Just like an Arrow 2 - Gabi Raunegger - E-Book

Just like an Arrow 2 E-Book

Gabi Raunegger

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Beschreibung

Zwölf Jahre nach ihrer Flucht aus dem Gefängnis in Idaho, leben Ike und Eddie Rillek, alias Ben und Toby Campell, friedlich in Stuttgart. Die Idylle wird gestört, als durch einen Streit zwischen Toby und seinem Freund Alby, zwei schrullige Kommissare auf die Familie aufmerksam werden. Wie Bluthunde nehmen sie die Spur der Rilleks auf. In einem alten Luftschutzstollen kommt es zum Showdown zwischen den Brüdern, den Kommissaren und einem alten Bekannten. Denn ich habe mir einen Tag der Rache vorgenommen, um zu bestrafen allen Ungehorsam.

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Widmung

Für Ludwig Hollburg

Manche Menschen treten plötzlich in dein Leben und ohne dich auch nur einmal anzufassen, berühren sie dich doch. Du hast meinem Leben eine neue Richtung gegeben. Du warst, bist und bleibst für mich auf deine Art und Weise mein Roland Wolf.

Einfach nur DANKE.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Horrido - Die Jagd beginnt

Aufbaumen - Die Observation

Aufgang - Ende der Schonzeit

Errare humanum est

Blanke Waffen

Habitus und Hege

Die Spazierfahrt

Halali - Ende der Jagd

Einleitung

Manche Leute verwechseln Sicherheit mit Langeweile.

Zugegeben, es gibt Tage, da passiert selbst Eddie diese Dummheit, obwohl er es eigentlich besser weiß. Es gibt nämlich kein schöneres Gefühl, als morgens aufzuwachen und zu wissen, wer man ist, wo man ist und zu wem man gehört.

Das ist nicht selbstverständlich und wird gewaltig unterschätzt.

Für all diejenigen, die es noch nicht wissen: Eddie Rillek heißt jetzt Tobias Campell. Früher war er Eddie Rillek, aber das ist lange her. Damals reckten noch Dinosaurier ihre potthässlichen Köpfe in den von Schwefelgeruch geschwängerten Himmel. Den Namen benutzt er so gut wie nicht mehr. Nur seinen engsten Verwandten, also seinem Bruder, seiner Schwägerin und natürlich seinem Freund rutscht er noch ab und zu heraus. Ganz privat. Hinter verschlossenen Türen. Hinter vorgehaltener Hand. Oder auch mal aus Versehen, wenn ganz viel Emotion dahintersteckt.

Denn der Name hat Vergangenheit. Und die ist nicht ohne!

Sein Bruder Ben, vorher Ike, hat dasselbe Problem.

Gemeinsam haben die beiden in Idaho, am letzten Sackhaar der Welt, einen Mann getötet. Das, so könnte man meinen, war ganz schön unfair, so zwei gegen einen. Aber mal von der Tatsache abgesehen, dass der Kerl bewaffnet war und die Brüder nicht, dass er ein Drogenkurier war und dazu noch eine Junkie-Macke hatte, hatte er auch noch Ikes und Eddies Mutter und ihre kleine Schwester umgebracht. Mit einem langen Springmesser abgeschlachtet wie zwei Säue. Danke, auf Wiedersehen und schönen Tag noch! Da weiß man doch gleich, wo im Hafen die Sonne untergeht. Für den Mord an Peter Newman (und noch an dem von einem seiner Spießgesellen, man sollte Patrick van Horn nicht vergessen, auch wenn der quasi nur ein Kollateralschaden war), fuhren die Jungs dann per D-Zug in den Knast. Sie hatten sich schuldig bekannt und vorgehabt, ihre Strafe auch brav abzusitzen. Aber sie fielen einem Traktaufseher in die Hände, dem gewaltig das Fell juckte und der ihnen ständig eins überbraten wollte. Da kamen den Jungs echte Bedenken an ihrem ernst gemeinten Vorhaben des friedlichen Absitzens. Sie zweifelten an der Richtigkeit der Vorgehensweise dieses Captains und versuchten sich zu wehren, aber da ihre Proteste ungehört im Sand verliefen, oder wie ein Echo in den Bergen einsam verhallten, schauten sie zu, dass sie wegkamen.

Zusammen mit zwei Freunden waren sie mit Hilfe von ein paar anderen Freunden aus dem Bau in Idaho ausgebrochen.

Jetzt lebten sie seit 12 Jahren in Deutschland. In Stuttgart, um genau zu sein. SIE, das waren: Eddies Bruder Ike, jetzt eben Ben, mit seiner Frau Martina und den drei Kindern, Eddies Lebensgefährte Alby - Albert Preis auch bekannt als das Frettchen, der den Jungs mit aus dem Knast geholfen hatte - und Eddie selbst, jetzt Toby. Zu Beginn hatten sie noch in einer Wohngemeinschaft gelebt. Zumindest so lange, bis die Kinder kamen. Dabei hatten Ben und Martina noch gar keine Kinder gewollt. Ganz ehrlich? Martina hatte noch keine Kinder gewollt. Ben war das schnuppe. Sie hatte Ben damals erst kennengelernt, über Toby mit Verlaub, und ihn schon kurz darauf geheiratet. Ob sie dabei ein weißes Kleid trug ist unerheblich, auf jeden Fall trug sie Pumps, aber...das nur nebenbei. Kinder waren jedenfalls noch keine geplant gewesen. So hatte sie sich doch erst vor kurzem mit einer Praxis als Ergotherapeutin selbständig gemacht und wollte sich verwirklichen. Wie es dann doch so schnell dazu kam?

Nun, in dem Ben das tat, was er als Zweitbestes konnte: er quatschte seine Frau besoffen. Das klang ungefähr so: `Weißt du Schätzchen, es dauert meistens ganz schön lange, bis man schwanger wird. Bei vielen Paaren sogar Jahre. Sie probieren es spät, dann klappt es nicht gleich, sie werden immer ungeduldiger, die Zeit vergeht und sie bleiben kinderlos. Das ist doch auch nix. Lass es uns langsam und gemütlich angehen.

Ganz ohne Druck. Du setzt die Pille ab, die Wirkung muss ja auch erstmal verpuffen, wir verhüten so lange mit einer anderen Methode und dann, wenn wir vorbereitet sind, schlagen wir zu. Dann, wenn der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Was meinst du? Das klingt doch logisch, oder?

Ne, Schatzi?´ …und so weiter und so weiter. Und ja:

VERPUFFEN! Er hatte tatsächlich verpuffen gesagt! Und sie war doch glatt drauf eingegangen. Dann tat Ben das, was er am besten konnte und kaum hatten sie ihre Klamotten in ihrem Zimmer auf dem Boden verteilt, war auch schon der Nachwuchs unterwegs. Drei Monate später kam es an den Tag. Da Martina die Pille ja erst abgesetzt hatte, wunderte sie sich nicht weiter, dass schon ihre erste Periode danach ausblieb. Musste sich ja erst ein neuer Zyklus einpendeln, quasi die Wirkung VERPUFFEN. Die Frauenärztin untersuchte sie.

"Waaaas!? UNMÖGLICH!!!!"

Martina riss den Monitor des Ultraschallgerätes herum und starrte auf das Bild ihrer Gebärmutter.

"Gratuliere?", fragte die Doktorin vorsichtig.

Nach einem langgezogenen Schrei, der in der Praxis nur langsam verpuffte, sauste Martina aufgebracht nach Hause.

Dort wartete sie ungeduldig auf die Heimkehr ihres Gatten, der sie so vortrefflich begattet hatte. Es empfing ihn im Flur eine Furie mit vor Wut hochrotem Gesicht, mit einem aufgeblasenen Kondom in der Hand.

"Weißt du, wie man das korrekt benutzt, Ben Campell?! Weißt du es?! .Weißt du es?!"

Dabei hieb sie ihm immer wieder den Präserballon auf den Kopf. Ben flüchtete ins gemeinsame Wohnzimmer, in dem Toby seine Serie gucken wollte.

"Ja, weiß ich!" rief er grinsend. "Zum Kuckuck, was machst du denn? Toby, hilf mir gefälligst! Meine bessere Hälfte dreht durch!!"

Toby legte die Füße auf den Couchtisch und drehte den Ton vom Fernseher lauter.

"Was soll das?", fragte er gereizt, als die beiden Streithammel im Uhrzeigersinn vor seiner Nase herumflitzten und ihm die Sicht auf den Bildschirm versperrten. "Könnt ihr nicht woanders blöd sein?"

Martina sah ihn aus babyblauen Augen an.

"Hast du mich vorhin nicht richtig verstanden, Herr Campell?

Ich bin vom anderen Herr Campell schwanger!"

"Ja, aber ICH war´s doch nicht. Haltet mich da raus! Ja, und noch mal herzlichen Glückwunsch. Jetzt schlag ihn in eurem Zimmer zu Klump!"

Ben entwand seiner Frau den aufgeblasenen Präser und gewann somit die Oberhand über die Keilerei. Aber statt damit zurückzuschlagen, nahm er aus der Schublade eine Reißzwecke und ließ ihn platzen. PENG!!!

"Nimm das, du Verräter! Dem hab ich's aber gegeben!

Zufrieden, Schatzi?"

Martina fing gespielt zu Heulen an und lehnte sich an seine Schulter.

"Ben, was hast du nur gemacht?"

"Ich? Also, du warst zu mindestens 50% daran beteiligt."

"Neiheiein!!"

"Doooch. Und wie!"

"Ich hasse dich!"

"Ich mich auch. Aber was soll's?"

Toby schaltete auf die Nachrichten um. "Du hast die Pille doch selber abgesetzt. Dann wolltest du doch auch ein Baby."

"Jaaa, aber doch nicht SOFORT!!"

"Na, die Entscheidung ist vom Tisch. Du, Ben, in Kalifornien brennt der Wald."

"Dir brennt gleich ein Auge, Schwager!", fuhr Martina ihn an.

"Wo bleibt Alby!? Der wird mich wenigstens verstehen!"

Tobys Herzblatt verstand sich in der Tat sehr gut mit Tina. Die Familienmitglieder verstanden sich allgemein gut untereinander, aber die beiden hegten von der ersten Minute an ein ganz besonderes Verhältnis. Martina dankte es ihm offenbar, dass er die Brüder aus dem Knast geholt und nach Deutschland verfrachtet hatte, mehr noch, als die es selber taten, sofern das überhaupt möglich war. Dabei war es Toby gewesen, der ihre Nähe gesucht und ihr seinen Bruder untergejubelt hatte. Aber, was sollte der Neid? Die Chemie unter den beiden stimmte einfach und wenn Toby nicht ganz sicher gewusst hätte, dass sein Lover so warm war wie ein frisch gelegtes Hühnerei, könnte er fast ein bisschen eifersüchtig werden, bei dem dauernden Rumschmusen der beiden.

"Arbeitet noch", klärte Toby dessen Verbleib auf. "Er bringt nachher Pizza mit."

"Ihr könnt doch meiner schwangeren Frau nicht so einen Mist servieren!", sagte Ben entsetzt. "Das geht so nicht! Sie braucht gesunde Kost, wie Obst, Gemüse, Körnerbrot…" "Neihein!!"

Martina, ein alter Pizza-Taxi-Fan, knallte beleidigt die Zimmertür hinter sich zu.

"Du, Eddie?", raunte Ben. "Ich werde Vater!!"

"Ach, was!", feixte der. "Das war bestimmt der Briefträger."

Stolz warf Ike sich in die Brust: "Mann oh Mann, ich werde Vater!! Hab gar nicht gewusst, dass ich derart potent bin!!"

"Ja, bist ein echter Eiweißprotz! Und ich hab ihre Wut abgekriegt. Hättest sie vorhin mal erleben sollen. Ich hab gedacht, sie tickt nicht mehr sauber."

"Warum?"

"Na, weil ich dich in ihr Leben geschleppt hab, wie ne Katze ne tote Maus."

"Wie ne Katze ne tote Maus?"

"Ja, wie ne Katze ne tote Maus, Zitat Ende."

"Und was noch?"

"Das willst du nicht wissen."

"Uiiii. Armer Bruder", sagte Ike mitleidig den Kopf schüttelnd.

"Ja, armer Bruder. Darf ich jetzt wenigstens in Ruhe fernsehen?"

Toby zappte auf ein anderes Programm. Ben stand vor ihm und grinste einheimsend.

"Du, Eddie.... Ich werde Vater!!!!"

"Jaaa!", verdrehte der schließlich die Augen. "Haste fein gemacht, ein Braver bist, eieiei. Jetzt Platz!!"

Ben begann zu hecheln und trollte sich zu seiner unglücklichen Frau. Endlich freier Blick auf den Fernseher und 30 Sekunden Ruhe. Dann Schlüsselklappern, Türenschlagen, Auftritt Alby:

"Trari, trara, die Post ist da!!"

Warum alle daraufhin schallend lachen mussten, bekam er von Ben bei einem Glas Sekt erklärt. Für Martina gab es Fruchtsaft. Neihein!! Aber die Peperoni-Pizza ließ sie sich nicht verbieten. An dem Tag durften Ed und Alby den guten Ben noch stundenlang bauchpinseln. Und er rief zum ersten Mal in seiner Ehe freiwillig seine Schwiegermutter an, um ihr brühwarm die Neuigkeit aufs Butterbrot zu schmieren.

Genüsslich ließ er sich dabei jedes einzelne Wort auf der Zunge zergehen. Astrid, freute sie sich aber doch! Klar, sie war von der Wahl ihrer Tochter, was ihren zukünftigen Schwiegersohn anging, alles andere als entzückt gewesen, denn was hatte Ben Campell schon zu bieten, außer Liebe und Verständnis? Nichts! Da wäre ihr der gute Marc, Martinas Ex und eingebildeter Superheld, schon eher in den Teich geschwommen. Seit DER Aussage war Astrid bei Ben unten durch und hatte ihren Spitznamen `Arschtritt´ weg. Wie konnte sie auch diesen Möchtegern-Macker, der ihre Tochter lediglich hatte runterlaufen lassen, sie nieder machte wo´s nur ging, der sie sogar schon geschlagen hatte, Ben Campell vorziehen? Okay, Ben war auf einem Auge fast blind, hatte orangerote Haare und durch den alten Traktaufseher McIntosh nen Sack voll Narben auf der Brust, aber er war ein herzensguter Mensch mit viel Humor und einem innigen Beschützergeist. Dennoch: Astrid mochte ihn nicht. Sie hielt Ben für einen typischen Versager, für das Schlimmste, was ihrer Tochter je passiert war. Und dann noch der schwule Bruder! Aber sei es drum. Die Aussicht Großmutter zu werden, erfüllte ihr Herz dann doch mit Freude und sie bot geflissentlich ihre Hilfe an. Ben aber meinte, sie kämen schon klar und legte einfach den Telefonhörer auf. Martina gönnte ihm diese kleine, kindliche Freude. Mit dem Fortschreiten der Schwangerschaft kam bei Martina bald die Morgenübelkeit und sie nahm schnell gewaltig zu. Dann rief Tante Almtraud an, die Zwillingsschwester von Astrid. Ben hatte schon immer gesagt, Almtraud hätte schon allein daher ihre Daseinsberechtigung, weil eine Frau wie Astrid allein nie so dämlich hätte sein können; aber Traudel war sehr nett. Sie schickte Blumen und Konfekt aus Köln und kündigte sich für nach der Entbindung als Besuch an. Gut, die Jungs mochten sie. Sie war schrullig und ein wenig schräg. Sie wollte unbedingt eine der ersten sein, die das neue Leben in Augenschein nahm. Natürlich gingen Toby und Alby zur nächsten Ultraschalluntersuchung mit in die Frauenarztpraxis. Sie wollten auch so früh wie möglich den kleinen Stammhalter sehen. Ben schaute hin. Er schaute genauer hin. Alby grinste. Ben rieb sich das Kinn. Ben sah die Ärztin fragend an. Toby grinste. Ben sah die Ärztin noch etwas länger an, aber sie wusste, sie brauchte das Dargestellte nicht zu kommentieren. Die Campells konnten selbst interpretieren, was man auf dem Bildschirm deutlich sehen konnte.

"Hoppla", sagte Ben nach einiger Zeit des Schweigens. Die Ärztin nickte.

"Was ist?", fragte Martina leicht nervös. "Sagt bloß nicht, es hat keine Ohren."

"Dooch", meinte Ben gedehnt. "Es hat schon welche. Aber es sind wohl vier davon."

Es blieb lange still. Dann konnte man hören, wie bei Martina der Groschen fiel. Pling, pling, pling…eine laaange Kellertreppe runter.

"Zwillinge?!"

Den Schrei hatte man selbst im Wartezimmer des Kardiologen einen Stock tiefer noch gehört. Das hatte Martina insgeheim schon befürchtet, als ihr Bauchumfang davonschnellte. Scheiß Vererbungslehre! Toby und Alby klatschten sich ab. Völlig aus dem Häuschen stammelte Ben: "Jungs, es sind Zwillinge!

Zwei zum Einzelpreis! Ich glaub, ich muss mal kurz weg!"

Dann rannte er zur Tür raus. Martina war zum Glück noch nicht wieder Herr ihrer Kleidung.

"Ben!!! Bleib stehen!!! Wo, verdammt willst du hin!?!?"

Alby sah seinem Schwager nach.

"Bei dem Tempo? Mikronesien vielleicht? Barbados? Alaska?"

"Oh, er täte besser dran!", fauchte Martina.

Von unten auf der Straße trötete Ben hörbar: "Wir kriegen Zwillinge!!!!"

"Und ich einen Nervenzusammenbruch!", seufzte seine Frau.

"Ach was wirst du!", lächelte Toby ihr aufmunternd zu. "Dafür kann Ben nix. Das Zwillingsding ist deine Veranlagung. Und wir helfen dir auch, nicht Alby?"

"Nicht ALBY", sagte der ernst. Kinder waren nicht so sein Ding.

"Quatsch nicht, Blödel. Natürlich sind wir für euch da. Ich wär für nen Jungen und ein Mädchen. Das wär doch prima. Ich freu mich drauf!"

"Ich freu mich ja auch drauf, Onkel zu werden, aber unsere WG ist damit gestorben."

Und damit hatte er recht. Mit einem Wichtel wäre es für die erste Zeit noch gerade so gegangen. Aber ein Doppelpack macht Laune. Da geht die Post ab – trari, trara! Doch der Zufall wollte es, dass die Wohnung über Campell / Preis frei wurde.

Die Eigentümer boten Ben und Tina die Wohnung zum Kauf an. Kein Problem bei Albys Finanzen. Die beiden schlugen mit seiner Hilfe zu und Martina vermietete die Räume ihrer Ergotherapiepraxis an eine nette Kollegin. Dann konnte sie sich ganz auf ihre Schwangerschaft konzentrieren. Und sie hatte eine Traumschwangerschaft. Das half ihr, sich sehr schnell mit ihrem Zustand abzufinden. Nur Ben, den ließ sie mit diebischer Freude darunter leiden. Täglich ließ sie ihn spüren, dass sie ihn voll zur Verantwortung zog. Ihn, ihren Schuldigen. Die tote Maus. Den Präserverweigerer. Das klang dann ungefähr so: "Ben? Bääähääännn! Holst du mir ein Hähnchen? Ich hätte so gerne ein Brathähnchen. Ben?

Bääähääännn! Mir ist so nach Eiscreme. Vanille, oder Schoko.

Oder besser beides? Ben? Bääähääännn! ......" Und so weiter, und so weiter. Aber Ben tat nur genervt. In Wirklichkeit genoss er es, seiner werdenden Mami das Gewünschte zu holen, auch spät in der Nacht noch. Toby und Alby hätte sie dagegen schon nach dem zweiten Bääähääännn den Buckel runterrutschen können. Das gruseligste an dem glücklichen Ehepaar und baldigen Eltern aber war: Sie stritten nie! Sie diskutierten Dispute einfach aus, wie Ben es nannte. Das klang dann ungefähr so: "Tina, Schätzchen, ich fand das nicht so gut, weil…" oder: "Tina, Schätzchen, das war jetzt nix, weil…" und so weiter, und so weiter. Diese Weichspüler-Taktik stand im krassen Gegensatz zum früheren Stil von Ike. Er, der seinen ehemaligen Zellengenossen Namens Douglas aus Spaß immer nur Doogie genannt hatte, war vom aufmüpfigen Clown zum Frauenversteher mutiert. Das lag hauptsächlich daran, dass er eine emotionale Wandlung durchgemacht hatte. Er war von Ike Rillek, dem verurteilten Mörder, zu Ben Campell, dem Ehemann und Vater geworden. Das merkte man ihm deutlich an. Wenn Toby und Alby dagegen stritten, dann war das purer Hardcore! Das klang dann ungefähr so:

Alby: "Blöder Wichser!"

Toby: "Dumme Schwuchtel!"

Dann flog was. In der Regel der nächstbeste Gegenstand, der den Jungs in die Finger kam. In ihrem Fall waren das Bücher, Comichefte oder Sofakissen. Ein Großteil davon ging daneben, weil sie sich rechtzeitig routiniert duckten. Dann knalle die Wohnungstür. Meistens hinter Alby. Er war in der Regel derjenige, der klein beigab und das Schlachtfeld bis auf weiteres räumte. Toby blieb dann zurück und zog sich einen Horrorfilm rein. Während er sich ausmalte, wie Zombies Gulasch aus dem Körper seines Lovers machten, oder ihm die Gliedmaßen einmal um die eigene Achse drehten, verrauchte seine Wut und er regte sich langsam ab. Alby gab sich derweil lieber in einer Bar die Kante, soff und qualmte sich um Kopf und Kragen. Wenn er dann spät in der Nacht nach Hause kam, rotze voll, auf allen Vieren, nach Zigaretten und Kneipe stinkend, torkelte er ins Klo und kotzte bis zum Sonnenaufgang. Verkatert blieb er dann den ganzen Tag im Bett und Toby knallte ihm lieblos einen Eisbeutel auf den Dickschädel und stellte ihm einen Eimer vor die Koje. Er hasste es, wenn Alby so war. Und Alby wusste, dass Toby es hasste.

Das war ja der Grund, warum er es tat. Er trieb ihn damit mit Vergnügen zur Weißglut. Ben hatte dafür kein Verständnis.

Für beide nicht.

"Mann, wenn ihr euch streitet, dann halt ich meinen Rackern die Ohren zu!", sagte er zu seinem Bruder. "Ihr liebt euch doch.

Wie kannst du Alby da ne dumme Schwuchtel nennen? Du bist doch selber eine!"

"Das kapierst du nicht!", gab Toby kurz angebunden zurück.

"Da hast du recht", nickte Ben. "Und ich wills auch nicht kapieren! Das was ihr da macht, das ist doch schon kein Streiten mehr! Das sind Schläge unter die Gürtellinie. Volle Speedway in die Eier! Worum ging's denn diesmal? Hat er die Klobrille beim Pissen nicht hochgeklappt?"

Toby zuckte linkisch mit den Schultern. Komisch, er hatte es tatsächlich vergessen.

"Irgend sowas. Bestimmt nur ne Kleinigkeit."

"Dann will ich euch nicht hören, wenn es mal um was Wichtiges geht!"

In Wirklichkeit war es aber so, dass die beiden NUR stritten, wenn es um Kleinigkeiten ging. Bei wichtigen Dingen standen sie zusammen wie ein Mann. Die beiden liebten sich aus tausend Gründen und noch einem mehr. Wenn Alby nämlich wieder nüchtern war, folgte der Versöhnungssex. Und der war nicht minder Hardcore, wie der Streit davor. Wenn Ben vorher schon den Rackern die Ohren zu hielt, was tat er denn dann da? Die Stereoanlage bis zum Anschlag aufdrehen? Selber singen? Oh, Yes Sir! Toby liebte Alby über alles! Abgöttisch und fanatisch! Alby war zärtlich, ehrlich, liebevoll und einfühlsam. Gleichzeitig aber auch zänkisch, eifersüchtig und total einnehmend! Er war sexy, er war super, er war…einfach Hardcore! Für Toby war er Erotik pur! Seine Augen, dunkelstes Braun und seine rabenschwarzen Haare, brachten Toby auch nach 10 Jahren noch fast um den Verstand. Und Alby schaffte es immer wieder, seinen Freund von Null auf hundertachtzig und wieder zurück auf null zu Pegeln. Und das mit Links. Das Leben mit ihm glich einer Achterbahnfahrt, voll geil! Und das nicht nur dadurch, dass er den Jungen buchstäblich in die Matratze vögelte. Viel mehr: er war immer für Toby da, egal was war, egal, wie sehr der ihn auch brauchte. Und Toby brauchte ihn viel. Er hing zu sehr an der Vergangenheit und mehr noch an Alby, manchmal schlimmer als eine Klette. Die Morde hatte Toby allesamt nie wirklich verarbeitet. Alby hatte vollstes Verständnis dafür. Nur neigten beide eben zur Dickköpfigkeit. Und dann kollidierten sie.

Dann hing der Haussegen schief. Dann musste Ben den Rackern die Ohren schützen.

Die beiden Racker, das waren echte Wonneproppen. Zuerst kam Mike. Ein paar Minuten später sein zweieiiger Zwilling Tim. Ein flachsblonder Doppelpack zum Knuddeln und Liebhaben. Sie brachten viel Freude, aber auch Nervosität und Unruhe ins Haus. Und zwar besonders bei Toby. Toby hatte einen Tick mit Kindern. Das war so, seit er damals seine kleine Schwester tot auf den Dielenbrettern in ihrem Haus in Idaho gefunden hatte. Seither war er die Alpträume nicht vollständig los geworden. Immer wieder konnte es sein, dass er Nächte lang nicht schlief, oder wenn dann doch, dass er schreiend aufwachte. Nächte, in denen er es ganz besonders zu schätzen wusste, dass Alby der einfühlsamste und zärtlichste Partner war, den man sich nur wünschen konnte. Eddie hatte, wie gesagt, nie überwunden, was damals passiert war. Was mit Babsi passiert war. Oder, was er anschließend getan hatte. Und als Toby gelang ihm das auch nicht. In diesen Stunden des Feedbacks brauchte er Alby mehr denn je! Das verschlimmerte sich noch, als Nicole in ihr Leben kam. Nicole war das dritte Kind von Ben und Tina.

Die zweite Schwangerschaft brachte Martina schon gar nicht mehr aus der Fassung.

"Gut", sagte sie, "haben wir halt VIER!"

Es kam diesmal aber nur eines. Nicole. Die Kleine war ein Goldschatz. Sie hatte nicht nur die roten Haare ihres Vaters, sondern auch dessen Schlagfertigkeit geerbt. Das reinste Dynamit! Sie erinnerte Toby zwangsläufig an Babsi. Ben benutzte seine Tochter daher als Therapie für seinen Bruder.

Er schickte ihn regelmäßig mit dem Kind nach draußen. Toby lebte in ständiger Angst um das Mädchen. Es war für ihn schon blanker Horror, wenn er sich nur ausmalte, was den beiden Jungs so alles passieren könnte. Darum, bei Kiki, wie Nicole genannt wurde, rastete er wegen jeder Bagatelle sofort aus.

"Mach dir nicht dauernd ins Hemd!", sagte Ben. "So schnell passiert dem Mädel nix! Das ist ein Kind und keine Porzellanpuppe!"

"Beschütz sie ruhig", hielt Alby regelmäßig dagegen. "Kiki ist ein Mädchen. Lässt sich bestimmt leichter betüdeln, als die beiden Buben."

Von wegen! Kiki scherte sich nicht im Mindesten um Tobys onkelhafte Bemühungen, sie ein wenig betüdeln zu wollen. Im Gegenteil! Sie zerrte ihn draußen in jeden Park und auf jeden Spielplatz der Umgebung. Dort setzte sie ihn einfach auf einer Bank ab und schaukelte, rutschte und hopste, dass dem Armen ganz mulmig wurde. Toby hatte ständig Angst, dass sie hinfiel oder sich auch nur mal wehtat! Noch schlimmer aber war für ihn der Gedanke, dass sie jemand mitnehmen könnte. Wenn sie vor dem Haus allein im Garten spielte, war er prompt zugegen. Kiki war selbstbewusst und weltoffen. Für Toby war das eher negativ. Neugier war der Katze Tod. Egal wie sehr man sie erzog, dass sie mit niemandem mitgehen sollten:

Kinder waren eben Kinder und wollten diese Neugier stillen.

Freiwillig würde Nicole nie mit jemandem mitgehen, das unterstellte Toby ihr nicht. Aber kleine Dinge gingen so leicht verloren. Kleine Dinge konnte man so ganz einfach verschwinden lassen. Kleine Dinge konnte man ganz einfach kaputt machen. Und Kiki war ein süßes kleines Ding. Dann wäre sie für immer fort. Genau wie seine Schwester. Und wie seine Mutter. Darum, ein kleines Mädchen im Haus bedeutete für Toby: lern schießen, leg dir ne Schrotflinte zu und knall alles ab, was unerlaubt in seine Richtung über den Rasen wuselt. Auch Mike war sehr eigenständig, dazu noch sportlich. Er stand, wie sein Vater und Onkel Alby, auf Motorradfahren und freute sich immer wie ein Schneekönig, wenn ein langes Wochenende kam und er zusammen mit Ben in die Berge donnern konnte. Tim war die Samtpfote der Familie. Zufrieden mit einem Buch in der einen, einer Limo in der anderen Hand. Lesen und Musik hören - das war seine Welt. Streit und Zwist interessierten ihn nicht, waren unnütz und lästig für ihn. Doch es war genauso ein Streit, so ein Unnützer, sinnfreier, der für die kleine, harmonische Familie alles verändern sollte. Ein Streit zwischen, wie konnte es auch anders sein, Alby und Toby. Der Anlass dafür war so dermaßen lächerlich und sowas von banal, es war die Folgen nicht wert. Toby hatte Alby nach einem kleinen Familienausflug nämlich gefragt, ob der es sich denn vorstellen könnte, eines Tages eigene Kinder zu haben. Mit ihm. Nur so als Überlegung einfach in den Raum gestellt. Alby sagte dazu lange nichts. Dann, ohne die Augen aus seinem bescheuerten Comicheft zu nehmen, meinte er zu seinem Freund: "Also Tobbs, wenn das möglich wäre, dann würde ich so viele Antibabypillen auf einmal fressen, dass ich beim Ficken klappern würde wie ne Kinderrassel."

Jaaa, er konnte eben wirklich nicht so mit Kindern. Toby hatte die Antwort aber dummerweise auf sich und seine Person bezogen. Er dachte, Alby meinte, dass der sich wohl eher kastrieren lassen würde, bevor er mit IHM ein Kind großzöge, und nicht, wie der das gemeint hatte, nämlich dass er eigentlich keine Kinder wollte, die nicht nach dem Sandmann bei ihnen die Biege machten, sondern die dauernd um sie herum waren und für die sie allein die Verantwortung trugen.

Dazu kam noch, wie Kinder auf Toby wirkten. Wenn ihn die Situation mit Kiki schon derart psychisch auf die Probe stellte, was würde denn dann ein eigenes Kind bei ihm auslösen?

Paranoia in ausgeprägter Höchstform? Hätte Alby mit ihm darüber normal geredet, hätte Toby das verstanden. Auch ein einfaches NEIN hätte der begriffen und anstandslos akzeptiert. So aber landete der Spruch bei ihm prompt im falschen Hals.

"Du bist nicht nur ein riesen Arschloch, Albert Preis", schrie er ihn an, "sondern geradezu ein KRATER von einem Arschloch!!"

"Was ist denn jetzt mit dir los?"

Berechtigte Frage. Toby wollte Zuneigung und Aufmerksamkeit, ein aufmunterndes Gespräch über die Zukunft führen. Alby wollte seine Ruhe. Das war im Grunde los. Alby war nicht immer gleich einfühlsam. Wie könnte er auch? Toby war nicht immer sofort zu durchschauen. Der grabschte das nächstbeste Buch aus dem Regal neben sich und warf es nach seinem Freund. Es war `Grimms Märchen´, fester Einband. Und ausnahmsweise traf er, da Alby nicht mit einem tätlichen Angriff gerechnet hatte. Dicker Wälzer, riesen Beule.

Das tat weh!

"Bist du meschugge!?"

Alby schnellte vom Sofa hoch und versuchte, Toby zu packen.

Der brachte schnell den Esstisch zwischen sich und Alby und die beiden umkreisten ihn wie zwei außer Kontrolle geratene Satelliten.

"Du bist so ein verdammter Egoist, Albert! Weißt du das!?"

"Klar! Und du ne dumme Sau, Edward! Bleib gefälligst stehen!

Das mit dem Buch kriegst du zurück!"

Toby dachte ja nicht daran! Alby war zwar minimal kleiner als er, konnte aber tierisch zuschlagen. Toby schob den Esstisch mitsamt seinem Freund gegen die Wand und klemmte ihn ein.

Die paar Sekunden reichten ihm, um sich Albys Schlüssel in der Diele zu schnappen und ins Treppenhaus zu flüchten.

Drinnen polterte der Esstisch durch das Wohnzimmer.

"Toby!! Jetzt bleib hier! Das ist doch Quatsch! Ich hab gedacht, du machst nen Joke!"

Das war dem inzwischen auch klar, aber nichtsdestotrotz war er zutiefst beleidigt und sowas von eingeschnappt, dass er schon aus Prinzip nicht dableiben wollte. Er sah auf die Schlüssel und grinste. Wenn es etwas auf der Welt gab, was Alby fast so sehr liebte wie seinen Toby, dann war es seine Harley Davidson. Sicher, Toby durfte auch damit fahren, aber nur auf schriftliche Anfrage in dreifacher Ausfertigung und mit Unterschrift eines ortsansässigen Notars oder Rechtsanwalts. Und das war auch nicht schlimm, denn in Wirklichkeit genoss Toby lieber als Sozius den Fahrtwind und den Rausch der Geschwindigkeit mit Alby am Lenker, der im Gegensatz zu ihm, ein sehr sicherer Fahrer war, aber in dem Fall.... Er rannte hinunter auf den Parkplatz und schnappte sich hinterhältig das Bike. Alby hinter ihm her, drohend die Fäuste geballt.

"Laß bloß den Chopper stehen! Tobias! Ich warne dich!"

Toby zeigte ihm den Mittelfinger, klappte das Visier runter und gab Vollgas. Die Maschine machte einen Satz und fegte mit ihm vom Hof.

Alby blieb wutschnaubend zurück. Ben, der den Jungs im Sicherheitsabstand gefolgt war, wohl um Handgreiflichkeiten entgegenzuwirken, legte ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter.

"Zum Kuckuck, was habt ihr denn jetzt wieder miteinander?"

"Frag lieber nicht, Ben. Frag lieber nicht! Zu Weihnachten kauf ich deinem Bruder jedenfalls nen Hund. Vorausgesetzt, er lässt den Chopper ganz. Wenn er mir DEN zerlegt, zerleg ICH IHN!"

"Keine Sorge", tröstete ihn sein Schwager. "Wenn Ed sich mit der Maschine hinlegt, bleibt er liegen. Komm mit hoch. Martina hat dir schon nen Kaffee aufgesetzt."

Toby hatte allerdings nicht vor, sich mit der Maschine hinzulegen. Schon außer Sichtweite bremste er merklich ab, bog nach links den Hügel runter, durch die Innenstadt in den Westteil, den Sattel hoch und runter nach Botnang. Dort stellte er den Chopper verkehrswidrig in einer mit `Nur für Anwohner´ gekennzeichneten Straße mitten auf dem Gehsteig ab. Er wollte Alby ja nur eins auswischen und ihm nicht gleich das Herz rausreißen. Mit der Bahn fuhr er dann in die Innenstadt zurück, stieg aus und ging in eine Disco. Er wollte sich besaufen. Was Alby konnte, konnte ER schon lange! An sich mochte Toby Discos nicht. Sie waren ihm zu teuer, zu laut, zu stickig, zu voll und die meisten Leute nur gequält gut drauf.

Außerdem ging er dort mit seinen beinah Dreißig inzwischen fast als Greis durch. Trotzdem wollte er dort hin, um entgegen seinem sonstigen Naturell etwas zu machen, was er sonst nicht tat. Aus Trotz. Aus Jux. Und Tollerei. Ihm war einfach danach, also geschissen drauf! Er stellte sich an die Bar und bestellte sich eine Bacardi-Cola, trank eine Runde und ging dann pinkeln. Zurück an der Bar, ließ Toby die Atmosphäre ein wenig auf sich wirken. Es dauerte nicht lange, da kam er sich zwischen den tanzenden Kids dort lächerlich vor. Da er nur selten Alkohol trank, tat der Longdrink auch schnell seine Wirkung. Er wollte es gut sein lassen, also trank er zügig aus.

Der Streit tat ihm leid. Er würde nach Hause gehen und sich bei Alby entschuldigen. Er hatte sich wie ein Idiot benommen.

Was hatte er sich nur dabei gedacht? Na, war ja auch egal.

Toby steckte sich eine Kippe an. Mann, der Drink knallte vielleicht rein! Schon nach dem zweiten Zug am Glimmstängel merkte er, dass etwas nicht stimmen konnte. Die Zigarette schmeckte wie luftgetrocknete Strickstrümpfe und er fing an, alles verschwommen zu sehen. Ihm wurde speiübel. Er trat von der Bar zurück, registrierte, dass er leicht schwankte, als hätte er bereits einen ganzen Kasten Bier intus und hielt sich schnell am Barhocker fest. Was war das denn? Die Musik, die ihm vorhin schon zu laut vorgekommen war, dröhnte jetzt regelrecht in seinen Ohren und verursachte ein leichtes Prickeln auf seiner Haut. Das gedämpfte Schummerlicht brannte viel zu grell in seinen Augen und sein hektisches Flackern ließ Blitze vor ihm tanzen. Neben Toby lachte ein Teenie plötzlich: "Na, Alter, wünsche guten Flug!"

Der Typ taumelte gegen ihn und er fühlte eine Hand in seiner Innentasche. Der Teenie stieß ihn zurück und Toby wäre fast zu Boden gegangen. Er musste raus da. Sofort! Sonst würde er auf die Tanzfläche reihern. Toby bahnte sich schnell und ungelenk einen Weg zum Ausgang durch, vorbei an dem Türsteher, der ihm nachglotzte, als wäre Toby ein Senffleck auf einem neuen, weißen Oberhemd. Draußen an der frischen Luft fing Toby dann erstmal an, tief durchzuatmen. Er füllte seine Lungen so gut es ging mit Sauerstoff. Es half nichts. Im Gegenteil. Sein Zustand wurde nur noch schlimmer und er ließ sich an Ort und Stelle auf alle Viere nieder. Er versuchte, sich zu übergeben, aber er gab nur trockene Würgelaute von sich.

"Alles in Ordnung?", fragte da eine ruhige Stimme neben ihm.

Die Frage drang zwar nur undeutlich durch die Nebelschwaden in seinem Gehirn, aber die Rhetorik in ihr brachte ihn fast zu Lachen. Alles in Ordnung, diese blöde Phrase fragte wahrscheinlich jeder, wenn er jemanden auf dem Boden liegen sah, ganz automatisch, selbst wenn man genau sehen konnte, wie einem armen Unfallopfer Blut aus einer offenen Wunde strömte. Alles in Ordnung, oder noch bescheuerter: Tut´s weh? Das war, auch in Tobys Fall, leicht blöde gefragt. Vorsichtig schüttelte er den Kopf. Gar nichts war in Ordnung. In seinem Schädel explodierte eine wahre Supernova an gellenden Schmerzen und pinkfarbener Kleckse.

"Trip geschmissen, was?", kam es aus dem Nebel.

"Kriminalpolizei. Können sie sich ausweisen?"

Ein Bulle? Auch das noch! Was wollte der? Ausweis? Toby zeigte auf seine Jackeninnentasche. Vorsichtig tastete der Mann ihn ab.

"Er hat nichts, Karlheinz. Keine Papiere."

Keine Papiere? Von wegen! Ausweis, Führerschein, Geldkarte, Bargeld. Das alles befand sich immer griffbereit in Tobys aktueller Jacke, in seiner Brieftasche, wo es hingehörte. Wollte der ihn vergackeiern? Toby ließ sich stöhnend auf den Bauch sinken und drehte sich langsam auf den Rücken. Jetzt erkannte er undeutlich zwei Gestalten, die aus einem von Albys Comicheften hätten entsprungen sein können. Der eine Mann, der ihn argwöhnisch durch seine Nickelbrille musterte, war untersetzt, fast glatzköpfig und sein graues Haarkränzchen war sehr kurz geschnitten. Er hatte Ähnlichkeit mit einem Lebewesen, das einer Kreuzung zwischen Karpfen und Backenhörnchen sehr nahekam. Er trug einen dunkelbraunen Anzug mit weißem Hemd und schwarzer Krawatte. Toby schätzte ihn auf etwas über 50. Sein Kollege, der ihn Karlheinz genannt hatte, war wohl etwas jünger, groß, schlank, braunhaarig mit graumelierten Schläfen, adrett in rauchblauen Anzug gekleidet. Er trug ebenfalls ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte, die allerdings nur locker gebunden war, und dieser Mann kniete neben ihm.

"Wie heißen sie?", wollte der Beamte wissen.

"Eddie Rillek." Kratzig. Undeutlich. Verschwommen erinnerte Toby sich, dass mit dem Namen irgendetwas nicht in Ordnung war. Dann sah er den Typen aus der Disco kommen, der neben ihm an der Bar gestanden hatte. Toby deutete auf ihn, dann auf seine Innentasche. Der große Bulle verstand sofort. Er erhob sich und ging auf den Jungen zu.

"Du da! Stehen bleiben! Leer doch mal deine Taschen aus."

Der Junge überlegte, ob er es wohl schaffen konnte, schnell an der Gruppe vorbei zu sprinten, entschied sich dann aber, lieber einen auf doof zu machen.

"Was wollen sie? Ich hab nix gemacht!"

Das hatte er wohl. Jetzt erinnerte Toby sich ganz deutlich, wie die Hand des Jungen in seiner Jacke verschwunden war und wie er ihn dann weggestoßen hatte, direkt auf die Tanzfläche.

Toby deutete bestimmt nickend auf ihn. Reden konnte er nicht.

Ihm tat der Schädel weh. Karlheinz lächelte seinen Kollegen an.

"Du, Roland, der will uns für dumm verkaufen. Was machen wir denn da?"

Nun, Roland schnappte sich den Jungen. Er fuhr ihm einfach mit den Armen unter den Achseln durch, verschränkte seine Finger in dessen Genick und hob ihn leicht hoch. Karlheinz durchsuchte die Taschen des Jungspunds. Der begann lautstark zu protestieren: "Hey, das dürfen sie nicht!! Pfoten weg!! Seid ihr schwul, oder was!?"

Karlheinz förderte ein paar Tabletten, ein Tropfenfläschchen und Tobys Brieftasche zu Tage. Also hatte er tatsächlich diesem Mistkerl seinen hilflosen Zustand zu verdanken.

Vielen Dank auch, Dreckstück! Die Drogen wanderten unbesehen in die Tasche von Backenhörnchens Jackett, der weiter vor sich hinlächelte.

"Du, Roland. Der fragt, ob wir schwul sind. Sind wir das?"

Ohne eine Antwort abzuwarten schleuderte Backenhörnchen dem Jungen ganze siebenmal die Faust in die Magengrube, so schnell hintereinander, dass man meinen konnte, einem Karnickel beim Rammeln zuzusehen. Toby stützte sich auf die Ellbogen, um das Schauspiel besser sehen zu können. Der Spund ging zu Boden, weinte und jammerte dort. Roland und Karlheinz ließen ihn liegen und kehrten bedächtig zu Toby zurück, dessen Papiere genauestens unter die Lupe nehmend.

"Sind sie Tobias Campell?" Roland hielt den Ausweis dicht vor Tobys Augen. Dieser nickte.

"Das Foto stimmt, ja. Aber haben sie vorhin nicht behauptet, sie wären jemand anderer?"

Toby hob die Schultern und ließ sich theatralisch zurücksinken. Die beiden Bullen sahen sich lange an.

"Stimmt wenigstens die Adresse?"

Wieder nickte Toby langsam. Schließlich wurde stumm ein Entschluss gefasst. Roland bückte sich, um ihm aufzuhelfen, während Karlheinz sich entfernte.

"Kommen sie, wir bringen sie nach Hause."

Da wurde Getrappel laut. Der Jungspund hatte sich erholt und war erstaunlich schnell um eine Ecke verschwunden. Offenbar war er hart im Nehmen.

"Um den soll sich ein anderer Gesetzeshüter kümmern. Nun steh schon auf."

Ungeduldig vom SIE zum DU. Roland zog vorsichtig an Tobys Arm und der schaffte es in die Senkrechte. Der Beamte hielt ihn an den Schultern fest. Toby sackte seitlich weg und Roland packte fester zu, bis der Junge im falschen Winkel stehen blieb, wie ein Matrose bei Windstärke zehn. Ein dunkelblauer BMW hielt neben den beiden und Roland öffnete die Hintertür. Er ließ Toby auf die Rückbank sinken und setzte sich dann neben ihn. Karlheinz drehte sich zu den beiden um.

"Wenn du die Tauben füttern musst, gib mir ein Zeichen, dann fahr ich rechts ran."

Er gab behutsam Gas, damit die Karre nicht so schaukelte, wofür Toby ihm unendlich dankbar war. Das Auto roch seltsam. Süßlich. Abgestanden. Nach kaltem Rauch und Wunderbäumchen. Toby würgte. Warum nur musste sich jeder zweite Autofahrer diese stinkenden Wunderbäumchen an den Rückspiegel hängen? Voll pervers! Langsam glitt Toby tiefer ins Polster und schloss die Augen. Roland umfasste sein Handgelenk. Pulskontrolle. Tobys Herzfrequenz glich der eines Hasen, der hektisch übers Stoppelfeld jagte. Bis zu den Campells nach Hause war es nicht weit. Vielleicht 10 Minuten Fahrt. Trotzdem betete Toby inbrünstig, dass er es bis dorthin schaffen würde, ohne Karlheinz ins Genick zu reihern. Hinter seinen geschlossenen Lidern fuhr er nämlich Karussell. Sehr schnell Karussell! Karlheinz fing zu plappern an, wohl um den Jungen abzulenken und beobachtete ihn dabei im Rückspiegel.

"Ich bin Kommissar Karlheinz Steinmann. Der Mann neben dir, der dich so nett umsorgt, ist mein Kollege Roland Wolf."

Toby fuhr unterdessen noch schneller Karussell. Karlheinz plapperte munter weiter:

"Dieses Individuum in dem Tanzschuppen hat dich wohl hoppgenommen. Unbemerkt einen Trip in deinen Drink geschmissen. Warst du austreten?"

Pissen? War er, ja. Schemenhafte Erinnerung. Toby nickte vorsichtig. Kettenkarussell mit Wellenflug.

"Sowas kommt vor", fuhr Steinmann fort. "Finstere Gestalten warten nur darauf, dass man sein Glas aus den Augen lässt und schon hat man ein Problem, das man in der Größenordnung nicht wollte. Papiere und Geld sind futsch.

Hattest Glück, dass wir zugegen waren. Ich geb nachher eine Fahndung nach dem Individuum heraus. Den kriegen wir schon."

"Ist doch aber eine ganz alte Masche", mischte Kommissar Wolf sich ein. "Welch wahres Wunder, dass da noch jemand drauf reinfällt. Kommst wohl nicht oft unter Leute? Bist du ein kleiner Stubenhocker?"

Toby schüttelte den Kopf. Großer Fehler! Kettenkarussell mit Wellenflug verwandelte sich in einen Freefall Tower auf dem Weg nach unten. Aber Hallo!

"Nach rechts, Karlheinz", dirigierte Roland Wolf. Steinmann reagierte ohne zu zögern. Sein Glück. Denn Toby stieß die Tür auf und kotzte Bacardi-Cola neben den Wagen auf die Fahrbahn. Danach ging es ihm ein wenig besser. Roland war offenbar ein guter Menschenkenner. Oder öfter mal besoffen.

Oder beides. Den Rest der Strecke schaffte die Gruppe, ohne dass Toby erneut urplötzlich die Umwelt verschmutzen musste. An ihrem Fahrziel angelangt, stolperte der Junge vor den beiden Polizisten die Treppe hinauf. Alby hatte wohl schon im Flur auf ihn gelauert, denn kaum hatte Toby die Tür aufgeschlossen, schnellte er ihm auch schon entgegen.

"Ed, wo ist mein Chopper!?" Erst sah er Toby, dann seine beiden Begleiter. "Fuck, wie siehst du denn aus?"

Toby drängte sich an ihm vorbei ins Klo und der restliche Longdrink fiel ihm aus dem Gesicht. Die beiden Bullen zückten ihre Ausweise. Wolf übernahm jetzt das Reden.

"Kommissare Wolf und Steinmann. Sie sind...?"

"Albert Preis. Ich wohne hier. Was ist passiert?"

"Ihr Freund ist in einer Disco ausgenommen worden. Seine Papiere hat er zwar zurückerhalten, doch leider konnte das langfingrige Subjekt flüchten. Mit leichten Bauchschmerzen."

"Ja, leider flüchten", wiederholte Karlheinz offenbar amüsiert.

"Mit ganz leichten Bauchschmerzen."

Er und Roland lachten synchron. Alby verengte die Augen zu Schlitzen. Er hatte nicht alles verstanden, wohl aber so viel, dass Toby eine volle Breitseite kassiert hatte. Als der aus dem Lokus kam, rüttelte er ihn sanft an der Schulter und wiederholte seine Frage.

"Toby, mein Chopper. Wo ist er?"

"Botnang", sagte der kleinlaut.

"Brückenpfeiler?"

"Quatsch. Anwohnerstraße."

"Was, zum Teufel, macht er dort?"

"Warten, dass du ihn abholst. Tut mir leid. Schimpf nicht. Hab mein Fett schon weg."

"Fühlst dich elend, was?", fragte Alby mitleidig.

"Ja."

"Geschieht dir recht!", schoss Preis dann böse.

Toby wankte ins Schlafzimmer und ließ sich angezogen aufs Bett fallen. Alby seufzte und bat die beiden ungeladenen Gäste ins Wohnzimmer. Entgegen seiner Erwartung nickten sie und traten durch. Preis bot ihnen einen Stuhl an, aber keiner setzte sich. Also blieb auch er stehen.

"Vielen Dank. Schulden wir ihnen was fürs Fahren?"

Karlheinz: "Wir sind kein Taxiunternehmen."

Roland: "Nein, kein Taxiunternehmen. Streit gehabt?"

Alby: "Einer von uns spinnt manchmal, dann wird über die Stränge geschlagen. Heute war wohl sein Tag."

Roland: "Das war es sicher nicht. Lassen sie Gnade vor Recht ergehen. Er hat sein Fett wirklich weg. Übelkeit und Wirrnis werden seinen Kopf beherrschen, nach dieser Eskapade.

Neuer Tag, neuer Friede. Morgen geht es ihm besser."

Karlheinz: "Ja, deutlich besser!"

Roland: "Wir wünschen ihnen noch eine angenehme Nachtruhe."

Karlheinz: "Ja, angenehme Nachtruhe."

Die beiden Bullen gingen. Alby sah ihnen nach. Was waren denn das für zwei komische Heilige? Diese Ausdrucksweise!

Gab es tatsächlich Menschen, die so redeten? Ihm waren in seinen 33 Lebensjahren ja schon etliche komische Vögel untergekommen, aber sowas wie diese Typen? Abartig. Nun, was ging es ihn an? Sie waren so nett gewesen, Toby heil zu ihm zurück zu bringen, daher konnten die von ihm aus so reden, als wären sie Souffleusen bei der Oper! Das war schon okay so. Er ging zu Toby ins Schlafzimmer. Er zog ihm vorsichtig Jeans und Turnschuhe aus und legte sich dann neben ihn, allerdings mit gefühlten 5 Metern Abstand.

Langsam und unsicher verringerte Toby die Distanz.

Schließlich drehte er sich zu Alby um und schmiegte sich an dessen Schulter. Der ließ ihn dann sogar unter seine Decke.

"Geht's dir besser?", fragte Alby wieder mitfühlender. Er wusste ja, wie selten Toby trank und Drogen hatte der noch nie genommen. Toby brummte undeutlich. Vorsichtig streichelte Alby ihn hinter dem Ohr, genau da, wo es immer so schön kitzelt.

"Du bist doch ein blöder Hammel", flüsterte er dabei versöhnlich. "Aber ich hab mich auch ganz schön daneben benommen. Ich weiß doch, wie´s in dir aussieht. Nimmst du meine Entschuldigung an?"

Toby nickte kurz. Alby fuhr fort: "Morgen holen wir zusammen den Chopper. Vielleicht machen wir anschließend ne Spritztour in den Wald raus. Was meinst du?" Sanftes Ohren streicheln. Toby lächelte schläfrig und meinte nichts mehr. Er war so müde. So verdammt müde! Keine zwei Minuten später war auch Alby eingeschlafen.

Wolf und Steinmann hingegen waren hellwach und gerade im Zwischengeschoß angelangt, als Ben vom Zigarettenautomaten kam. Er steckte sich ein Stäbchen an, sie grüßten einander höflich aber distanziert und musterten sich gegenseitig. Zurück beim Auto klemmte sich Wolf hinters Steuer und meinte mit einem versonnenen Blick durch die Windschutzscheibe: "Des Herren Tiergarten ist groß und voller eigenartiger Kreaturen."

Steinmann: "Der Kerl hat ein lädiertes Auge."

Wolf nickte nachdenklich und betrachtete lange schweigend das Haus. Seltsam. Äußerst seltsam. Schließlich meinte er:

"Karlheinz, laß uns resümieren."

"Aber gerne, mein Lieber", kam freudig die Antwort.

Steinmann kannte den scharfen, analytischen Verstand seines Partners wie kein Zweiter. Wenn Wolf resümieren wollte, hatte er Lunte gerochen. Die Lunte, an die Toby das Feuerzeug gehalten hatte und die nun munter vor sich hin zischte. Auch Steinmann war Verschiedenes aufgefallen, allerdings war er nicht so gut wie Wolf, was schnelle Auffassungsgabe anbelangte. Darin war Roland einfach unschlagbar. Doch dem mangelte es dafür an Systematik, das Gesehene in die richtige Position zu rücken. Damit ein geschlossener Kreis entstand, ergänzte ihn Karlheinz, indem der die richtigen Fragen stellte.

Zusammen waren sie ein eingespieltes Team, das sich seit frühester Schulzeit kannte. Wolf und Steinmann machten fast alles gemeinsam: Arbeit, Urlaub, Freizeitgestaltung. Sie steckten beieinander, komme was wolle. Sie konnten sich aufeinander verlassen und das taten sie blind. Steinmann dachte kurz nach.

"Gut. Beginnen wir mit dem, was wir sehen", startete er das Resümee. "Der Eingangsbereich des Hauses."

"Zwei Namensschilder mit `Campell´ übereinander", schoss Wolf los. "Der Einäugige ging weiter nach oben, an Preis und Campell vorbei."

"Brüder?"

"Vermutlich."

"Kaum Ähnlichkeit."

"Gut für Zweiäuglein." Leises Synchronlachen.

Steinmann weiter. "Cousins vielleicht?"

"Möglich, aber eher nicht. Ich denke, es sind Brüder. Erklärt die örtliche Nähe."

Steinmann: "Die Wohnung der beiden Freunde."

Wolf, wie aus dem Maschinengewehr: "Aufgeräumt.

Ordentlich. Aber nicht pingelig. Und sehr unschwul."

"Wegen warum?"

"Fußballkarten an der Wand im Flur, englische original Horrorfilme und Hardrock DVDs im Wohnzimmerschrank.

Beide sind Motorradfahrer, aber mit einfachen Kutten an der Garderobe, ohne Nieten und Schnickschnack dran. Keine Pin Ups von nackten Kerlen irgendwo an der Tapete, keine Nippes, Tinnef oder gar rosa Schweinchen auf den Fensterbrettern. Sehr unschwul eben."

"Du steckst ja voller Vorurteile!", entrüstete sich Karlheinz gespielt und lächelte. Schulterzuckend schob Wolf sich ein Zigarillo zwischen die Lippen. Steinmann gab ihm Feuer.

"Vielleicht sind die gar nicht schwul?", meinte er dabei lapidar.

Roland hob die Augenbrauen und Karlheinz seinerseits die Schultern. Roland blies den Rauch bedächtig zum Fahrzeughimmel.

"Doch, ganz sicher sogar", meinte er. "Etwas im Blick von Preis.

Das, was er sagte. Das, wie er es sagte. Mehr Sorge um den Freund als um den ominösen Chopper, der da in Botnang seiner harret. Außerdem gibt es im einzigen Schlafzimmer nur ein Doppelbett."

"Gutes Argument."

"Danke."

"Bitte. Weiter Roland. Da gab es einen diskrepanten Teil in unserem nächtlichen, zufälligen Zusammentreffen. Der Name."

"Campell???", leicht amüsiert.

"Naaain", sehr gedehnt und kopfschüttelnd. "Den unter Drogeneinfluss am Straßenrand."

"Wie Killer, nur rückwärts."

"Rellik?"

Schweigend rauchend, dann verbessernd: "Rillek. Eddie Rillek."

Dann Steinmann wieder: "Welches ist wohl der richtige Name?

Der im Pass?"

"Wohl kaum."

"Wegen warum?"

"Erinnere dich an die stürmische Begrüßung von Freund Albert an der Tür. Er sagte `Ed, wo ist mein Chopper´, nicht Toby oder Tobias. Das kam später. Da war ihm der Fauxpas schon passiert. Würdest du deinen Freund und Sexualpartner mit dem falschen Namen ansprechen, wenn du ihm gerade nicht wohlgesonnen bist und denkst, ihr wärt alleine?"

"Mit nichten", gab Steinmann zu. "Was ist er wohl für ein Typus, unser neuer Freund Ed? Was zeichnet ihn aus? So kurz unsere Begegnung auch war. Schätze ihn ein."

Wolf musste nicht überlegen und zählte auf: "Naiv.

Leichtgläubig. Unbedarft. Zurückhaltend. Höflich. Gut erzogen. Er hat trotz Drogenrausch pflichtbewusst deinem Monolog gelauscht. Also, mir fiele das ehrlich gesagt schwer."

Lächeln. Das von Steinmann verkniffen. Langes Schweigen.

Süßer Rilloduft durchzog das Fahrzeug. Schließlich zackig:

"Karlheinz?"

"Roland?", ebenso zackig.

"Wir sind da auf was gestoßen." Erhobener Zeigefinger, sehr salbungsvoll.

Steinmann aufgeregt: "Meinst du, wir könnten Spaß haben?"

Wolf vorsichtig: "Möglich. Zurück ins Kommissariat. Lass uns im Internet surfen."

"Die Namen?"

"Jap."

Wolf startete den Motor. Steinmann putzte seine Nickelbrille und sagte erfreut:

"Wir haben schon so lange keinen Spaß mehr gehabt, Roland.

Es käme mit zupass."

"Ich weiß. Lass uns aber erst die Ergebnisse unserer Recherche abwarten. Dann entscheiden wir, ob sich ein bisschen Spaß mit den jungen Dachsen überhaupt lohnt, oder ob sie weiter unbehelligt vor sich hinleben dürfen. Bis jetzt haben sie sich nichts zu Schulden kommen lassen, denk an."

"Wo Rauch ist, da ist Feuer."

"Vielleicht nur ein Strohfeuer", beschwichtigte Wolf. "Den Kübel Wasser nicht wert."

"Wäre schade."

"Abwarten und Tee trinken."

"Ich möchte Milch in meinem."

"Und Kandiszucker. Ich weiß."

Wolf legte den Gang ein und ließ den Wagen langsam die Auffahrt hinunterrollen.

Horrido - Die Jagd beginnt

Das Präsidium war nur leicht besetzt in dieser Samstagnacht, als Wolf und Steinmann ihr Büro ansteuerten. Sie grüßten den Wachhabenden jungen Kollegen am Schreibtisch. Dieser blickte erstaunt auf, als er die beiden Kommissare, entgegen deren Gewohnheit, so früh schon in der Wache zurücksah.

"Recherchen?", fragte er neugierig.

"Nur ruhige Nacht", erwiderte Wolf freundlich. "Hast du viel zu tippen, Jens?"

Jens Bäumler verstand den Wink mit dem Zaunpfahl nur zu gut. Wolf sagte nie, kümmere dich um deinen eigenen Scheiß.

Dennoch war seine Ausdrucksweise unmissverständlich, wenn er und Steinmann auch ständig redeten, als hätten sie ein Lineal verschluckt oder wären mit einem goldenen Löffel im Maul geboren worden. Die beiden machten super Arbeit.

Sie brachten eine Aufklärungsquote ihrer Fälle von locker 90%.

Das musste man erstmal hinkriegen. Trotzdem mochte er die beiden Sonderlinge nicht wirklich. Naja, insgeheim schon.

Aber auf ein Bier würde er nicht mit ihnen gehen. Tja, die würden ihn wahrscheinlich auch nicht mitnehmen wollen.

Steinmann verschwand im Büro und schaltete den Computer ein. Wolf blieb in der Raucherecke stehen, paffte sein Rillo und schlürfte Kaffee aus dem Automaten.

"War ja nur ne Frage", sagte Bäumler und hatte in der Tat noch genug zu Tippen. Während er einen Bericht der Frühschicht überarbeitete, spürte er den stechenden Blick von Kommissar Wolf im Nacken. Er hasste es, wenn Wolf in der Wache Beobachtungsposten bezog. Der Kerl ließ einen minutenlang nicht aus den Augen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln.

Unangenehm. Jens war froh, als Steinmann aus dem Büro rief:

"Roland?"

Wolf trank den Kaffee leer und drückte das Rillo aus. Zügig folgte er dem Ruf seines Kompagnons.

"Fündig?"

"Ja. Sehr eigenartig. Sehr, sehr eigenartig. Schau mal an!"

Wolf ließ sich neben seinem Kollegen auf dem zweiten Drehstuhl nieder. Steinmann rückte den Bildschirm zurecht, betätigte ein paar Tasten und begann, seine Recherche zu erläutern.

"Hier. Damit hab ich angefangen. Albert Preis, auch bekannt als das Frettchen. Hat vier Jahre Haft in Idaho abgesessen. Hat falsche Scheine in Umlauf gebracht. Verdacht auf mehrfachen Betrug und Hehlerei mit Kunstgegenständen. Nach seiner Haftentlassung nach Deutschland emigriert, Heimat des Urgroßvaters. Er spricht neben Amerikanisch und Deutsch auch fließend Jiddisch und Hebräisch."

"Kluges Köpfchen", nickte Wolf. "Jude eben."

"Zweifellos. Hier gibt es über ihn keine Eintragungen, die auf weitere Straftaten hindeuten. Ist bis auf ein paar Strafzettel, die er pünktlich bezahlt hat, sauber geblieben."

"Braver Junge. Scheint rehabilitiert zu sein. Komm doch lieber zum eigenartigen Teil."

"Sofort", sagte Steinmann und hackte auf die Tastatur ein.

"Fortsetzung folgt sogleich. Tobias Campell. Gebürtiger Amerikaner. Stammt aus…rate doch mal."

"Idaho?"

"Jawohl."

"Hat er auch dort gesessen?"

"Nein. Und jetzt kommt das Eigenartige: dort gab es nie einen Tobias Campell. Nirgends gab es den dort. Er existiert nur hier bei uns in unserer Datenbank. Und das nicht mal richtig."

"Inwiefern?"

Steinmann hob beide Arme, als hinge er am Kreuz: "Der Kerl ist ein Heiliger. Seine Weste ist so weiß wie die Innenseite der Schenkel der Jungfrau Maria."

Roland hob beide Augenbrauen.

"Kein Ticket für falsches Parken? Rangeleien unter Gleichgesinnten?"

"Mit nichten, Roland. Sogar Grünlichtfahrer."

"Sieh an", brummelte Roland. "Grüngänger lebt länger."

"So kann man sagen. Ein unbeschriebenes Blatt feinstes Seidenpapier."

"Warum? Und wie? Ist er ein Übermensch?"

"Naaaiiin. Nur übervorsichtig. Will auf keinen Fall anecken hier."

"Wegen dem Falschnamen."

"Richtig", sagte Karlheinz. "Und jetzt sperr deine Äuglein ganz weit auf, mein teurer Freund, dann hast du die Antwort darauf, warum Mister Campell hier so einen leisen Tritt hat."

Steinmann tippte den Namen ein. Eddie Rillek. Es ratterte im PC, dann pfiff Wolf kurz durch die Zähne und fasste zusammen:

"Edward `Eddie´ Rillek. Gebürtig in Los Angeles. Umgezogen als Teenager nach Idaho. Verurteilt dort wegen Mordes zu 12 Jahren Haft. Hat sich aber schon nach wenigen Monaten aus dem Knast auf französisch verabschiedet. Bei der ersten Gelegenheit ausgebüxt."

Steinmann nickte. "Ja, ist geflüchtet bei Straßenbauarbeiten, während das Gefängnis wie Zunder gebrannt hat."

"Listiges, kleines Mäuschen", stellte Roland fest. "Da ist ein Querverweis", machte er seinen Kollegen aufmerksam.

Steinmann klickte den Link an. Ein neues Fahndungsfoto erschien. Diesmal las Karlheinz vor:

"Ike Rillek. Bruder und Knastgenosse unseres Mausepieps.

Doppelmord. 15 Jahre. Ebenfalls flüchtig."

"Die einäugige Schießbudenfigur von vorhin", meinte Wolf sachlich. "Nachtigall, ick hör dir trapsen!"

Jens Bäumler, endlich mit dem Papierkram fertig, suchte erneut die Nähe der beiden Ermittler, emsig um Smalltalk bemüht. "Na, seid ihr an was Interessantem dran?"

Roland machte lediglich Tippbewegungen mit den Fingern in der Luft in seine Richtung, ohne dabei den Blick vom Terminal zu nehmen. Bäumler verstand auch diesen Wink. Halts Maul und geh an deine Schreibmaschine. Diese Art der wortlosen Kommunikation hasste Jens an den beiden Gspusis noch mehr, als ihre Angewohnheit, geschwollen daherzureden. Diese Grobschlächtigkeit der Aussage und die gleichzeitige Missachtung seiner Person als solche, störte ihn sehr. Pikiert zog er von dannen. Steinmann bemerkte einen weiteren Querverweis und rief auch dieses Fenster auf. Der Bildschirm wurde kurz dunkel, dann ratterte es wieder, diesmal etwas länger und schließlich erschien ein Fahndungsaufruf:

Haben Sie einen dieser Männer gesehen?

Vier Fotos. Darunter die der beiden ihnen schon bekannte Brüder, vier Namen. Zwei davon waren mit einem schwarzen Balken versehen. Der Name eines Weißen: Paul Reckerchiff und der eines Schwarzen: Douglas `Blacky´ Black, auch ´The Wrecking Ball´ genannt. Dann eine Telefonnummer in den Staaten, die zum Anruf verleitend, hektisch blinkte.

"Was ist denn das für ein illustres Bildchen?", fragte Steinmann verblüfft. Wolf bemerkte in der linken unteren Ecke des Aufrufes eine rote Zeitschaltuhr, die von 20 im Sekundentakt rückwärts lief.

"Raus da, Karlheinz." Seine Stimme war nur noch zu einem Flüstern herabgesenkt. Steinmann drückte auf Escape. Nichts geschah. Das Bild hing da, wie festgefressen.

"Geht nicht", stellte er bekümmert fest. "Na, sowas Dummes!"

Wolf versuchte es selbst mit einem Löschbefehl und dann damit, einfach auf die vorhergehende Seite zurückzuspringen.

Doch nichts funktionierte. Das Programm reagierte nicht.

"Was ist das?", fragte Steinmann.

"Eine Fangschaltung."

"Und was soll das?"

"Jemand hat offenbar eine Schleife gelegt, um Bescheid zu bekommen, wann jemand von wo aus auf diese Seite hier zugreift."

"Na, so ein Schlingel. Und nun?"

"Weiß nicht", antwortete Wolf nachdenklich. Die restlichen Sekunden waren um und jetzt lief die Uhr in schwarzen Zahlen vorwärts. Steinmann ergriff die Initiative, bückte sich und zog den Stecker aus dem Rechner. Die beiden Kommissare starrten mehrere Sekunden den dunklen Bildschirm an.

"Roland?", meinte Steinmann schließlich.

"Karlheinz?"

"Das war ein wenig gruselig."

Wolf nickte bedächtig, ohne den dunklen Bildschirm aus den Augen zu lassen. Dann fragte Steinmann: "Wie lange waren wir drüber?"

"Fünf Sekunden."

"Wir werden alt."

Langes Schweigen. Schließlich meinte Wolf: "Die beiden anderen Gestalten, Reckerchiff und Black, die hatten je einen schwarzen Balken vorzuweisen."

"Bedeutet wohl?"

"Ich kann nur raten."

"Mach doch!", freudig auffordernd. Wenn Wolf etwas riet, dann kam das einem Tatsachenreport ziemlich nahe. Roland deutete stattdessen auf Karlheinz, der sich aufgeregt selbst die Antwort gab: "Die weilen wohl nicht mehr unter den Lebenden."

Wolf nickte stolz und feierlich. Das war auch seine eigene Vermutung gewesen. Wie immer war er ganz Eins mit seinem Partner, der sich mit beiden Händen über die Stirn fuhr.

"Hoppala. Was haben wir da bloß wieder losgetreten?"

Roland spielte verträumt aber völlig gefasst mit einem Kugelschreiber.

"Eine gehörige Portion Spaß, denke ich."

"Au fein!", freute sich Steinmann. "Wir spielen mit den jungen Dachsen!! Wann geht's los?"