil sie mit uns über unser Töpfchentraining plaudern wollen.

Das Internet ist dermaßen bizarr.

Gilbert, Arizona, ist ein Dorf, wodurch unser Ruhm weit übertriebener ausfällt, als es offline irgendwo anders der Fall wäre. Auf Reisen kommt es kaum vor, dass jemand uns erkennt, vor allem außerhalb des Landes, doch Schule ist eine Sache für sich. Unsere Videos haben genug Reichweite, um zu bewirken, dass die Leute uns kennen, selbst wenn sie sie gar nicht ansehen. Doch Rafael scheint neu zu sein, daher ist es durchaus möglich, dass er keine Ahnung hat, wer ich bin oder womit Mom ihr Geld verdient. Andererseits trägt er dieses bescheuerte Dauergrinsen im Gesicht, also macht er sich vielleicht auch nur über mich lustig.

»Du kannst mich genauso nennen wie alle anderen.«

»Und das wäre …?« Er macht eine Handbewegung, damit ich fortfahre.

»Claire.«

»Nur Claire?«

Ich setze mich aufrecht hin. »Ich bin nicht nur irgendwer.«

Seine Augen funkeln amüsiert. »Erzähl.«

Ich bin versucht, unsere Statistiken abzuspulen: Abonnenten, Downloads, Likes und Follower. Doch eigentlich haben diese Sachen nichts zu bedeuten. Wenn er mich nicht verarscht, wenn er wirklich keinen Schimmer hat, wer ich bin, kann ich »nur Claire« sein, ein normales Mädchen aus einer normalen Stadt. Und vielleicht ist das etwas Gutes. In letzter Zeit sehne ich mich mehr denn je nach Freiheit und Anonymität.

»Du hast mich nach meinem Namen gefragt und ich habe ihn dir gesagt.« Ich zucke mit den Schultern. »Mehr als Claire kriegst du nicht.«

»Geht klar. Aber falls du deine Meinung noch mal änderst, tu dir keinen Zwang an.« Er isst einen weiteren Tortillachip, absolut gelassen in dieser alles andere als normalen Situation. Zum ersten Mal, seit er sich gesetzt hat, wünsche ich mir, Poppy wäre hier. Sie würde sofort merken, ob er mit mir flirtet. Ich kann es ehrlich nicht sagen. Man mag es kaum glauben, doch der Kinderstar eines Fashion/Mami-Hybriden-Blogs zu sein, lässt Jungs nicht gerade in Scharen angerannt kommen.

»Heben wir uns den Namen für später auf. Erzähl mir doch erst mal was über dich.« Er wischt sich Chipsbrösel von den Fingern und beugt sich vor. Ich habe den deutlichen Eindruck, gleich unter einer Flut von Fragen begraben zu werden. »Auf was für Filme stehst du so, nur Claire? Was für Bücher liest du, wenn du nicht gerade Webdesign studierst?«

Ohne dass ich etwas dagegen tun könnte, bahnt sich ein Lächeln den Weg auf meine Lippen. Unter dem Tisch wippen meine Beine auf und ab wie aufgeschreckte Heuschrecken. Ich klemme das Rechte hinter das Linke, um das Zappeln zu stoppen. »So interessant bin ich nicht. Glaub mir.«

»Das zu glauben, fällt mir schwer. Verrate mir wenigstens, was du gerne machst.«

Und wieder überrascht mich seine Frage. Es ist so ungeheuer lange her, dass jemand mich das gefragt hat. Im Supermarkt halten mich Fremde regelmäßig an, um sich Modetipps zu holen oder mein Outfit zu kritisieren. Niemand fragt je, was ich gerne tue, denn jeder, der sich dafür interessiert, meint, es längst zu wissen.

Aber nicht Rafael. Er kennt mich nicht und dieser Kick ist berauschend. Ich öffne den Mund, will antworten, bekomme jedoch kein Wort heraus.

Auf Moms Blog bin ich Claire Dixon: Poppys Zwilling. Ashleys Tochter. Eine brauchbare Schwimmerin, wenn auch langsamer als meine Schwester. Die Kleinere. Die mit den Sommersprossen und den Wöcheln – und den großen Zähnen. In meinem Video-Blog bin ich diejenige, die lieber Messy Buns zeigt als Mermaid Braids, »natürliches Make-up« im Gegensatz zu Poppys Partystyles. Wenn ich all das weglasse, wer bin ich dann?

In diesem Moment begreife ich, dass ich ihm erzählen kann, was immer ich will, und er wird mir glauben.

»Ähm … Du hast jetzt ungefähr eine Minute lang nichts gesagt. Tut mir leid, wenn ich dich mit einer so krassen Frage durcheinandergebracht habe, nur Claire.«

Ich rolle mit den Augen. »Hast du nicht. Ich habe nur überlegt, ob ich dir überhaupt erzählen will, was ich gerne mache.«

Rafael lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkt die Arme. »Kein Stress. Lass dir Zeit. Ist immerhin ein sehr ernstes Thema.« Sein Tonfall ist cool und spöttisch, was bei mir den Drang auslöst, ihn mit meiner Antwort überraschen zu wollen.

»Ich gehe klettern!«

»Ach, ehrlich?« Ihm steht die Überraschung in jeden Winkel seines Gesichts geschrieben – und ich freue mich diebisch darüber, dass ich es geschafft habe.

»Andauernd. Genau genommen jedes Wochenende. Ich habe einen Sicherheitsgurt und … und die ganzen Sachen, die man so braucht und in den Fels schiebt …« Hektisch wühle ich in meinem Hirn nach irgendeinem Begriff, der mit Klettern zu tun hat, aber ohne Ergebnis. »Ach, weißt du, spielt keine Rolle.« Unsere Blicke treffen sich und mir wird flau im Magen.

»Wo gehst du klettern? Und mit wem? Welcher ist dein Lieblingsberg?« Er stützt die Ellbogen auf den Tisch und legt sein Kinn in die Handfläche, ohne den Blickkontakt zu unterbrechen.

»Und ich spiele Schach, ununterbrochen. Ich bin sogar eine Schachmeisterin. Eine der Jüngsten im ganzen Land.«

Rafael hebt die Augenbrauen. »Eine Schachmeisterin, die auf Berge klettert. Echt jetzt? Du siehst gar nicht –«

»Überleg dir gut, was du jetzt sagst.«

In einer beschwichtigenden Geste reckt er die Hände in die Luft. »Mein Fehler«

»Es ist uncool, Leute nach ihrem Äußeren zu beurteilen.« Darauf basiert praktisch mein ganzes Leben, nur kann er das nicht wissen. »Wie fändest du es, wenn ich dich ansehen würde und einfach so davon ausginge, dass …« Ich mustere sein auf unordentlich gestyltes Haar, das breite Grinsen und die dunklen Augen auf der Suche nach etwas, was ich sagen könnte, nur finde ich nichts.

»Na, dann schieß mal los! Lass hören, was du so für Schlüsse ziehst. Oder noch besser: Spar dir das Raten – frag mich einfach und ich antworte.«

»Okay, eine Frage hätte ich: Wie lange brauchst du, um deine Haare so hinzukriegen?«

»Sechs Minuten. Normalerweise vier, aber heute war ich nervös. Neue Leute, neue Schule und so. Das also ist das Erste, was dir einfällt, wenn du mich ansiehst? Dass ich schrecklich viel Zeit mit meiner Frisur verschwende?« Achselzuckend tut er die unterschwellige Beleidigung ab, als wäre es keine große Sache. Als würde er jeden Tag solche Gespräche führen.

Ich weiß nicht, wie ich reagieren soll, also entscheide ich mich für das Nächstbeste. »Ich muss los.«

Rafael streckt die Hand aus und legt sie auf meinen Arm. »Hey! Geh nicht. Es tut mir leid, wenn ich dich verärgert habe. Ich wollte dir ein Kompliment machen, weil du so hübsch bist, aber es war dämlich, anzudeuten, hübsche Mädchen wären nicht clever genug zum Schachspielen oder tough genug zum Klettern.«

Wäre ich ein Kreisel, würde mich sein Kompliment wie ein winziger Stups aus der Bahn werfen. Ich starre seine Hand an, die mich berührt, und er zieht sie sofort weg. Seine Augenbrauen sind zusammengezogen und zum ersten Mal, seit er aufgetaucht ist, ist von einem Lächeln nichts zu erahnen. Ohne scheint seinem Gesicht etwas zu fehlen.

»Okay. Na dann. Danke, schätze ich …«, stammle ich, während ich mich Hilfe suchend im Raum umsehe.

»Keine Sorge. Wir wechseln einfach ganz offiziell das Thema, und zwar: jetzt.«

»Einverstanden.«

Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. Nach fünf Sekunden wird das so unerträglich, dass ich meinen Blick losreiße und auf die Decke richte. Als er weitere Sekunden lang schweigt, schaue ich entnervt wieder zu ihm. »Und?«

»Und was?«

»Ich dachte, du willst das Thema wechseln.«

Er bricht kurz in Gelächter aus. Mit leuchtenden Augen deutet er vage erst auf mich, dann auf sich. »Eigentlich habe ich gesagt, dass wir das Thema wechseln. Aber nach dem, wie meine Fragen so bei dir angekommen sind, fand ich, ich sollte das besser dir überlassen.«

Ich bin erleichtert, dass er wieder lächelt, trotzdem kann ich den Blickkontakt nicht ertragen, den er so eindringlich aufrechterhält. Meine Finger sehnen sich nach meinem Handy. Ich brauche etwas, irgendetwas, um mich von seinen dunkelbraunen Augen abzulenken, die sich, seit er sich gesetzt hat, allein auf mich konzentrieren.

»Hör auf damit!« Ich versenke die Gabel in meinen Bohnen-Käse-Burrito, nur damit meine Finger etwas zu tun haben.

Stirnrunzelnd schaut er sich in der Mensa um. »Womit?«

»Mich so anzusehen.«

»Wie denn?«

»Wie … Keine Ahnung. So … direkt ins Gesicht.«

Er kratzt sich die Wange und wirkt baff. »Wir unterhalten uns. Wo sollte ich denn sonst hinsehen?«

Ich deute auf unsere Umgebung, den Raum voller Teenager, die ihre Nase alle in ihre Bildschirme stecken. »Frag einen von denen.«

»Ich habe kein Handy.« Sein Tonfall ist sachlich, als hätte er gerade berichtet, dass es in Arizona heiß ist oder dass Poppy gerne für die Kamera posiert. Es klingt jedenfalls nicht, als hätte er total ungerührt die eine Sache zugegeben, die ihn von allen anderen in unserer Klasse unterscheidet.

»Warum nicht?« Das Entsetzen in meiner Stimme bringt Rafaels Lippen zum Zucken.

»Ich habe die letzten vierzehn Monate in Indien verbracht.«

Wer ist dieser Typ? Wann immer er den Mund aufmacht, verblüfft er mich. Bis zu diesem Augenblick war mir gar nicht bewusst, wie berechenbar all die anderen Kerle an der Schule sind. »Was hast du in Indien gemacht?« Ich rutsche dichter an den Tisch heran und bin dankbar, doch geblieben zu sein.

»Mein Dad arbeitet für Ärzte ohne Grenzen. Wir ziehen eine Menge durch die Gegend. Manchmal habe ich ein Handy, aber meistens wohnen wir in kleinen Dörfern mitten in der Pampa, wo man keinen Empfang hat, daher lasse ich es gleich bleiben.« Er zuckt mit den Schultern.

»Wow. Das ist … Wahnsinn.« Und meine Mom fotografiert ihre eigenen Klamotten, um damit Geld zu verdienen. Zum millionsten Mal heute hoffe ich, dass er nicht nach ihr fragt. »Was hast du da so gemacht?« Mir fällt es schon schwer, einen Vormittag ohne Handy zu überstehen. Ich kann mir nicht einmal vorstellen, das über ein Jahr lang durchzuziehen.

»Ganz normale Sachen. Ich hatte einen Privatlehrer, der mich unterrichtet hat, und sonst habe ich mit den Kindern aus dem Dorf Kricket gespielt. Die meiste Zeit ging aber natürlich fürs Haarstyling drauf.« Er grinst und mir steigt die Hitze in die Wangen.

»Und was machst du jetzt in Arizona?«

»Ich wohne bei meiner Abuela. Mein Abuelo ist vor ein paar Monaten gestorben und mein Dad wollte nicht, dass sie allein lebt, also sind wir hergezogen.«

»Oh. Ich, ähm, mein Beileid«, stammele ich verlegen und frage mich, warum er einer Wildfremden so private Dinge erzählt.

»Danke. Ich habe ihn nicht besonders gut gekannt, trotzdem ist es schwer.«

»Klar. Na ja …« Ich überlege verzweifelt, worüber wir reden könnten, ohne seinen toten Großvater zu erwähnen. »Willst du dir eins zulegen?«

Eindeutig verwirrt von meiner ungeschickten Überleitung zieht er eine Augenbraue hoch. »Ein Handy? Wahrscheinlich. Irgendwann. Ist mir nicht so wichtig.« Schulterzuckend fährt er sich durchs Haar.

Ich gebe mir Mühe, ihm möglichst lange in die Augen zu blicken. »Du bist offiziell anders als jeder andere Mensch, den ich je getroffen habe.«

Er lacht. »Wen sollte ich denn überhaupt anrufen? Ich bin ja gerade erst hergezogen. Ich kenne hier niemanden. Noch nicht.« Seine letzten Worte klingen wie ein Versprechen.

Ich schüttle den Kopf. Wenn er meint, Handys seien zum Telefonieren da, braucht er vielleicht wirklich keins.

Er legt die Unterarme auf den Tisch und beugt sich zu mir. »Du hast meine erste Frage noch immer nicht beantwortet.«

»Welche war das?«

»Warum hast du nicht auf einen Bildschirm gestarrt, als ich dich gesehen habe?« Er kommt direkt zum Punkt und es hört sich an, als wäre ihm die Antwort wichtig.

Ich zerbrösle einen Tortillachip zwischen den Fingern. Es läge nahe, ihm einfach die Wahrheit zu sagen, aber ich will nicht, dass er weiß, wie dringend ich mir mein Handy gewünscht habe, bevor er sich gesetzt hat. Nachdem ich meine Beine zur Serviette umfunktioniert und den Tortillakrümelstaub von meinen Fingern gewischt habe, sage ich: »Bücher sind mir lieber.« Eine Lüge mehr auf dem Riesenberg an Unwahrheiten, die ich ihm bisher aufgetischt habe, reißt es nun auch nicht mehr raus.

Aus den Augenwinkeln entdecke ich Poppy, die auf uns zuprescht. »Du glaubst nicht, was passiert ist.« Mit einem schweren Seufzen lässt sie sich auf den Stuhl neben mir fallen. »Torres hat Olivia und mich in der Mittagspause nachsitzen lassen. Er hat mich nur deshalb jetzt schon rausgelassen, weil es anscheinend gegen das Gesetz ist, Kindern das Essen zu verweigern.« Sie schüttelt den Kopf und seufzt noch einmal.

»Was war denn los?«, will ich wissen.

»Er glaubt, wir hätten bei dem Test vorhin geschummelt. Olivia hat mir während der Prüfung eine Nachricht geschickt, also habe ich auf mein Handy geguckt, und natürlich dachte er, wir würden Antworten austauschen. Als ob ich es nötig hätte, bei seinem bescheuerten Test zu betrügen.« Poppy mag handysüchtig sein, aber dumm genug zum Schummeln ist sie nicht. Abgesehen davon ist sie so klug, dass sie es nicht nötig hat. Im ganzen Leben hat sie noch nie etwas Schlechteres als eine Eins kassiert.

»Tut mir leid, Pop. Das ist übel.«

»Wem sagst du das. Morgen in der Mittagspause müssen Olivia und ich wieder nachsitzen.«

»Wo ist sie eigentlich?«

»Ruft ihren Dad an. Sie wollte Torres zuvorkommen. Jedenfalls tut es mir leid, dass ich nicht aufgetaucht bin. Ich habe dir geschrieben, aber dann ist mir eingefallen, dass dein Handy ja kaputt ist.«

Erwischt.

Rafael grinst mich über den Tisch hinweg an.

»Schon okay. Ich war nicht allein.« Ich nicke in Rafaels Richtung.

»Ich habe ihr Gesellschaft geleistet. War ein hartes Stück Arbeit, aber einer musste es ja machen.«

Poppy legt ihr Kameralächeln auf. »Hi. Ich bin Poppy Dixon!«

Er lächelt ebenfalls. »Rafael Alejandro Luna.« Sie schütteln sich die Hände und er wirft mir einen belustigten Blick zu, der zu sagen scheint: »Siehst du. So macht man das.« Auch egal. Obwohl er nun unseren Nachnamen kennt und uns nebeneinander sieht, deutet nichts darauf hin, dass wir ihm bekannt vorkommen.

Er hat ehrlich, wirklich, wahrhaft keine Ahnung, wer ich bin. Dieser Umstand macht mich abartig glücklich.

»Rafael Luna … Klingt irgendwie vertraut.« Poppy schürzt die Lippen und trommelt mit den Fingern auf ihrem Kinn. Eine einstudierte Geste, die den fanatischsten ihrer Fans vorgaukeln soll, dass sie ihren Namen von ihren Social-Media-Profilen wiedererkennt. Als könnte sie deren »OMG, SO SÜSS!«-Kommentare von all den Hunderten anderen unterscheiden. Kein Wunder, dass sie der Liebling ist. Ich schüttle den Kopf. Sie ist ein Naturtalent. Und jede Sekunde wird sie mich auffliegen lassen.

Ich packe sie am Arm. »Du musst mich Spanischvokabeln abfragen.«

»Das kann ich übernehmen«, bietet Rafael an. Mensch, Junge! Hör auf, so nett zu sein! Zu gerne würde ich bleiben und mich weiter mit ihm unterhalten, aber noch soll er die Wahrheit über mich nicht erfahren.

Noch nicht.

Es ist schön, auch mal ein Geheimnis zu haben. Ausnahmsweise kann ich selbst entscheiden, welche Geschichte und wann ich sie erzählen will. Auch wenn diese Geschichte hin und wieder eine kleine Lüge beinhaltet.

Neue Nachrichten(die derzeit im Cyberspace auf ihre Übertragung warten)

Mom

9:04

Die Klicks sind heute total niedrig. Bitte sieh dir die Seite bei nächster Gelegenheit an!

9:44

Ruf mich in der Mittagspause an! Wir müssen das in Ordnung bringen.

9:54

Claire? Es ist wichtig!

9:55

Okay, konzentriere dich auf die Schule. Wir reden, wenn du nach Hause kommst.

Poppy11:38

Werde heute in der Mittagspause nicht da sein, weil Lehrer Idioten sind.

11:39

Setz dich zu E & E. Sie sind nicht so, wie du denkst.

Upsi, hab vergessen, dass dein Handy kaputt ist.

Ha. Schon wieder!

!Die Milchbar! 13:10

Nur heute: Zu jedem Blizzard-Shake gibt es einen gratis dazu!Schicke STOPP, um dich vom Newsletter abzumelden.

Poppy 13:14

Soll ich nach dem Training noch Eis besorgen?

Wäh. Dein doofes Handy …

KAPITEL 3

»Poppy ist auf dem Klo.« Olivias Finger fliegen über ihr Handy, als ich zum Trinkbrunnen im ersten Stock komme.

»Oh.« Mir fällt nichts ein, was ich sonst noch sagen könnte. Olivia und ich sind nur über Poppy befreundet, und wenn meine Schwester nicht dabei ist, haben wir uns wenig zu sagen. Nicht, dass Olivia in Poppys Gegenwart gesprächig wäre. Gegenüber Olivias Handygewohnheiten wirkt Poppy wie eine blutige Anfängerin.

Ich lehne mich gegen das Geländer des Balkons, vom dem aus man in die Haupthalle im Erdgeschoss blickt. Hunderte von Schülern rempeln sich gegenseitig an, während sie sich in Grüppchen sammeln. Von hier oben sieht es nach ungeheuer viel Aufwand aus, um für ein paar kurze Minuten mit Freunden zu plaudern. Sobald der Gong die letzten dreißig Sekunden ankündigt, wird erneut Chaos ausbrechen, weil dann alle davonhetzen, um rechtzeitig zum Unterricht zu kommen. Unwillkürlich suche ich in der Menge nach zerzaustem braunem Haar. Stattdessen landet mein Blick auf einer Gruppe Mädchen aus dem Schwimmteam, die eng im Kreis zusammenstehen.

»Habe gehört, dass Torres euch zum Nachsitzen verdonnert hat.« Ich wende der Haupthalle den Rücken zu. »Scheiße, was?«

Olivia schüttelt seufzend den Kopf. »Fang mir nicht davon an! Sonst explodiere ich noch.« Ihre losen blonden Locken wippen über ihren Schultern.

Ich verkneife mir ein Lächeln und überlege, was wohl nötig wäre, damit sie ihr Handy weglegt und »explodiert«. Mehrere Sekunden vergehen, und als ich sicher bin, abhauen zu können, ohne dass es den Eindruck erweckt, ich würde sie loswerden wollen, sage ich: »Wenn du Poppy siehst, kannst du ihr ausrichten, dass ich schon zum Unterricht bin.«

»Lass mich nicht allein!« Ungläubig reißt sie die Augen auf und sieht mich zum ersten Mal an. »Wir haben noch zwei Minuten.«

Ich seufze und lehne mich wieder gegen das Geländer. Wir schweigen uns an, bis der Gong ertönt und Olivia ihr Handy in ihre Schultasche gleiten lässt. »Habe gehört, du hast heute in der Mittagspause mit dem Neuen gegessen.«

»Äh, ja, stimmt.« Ich laufe durch den Gang in Richtung meiner nächsten Stunde.

»Poppy findet ihn süß.« Sie spricht lauter, damit man sie über den Lärm der Menge hinweg hören kann.

»Ich muss echt los! Wir reden später!«

»Ich schreibe dir!«, ruft sie noch, bevor sie hinter einem Grüppchen verschwindet. Ich sprinte einen langen Gang entlang, um nicht zu spät zum Unterricht zu erscheinen. Als ich das Klassenzimmer betrete, in dem Poppy bereits auf ihrem Platz sitzt, läutet es gerade. Sie blickt zu mir hoch und sagt etwas, was ich allerdings nicht richtig wahrnehme, denn neben ihr, an meinem üblichen Tisch, sitzt Rafael.

Ich hätte damit rechnen sollen, dass er auch im College-Vorbereitungskurs ist. Das Wahlfach ist ein Witz und daher eins der wenigen mit freien Plätzen. Eigentlich hatte ich mich für Computerprogrammieren eingeschrieben, aber für den Kurs kamen nicht genug Interessenten zusammen. Nachdem ich in den einzigen Wahlkurs gesteckt worden war, der in meinen Stundenplan passte, darf ich nun das Halbjahr damit verbringen, zu lernen, wie man Lebensläufe schreibt und Fragen im Bewerbungsgespräch beantwortet. Ich hatte gehofft, dabei würde zumindest eine leicht verdiente Eins rausspringen, doch Ms Grant ist strenger, als es Wahlfachlehrern erlaubt sein dürfte.

Rafael lächelt mich an und tätschelt den leeren Stuhl vor ihm. »So treffen wir uns wieder, NUR Claire!« Ich will etwas erwidern, doch Ms Grant räuspert sich und wartet darauf, dass ich mich setze. Als ich es tue, könnte ich schwören, seinen Blick im Nacken zu spüren. Es kostet mich alle Selbstkontrolle, mich nicht zu ihm umzudrehen.

Fünfundfünfzig der weltlängsten Minuten später ist der Unterricht zu Ende. Kurz denke ich darüber nach, noch zu bleiben und mit Rafael zu plaudern, doch ich will nicht zu offensichtlich rüberkommen. Stattdessen winke ich Poppy zum Abschied und verschwinde als Erste zur Tür hinaus. Einige Schritte später ruft jemand meinen Namen. »Hey! Nur Claire!« Rafael joggt auf mich zu, während er nach links und rechts Leuten ausweicht.

»Okay. Hi. Also wie geht’s dir, nur Claire?« Er verfällt neben mir in Gleichschritt, als wir die Treppe zur Haupthalle runterlaufen.

»Du weißt schon, dass ich nicht wirklich so heiße, oder?« In meinem Kopf hörte sich das nach dem Auftakt zu einem Flirt an, aber als ich diese Worte ausspreche, klingen sie genervt.

»Dann lass mal hören.»

Scheiße. Wenn ich ihm jetzt meinen Nachnamen verrate, begreift er, dass Poppy und ich Schwestern sind, und er könnte die Verbindung zwischen nur Claire aus der Mensa und der Social-Media-Berühmtheit Claire Dixon herstellen.

»Egal. Nur Claire ist super.«

»Wo gehst du hin?«

»Zu meinem Auto.«

»Kann ich mitkommen?«

»Hat ganz den Anschein, als würdest du’s schon tun.«

Er öffnet die Tür nach draußen und wartet, bis ich durchgegangen bin. »Stimmt. Aber wenn ich eins bin, dann ein Gentleman.«

Ich werfe ihm einen Seitenblick zu. Nun, da er weder vor noch hinter mir sitzt, kann ich ihn länger als einige Sekunden am Stück ansehen. Seine Schritte sind größer als meine, aber er geht extra langsam, um mein Tempo zu halten. Seit dem Mittagessen scheint sein zerzaustes Haar einen Windtunnel durchquert zu haben, wirkt dadurch aber irgendwie nur noch perfekter.

Am bemerkenswertesten an ihm ist allerdings seine extrem entspannte Ausstrahlung. Seine Arme baumeln lässig an seinen Seiten, sein Blick ist nach vorn gerichtet, ohne hin und her zu zucken, um zu überprüfen, ob sich jemand hinter den drei Minivans in der Nähe verstecken könnte. Er ist erst seit einem Tag an dieser Schule und scheint sich schon jetzt viel wohler zu fühlen als ich nach drei Jahren.

»Wo sind die Spinde?«, fragt er plötzlich.

»Wir haben keine.«

Er macht ein entsetztes Gesicht. »Aber in sämtlichen Teeniefilmen auf Netflix sind die doch das Wichtigste.«

„Lass mich raten, du hast dich schon darauf gefreut, deinen mit Fotos von deiner Freundin zu dekorieren?“ Diese Worte waren nicht geplant, aber zurück nehme ich sie jetzt auch nicht mehr.

Er hebt eine Augenbraue, doch mehr Reaktion erhalte ich auf meine unterschwellige Frage nicht. „Eigentlich wollte ich einen Spiegel anbringen, um meine Frisur checken zu können.“

Ein Schweißtropfen rinnt in mein Auge, als ich lache. „Ist es in Indien auch so heiß wie bei uns?“

„Nein. Wir hatten selten mehr als achtzig/neunzig Grad Fahrenheit.“

„Wie viel ist das denn in Celsius?“ Während wir über den Parkplatz laufen, verfallen wir erneut in Gleichschritt. Einige Autos fahren bereits los, doch die meisten Schüler haben es nicht eilig. Sie lehnen an Wagentüren und unterhalten sich mit Freunden, erleichtert, einen weiteren Tag Unterricht hinter sich gebracht zu haben. Zum ersten Mal in diesem Schuljahr fühle ich mich wie eine von ihnen. Wie ein normales Mädchen, das auch nur mit einem Kumpel abhängt, anstatt mit eingezogenem Kopf Richtung Auto zu sprinten.

»Ich denke, das sind dann ungefähr dreißig Grad Celsius.«

Über Indien weiß ich nur, dass es dort heiß ist, was offenbar aber kein Vergleich ist zu hier. Ich lächle, seltsam stolz auf meinen Staat. »Arizona gewinnt.«

»Ist das ein Wettbewerb?«

»Klar.«

Rafael schirmt seine Augen mit der Hand gegen die Sonne ab. »Magst du die Hitze?«

»Nicht mal ein bisschen.«

»Heißt das dann nicht, dass ihr verliert?« Er geht einen Schritt zur Seite, um nicht von einem Mädchen angerempelt zu werden, das einen Ball über den Platz dribbelt.

»Wahrscheinlich schon.« Lachend bleibe ich vor meinem Wagen stehen.

Rafael hält abrupt inne und ist offenkundig überrascht.

»Stimmt was nicht?«

»Nein, nur da, wo ich herkomme, fahren nicht gerade viele Schüler einen Mercedes.«

Ich zucke mit den Schultern, weil ich unsicher bin, was ich sagen soll. Auf unserem Parkplatz gibt es kaum Luxusgefährte wie die von Poppy und mir, aber jeder weiß, wie wir sie uns leisten können. Noch so eine Sache, die ich bisher noch nie erklären musste.

Zum Glück verlangt Rafael keine Erklärung. Er nickt nur zum Abschied und geht dann zu seinem Auto.

„Hast du dir die Website angesehen?“, fragt Mom, als ich zehn Minuten später das Haus betrete. Sie sitzt auf der Couch und hat die Füße auf den Polsterhocker gelegt. Neben ihr stehen eine Diätlimo und eine Schüssel Popcorn. Ihren Laptop auf dem Schoß, ist sie gerade dabei, ein paar Outfit-Fotos zu editieren. Darf ich vorstellen: Meine Mutter in ihrem natürlichen Habitat.

Ich setze mich neben sie und greife mir eine Handvoll Popcorn aus der Schale. »Noch nicht.«