Just like an Arrow - Gabi Raunegger - E-Book

Just like an Arrow E-Book

Gabi Raunegger

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Beschreibung

Das Leben ist ein bunter Blumenstrauß, auf dessen einzelne Komponente man mal mehr oder weniger erfreut oder gar allergisch reagiert. Ich arbeite mit Menschen und erstellte mir ein Potpourris aus den Blüten, die sie mir anvertraut haben. Durch diverse Schilderungen einzelner Schicksale, kam mir der Gedanke: Was wäre, wenn jede dieser Personen das ausgelebt hätte, wonach ihr in dieser Situation gerade war? So entstand diese frei erfundene Geschichte über zwei Brüder, die das Gesetz in die eigenen Hände nehmen. Eine Geschichte voll Selbstjustiz, Schuld, Sühne und das Leben damit und danach. Mein ist die Rache, spricht der Herr....

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Danksagung

Beim Schreiben dieses Buches haben mich viele

Menschen unterstützt, sei es mit gutem Rat nach bestem

Wissen und Gewissen, mit Fachkenntnissen oder durch

Inspiration.

Mein besonderer Dank gilt allerdings meinen beiden

Kindern, die durch alle Höhen und Tiefen mit mir

gegangen sind, zu mir gehalten haben und den Glauben an

mich und dieses Werk nie verloren. Euch kann ich nicht

genug danken für eure Engelsgeduld.

Vielen Dank auch an meine Probeleser,

meine vielgeschätzten Kolleginnen

und an die Bewohner des Mutterhauses.

Und natürlich an Dr. Axel Schwaigert, ohne den dieses

Buch in dieser Form wohl nie realisier worden wäre.

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Das etwas andere Versprechen

Tribut

Knast

Die Flucht

Und jetzt?

Einleitung

Als Martina an diesem Morgen auf Ihre Praxis zuging, ahnte sie noch nicht, dass dort schon jemand auf sie warten würde. Vor wenigen Wochen erst hatte sie sich selbständig gemacht - als Ergotherapeutin für Kinder und Jugendliche. Lange Zeit hatte es ihr am Mut dazu gefehlt. Ihre Familie meinte, sie sei zu jung, zu unerfahren. Sie solle doch erst mal als Assistentin arbeiten. Besonders von Marc hatten ihr diese gut gemeinten Ratschläge weh getan. Statt aufmunternde Worte hatte es von ihrem Freund nur Knüppel zwischen die Beine gegeben. Buchstäblich. Dann hatte sie den Sprung ins kalte Wasser gewagt und sich in zweierlei Maßen auf eben diese Beine gestellt. Ja, Marc war seit zwei Monaten Schnee von gestern. Er war nicht der Mister Right gewesen, sondern lediglich eine reine Zeitverschwendung. Sie brauchte Niemanden, der ihr Leben bestimmte und sie an die Kandare nahm. Leider war Marc nicht nur sehr dominant, er war auch noch schwer von Begriff. Noch immer rief er sie täglich an und versuchte, sie zurück in sein Leben zu dirigieren. Aber lieber würde sie einer Hippiekommune beitreten und anfangen selbst angebautes Gras zu rauchen, als zu ihm zurückzukehren. Endlich war sie frei und konnte tun und lassen, was sie wollte. In Ihrem Leben war kein Platz mehr für diesen Diktator. Und sie fühlte, es war genau das Richtige. Die Trennung, die Praxis - mit beidem wurde sie gut fertig. Martina fingerte unbeholfen in ihrer Manteltasche nach dem Schlüsselbund. Zwei voll bepackte Einkaufstaschen behinderten dieses Unterfangen und versperrten ihr die Sicht auf das Schlüsselloch. Schließlich hatte sie es gefunden, nur um festzustellen, dass die Tür gar nicht verschlossen war. Auf leichten Druck hin gab sie nach. Janine, Martinas fleißiges Helferlein am Empfang, war schon vor ihr da.

"Morgen, Janine", begrüßte Martina sie überrascht. "Was machen sie denn schon hier? Stehen sie mit Ihrer Matratze auf Kriegsfuß?"

Janine verdrehte nur kurz die Augen. Ihr sonst so ordentlich gestylter Bubi-Schnitt stand leicht ab, quer im Mund hatte sie einen Bleistift und den Arm voller PC-Software, die ihr offenbar ein großes Fragezeichen ins Gesicht zauberte.

"Morgen, Frau Schmitt", sabberte sie sichtlich genervt um den Bleistift herum. "Neee, ich will doch das Programm aufspielen. Also, das da braucht ne Weile. Ich brauch die Hotline-Nummer. Wo hab ich denn den Wisch gelassen? Ach...DA!"

Ein Papierstückchen gesellte sich zu den Disketten, und Janine fiel der ganze Zauber aus den Händen hinunter auf den Schreibtisch. Wieder verdrehte sie die Augen. Martina lächelte.

"Deswegen hätten sie nicht so früh kommen müssen. Heute ist doch nur Slow-Motion-Programm geplant. Gerade damit sie genug Zeit haben, den PC in Gang zu bringen."

Martina stellte die Tüten im Personalraum auf den Boden und hängte ihren Trenchcoat an den Haken. Das männliche Kleidungsstück verlieh ihr einen verspielten Touch. Darunter trug sie ladylike einen leichten, bunten Strickpullover und beige Jeanshosen. Hell und freundlich wollte sie auf ihr Klientel wirken. Dabei verfehlte sie ihr Ziel nicht. Besonders markant waren ihre hüftlangen, hellblonden Haare und ihre hellbraunen Augen. Ja, Sie war ein echter Hingucker. Marc hatte das gar nicht gepasst, eifersüchtig wie er war. Tja, Marc! Der Schnee von gestern geisterte noch immer durch ihr Gemüt. Doch langsam löste er sich in eine matschige Pfütze auf. Janine nahm den Bleistift aus dem Mund und steckte ihn sich hinters Ohr.

"Ich weiß, es sind nur Notfälle dran. Aber die Mutter von Chris hat schon zweimal angerufen, weil der Junge im Kindergarten nicht mitspielen will und stattdessen lieber aus dem Fenster guckt. Ich hab ihr gesagt, Sie soll gegen Neun anrufen, dann kann ich sie kurz durchstellen. Ja, und dann ist da noch so ein Typ da."

Janine deutete mit dem Daumen auf eine Tür in ihrem Rücken. Die Tür war beschriftet mit `Spielzimmer 2´.

"So ein Typ?", echote Martina. "Was denn für ein Typ?"

"Na, so ein Typ eben. Ließ sich nicht abwimmeln. Er müsse ganz dringend mit ihnen über etwas wichtiges reden."

"Zeuge Jehovas?"

"Neee, so von Gott befohlen sieht der mir nicht aus. Dunkle Haare, mittelgroß, bisschen depri drauf, würde ich sagen. Etwas schüchtern. Macht nen traurigen Eindruck. Traurig, aber harmlos. Darum hab ich ihn reingelassen."

Martina war in Gedanken rasch ihren Bekanntenkreis durch gegangen, aber keiner war dabei, auf den Janines Beschreibung auch nur halbwegs passen würde. Sie öffnete also gespannt die Tür zum Spielzimmer, während Janine sich wieder Ihrem PC-Programm widmete. Vor Martinas kleinem Schreibtisch am Ende des Raumes, der einem überdimensionalen Kinderzimmer glich, saß ein junge Mann, der heftig erschrak, als sie hereinkam. Janine hatte recht; das war kein Zeuge Jehovas. Und er sah in der Tat deprimiert aus. Er war zu blass, zu dünn und zu nervös. Martina schätzte ihn auf etwas über Zwanzig. Besonders auffällig an ihm waren zwei Narben, von der sich die eine über seine Stirn und die andere über seine linke Wange zog. Sie waren schon älter, leicht verblasst, als ob sie ihm schon vor längerem mit einer Rasierklinge beigebracht worden wären. Martina ging langsam auf ihn zu und streckte ihm die Hand hin.

"Ich bin Martina Schmitt. Was kann ich für sie tun?"

Der junge Mann stand höflich auf, ergriff die Hand und drückte sie kurz und fest.

"Mein Name ist Eddie Rillek. Entschuldigen sie mein schlechtes Deutsch. Ich bin Amerikaner und noch nicht sehr lange hier."

"Ihr Deutsch ist sehr gut", versicherte Martina, während sich beide setzten. "Wie kann ich helfen? Möchten Sie ein Kind anmelden?"

"Nein, dazu hätte ich ihre Vorzimmerdame in Anspruch genommen. Ich selbst will mit ihnen reden."

Er sah sich im Zimmer um. Martina folgte seinen Blicken, die zwischen den mit Spielzeug gefüllten Regalen, der Hängematte, dem Sandkasten und dem Puppenhaus hin und her huschten und schließlich an der Schiefertafel mit bunter Kreide hängen blieben. "Ich bin wohl nicht ganz ihre Zielgruppe?"

"Meine Klienten sind in der Tat etwas jünger, und damit wir uns nicht missverstehen: Ich bin Ergotherapeutin. Ich kümmere mich um Bewegungsabläufe bei Menschen, nicht um deren Psyche. Manche Leute verstehen die Bezeichnung falsch. Aber ich kann ihnen die Adresse von einer sehr netten Kollegin geben, die sich um die psychischen..."

Eddie grinste unvermutet schelmisch.

"Nein, nein. Vielen Dank. Ich weiß, was eine Ergotherapeutin ist und was sie macht. Und ehrlich...es ist mir wumpe. Ich wollte nur mit ihnen reden."

Martina stutzte.

"Reden? Mit mir? Wollen Sie mich anbaggern?"

"Falsch geraten", meinte Eddie trocken, aber noch immer grinsend. "Raten sie weiter."

"Mir liegt das Raten nicht so", gab Martina zurück. "Und ich habe schon genug Stress am Hals, mehr kann ich nicht brauchen."

Und so war es wirklich. Marc umkreise sie noch immer wie eine Schmeißfliege den Kackhaufen, schenkte ihr Schokolade und schickte Blumen. Er war ihr mehr als lästig und Zwei von der Sorte, waren deutlich Zwei zu viel.

"Nein", wiegelte Eddie schnell ab. "So einer bin ich nicht. Nicht so, wie sie denken. Ich weiß, wie das hier aussieht, nur.... Ich brauche jemanden zum Reden. Und...das hier fällt mir wirklich nicht leicht. Ich mach sowas nicht jeden Tag und ich bin etwas nervös. Darf ich mit meiner Geschichte anfangen und sie entscheiden dann, ob sie mich dabehalten wollen, oder lieber rausschmeißen?

Einverstanden?"

Martina war, zugegeben, etwas neugierig geworden. Sie hob die Schultern.

"Einverstanden. Fangen sie an, ich bin ganz Ohr."

Eddies Grinsen erstarb überraschend und er fragte ganz ernst: "Kann ich mich vielleicht dazu hinlegen? Ich kann mich dann besser konzentrieren. Wäre das möglich?"

Martina deutete auf die Hängematte.

"Ich hab nur diese hier hinter ihnen und ein paar Bodenmatten, falls ihnen das lieber ist. Sie haben aber nichts dagegen, dass ich hier an meinem Schreibtisch sitzen bleibe?"

"Nicht die Spur. Ich versichere ihnen, ich bin nervöser, als sie es sind."

Tatsächlich stand Eddie auf und wich zurück Richtung Hängematte, allerdings ohne Martina aus den Augen zu lassen oder ihr den Rücken zuzudrehen. Sie registrierte dies mit leichtem Unbehagen. Was war das für ein seltsam misstrauischer, junger Mann und was war ihm passiert? Trotz der Narben war er attraktiv und obwohl er dünn war, war er gut gebaut. Er war nicht besonders kräftig, aber drahtig. Ja, drahtig. Das war das richtige Wort. Langsam begab sich Eddie in die Hängematte. Dort atmete er erst einmal tief durch, als hätte er bis jetzt die Luft angehalten und müsste sie nun dringend loswerden. Martina setzte sich etwas bequemer hin. Dieses Gespräch schien mehr als nur fünf Minuten in Anspruch zu nehmen.

"Also, wie gesagt. Schießen sie los. Ich bin gespannt."

"Wissen sie", begann Eddie stockend, offenbar den Anfang suchend, "ich muss mit ihnen reden. Nicht mit irgendjemand. Nur mit ihnen. Ganz speziell, verstehen sie? Ich kann hier niemand trauen. Meine Geschichte ist etwas kompliziert. Sie allerdings wirkten nett auf mich und da hab ich sie eine Weile beobachtet."

Jetzt ließ Martina die Luft entweichen. "Wie war das?"

"Nein, die Sache liegt wirklich anders. Ich wollte nur sehen, ob ich ihnen trauen kann. Sonst nichts. Ich schwöre. Ich riskiere viel, wenn ich mit ihnen rede. Ich wollte nur sicher sein, dass sie kein Mensch sind, der mich sofort an die Bullen verpfeift."

"Mit anderen Worten, sie haben etwas angestellt und werden damit nicht selber fertig. Ich bin aber kein Beichtvater."

"Würden sie mich verpfeifen?"

Eddie legte wie ein kleines Hündchen den Kopf etwas schief.

"Da möchte ich mich nicht festlegen. Wären sie mein Klient, bestünde Schweigepflicht. Da ich sie aber nicht in meinem Kader habe und sie als Privatperson hier sind liegt das in meinem Ermessen. Aber sie haben ja wohl keinen Umgebracht, oder?"

Eddie lächelte etwas verlegen und Martina nickte: "Also gut. Folgender Vorschlag: Sie erzählen und ich verspreche ihnen, nicht gleich schreiend durch die Praxis zu rennen und meiner Vorzimmerdame zuzurufen, sie soll 110 wählen. Aber ich bin auf dem Sprung, okay?"

"Deal", willigte Eddie ein.

Martina lächelte aufmunternd. "Also, dann mal los. Worum geht es?"

Zögernd und etwas unsicher begann Eddie mit seiner Geschichte:

"Also....eigentlich ist an dem ganzen Schlamassel mein Bruder schuld. Zumindest wenn man's genau nimmt. Er war, oder IST vielmehr derjenige von uns, der ein NEIN nicht akzeptieren kann. Wir sind nicht gerade in den besten Verhältnissen groß geworden. Insgesamt waren wir drei Kinder. Mein älterer Bruder Ike, Ich und unsere kleine Schwester Babsi. Und alle drei stammen wir von verschiedenen Vätern. Meine Mutter war zwar keine Schlampe in dem Sinne, aber... naja, sie hatte wohl einfach kein glückliches Händchen, was Männer angeht, schätze ich. Und mit uns Kindern konnte sie auch nicht richtig umgehen. Wir waren schnell auf uns allein gestellt. Sie musste Arbeiten, Geld verdienen. Da wird man abgehärtet und lernt, sich durchzusetzen. Vor allem in der Schule. Das war nicht gerade ne Musteranstalt für Hochbegabte, aber sie war okay. Bis zu dem Zeitpunkt, als das mit den Drogen anfing. Nicht irgendwelche Drogen. Die gab es schon immer und überall. Nein, einer brachte was Neues mit auf den Hof. Irgend so ein synthetisches Zeug, was die Kids so richtig in Fahrt brachte. Ich hab nix davon genommen. Mein Bruder hätte mir sonst sicher den Arsch mit ner Kneifzange aufgerissen. Aber auch so hätte ich das Zeug nicht angerührt. Der Mist war mir nicht geheuer. Echt unheimliches lila Pulver. Mein Bruder verbrachte damals fast seine ganze freie Zeit in der Krankenstation von unserem Schularzt Dr. Todd. Bei ihm und seinem Assistenten Peter Newman. Ike wollte von dem Doc lernen. Todd war zwar steinalt, hatte aber wirklich was drauf. Und Ike auch. Er war wirklich gut in naturwissenschaftlichen Fächern und hing bei Todd rum, weil er in ihm sowas wie einen Mentor sah, der ihn hin und wieder unterstützte Und so wäre das auch ganz okay gewesen, wenn Todd in meinem Bruder nicht sein eigenes Projekt gesehen hätte, in dem Stil: `Wie treib ich dich richtig weit nach vorne, Junge?´, denn Ike war zwar gut in Naturwissenschaft, hing aber in allen anderen Fächern hinterher. Dann kam der ganz spezielle Tag, an dem alle wegen der Drogen im Quadrat sprangen, denn es ist folgendes passiert......

Das etwas andere Versprechen

…...Todd war am Ende seiner Kraft. So etwas hatte es an dieser Schule noch nicht gegeben. Todd zweifelte daran, dass es so etwas überhaupt schon einmal an irgendeiner Schule auf der Welt gegeben hatte. Manche Dinge durften nicht sein. Vielleicht passierten sie in einem beschissenen Paralleluniversum, aber nicht hier. Nicht real. Das ging zu weit. Todd trottete zum Waschbecken, nahm seine Brille ab und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Er war froh, nicht zu den Eltern des Jungen gehen zu müssen. In der Haut vom Rektor wollte er nicht stecken. Wenn nicht bald etwas gegen die Drogen unternommen wurde, würde es noch so manches böses Ende nehmen. Er würde gerne etwas tun. Etwas dagegen unternehmen. Aber wer war er schon? Dr. Stanley Todd. Ein alter Hund mit Haarausfall und Gleichgewichtsproblemen. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, von dem er vor knapp einer Stunde aufgeschreckt worden war, als der Unfall passierte. Sein Notizbuch lag noch aufgeschlagen neben einem interessanten Wissenschaftsartikel. Er ließ sich müde auf den Stuhl fallen und versuchte, an seine Gedanken über den Artikel anzuknüpfen, aber die Bilder in seinem Hirn zeigten immer wieder Billie Hall, dem Todd nicht mehr hatte helfen können. Niemand hätte das gekonnt. Auch nicht der später eingetroffene Notarzt. Billie Hall war sofort tot gewesen. Was für ein Segen für den armen Jungen! Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und der Doc fuhr heftig zusammen. Eines seiner letzten Haare war nun mit Sicherheit ebenso vorzeitig ergraut, wie schon so viele vor ihm.

"Du lieber Himmel, Peter! Müssen sie hier so reinplatzen?!"

"Sie haben ihn gerade weggebracht", überhörte Newman den Tadel. "Zumindest das, was noch von ihm übrig geblieben ist."

Todd verzog das Gesicht. Newman war nicht gerade ein Empath, das wusste er. Viel mehr war er ein geschniegelter Affe, dem die Hochnäsigkeit aus jedem Knopfloch sprühte. Übertrieben pedantisch war er und offenbar auch herzlos. Heute war einer der Tage an denen er es bereute, ihn zu sich ins Boot geholt zu haben. Peter war Theoretiker, Pragmatiker. Todd hingegen verfing sich eher in Gefühlsduselei; daher dachte er, ein ausgleichender Pol wäre hierfür die Lösung. Nun, nicht immer war sie das, stellte sich dabei heraus. Nicht immer. Aber was Newman auch tat, machte er gründlich. Und so schnappte er sich auch jetzt sein Klemmbrett und kehrte damit ins Labor und somit zu seinem gewohnten Tagesablauf zurück.

"Ich mach mit der Inventur weiter. Die Medikamentenbestellung muss raus."

Todd sah ihm etwas mürrisch nach. Dann seufzte er. Gefühlskälte als Antwort auf Belastung. Nicht zu beneiden, diese Taktik. Oder doch? Ein Panzer aus Ignoranz gegen Hilflosigkeit. Ein wenig davon konnte nicht schaden. Jeder baute sich seinen eigenen Schutz für die Seele auf. Erneut wurde die Tür mit einem Ruck aufgezogen. Noch ein weiteres graues Haar gesellte sich auf Todds Kopf zu seinen Freunden.

"Himmelherrgott...! Muss denn das immer sein?!",

brauste er auf. Ike ließ daraufhin die Tür sanft zurück ins Schloss gleiten.

"`Tschuldigung. Laune im Keller?"

"Das ist die Untertreibung des Jahrzehnts!", gab Todd zurück. "Heute noch nicht vor die Tür gekommen? Dort ist Billie Hall mit einem Laster kollidiert."

"Der Laster hat gewonnen!", kam es aus dem Labor.

Ike verzog das Gesicht.

"Ich hab´s gehört. War was von dem Chemiebaukasten mit im Spiel?"

Todd nickte. "Vermutlich. Schüler haben ausgesagt, Billie hätte hysterisch gelacht, als er schnurstracks auf die Straße lief und dem Laster direkt vor den Kühlergrill. Wenn du mich fragst, war er völlig high."

Ike hielt kurz die Luft an. Er hoffte nur, Eddie würde die Finger von dem Mist lassen. Sonst müsste er ihm leider die Nase brechen. Oder die Beine. Oder ihm den Schädel in eine Betonwand rammen. Egal. Jedenfalls würde es wehtun! Aber so richtig! Ike hätte nur zu gerne gewusst, wer den Stoff an der Schule verhökerte. Dem würde er in jedem Fall ganz furchtbar wehtun. Und das dann auch noch mit Spaß dabei! Und mit wachsender Begeisterung!

"Frontal erwischt!", kam wieder die Stimme aus dem Labor. "Dann hat er den Bengel zwischen seinen Reifen hin- und her geschleudert wie nen großen Gummiball. Der Rest von Billie sah aus wie ein Pfund Gehacktes."

"Jetzt ist aber gut, Peter", wetterte der Doc. "Das war taktlos! Ich verbitte mir das!"

"Tut mir leid", Peter lehnte smart in der offenen Labortür, das Klemmbrett unter dem Arm. "Ich hab sowas eben noch nie gesehen und die appetitlichen Worte sind mir dafür nicht eingefallen."

Papierraschelnd und mit Schlüsselklappern nahm er seine Arbeit wieder auf. Diesmal schloss er die Tür zum Labor hinter sich. Todd sah ihm resignierend nach. Dann blickte er Ike an, als würde er sich erst jetzt dessen Präsenz bewusst.

"Was machst du denn schon wieder hier? Wir hatten doch einen Deal, oder nicht?"

"Ja, ich wollte nur fragen, ob ich was helfen kann. Wegen Billie fällt viel aus. Tut mir leid, das mit ihm. Kann ich was tun?"

"Ja, halt dich an unsere Abmachung. Nutz die Zeit. Lern etwas. Mathe, Geschichte. Irgendwas. Du hängst ziemlich hinterher. Mach so weiter und du marschierst hier noch als Opa rein."

"Das hatte ich nicht vor. Aber Schule....ich taug nicht für den Mist."

"Aber ohne den Mist geht es nun mal nicht vorwärts. Du taugst für viel mehr, als nur für Mist.” Flüsternd: “ Du gäbst einen weitaus besseren Assistenten ab, als Peter."

Ike nickte: "Das machen sie mal den Lehrern bei der Notenkonferenz klar. Es ist egal, wie sehr ich mich anstrenge. Es kommt nur Scheiße bei raus."

"Und du glaubst, das ist Absicht. Die Schuld der Lehrer. Dabei hast du das nur selber in der Hand."

"Ja, und sie als meine Stütze. Aber anstatt mich zu fördern, beschäftigen sie weiterhin diese Witzfigur."

Damit deutete er mit ausgestrecktem Arm auf den Rücken der geschlossenen Labortür.

"Und was hast du dir vorgestellt?", stichelte Todd. "Dass ich Peter durch dich ersetze? Witzfigur hin oder her, er hat wenigstens einen Schulabschluss. Lass dich nicht hängen, Ike, das wäre total verkehrt."

"Und jetzt? Was soll ich tun? Mich auf den Hosenboden setzen? Sagen sie das bloß nicht, sonst klingen sie wie meine Mutter!"

"Deine Mutter sagt das? Intelligente Frau.”

“Ja, sowas von. Sie hat uns hierher in diese Einöde verschleppt! Hier sagen sich nicht mal mehr Fuchs und Hase gute Nacht, die mieten sich zusammen nen Möbelwagen und gründen in der Zivilisation eine Wohngemeinschaft!”

“Scherz bei Seite. Die Eingewöhnungsphase ist um. Natürlich ist es hart so von der Großstadt hier zu landen. Quasi ein Kulturschock, aber trotzdem erwarte ich Leistung von dir. Genau das und nur das! Denn das ist ausschließlich das, was nützlich ist. Im Leben schenkt dir keiner was. Und damit du das begreifst, ein kleiner Anreiz: Ich will dich hier erst wieder sehen, wenn deine Versetzung durch ist. Hol deine Noten aus dem Keller. Vielleicht kann ich dann was für dich tun. Vielleicht. Zwar erstmal nur hier, aber dann finde ich sicher was Besseres für dich."

"Ich will nichts Besseres. Ich will erstmal nur das hier! Entweder das oder zurück nach L.A."

Todd fuhr sich nervös über die Halbglatze, dann rieb er sich müde den Nasenrücken. Er war diese Diskussion so leid.

"Du hast mich verstanden. Bitte geh."

"Sie geben mir ernsthaft nen Arschtritt?!"

"Ja, bis auf Weiteres. Schade dass du das so negativ siehst, aber ich mein es nur gut mit dir."

Es war schon traurig. Ike hatte recht. Todd hätte Peter gerne gegen ihn ausgetauscht. Aber wenn der Junge schon nicht in der Lage war, selbst Prioritäten zu setzen, dann war es eben an Todds eratzväterlicher Strenge, genau das zu tun. Er hatte Verantwortung. Seinen eigenen Vater kannte Ike ja nicht. Der war schon vor dessen Geburt abgehauen. Und auch Eddies Vater hatte den Jungen nur rumgeschubst. Freunde hatte der Sonderling noch nie viele gehabt. Und von den Mädchen hörte er meistens nur: `Ist der hässlich! ´. Er war kein Vorzeigezögling mit seinem halb blinden Auge, den streichholzkurz geschnittenen, rotblonden Haaren und dem Dreitagebart. Dazu kam seine bullige Statur, die ihm, nicht ganz zu Unrecht, von vornherein den Ruf eines Schlägers bescherte, obwohl er die meiste Zeit so friedlich war wie ein Miezekätzchen. Er war es gewohnt, von den Menschen geschnitten zu werden. Aber nicht von Todd. Seinem großen Vorbild. Seinem Mentor. Und dass dieser ihn gerade verkauft und gedemütigt hatte, war Beleidigung zu viel. Einfach nur, weil er Ike war und das alles nicht anders sehen wollte. Er warf sich also seine Fliegerjacke über die Schulter und hinter sich die Tür zu. Mit Schwung. Voll absichtlich. Und Todd zuckte spürbar zusammen. Ein Frösteln stellte ihm unvermutet die Nackenhaare und er hatte plötzlich das ungute Gefühl, einen gewaltigen Fehler gemacht zu haben.

Ike strakte den Flur entlang. Er beachtete die anderen Schüler nicht, die ihm dort begegneten. Erst als ich aus dem Musikzimmer kam, verlangsamte er sein Tempo und ging neben mir her. Ich sah ihm sofort an, dass etwas nicht stimmte. Sein ramponiertes Auge, sonst stellenweise von einer weißen Hornhaut überzogen, leuchtete feuerrot. Er war bis aufs Blut gereizt.

"Billie ist tot", sagte ich, nur damit was gesagt war. Mir war klar, dass ich ihm nichts Neues offerierte, schlechte Nachrichten verbreiten sich schließlich schneller als ein Steppenbrand bei Dürre, aber mir war nach Reden. Ihm nicht.

"Weiß ich", erwiderte er knapp.

"Das ist doch echt ein Hammer", fraß ich mich an dem Thema fest, als ob ich mir seiner Situation nicht bewusst geworden wäre. "Er war fast ein Kumpel von mir. Hab öfter mit ihm gequatscht und hinter der Sporthalle abgehangen, aber darauf, dass er das Zeug nehmen könnte, darauf wär ich nie gekommen. Hättest du das von ihm gedacht? Sag schon was!"

"Halts Maul, Ed."

Ich blieb stehen, er ging weiter. Ich sah ihm nach, er drehte sich nicht um. Als er die Treppe hinunterlief, die zum Ausgang führte, verlor ich ihn aus den Augen. Wenn er mich Ed nannte war es stets gesünder für mich, ihm aus dem Weg zu gehen. Mein Bruder war nämlich der einzige Mensch auf der Welt, der es vorzog, mich bei meinem vollständigen Namen, nämlich Edward, zu nennen. Das tat er, seit ich ihm als kleiner Stöpsel beim Rumalbern mit einem Taschenmesser aus Versehen ins Auge gestochen hatte. Ich war schuld, dass er darauf fast blind war. Er trug mir diesen Ausrutscher verständlicherweise mit heroischer Hartnäckigkeit nach. Trotz Angst vor Keile war ich neugierig, was denn mit ihm los war. Ich wollte es wissen, also setzte ich ihm nach. Ich holte ihn schnell ein. Er hatte sich an der Tankstelle nahe der Schule ein Bier gekauft. Ich warf ihm einen mürrischen Blick zu, während wir nebeneinander die Straße entlang gingen. Er nahm einen Schluck und bot dann mir die Flasche an. Ich nahm sie, obwohl ich das Gesöff nicht mochte, trank angewidert und gab sie ihm zurück, froh über die versöhnliche Geste.

"Daheim gibt´s Zoff, wenn wir nach Bier stinken", sagte ich trocken. Mein Bruder hob nur die Schultern.

"Na und? Ist doch nix Neues. Ist doch an der Tagesordnung. ZOFF! Das Wort hat unsere Alte doch erfunden!"

Ich gab keine Antwort. Er bot mir erneut einen Schluck an. Als ich ablehnte trank Ike die Flasche leer und beförderte sie mit einem weit ausgeholten Wurf in die nächste Ecke, wo sie vor den Füßen eines schmuddeligen Typen in abgeranzten, speckigen Schuhen zerbarst.

"He, du Arschloch!", zeterte der. "Soll ich dir eine reinhauen?!"

Ike zeigte ihm den Mittelfinger. Ich nahm vorsichtshalber die Beine in die Hand. Ich hatte keine Lust, mich von diesem Halbpenner aufmischen zu lassen, nur weil mein Bruder schlechte Laune hatte. Wie ich ihn kannte, würde Ike den Typen noch bis zum Umfallen provozieren und dann seinerseits DEM eine reinhauen. Doch ich hatte mich geirrt. Mit wenigen Sätzen hatte er mich rasch eingeholt und hielt mich am Kragen meiner Lederjacke zurück. Ich blieb stehen und verschnaufte. Mich hatte der kurze Spurt ganz schön geschafft, Ike atmete nicht einmal schneller. Ich war eben nicht der Sportlichste. Ike grinste mich an.

"Scheiß dir doch nicht immer gleich in die Hose, Edward."

Ich wollte Kontra geben, aber ein gewaltiger Hustenanfall packte mich und schüttelte mich durch. Mein Bruder setzte unterdessen den Heimweg fort. Naja, ein Heim war das nicht gerade. Ein kleines Häuschen auf nem Schuttabladeplatz, das beschreibt es wohl am besten. Dieses Kleinstadtidyll war unser Rattennest, seit wir dem Vater unserer Schwester hinterhergezogen waren. Hinterher aus L.A. Keinen normalen Großstädter verschlägt es freiwillig nach Badger Valley in Idaho! Nur unsere Mutter konnte auf so eine Schnapsidee kommen. Dabei wollte der Kerl gar nichts mehr von ihr wissen. Genauer gesagt: seit ihr Schwangerschaftstest positiv und seine Ehefrau stocksauer war. Aber sie hatte wohl ihre Gründe. Vielleicht Liebe. Kein Schimmer. Wie gesagt, Sie hatte noch nie viel Glück, was DAS angeht. Und wir wurden nicht gefragt. Landluft tut gut und wir würden uns schon einleben, hatte sie gemeint. Ja, leb dich mal ein, in so einer Scheiße. Wir bekamen seit Monaten regelmäßig von der Dorfjugend den Arsch voll. Wie sollte man sich da einleben? Nun, wir wollten nicht den Arsch voll, also schlugen wir zurück. Wir schlugen uns allerdings im L.A.- Großstadt-Style. Das war nicht üblich in Badger. Wo wir aufkreuzten, gab´s meistens bald Ärger. Mehr für Ike, aber fast genauso oft für mich. Na, wenigstens gab es keinen Bandenkrieg. Kopf hoch, lebe. Atme, lebe. Irgendwann würde auch dieses Theater seinen Vorhang finden, spätestens wenn wir uns eingelebt hatten. Ich stieg meinem Bruder voran die ausgetretenen Stufen der Veranda hoch. Wie immer klemmte mein Schlüssel im Schloss und ich musste rohe Gewalt anwenden, um die verflixte Tür aufzukriegen.

"Wir sind zurück!", rief ich durch die Bude.

"Was denn?", kam es aus der Küche. "Alle beide? Was ist passiert?"

Wir folgten der Stimme und dem Geruch nach Essen. Mama stand am Herd und rührte in etwas, das verdächtig nach Gulaschsuppe aus der Dose roch. Sie kennen die Sorte bestimmt. Die, die so riecht, wie wenn man Katzenfutter in ein Näpfchen füllt. Voll pervers. Wir setzten uns an den Küchentisch und Mama stellte auch für uns Teller hin.

"Nun sagt schon, was ist passiert? Auch Kleinstadtschulen sind nicht auf Durchreise eingestellt." Wir schwiegen beharrlich. Sahen uns nur kurz an. Stumme Übereinkunft. Sag so wenig wie möglich. Mama verteilte die Suppe und band Babsi ihren Latz um. `Montag´ stand darauf. Das stimmte zwar nicht, aber die Kleine war nicht ganz altersentsprechend unterwegs. Mit ihren fast vier Jahren war sie doch noch sehr auf Hilfe angewiesen, besonders beim Essen. Sie spielte mehr damit, als dass es in ihrem Mund landete, was natürlich auch leicht mit der Kochkunst unserer Mutter zu tun gehabt haben könnte. Aber sei es drum. Der `Mittwoch´ war also offenbar dreckig und in der Wäsche.

"Jetzt lasst euch doch nicht alles aus der Nase ziehen."

Ike ließ sich zu einer Antwort herab.

"Es hat einen Unfall gegeben. Todd hat für heute alles dicht gemacht."

Er log. Und das würde auffliegen. Die Antwort war nur bis zu dem Moment plausibel, bis die Buschtrommel den Tod von Billie Hall verkünden würde, und da Mama im örtlichen Hotel arbeitete, würde das nicht allzu lange dauern. Aber für den Moment verschaffte es Ruhe. Oder auch nicht.

"Aber das hat dich doch noch nie abgehalten", fuhr Mama fort, "trotzdem zu diesem Möchtegern-Doc auf die Station zu gehen. Du hast doch bei Stan einen Stein im Brett."

Ike ließ den Löffel fallen, stand auf und verschwand in unserem Zimmer. Ich sah ihm genauso betreten nach, wie unsere Mutter.

"Bei Aladin und seiner Lampe, was ist denn mit dem los?

Der ist doch sonst nicht so empfindlich. Richtige Mimose heute."

"Was ist eine Mimose?", fragte Babsi.

"Das ist eine Pflanze, die ganz schnell beleidigt ist, wenn man sie anfasst oder was an ihrem Lebensraum verändert", antwortete unsere Mutter.

"Was ist ein Lebensraum?", wollte Babsi weiterwissen.

"Das ist alles, was dich umgibt."

"Was ist ein umgibt?"

Mama seufzte. Ich aß inzwischen meinen Teller leer und folgte Ike. Der lag auf seinem Bett und starrte an die Decke. Ich ging zum Schrank und angelte mir ein frisches Sweatshirt. Mehr als Alibi, weil ich ihm nicht auf den Sack gehen wollte. Da zerriss er selbst unvermutet die Stille.

"Ich hab das Kaff hier dicke. Ich verpiss mich von hier, darauf kannst du wetten."

"Ach komm schon", sagte ich beschwichtigend. "So scheiße ist es hier auch wieder nicht. Kaum Menschen, kaum Verkehr. Viel Wald und viele Viecher. Wo willst du überhaupt hin?"

"Mein Problem. Ich lass mich doch nicht von diesen Landeiern zum Idioten abstempeln."

"Aber du kennst das doch. Wir sind hier die Neuen. Noch mindestens für die nächsten 20 Jahre. Und was ist mit Todd? Zu dem gehst du doch gerne und der glaubt an dich!"

Damit hatte ich unbewusst in ein Wespennest gestochen. Wie eine Raubkatze fuhr mein Bruder hoch, packte mich an der Kehle und ich dachte, ich bekäme gleich die Abreibung des Todes, doch er begnügte sich damit mich durchzuschütteln, als wär ich eine Puderzuckerdose.

"Todd kann mich am Arsch lecken, der alte Sack!", keifte er. "Der hat mir vorhin verklickert, dass er auf mich keinen Wert mehr legt, außer ich schaff die Versetzung. Und das pack ich nicht! Da staunst du, was?! Aber das zahl ich ihm heim! Das lass ich mir von ihm nicht gefallen!"

Ike stieß mich zurück gegen den Schrank. Langsam trat ich den Rückzug an. Das lag ihm also quer im Magen. Todd hatte Flagge gezeigt. Darauf war ein Ausrufezeichen, aber Ike machte gleich einen Totenkopf daraus. Typisch. Aber Todd schoss in die falsche Richtung. So bekam er Ike nicht zum Lernen. Nicht mit so viel Druck von oben. Ich kannte meinen Bruder, ich war schließlich mit ihm groß geworden. Für mich war es besser, ihm für eine Weile aus dem Weg zu gehen und das Feld auf weiteres zu räumen, bevor er doch noch auf die Idee kommen würde, seinen Frust an mir auszulassen. Er hatte sich etwas abgekühlt und lag wieder auf seinem Bett, in seinen Schmollwinkel gekehrt. Ich ging in den Flur und stolperte dort fast über Babsi, die mit ihrer Strick-Puppe auf dem Boden saß und spielte. Ich nahm sie auf den Arm und trug sie zum Sofa, wo wir uns eine ganze Weile stritten, was denn nun besser wäre: ein ganzer Topf voll Gulaschsuppe oder ein Daddy. Ich war für Daddy. Sie verstand das nicht.

An diesem Abend gingen wir zeitig zu Bett. Mama arbeitete manchmal auch nachts. In der Feriensaisson half sie in den Hotels der Stadt im Wechsel aus, wenn die Outdoor-Touristen über unser Kaff am Arsch der Welt, entweder im Sommer mit ihren Wandersandalen oder im Winter mit ihren Schneestiefeln herfielen, um den Großstadtstress für ein paar Tage hinter sich zu lassen und dazwischen füllte sie Regale im Supermarkt auf. Ich hätte sonst was drum gegeben, wieder in einer richtigen Stadt wohnen zu können, in einer Stadt, die man auch als solche bezeichnen konnte und nicht in diesem Waldschratghetto, das so aussah, als hätte ein wütender Dreijähriger mit Bauklötzen um sich geworfen. Malerisch, bescheuert, armselig. Babsi war nicht gut drauf an dem Abend. Sie hustete anhaltend und trocken. Darum nahm ich sie mit in unser Zimmer in mein Bett. Normal schlief sie bei Mama, aber so allein wollte ich sie nicht lassen. Ike stellte sich schlafend. Das merkte ich sofort, aber ich schob sein gespieltes Schlafen vor, um Babsi keine Gutenachtgeschichte erzählen zu müssen. Sie schimpfte mich einen ganz gemeinen Jungen, den gemeinsten, den sie kannte. Nun, da ich wusste wie klein ihr Bekanntenkreis war, insbesondere den, der die Jungs betraf, kratzte mich das nicht weiter. Sie ärgerte sich, weil ich mich nicht ärgerte. Aber ich wollte mich nicht ärgern. Am nächsten Tag hatte ich nämlich Geburtstag. Da gönnt man sich schon mal was. Als Babsi endlich Ruhe gab und ich das Licht ausknipste, fragte ich meinen Bruder so nebenbei: "Na, hast du dich wieder beruhigt?" Ike sollte nicht glauben, dass er mich verarschen konnte. Aber eine Antwort bekam ich nicht. Ich hatte auch keine erwartet. Ich klopfte mir mein Kissen zurecht und schloss die Augen. Babsi zerrte mir die Decke weg, aber ich ließ es mir gefallen. Kleine Kinder haben schließlich auch Rechte. Gerade als ich am Wegdriften war, beförderte Ikes leise Stimme mich wieder in die Wirklichkeit zurück.

"So leicht lass ich mich nicht abschütteln. Vorher werd ich dem arroganten Sack ein Ding verpassen, an dem der noch lange zu knabbern hat."

"Aber abhauen tust du nicht, oder?", fragte ich. Das hätte mir gerade noch gefehlt. Als einziger Mann im Haus mit einer hornochsenverliebten Schachtel und einem zurückgebliebenen Kleinkind. Na, Mahlzeit. Babsi hustete laut und anhaltend im Schlaf. Es klang wie das Bellen eines Hundes und veranlasste mich, nach dem Lichtschalter des Nachttischlämpchens zu greifen. Bis ich ihn endlich gefunden hatte, stand Ike schon neben ihr und legte ihr die Hand auf die Stirn. Ich hatte nicht mal bemerkt, dass er eine Bewegung gemacht hatte, geschweige denn, dass er aufgestanden und durch das Zimmer zu uns rübergekommen war. Babsi brabbelte etwas und presste ihre Puppe an sich.

"Sie hat Fieber", meinte Ike. "Ich hoffe, sie brütet nichts Größeres aus. Wenn sie ernsthaft krank werden würde, wäre das jetzt nicht so der Knaller." Dann wechselte er abrupt das Thema: "Wenn ich abhaue bleibt mehr für euch zwei übrig."

"Was faselst du denn da?", fragte ich. "Also ob ich das will. Oder Babsi. Oder Ma. Wir wissen alle, dass du mehr auf dem Kasten hast. Alle. Nur du nicht."

Ike lachte kurz auf.

"Ja, und unsere Oma ist ein Bettvorleger." Er setzte sich zu Babsi auf die Bettkante.

Ich grinste. "Ja, deine vielleicht."

Ike wurde schlagartig ernst. "Ja, das ist auch so ein Thema", meinte er. "Familie! Mein Alter hat Ma damals sitzen lassen. Und das wirft sie mir vor."

"Du siehst Gespenster. So ist sie nicht."

"Ach, Edward. Tu doch nicht so, als ob du das nicht wüsstest."

"Na und?", feixte ich. "Meiner hat sie auch sitzen lassen und ist obendrein noch im Knast. Und Babsis Vater? Der Reinfall des Jahrtausends? Mann, so ne charakterlose Sau musst du erstmal durch die Kiste ziehen. Glücklich verheiratet! Dass ich nicht lache! Voll das Weichei."

"Tja, aber weit ist der Blödmann nicht gekommen. Wenn ich der gewesen wäre, hätte ich meinen Krempel gepackt, wär mit Vollgas aus Idaho raus, hätte bis zum Ortschild von Florida nicht angehalten und dort mit meiner Familie neu angefangen. Und dabei vor Glück noch mit Orangen um mich geschmissen. Na, wahrscheinlich hat er nicht angenommen, dass Mama ihm folgen würde."

"Tja, sie hatte nix zu verlieren."

"Und was hat sie nun gewonnen? Fuck! Wir hängen hier in Ödtschikistan fest und sehen bald aus wie DIE."

"Wie DIE?"

"Wie die Idahoianer. Was willst du denn mal werden, wenn du groß bist? Fischzüchter oder lieber doch Kartoffelbauer? Heidiho, ich komm aus Idaho! Jahii!"

Er warf ein fiktives Lasso und ich musste Lachen.

"Ach, weißt du, ich werd lieber Goldgräber. Das passt besser zu Jahii."

"Und Babsi?", machte Ike glatt weiter. "Was wird aus ihr? Wenn sie mal rumpubertiert und blickt, wie hier der Hase läuft? Kannst du sie dir schon vorstellen im Minirock mit knallroten Schlampenlippen und zugeknoteter Bluse?"

"Und da willst du uns einfach im Stich lassen, hm? Bei den schönen Aussichten?"

"Komm mir nicht so", zischte er, schon wieder auf dem Weg, böse zu werden. "Ihr müsst schon selbst sehen, wo ihr bleibt. Außerdem reicht mir deine Pubertät. Die ist mir noch in bester Erinnerung. Ich hau hier ab. Aber vorher hab ich noch was zu erledigen."

Er stand auf und ging zur Tür.

"Was hast du vor? Wo willst du hin?", fragte ich besorgt.

"Geht dich nix an."

"Was willst du mit Todd machen? Willst du ihn verprügeln?"

Ike stoppte. "Mach dich nicht lächerlich! Als ob! Ich bin mit dem Umzug hierher schon tief gesunken, aber so tief...!?"

Erneut hustete Babsi. Ike fasste in seine Jackeninnentasche und warf mir sein Notizbuch zu.

"Wenn Babsi so weiter hustet, dann rufst du da drin die Nummer von `Norton´ an. Der schuldet mir noch was.

Der kann dir weiterhelfen."

"Brauchst du das nicht, wenn du abhaust", feixte ich. Er schüttelte den Kopf.

"Das was da drinsteht, kann ich auswendig. Netter Versuch, aber vergiss es."

Ike zwinkerte mir aufmunternd zu: "Ich hab auch hier meine Connections. Nicht vergessen. Norton. Das ist wichtig."

Ein weiteres Zwinkern später war er zur Tür raus.

Babsi hustete weiter, also klingelte ich diesen Norton an. Mein Bruder mag sein, wie er will, aber wenn er so redet, tut man besser, was er sagt. Ganz wohl war mir nicht bei dem Anruf, vor allem deswegen weil sich ein Doktor Norton am Telefon meldete. Doch als er hörte, wer ich war und warum ich anrief, fackelte er nicht lange. Nur Minuten später saß er auf derselben Bettkante wie vorhin mein Bruder, neben meiner Schwester und schrieb etwas auf ein Stück Papier, was ich nicht lesen konnte.

"Warum tun sie das?", fragte ich ihn, als ich den Zettel in meine Tasche steckte. Ein amüsiertes Augenrollen, war die Antwort.

"Ich schulde ihrem Bruder was", kam zögernd. "Ihm und kranken Menschen."

"Arzt aus Passion?", fragte ich. "Kann man davon leben?

Wir haben nicht viel, aber wenn wir ihnen was schulden, bezahlen wir auch."

"Ich lebe gut", kam fast beleidigt von Norton. "Und ich schlafe noch besser. Euer Geld will ich nicht. Dein Bruder hat mich schon bezahlt."

"Und wie?" Ich blieb skeptisch.

"Um das zu erfahren, müsstest du mich foltern. Lass es einfach so stehen."

Er kitzelte Babsi am Bauch und sie quietschte vergnügt.

"Sie ist bald wieder fit. Sie soll im Bett bleiben und du holst das Medikament, das ich dir aufgeschrieben hab.

Zweimal täglich 20 Tropfen. Geh zu Hawker. Der Mann ist ein Freund von mir. Kostet also nichts."

Er stand auf und ich reichte ihm Hut und Mantel. Es war windig in dieser Nacht. Windig und unwirtlich, wie üblich zu dieser Jahreszeit. Ich begleitete ihn zur Tür und gab ihm die Hand. Normal bin ich nicht die Höflichkeit in Person, aber in dem Fall schien es mir angebracht, mal eine Ausnahme zu machen.

"Der Besuch bleibt unter uns, Eddie. Verstanden?"

"Klar, bleibt unter uns."

"Wenn du Wort hältst wie dein Bruder, kann nichts schief gehen."

"Klar, liegt bei uns in der Familie", nickte ich.

"Wiedersehen, Doc."

Zu einem Wiedersehen kam es nicht.

In der Zwischenzeit hatte Ike Probleme völlig anderer Natur. Er musste aufpassen, nicht gesehen zu werden. Der Schulhof lag jedoch in samtener Dunkelheit. Kein Mensch war in der Nähe. Nicht an dieser Ecke und nicht bei diesem Wetter. Trotzdem schlich Ike geduckt und leise wie eine Katze an der Vorderfront der Schule entlang und ließ seinen Blick über die Türen und Fenster gleiten. Alle verschlossen. Natürlich. Er hoffte dennoch eine schwache Stelle zu finden, durch die er in das Innere des Gebäudes gelangen konnte. Auf seinem Rundgang kam er an den Außentoiletten vorbei. Sie grenzten direkt an den Hinterhof der Schule und konnten sowohl von den Schülern innen, als auch von denen im Außenbereich betreten werden. Und da fehlte eines der Stäbchen im Gitterfenster. Ike drückte probeweise gegen die Tür, aber sie war von Innen verriegelt, was zu erwarten gewesen war. Der Riegel bildete jedoch kein wirkliches Hindernis. Ein gewöhnlicher Schnappriegel. Quasi ein Kinderspiel. Ike steckte den Arm durch das Gitterfenster und angelte nach dem Riegel, den er fast sofort zu fassen bekam. Die Tür schwang auf und die erste Hürde war genommen. Er befand sich im Schulgebäude. Durch die nächste Tür am Ende der Toiletten gelangte er in den Flur vom Erdgeschoß der Schule. Von dort in den ersten Stock zum Krankenzimmer von Dr. Todd. Diese Tür war sein eigentliches Problem. Von Todd wusste er, dass diese Alarmgesichert war. Es würde nicht leicht werden, da einzubrechen, aber wenn er erstmal davor stünde, würde ihm schon was einfallen. Als er dann tatsächlich oben war und davorstand, staunte er nicht schlecht. Ein Lichtschein erhellte den Türspalt. Nur für einen Moment. Ein Schatten glitt vorbei, dann war es wieder dunkel. Ike stutzte. Da war er wohl nicht der einzige Besucher, der der Krankenstation heute einen nächtlichen Besuch abstattete. Neugierig drehte Ike sachte den Türknauf und trat ein. Vorsichtig schlich er sich von hinten an den Schatten heran, der sich im Labor befand. Plötzlich stieß er mit dem Knie an einen kleinen Beistelltisch. Reagenzgläser fielen zu Boden und zerbrachen mit einem ungeheueren Lärm. Ruckartig richtete sich der Lichtkegel der Taschenlampe auf ihn und er hielt geblendet die Hand vors Gesicht. Der Andere schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Ikes gesundes Auge jaulte auf und er gewöhnte sich nur langsam an das grelle Neonlicht. Schließlich konnte er seinen Gegenüber erkennen. Entgeistert starrten die beiden sich an. Peter löschte die Taschenlampe und fauchte: "Verdammt, wie kommst du denn hier rein?!"

Ike ließ die Hände sinken.

"Dasselbe könnte ich dich fragen!"

Peter zog einen Schlüsselbund aus der Tasche und hielt ihn präsentierend in die Höhe.

"Ach, sieh da", nickte Ike. "dann bist du also neuerdings der gute Onkel Nachtwächter? Schleichst du öfter bei Schummerlicht hier rum?"

"Ich seh, was ich sehen will."

"Weiß Todd, was du hier treibst? Woher hast du die Schlüssel?"

Peter kam langsam auf Ike zu. Dieser wich keinen Millimeter zurück.

"Todd konnte noch nie so recht auf seine Sachen achtgeben. Und was ist mit dir? Weiß Stanley denn, was DU hier treibst?"

"Natürlich nicht", entgegnete Ike. "Ich will ihn schließlich beklauen, genau wie du. Nur denke ich, dass das was du klauen willst, nicht so harmlos ist wie das, was ich mir ausgesucht habe."

Newman kam noch einen Schritt näher. Jetzt standen die beiden fast Nase an Nase und Ike konnte Peters Atem riechen. Süßlich. Nach Pfefferminzbonbons. Ike konnte den Geruch nicht leiden. Er rümpfte die Nase.

Peter hob eine Augenbraue.

"WAS willst du klauen, Wichtigtuer?"

Ike überhörte die Provokation.

"Geht dich nichts an. Ich schade keinem. Außer dem Ego von Dr. Todd. Aber wenn ich richtig liege, dann spielst du ein ganz fieses Spiel mit ihm."

"Was vermutest du denn?"

"Offensichtlich hast du dir von Todds Schlüsseln einen zweiten Satz anfertigen lassen. Und jetzt deckst du dich in seinem Labor mit Chemikalien ein, um in deinem eigenen Labor zu Hause damit kleine tödliche Trips herzustellen, auf die Kinder wie Billie Hall so tierisch abfahren, weil sie dumm genug sind zu glauben, dass sie sonst was verpassen im Leben. Stimmt doch, oder?" Peters Gesicht blieb völlig unbewegt, als er unvermutet ein Messer vor Ike aus dem Schaft springen ließ. Ike hielt es für klüger, die Hände wieder hoch zu nehmen. "Okay, nun mach mal langsam", versuchte er Peter zu beschwichtigen. "Du brauchst das Ding nicht. Also pack den Zahnstocher lieber weg, ja?"

Peter schüttelte bedauernd den Kopf.

"Rillek, du bist nicht dumm, das muss ich zugeben. Aber ziemlich frech. Hast du mich nicht heute Morgen noch eine Witzfigur genannt? Du warst so aufgebracht, dass es dir gar nicht in den Sinn kam, ich könnte dich durch die geschlossene Tür hören. Jetzt frage ich dich: Wer ist nun die Witzfigur? Ist dir noch nach Lachen zumute?" "Nein", gab Ike zurück. "Nicht unbedingt. So wie es aussieht, haben wir beide wohl ein kleines Problem. Aber das muss nicht ausarten. Wir könnten kooperieren. Also steck das Messer weg. Mit sowas hat schonmal einer Scheiße gebaut. Seitdem hab ich was gegen spitze Gegenstände in meinem Gesicht."

Doch Peter dachte nicht daran das Messer wegzupacken, sondern setzte dessen Spitze meinem Bruder an die Kehle.

"Du willst kooperieren? DU? Was könntest du mir schon anbieten?"

Warum passieren solche Sachen ausgerechnet immer nur Ihm, dachte Ike. Die Situation war heiß. Ike sah Peter an den Augen an, dass der Typ bestimmt keinen Moment zögern würde, ihm übel mitzuspielen, wenn ihn nicht sogar zu töten. Und wer würde ihn vermissen? Todd? Sicher nicht. Seine Familie? Wenn Edward vom Leder ziehen würde, dass Ike vorgehabt hatte abzuhauen, dann die sicher auch nicht. Dass Peter eine hinterhältige Kröte war bewies schon die Tatsache, dass er nicht einmal versuchte, Ikes Theorie vom Drogendeal zu widerlegen oder sich rauszureden. Er zeigte keinerlei Unsicherheit. Im Gegenteil. Er grinste noch dümmlich. Dümmlich, perfide und gefährlich. Und er hatte meinen Bruder bei den Eiern. Und zwar an beiden. Ike konnte nur versuchen, sich aus der Affäre zu ziehen, indem er Vertrauen aufbaute.

"Ich mach dir folgenden Vorschlag", sagte er daher schließlich. "Wir wollen doch beide was klauen. Also warum nehmen wir uns nicht jeder einfach das, was wir haben wollen und machen uns vom Acker. Ich bin zufrieden, du bist zufrieden und du siehst mich hier nie wieder. Wir haben uns gegenseitig in der Hand und keiner kann den andern anscheißen, ohne selbst angeschissen zu sein. Was hältst du davon?"

Kurz schien Peter nachzudenken. Dann verschwand das Messer von Iks Kehle und mein Bruder atmete erleichtert auf. Erst jetzt bemerkte er, dass er schwitzte wie ein Schwein.

"Die Idee an sich ist nicht schlecht", räumte Peter ein.

"Nicht, dass ich dir vorbehaltlos trauen würde. Denn was hast du denn schon zu verlieren? Doch weit weniger als ich, oder?"

"Ich bin fair. Und ehrlich. Das weißt du. Ich würde dich nie anpissen."

Peter lächelte schnippisch.

"Aber angenommen", meinte er, "nur mal so angenommen…du kommst nach Hause und vergisst alle Fairness. Kannst du dir vorstellen, was dann passiert?"

"Ich denke schon", erwiderte Ike vorsichtig. Da durchzuckte ein glühender Schmerz seine linke Schulter, als der Stahl des Messers siedend heiß in sie eindrang und er schrie auf.

"Ich sag dir, was dann passiert!", höhnte Peter. "Dann trifft dieses Ding bei unserer nächsten Begegnung, wann immer die auch sein wird, ein deutlich wichtigeres Körperteil von dir! Ist das klar?!"

"Vollkommen!", stöhnte Ike, die Hand auf die Wunde gepresst. Peter funkelte ihn böse an.

"Ich hoffe, es tut weh. Nimm meine Warnung ernst.

Wenn ich auffliege, bist du Geschichte. Dann kannst du singen: `Näher mein Gott zu dir´. “ Er packte meinen Bruder am Jackenaufschlag und blies ihm mit seinem Pfefferminzatem ins Ohr: "Schnapp dir jetzt, was du haben willst und dann raus hier!"

Ike war nichts lieber als das. Er ging zu dem Regal hinter Todds Schreibtisch und entnahm ihm sechs kleine, in Leder gebundene Bücher. Todds Tagebücher. Seine wissenschaftlichen Arbeitsfolien und Aufzeichnungen, handschriftliche Notizen und Erklärungen zu einigen wichtigen Bereichen der modernen Medizin. Außerdem befand sich unter den Büchern eines mit einem sehr ausführlichen Fremdwörterverzeichnis. Peter nickte, dann lächelte er schief. Damit würde Ike den Doc da treffen, wo´s ihm richtig wehtat.

"Ich hätte es mir denken können. Was sonst könntest du hier auch haben wollen? Der brave Ike Rillek. Ehrlich und fair. Durch und durch loyal. Geld stinkt nicht, aber du würdest eine Geldquelle nicht einmal erkennen, wenn man sie mit Scheiße einreiben würde."

"Der Drogenhandel ist nur deine Domäne."

"Du irrst dich, Ike. Wenn du nur wüsstest, wie sehr. Halt dich aus meinen Geschäften raus. Denk an unsere Abmachung."

Die Jacke meines Bruders war inzwischen blutverschmiert, obwohl die Wunde langsam aufhörte zu bluten. Es war nur ein Kratzer. Ein tiefer Kratzer, schmerzhaft, aber nur ein Kratzer. Eine Warnung. Mehr nicht. Peter lächelte noch immer stumpfsinnig als er sagte: "Mach dir da was drum. Du willst doch keine Entzündung kriegen, oder?"

"Danke für dein Mitgefühl", schnappte Ike sarkastisch und machte eine einladende Geste Richtung Labor.

"Bitte. Bedien dich."

"Das hab ich längst", entgegnete Peter. "Und jetzt geh.

Vergiss nicht unsere Abmachung."

Wie könnte Ike? Er machte, dass er fortkam. Er wollte schnell so viele Kilometer wie möglich zwischen sich und diesen Bastard bringen. Der war doch nicht ganz dicht!

Draußen auf der Straße begann Ike wie Espenlaub zu zittern. Noch immer lief ihm der Schweiß in Strömen runter. Die geschmacklose Bemerkung von Peter über Billie fiel ihm wieder ein: `…sah aus wie ein Pfund Gehacktes! ´ Ike fröstelte. Er erinnerte sich genau daran, dass er mit dem Dealer, sollte er ihn in die Finger bekommen, etwas anderes hätte machen wollen, als einen Pakt mit ihm zu schließen. Aber was hätte er tun sollen mit Peter? Dem freundlichen Peter! Dem freundlichen, unauffälligen Peter! Dem Milchreisbubi, der nie von Jemandem verdächtigt werden würde. Was war der Kerl in Wirklichkeit doch für eine niederträchtige Ratte! Und das eine stand fest: Der Kerl würde ihn abmurksen, ohne mit der Wimper zu zucken. Ike würde in jedem Fall die Schnauze halten, denn lebensmüde war er nicht.

Mein Bruder bemühte sich, leise zu sein, als er nach Hause kam. Aber ich lag wach, ich hörte ihn und war erleichtert. Bis ich das Licht anknipste. Der Ausdruck in seinem Gesicht. Das Blut auf seiner Jacke.

"Was ist denn mit dir passiert?!", fragte ich zögernd.

Ike legte sich vollständig angezogen auf sein Bett.

"Nichts. Schlaf weiter."

Ich knipste das Licht wieder aus. Ich konnte über die Distanz hinweg buchstäblich fühlen, wie sehr er zitterte.

Am nächsten Morgen wollte ich nicht aufstehen. Mir war elend. Ike rüttelte mich unsanft.

"Steh auf, Edward, oder ich hol nen Eimer Wasser."

Er zog mir die Bettdecke weg und zerrte mich an den Beinen auf den Fußboden. Meine Protestschreie ließen ihn völlig kalt. Widerstand war zwecklos. Gegen diesen kräftigen Bullen kam ich nicht an. Erbarmungslos wurde ich ins Bad geschleift.

"Geh pissen und dann hau ab in die Schule. Du bist spät dran."

"Wo ist Mama? Warum hat sie uns nicht geweckt?"

"Keine Ahnung. Die sagt mir als Letztem, was sie treibt.

Jetzt mach schon. " Ich musste in der Tat pissen. Aber das mit der Schule, das konnte Ike knicken. Ich wollte nicht da rumhocken, während mein Bruder in offenbar immer größere Schwierigkeiten geriet. In der Küche standen Cornflakes und Milch. Ike hatte Babsi schon fertig angezogen und saß mit ihr am Tisch, als ich zu ihnen stieß .

"Hat Mama keinen Zettel hingelegt?", fragte ich.

"Nein, hat sie nicht", gab Ike zurück. "Und ich bin froh, dass sie nicht da ist. Einer weniger, der dumme Fragen stellt."

Babsi leckte Milch vom Löffel. "Was ist eine dumme Frage?"

Ich grinste: "Das ist eine gute Frage."

Ike verdrehte nur die Augen. Babsi musste husten.

"Hast du Norton gestern angerufen?"

Ich nickte. "Ja, hab ich. Er war hier."

"Und was hat er gesagt?"

"Ich soll dich grüßen."

Ike boxte mich in die Seite. "Um mir Grüße auszurichten brauchtest du ihn nicht bei Wind und Wetter aus dem Haus zu klingeln! Was ist mit Babsi?"

Ich zeigte ihm den Zettel. "Das da soll ich holen."

Er nickte: "Bei Hawker."

"Ich weiß. Vorausgesetzt der kann das lesen. Schreiben Ärzte eigentlich alle mit dem linken Fuß?"

"Der kann das lesen", versicherte mir mein Bruder. "Hol das Zeug gleich nach der Schule. Ich bleib heute hier.

Zumindest bis Ma wieder da ist."

"Ich geh heute nicht zur Schule", tat ich meinen Entschluss kund. "Ich bleib auch hier."

Von mir aus konnte Ike mir ruhig eine kleben. Ich würde trotzdem nicht gehen. Aber er klebte mir keine, sondern meinte nur mit völliger Überzeugung: "Aber sicher gehst du." Punkt.

"Nein, ich geh nicht."

"Du gehst!", beharrte er. Doppelpunkt. Und damit war für ihn das letzte Wort gesprochen. Dass er mich unbedingt loswerden wollte, war mir nur recht. Auf diese Weise konnte ich vielleicht aus ihm herauskitzeln, in was er letzte Nacht verwickelt gewesen war. Ich begann mit dem Stuhl zu kippeln und schlug die Arme ineinander. "Ich denk ja nicht daran!", sagte ich fest. "Zuerst wirst du mir erzählen, was mit dir los ist, wo du heute Nacht warst, was du angestellt hast und vielleicht dann, aber wirklich nur vielleicht, dann werde ich der Schule......"

Weiter kam ich nicht, denn Ike holte mit dem Fuß aus und kickte mir den Stuhl unterm Hintern weg. Ich landete unsanft auf dem Boden und prellte mir das Steißbein, biss aber die Zähne zusammen. Wenn ich jetzt Schwäche zeigte, hatte er gewonnen. Dafür begann Babsi zu weinen. Wir kümmerten uns nicht darum.

"Du kleines Arschloch! Was glaubst du, wen du vor dir hast?!", schrie Ike mich an. "Du willst mich erpressen?!

Du?! Dazu musst du erstmal im Wachstum nen Zahn zulegen! Diskussion beendet! Du tust, was ich sage!"

Er hielt mir die Hand hin und half mir auf die Beine. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich damals geritten hat, aber als ich wieder einen einigermaßen festen Stand hatte, holte ich aus und knallte meinem Bruder die Faust ans Kinn. Sein Kopf wurde zur Seite geschleudert. Er schwankte kurz und sah mich verdattert an. Ich hielt mir schützend die Arme vor das Gesicht und erwartete voller Angst seinen Gegenangriff. Babsi rannte inzwischen heulend aus der Küche. Ich hätte am liebsten dasselbe getan. Aber kneifen durfte ich nicht. Es wurde Zeit, Ike langsam klar zu machen, dass ich mir nicht mehr alles so ohne Weiteres von ihm gefallen ließ. Er aber stand nur da und stammelte ungläubig: "Hey, der Rotzklumpen hat mir eine gedonnert. Und was für eine!"

Er nickte mir anerkennend zu. Ich war baff und nahm die Deckung runter. Das hätte ich besser nicht tun sollen, denn sogleich holte mich ein gewaltiger Schwinger von den Füßen und ich wurde zu einem fliegenden Objekt mit strampelnden Armen und Beinen. Dann folgte der Aufschlag auf den Küchenfliesen. Vor meinen Augen explodierten nicht nur Sterne, sondern eine ganze Galaxie. Als ich meine Sinne wieder beisammen hatte und mein Hirn auf Wahrnehmung schaltete, stand mein herzallerliebster Bruder breitbeinig über mir und sah mich bitterböse an.

"So schlägt man richtig zu, du Grobmotoriker!"

Ich kochte vor Wut. Gemein war er und hinterhältig! Einen neuen Angriff wagte ich nicht. Ich war nicht scharf darauf, den Kopf abgerissen zu bekommen. Ich wischte mir das Blut vom Mundwinkel. Dennoch…die ganze Zeit über konnte ich einfach nicht den Blick von seinen Eiern nehmen und mein rechter Fuß zuckte voll geiler Vorfreude. Ich ließ es beim Zucken. Ich zog lieber den Kürzeren. Ike beugte sich zu mir herunter.

"Merk dir, wenn du beim Faustkampf zuschlägst, ziel immer auf die Kinnspitze. Das hat den besten Effekt und bringt am meisten Wirkung. Selbst wenn der Gegner dem Schlag ausweicht, muss er erst sein Gleichgewicht wieder herstellen und in der Zeit kannst du nachsetzen.

Verstanden?"

Jetzt gab der mir auch noch Boxunterricht! Der hatte vielleicht Nerven. Vor ein paar Sekunden wollte ich ihm noch seine Kronjuwelen in die Stirnhöhle hochtreten, aber wie er da so lächelnd vor mir stand, verpuffte meine Wut und löste sich in Luft auf. Plötzlich erstarb sein Lächeln, fiel einfach so in sich zusammen und ich wich unwillkürlich zurück. Gott, was hatte ich für eine Hochachtung vor ihm!

"Du stehst jetzt sofort auf und bewegst deinen Arsch ganz fix in die Schule, bevor ich mich vergesse!"

Ich sprang auf und machte das ich wegkam, so schnell es meine wackeligen Beine zuließen. Die Schlacht hatte er gewonnen. Sein Geheimnis war sicher. Aber ich hatte wenigstens einen Teilsieg errungen, denn er hatte mir, zum ersten Mal nachdem er mich zu Boden gedroschen hatte, nicht wieder auf die Beine geholfen. Ich musste ihm wirklich imponiert haben, denn als ich mich auf der Veranda noch einmal umdrehte, stand Ike doch tatsächlich in der Küchentür und lächelte mich an. Diesmal erstarb das Lächeln nicht.

Ich war an diesem Morgen nicht der Einzige, der verschlafen hatte und spät dran war. Natürlich drückte Todd gerne ab und an ein Auge zu, wenn Peter unpünktlich war. Er war ja schließlich selber einmal jung gewesen. Aber gestern hatte Peter es nicht geschafft, die Medikamentenbestellung abzuschließen. Die Sache mit Billie hatte zu viel Zeit und Nerven gekostet. Und diese kleinkarierte Inventurarbeit hasste Todd wie die Pest. Von Peter schien sie allerdings geradezu ein Steckenpferd zu sein. Peter machte gute Arbeit. Trockene Arbeit. Er war ganz anders als Ike. Völlig. Dieser hatte Interesse an Medizin, am Helfen. Wenn Todd dem Jungen etwas zeigte, konnte Ike es ohne Probleme fast perfekt nachvollziehen. Todd rappelte sich vom Schreibtisch auf und fuhr sich durchs lichte Haar. Irrte er sich oder war es inzwischen noch lichter geworden? Himmel, wenn das in dem Tempo weiter ging, hatte er bestimmt in zwei Jahren eine Vollglatze. Und das mit sechzig! Ike....der Junge ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Todd hoffte, dass ihn die Arbeit auf andere Gedanken bringen würde. Außerdem war er es leid, auf Newman zu warten. Also setzte er seine Brille auf, denn ohne sie konnte er keinen Meter weit sehen - er war hochgradig Kurzsichtig. Er hoffte, er würde bei der angefangenen Inventur nicht noch einmal von vorne anfangen müssen. Er trottete zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Eine beruflich bedingte Angewohnheit. Egal was Todd anpackte, er wusch sich immer vorher die Hände. Nicht auszudenken, wenn er es bei der Behandlung einer offenen Wunde einmal vergessen würde. Als er gedankenverloren über den Rand des Waschbeckens fuhr, um ein paar Wasserflecken unkenntlich zu machen, schnitt er sich in den Finger. Wie um alles in der Welt kam denn da Glas auf den Beckenrand? Stanley nahm die winzige Scherbe und verbannte sie in den Papierkorb. Er leckte sich das Blut ab und begab sich zu einem der Schränkchen, um sich ein Pflaster auf die Wunde zu kleben. Dabei stellt er fest, dass er dringend noch ein paar Dauerbinden brauchen konnte. Er vermerkte es auf dem Klemmbrett und verschwand im Labor.

Als der Wecker zu klingeln begonnen hatte, schreckte Peter aus dem Schlaf hoch. Zum Kuckuck, er war doch eben erst ins Bett gegangen! Kunststück, denn nachdem Ike sich verdrückt hatte, hatte Peter erst noch sämtliche Spuren beseitigen müssen, die seinen nächtlichen Aufenthalt im Labor hätten verraten können. Dazu gehörten vor allem die kaputten Reagenzien, die dieser Vollidiot Rillek mit seiner Rumtapserei im Dunkeln allesamt vom Tisch gefegt hatte. Das war vielleicht eine Fieselarbeit gewesen! Jetzt hatte kein Wecker der Welt das Recht, ihn zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett zu klingeln. Peter schlug wütend auf ihn drauf. Der Wecker gab einen letzten schrillen Ton von sich und viel vom Nachtkästchen auf den Boden, wo er für immer verstummte. Newman drehte sich auf die andere Seite, wo er sofort wieder einschlief.

Todd hob die Augenbrauen. Das konnte doch nicht wahr sein! Er überprüfte erneut die Liste. Verglich sie mit dem tatsächlichen Inhalt der Boxen. Er sah in den Ordner mit den Lieferscheinen. Das war kein Irrtum! Laut Lieferscheinen hatte er mehr bestellt und geliefert bekommen als sonst und es fehlten Medikamente in seinem Bestand. Auch das WAS er bestellt hatte, ließ ihn staunen. Und ER hatte das unterschrieben?! Todd griff sich an die Stirn und ging den Bestand und die Bestellung noch einmal durch. Was er da angeblich bestellt hatte, eignete sich hervorragend zur Herstellung von halluzinogenen Drogen. Aber wer...? Und warum...? Peter...? Todd atmete tief durch, dann ballte er die Fäuste.

Peter hatte es nicht besonders eilig, in die Krankenstation zu kommen. Todd würde ihm höchstens eine kleine, halbherzige Standpauke halten, mehr nicht. Und Newman würde schon eine passende Ausrede einfallen. Er war flexibel, was das Auftischen von glaubwürdigen Geschichten anging. Schon als Kind konnte er lügen wie gedruckt. Und der Trottel Todd war einfach an der Nase herumzuführen. Der alte Knacker fraß ihm geradezu aus der Hand und vertraute ihm blind, ganz so, wie Peter das schon von Anfang an geplant hatte. Langsam öffnete sich die Tür zu seinem Zimmer einen Spalt breit und seine Mutter steckte vorsichtig den Kopf herein.

"Bist du jetzt wach, Peter?", fragte sie.

Peter ergriff ein Buch und schleuderte es nach ihr. Mrs.

Newman schrie auf und zog gerade noch rechtzeitig die Tür zu. Krachend flog das Buch dagegen.

"Verpiss dich!!"

Das war nicht mehr ihr Junge. Seit er sich mit diesen finsteren Kerlen eingelassen hatte, hatte er sich verändert. Sie hatte ihn so oft gewarnt, hatte ihn so oft vergebens gebeten, aufzuhören. Er tat es nicht. Jetzt war er nicht mehr ihr Junge.