Just like an Arrow 3 - Gabriele Raunegger - E-Book

Just like an Arrow 3 E-Book

Gabriele Raunegger

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Beschreibung

Bei einem Stollenrundgang finden zwei Angestellte der Denkmalpflege einen übel zugerichteten Leichnam. Dass Hauptkommissar Caspari daraufhin seine besten Männer in den Fall involviert, betrachten Wolf und Steinmann als Wink des Schicksals. Mit einem falschen Geständnis schickt Wolf seinen Schützling Toby in den Ring, um im Kommissariat für Wirbel zu sorgen. Während Caspari im Dunkeln tappt, ermittelt Jungpolizist Jens Bäumler in eine andere Richtung und kommt Wolf gefährlich nahe. Muss dieser ihn töten, um seine Identität zu wahren? Wolfs gesamtes Imperium steht auf dem Spiel. Habt keine Furcht, denn ich habe Pläne für euch, die voller Güte und Hoffnung sind.

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Für meine Familie

Wohin der Weg uns auch immer führen mag: Keiner wird ausgeschlossen, keiner bleibt allein. So sind wir. Wir halten Kontakt. Das ist mehr, als man von manch anderen Familien sagen kann. Und dafür danke ich euch auf ewig.

Inhaltsverzeichnis

PROLOG

HERR SCHLUNSKI

ALEXANDER

DIE JUNGS

KARLHEINZ

MCINTOSH

NORA

HENDRIK

MARTINA

JENS PART 1

TOBY UND ALBY

DIE KINDER

JOHANNES

LLOYD UND HUNTER PART 1

NICKLAS

JENS PART 2

JOSÉ

WOLFGANG

JENS PART 3

LLOYD UND HUNTER PART 2

PHILLIP WOLF

JÖRG MÜNZNER PART 1

JENS PART 4

JÖRG MÜNZNER PART 2

JASPER

JAMES LITHGOW

SIR FREDERICK FOX

MADAME MAUD UND FOX CAVERN

GEORGE UND ANGUS

DER ALTE JEAN, DUBOST UND DAS MEER

JÖRG MÜNZNER PART 3

JOSEPH FLETCHER

EPILOG

Nachwort

PROLOG

Egon Berg stand mit seinem Kollegen auf dem ausgetretenen Bretterboden unter dem Waldhügel. Es roch muffig, fast übel. Nach Moder und nassem Holz. Und nach etwas, das schwer zu beschreiben war. Ungefähr wie das Eichenfass seiner Großmutter, die noch Essiggurken eingelegt hatte und deren Endprodukt einmal kräftig in die Hosen gegangen war. Säuerlich, modrig und irgendwie vergoren.

„Puh!“ Richard Streicher, der hinter Egon Berg den Stollen betreten hatte, hielt sich die Nase zu. „Riechen die immer so streng nach alten Socken, mit denen man sich gründlich den Arsch abgewischt hat?“

Egon, der schon seit vielen Jahren ehrenamtlich für das Denkmalamt Stollen kontrollierte, sog prüfend die Luft ein, nur um sie sofort lieber anzuhalten. Hinten in seinem Hals schmeckte es auf einmal nach alten Kupfermünzen. Schließlich zuckte er kurz mit den Schultern und meinte: „Manchmal verenden Tiere in den Stollen. Gerade in solchen Waldgebieten. Mäuse, Ratten, Hasen oder auch mal kleine Füchse. Dann riecht das nun mal so.“

Darauf achtend wohin er trat, leuchtete er mit der Taschenlampe und ging voraus. „Wird Zeit, dass das Ding verfüllt wird.“ Er blickte prüfend die Stützpfeiler im Hauptstollengang an.

„Der Waldboden senkt sich schon gefährlich ab und siehst du hier die riesigen Wurzeln? Das ist nicht gut. Wir sollten machen, dass wir hier fertig werden. Der Palast ist einsturzgefährdet.“

„Mich würde interessieren“, meinte Richard, „wer das neue Schloss draußen angebracht hat. Hab ich mit dem Bolzenschneider fast nicht aufgekriegt.“

„Vielleicht ein Anwohner, der das alte Schloss beschädigt vorgefunden hat und Angst hatte, es könnten sich neugierige Kinder hier runter verlaufen. Der Spielplatz ist nicht weit. Die Leute tauschen es aus, dann ruft keiner an und wir stehen doof da.“

Richard zog erneut die Nase hoch.

„Bäh, das stinkt hier voll widerlich.“

„Stell dich nicht so an“, meinte sein Kollege. „Schau dir lieber die Streben da hinten in der Kammer an. Die sind neu eingezogen worden. Ist noch keine zwei Jahre her. Bis zur endgültigen Verfüllung in ein paar Wochen müssen die halten. Kuck, ob sie fest in der Wand verankert sind, oder ob sie schon durchhängen.“

Richard nickte wenig begeistert und verschwand weiter hinten in dem Stollen, um rechts die Kammer zu kontrollieren. Egon prüfte derweil mit einem Gerät die Feuchtigkeit der Holzverschalung vom Hauptstollengang, als plötzlich Richard an ihm vorbei zum Ausgang schoss, würgend, keuchend und kreidebleich.

„Was ‘n jetzt los?“, fragte er kopfschüttelnd und bog von Neugier gepackt in den Seitenraum ein, aus dem sein Kollege eben geflüchtet war. Er leuchtete mit der Taschenlampe. Dann schrie er erschrocken auf, machte auf dem Absatz kehrt und verließ den Stollen fast noch schneller als Richard Streicher. Draußen kotzten die beiden Männer im Ekel vereint in den Forst.

HERR SCHLUNSKI

Es war bald Sommeranfang. Wenn es wärmer war am frühen Morgen, tat die alte Dame ihren Job gleich nochmal so gern. Seit sie in Rente war, trug sie im Stadtteil West die Tageszeitung aus. Mit ihrem inzwischen leeren Handwägelchen, wartete sie geduldig auf die Einfahrt der Straßenbahn. Es war kurz nach fünf, ihr Dienst getan. Die Bahn fuhr vor. Die Dame drückte auf den Türöffner und mit einem zischenden Geräusch glitten die Türhälften auseinander. Sie ließ ihr Wägelchen im breiten Gepäckbereich der Bahn stehen und schaute sich um. Außer ihr war nur noch ein weiterer Fahrgast so früh unterwegs. Ein Herr im grauen Anzug saß ganz hinten. Die Bahn fuhr ruckelnd an und die Dame hielt sich schnell an einem der Haltegriffe fest. Der Mann sah freundlich aus, wirkte seriös und weil sie einsame Straßenbahnwaggons unheimlich fand, hangelte sie sich in den Umkreis von dem Herrn, der ihr flüchtig entgegenblickte. Die Dame lächelte gewinnbringend. Vielleicht ließe sich ja eine morgendliche Konversation aufbauen. Doch als sie näher kam und sah, was der Mann zwischen seinen Beinen hatte und liebevoll streichelte, vertrocknete ihr Lächeln und ihr Gesicht wurde zu einer Maske des Abscheus. Langsam wählte sie wie zufällig einen Sitzplatz von dem Herrn entfernt. Sie hatte in ihrem Leben ja schon einiges gesehen, aber so ein großes Ding war nicht darunter gewesen. Noch dazu pechschwarz und wuschelhaarig. Bestimmt beherbergte der eine ganze Armada von Flöhen!

Kommissar Roland Wolf lächelte auf seinen Hund hinunter. Der riesige Neufundländer hatte die Schnauze auf das Knie seines Herrchens gebettet und grunzte ab und zu genüsslich, wenn der Kommissar eines der großen Schlappohren anhob und kraulte. Seit Roland in Besitz von Herrn Schlunski gekommen war, besaß er auch eine Monatskarte für das öffentliche Verkehrsnetz. Sein Hund, von der Größe her ein mittlerer Kleinwagen und mit einem höheren Futterbedarf ausgestattet als es zum Beispiel ein Chihuahua war, war mit einem äußerst nervösen Magen gestraft. Um nicht lange drum rum zu reden: dem Köter wurde im Auto schlecht. Vor allem, wenn man etwas rasanter um die Kurven fuhr, oder häufig bremsen musste, was im Stuttgarter Stadtverkehr leider beides nur allzu häufig der Fall war. Und so hatte Karlheinz Steinmann, Freund und Kollege von Roland Wolf, dem Biest schlicht und ergreifend BMW-Verbot erteilt. Gebranntes Kind fürchtet das Feuer. Der Hund hatte sich schon mehr als einmal in einem unpassenden Moment in den Fußraum erbrochen. Nicht, dass es da jemals einen passenden Moment geben würde und passiert war nun mal passiert, aber Steinmann liebte sein Auto!

Darum verbannte er Rolands Rüden. Doch kotzend hin oder her, es war ein Lebewesen und der Wagen nur ein Gegenstand. Für Notfälle, wenn Roland genötigt war seinen Hund mitzunehmen, führte Steinmann daher im Kofferraum eine große Plastikplane mit sich. Außerdem: ganz im Geheimen mochte er das schrullige Tierchen. Nur würde er das freiwillig nie zugeben. Und Roland?

Dem war sein neuer Freund die Monatskarte schon wert. Um nichts auf der Welt würde er ihn wieder hergeben. Aber auch er war es leid, Kotze zu putzen und Schlunski spürte das. Daher ertrug er die Plane lieber, wenn es sein musste, trotz schwitziger Pfoten. Es ging eben nicht alles mit der Bahn. Beruflich schon gar nicht.

“Bist ein braver, Herr Schlunski”, sagte Roland leise und der Hund brummte zustimmend. Es war nett, sein neues Herrchen. Sehr nett. Auch mit dem Frauchen war er zufrieden und mit dem Steinmann-Kumpel kam er klar, wenn der auch manchmal etwas laut und ruppig sein konnte. Er war ebenfalls im Grunde nett. Doch am nettesten fand Schlunski noch immer die Jungs. Die hatten ihn aus dem Tierheim geholt und in sein neues Heim verfrachtet. Ja, die Jungs mochte Schlunski am aller, aller liebsten. Mit denen konnte er Quatsch machen.

“Ja, ein ganz braver Herr Schlunski.” Der Hund lauschte verzückt. Herrchen war heute ruhig und ausgeglichen, ganz so wie es Schlunski gefiel. Das war leider nicht immer der Fall. Hektik und Umtrieb im Polizeidienst prägten den Alltag von Wolf und das konnte der Hund nur schwer vertragen. Auch sein altes Herrchen war stets auf Trab gewesen. Damals arbeitete Schlunski mit ihm bei der Wasserwacht. Dann war der eines nachts im Schlaf gestorben. Schlaganfall hatte es der Doktor-Mann genannt und Herrchen einfach weggebracht. Dass das nicht in Ordnung war, wie sehr seine Hundeseele darunter gelitten hatte, hatte keinen interessiert. Schlunski hatte lange und intensiv getrauert, dann wurde auch er von dem Grab einfach weggebracht. Hinein in einen Hundezwinger. Schlunski hatte sich elend gefühlt und einsam. Im Grunde war er genauso begraben, wie sein altes Herrchen es war. Nur nicht in einem Loch, sondern am Boden eines Käfigs. Vergessen hinter Gitterstäben. Ob kalte Erde oder harter Beton. Wo war da der Unterschied? Er war allein, im Stich gelassen und verwaist. Im Trocknen, gefüttert, versorgt. Aber ohne richtigen Partner. Dann kamen die Jungs, holten ihn aus dem Käfig und alles kam wieder ins Lot. Schlunski fühlte: so war es richtig! Auch wenn er nur kurz bei ihnen gewesen war und sie ihn an Roland-Herrchen verschenkt hatten, war er ihnen nicht böse. Roland war ein guter Mensch. Er besuchte die Jungs mit ihm so oft er nur konnte. Schlunski war Roland treu ergeben. Er war ein liebes, sehr feinfühliges Tier. Nur sein Magen. Sein verdammter Magen! Aber Herrchen trug es zum Glück mit Fassung.

“Gleich sind wir beim Opa.”

Schlunski drehte sein Schlappohr. Den alten Mann mochte er auch. Schlunski mochte einfach alle, die Herrchen mochten. Ja, Schlunski konnte Sympathie förmlich riechen. Wolf hielt die Leine fester und rückte das Halsband des Hundes zurecht. Kurz bevor seine Haltestelle kam, erhob sich der Kommissar und der Hund stand schwerfällig auf. Demonstrativ langsam schlenderte Roland mit dem Hund an der alten Dame vorbei und säuselte: “Ein ganz ein lieber, gell Herr Schlunski?”

Die Dame zog nur pikiert die Nase hoch und sah ins morgendliche Stuttgart hinaus.

Kommissar Wolf und Schlunski verließen die Bahn. Über ein paar Seitenstraßen kamen sie in ein kleines Parkgelände. Von dort aus gelangten sie zum Haupteingang des Seniorenheims, in dem Rolands Vater untergebracht war. Der Kommissar hakte die Leine los und ließ Schlunski herumschnüffeln. Weit und breit war kein Mensch. Sie waren allein. Niemand würde sich mokieren, wenn der Hund ein wenig Freiraum bekam. Sie erreichten die Pforte.

Roland warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Die Schwestern von der Nachtschicht würden ihn zwar wieder zum Teufel wünschen, aber er hatte diese Woche keinen besseren Dienstplan bekommen und da er sich hauptsächlich selbst um Alexander kümmerte, zusammen mit seiner Frau Nora, sah er sich verpflichtet, mit stählerner Faust an das gläserne Portal zu donnern, ob es den Damen nun passte, oder nicht. Eine Schwester kam angebraust.

“Sind sie von Sinnen?!”, fragte sie stinkig und sehr unfreundlich.

Offenbar war sie neu. Roland zumindest kannte sie nicht. Also zückte er seinen Dienstausweis.

“Aufmachen. Polizei!”, rief er gegen die Scheibe. Das half. Die Tür flog auf.

“Um diese Zeit? Mein Gott, ist was passiert?!”

Roland hob die Augenbrauen.

“Nicht, dass ich wüsste. Aber wenn IHM etwas passiert sein sollte, mache ich SIE persönlich dafür verantwortlich.” Er stieß mit dem Zeigefinger gegen die Schulter der verdatterten Schwester.

“Roland Wolf. Ist mein Vater schon wach?”

Der Kommissar wartete keine Antwort ab, sondern verschwand im Foyer und strakte mit langen Schritten den Flur entlang zu einer kleinen Einzimmerwohnung im Erdgeschoss. Auf dem Weg dorthin kam er am Schwesternzimmer vorbei, aus dem Schwester Paula flötete: “Guten Morgen, Herr Wolf. So früh heute?”

“Der frühe Vogel fängt den Wurm.”

“Oder der frühe Bulle den Verbrecher.”

“Mein Reden. Wir verstehen uns. Alex?”

“Hat sich noch nicht bemerkbar gemacht.”

Roland klopfte an die Tür seines Vaters und trat unaufgefordert ein. Schwester Paula ließ einen Seufzer hören und kaute, versonnen Roland nachblickend, an einem Kugelschreiber herum.

“Was für ein Mann. Findest du nicht auch, Melanie?”

Die verdatterte Schwester war herangekommen und sah nun ebenfalls Roland hinterher. Schlank, mittelgroß, braunhaarig, graue Schläfen, grauer Anzug, graue Maus.

“Neee”, machte sie abwertend. “Unmöglich! Unverschämt!”

“Schneidig, elegant, kultiviert…!”

Noch ein Seufzer, der sehnsüchtig hinter Wolf dreingeschickt wurde. `Die braucht wohl ne Brille´, dachte Melanie und schüttelte ob ihrer Kollegin den Kopf. Obwohl - wenn sie sich in das Alter von Paula versetzte, könnte ihr der Typ vielleicht schon gefallen.

Zumindest das mit der Eleganz konnte sie ihm nicht absprechen.

Und Kohle hatte der sicher auch. Der Anzug war bestimmt nicht von der Stange. Aber Kultur? Der Mann stand sicher auf Mozart, Haydn und Konsorten und nicht wie sie auf Thrash-Metal-Musik.

Kulturell wäre hier also ein Fiasko vorprogrammiert. Plötzlich fiel Melanies Blick zurück ins Foyer. Aus dem Augenwinkel hatte sie dort etwas wahrgenommen. Etwas hatte sich bewegt. Ein Hund.

Ein Hund von einem Hund! Sie drückte sich zitternd an die gelbe Linoleumwand, als das Tier sie langsam und gemütlich passierte und zum Zimmer von Alexander Wolf trottete, in dem Roland soeben verschwunden war.

“Wo bleibst du denn, Schlunski?”, rief der Kommissar ungeduldig, dann schloss er die Tür hinter sich und dem Tier.

Paula lächelte mitfühlend. Der Hund des Kommissars rief bei den meisten Menschen ein leicht mulmiges Gefühl hervor.

“Der tut nichts”, versicherte sie ihrer Kollegin. “Der ist wie ein großer Teddy, der Herr Schlunski. Nur eben lebendig. Aber etwas träge heute. Sonst ist er immer schneller bei Fuß, wenn es zum Opa geht.”

Nichts Gutes ahnend ging Melanie ins Foyer zurück. Eine große, gelbe Pfütze floss dort um den Kübel der Stechpalme herum, die den Eingangsbereich verschönern sollte.

“Ach nein!”, rief sie. “So ein Ferkel! Kann der nicht draußen im Park hinschiffen?!”

“Nun sei mal nicht so, Melli”, sagte Paula kess. “Ich mach das schnell weg.”

`Die braucht keine Brille, die braucht nen Arzt´, dachte die, sagte aber: “Machen wir nicht schon genug Pipi weg? Soll sich das feine Herrchen doch selbst drum kümmern!”

Paula kam mit dem Putzwägelchen und einem Aufnehmer.

“Du hast ja keine Ahnung, wovon du redest. Du bist noch nicht lange hier. Wie sollst du da auch wissen, was dieser Mann uns alles abnimmt, indem er sich so gut um seinen Vater kümmert. Du hättest Alex mal in seiner Höchstform erleben sollen. Ständig lief er weg und hat alle in Atem gehalten. Irgendwie, seit sein Sohn verheiratet ist, ist er aber ruhiger geworden. Sicher auch durch die Zuwendung seiner Schwiegertochter. Da wisch ich lieber rasch die Plörre weg, statt dem Kommissar damit jetzt auf den Sack zu gehen.”

“Der ist verheiratet? Na, dann verdrehst du ja ganz umsonst die Augen, wenn du ihn anhimmelst.”

Paula wischte Schlunskis Pipi auf.

“Träumen wird ja wohl noch erlaubt sein”, nörgelte sie. Nun, das ließ sich auch Melanie nicht verbieten und verschwand gedanklich mit einem Special-Night-Ticket im Gepäck im Backstagebereich ihrer Lieblingsband.

ALEXANDER

Roland ging zum Bett seines Vaters und ließ sich auf der Bettkante nieder. Sanft strich er dem alten Mann über die Schulter, bis dieser die Augen aufschlug.

“Hallo, Papa. Warst du wieder auf Tour heute Nacht?”

“Felix!”, rief der Alte verzückt. “, Dass du da bist!”

“Roland, Papa. Aber macht nichts. Wie geht es dir?”

“Wer, zum heiligen Bimbam, ist dann Felix, wenn nicht du?”

“War, Papa. War! Felix war dein älterer Bruder. Mein Onkel.

Verstorben vor sieben Jahren.”

“Felix ist tot?”

“Ja, Papa.”

“Wie ist er denn gestorben?”

“Er ist vom Dach gefallen. Er hätte eine Sanierungsfirma beauftragen sollen, die Schindeln zu erneuern. Aber er war zu dickköpfig.”

“Er war ein Geizkragen!”

Roland schmunzelte. Sein Vater setzte sich auf und erblickte Herr Schlunski, der sich verschmäht im Hintergrund hielt.

“Seit wann hast du wieder ein Pferd?”, fragte der Alte und streckte die Hand nach ihm aus. Schlunski kam schwanzwedelnd näher und stupste die Hand vorsichtig mit der Schnauze. Dann winselte er aufgeregt, weil die Hand ihn streichelte.

“Das ist doch Herr Schlunski, mein Hund, Papa.”

“Ich weiß, Roland. Hältst du mich für senil, Sohn?”

“Nein.”

Schlunski drehte sich im Kreis, als ob er sich hinlegen wollte. Doch dann knickte er plötzlich mit den Vorderpfoten ein und verschwand unter dem Bett. Mit einem Pantoffel im Maul kam er wieder hervor. Er schleppte den Schuh zur Tür.

“Nein, Schlunski, es ist zu früh zum Gassi gehen. Opa ist noch nicht ganz auf der Höhe.”

Schlunski brachte den Schuh traurig zurück. Er ging so gerne mit Opa in den Park. Opa warf ihm immer Stöckchen, die Herrchen ihm reichte. Opa tätschelte ihm ständig den Rücken, wenn er neben ihm ging. Opa durfte er sogar das Gesicht ablecken, auch wenn Herrchen deswegen schimpfte. Das durfte er sonst nur noch bei den Jungs. Schlunski stellte den Schuh neben Alexander. Der schlüpfte hinein.

“Und was ist mit dem anderen Schuh?”

“Schlunski, apport!”

Der Hund schnellte unters Bett und brachte den zweiten Pantoffel.

“Danke”, sagte Wolf Senior und zog ihn an. “Ich bin schon fit. Ich hab nur noch nicht gefrühstückt”, meinte er entschuldigend, aber sichtlich wacher und schlurfte zum Tisch. Er nahm aus der Obstschale dort eine Banane und schälte sie ab. Als er sie auseinandergebrochen hatte, biss er in die eine Hälfte, die andere reichte er Herrn Schlunski. Dieser nahm sie vorsichtig zwischen die Zähne und trollte sich damit in eine Ecke, bevor sein Herrchen sie ihm wegnehmen würde. Die Rüge kam auch prompt.

“Papa! Das ist ein Hund und kein Primat! Affen fressen Bananen.

Hunde brauchen Fleisch!”

“Papperlapapp!”, winkte Alexander ab. “Hunde fressen alles. Und davon stirbt er nicht. Ich liebe Bananen und erfreue mich bester Gesundheit. Ich kenne niemanden, der diese Frucht verschmäht.

Nimm dich doch selber. Du bist das beste Beispiel. Deine Mutter hat dir immer Zimtbrei mit Bananenmus gemacht, weißt du noch?”

“Paps, da war ich drei! Aber ich weiß es noch.”

“Was hast du da gefuttert, Bub! Apropos deine Mutter. Wo steckt sie wieder? Tanzen?”

“Nein.” Roland blickte zu Boden und sah dann Herrn Schlunski zu, wie der genüsslich die Banane vertilgte. “Mama ist tot. Schon seit über zehn Jahren.”

“Quatsch nicht!”, fuhr sein Vater ihn an, dessen Erinnerungen von Zeit zu Zeit im Kreis fuhren, wie ein außer Kontrolle geratenes Karussell ohne Bremse. “Wo ist sie? Röschen?!”

“Tot, Papa.”

“Roswitha?!”

Roland stand langsam auf und winkte Herrn Schlunski zu sich.

Der Hund kam folgsam an seine Seite. Roland wusste aus Erfahrung, was unweigerlich folgen würde und wollte dem vorbeugen. Aber seinem Vater liefen bereits Tränen übers Gesicht.

“Schlunski. Geh zu Opa. Opa ist traurig.”

Der Hund leckte Alexander Wolf liebevoll die Hand. Der Alte streckte ihm alsbald beide Hände hin und ließ sich so etwas trösten. Roland strich seinem Vater wieder zärtlich über die Schulter, die nach einem tiefen Schluchzer schließlich aufhörte zu beben.

“Ich will nach Hause, Roland”, sagte er benommen und quengelnd im Kleinkindermodus. “Ich will nach Hause! Du hast es versprochen!”

Roland nickte.

“Ich weiß, Papa. Aber ich arbeite noch. Du musst noch ein wenig durchhalten. Nur bis August. Das schwöre ich dir. Ich hab doch die Kündigung längst bestätigt bekommen.”

“Das sagst du schon so lange!”, greinte Wolf Senior anklagend.

“Ich wollte hier nie her! Hier her auf dieses Abstellgleis!”

“Ich weiß. Mach mir doch kein schlechtes Gewissen. Du bist hier gut aufgehoben. Hier kümmert man sich um dich. Du bist nicht alleine. Und im August holen wir dich heim, Nora und ich.”

“Versprochen?”

“Ganz fest. Versprochen!”

Roland ging zum Kalender, der über dem kleinen Esstisch hing.

An dem Kalender waren die ersten Tage vom Juni bereits durchgestrichen. Er nahm einen Filzstift aus dem Jackett und strich zwei weitere Tage weg.

“Schau, Paps”, meinte er beruhigend. “Du hast es fast geschafft.

Nicht mal mehr acht Wochen.”

“Dann holst du mich heim?”

“Ja, dann geht's nach Hause.”

“Ohne Rückfahrkarte?”

“Ohne Rückfahrkarte! Mach dir keine Sorgen. Komm, Schlunski.

Wir gehen wieder. Opa muss dringend was richtiges essen und wir wollen noch zu den Jungs, bevor wir mit Steinmann frühstücken.”

Schlunski jaulte aufgeregt. Frühstück mit dem Steinmann-Kumpel? Wow, das bedeutete Frühstück in der Stadt, in Herrchens Lieblingsclub. Und zu den Jungs durfte er auch? Ein Hundefreudentag für ihn! Wedelnd sprang er zur Tür.

“Dann bleibst du nicht zum Essen?”, fragte Alex etwas gefasster.

“Nein, ich wollte dich nur wecken. Ich hab um zehn Dienst. Vorher geh ich mit Karlheinz frühstücken und wollte die Jungs fragen, ob sie sich uns anschließen. Sonst seh ich sie so selten. Aber Nora kommt um zwei zum Kaffee. Sie bringt dir deine Schnittchen mit.”

“Mandarine?”

“Mit Sahne.”

Im Gesicht des alten Herren ging die Sonne auf. Jetzt glich er seinem Sohn bis aufs Haar.

“Gelobt sei dein Frauchen, Herr Schlunski. Dein Herrchen hat eine gute Wahl getroffen.”

Roland grinste breit. Er bedauerte, dass sein Vater am Tag seiner Hochzeit das Bett hatte hüten müssen. Aber mit einer echten Grippe macht man keinen Spaß und schon gar nicht, wenn der Erkrankte schon fast achtzig ist und es auf vierzig Grad Fieber bringt. Das war das Risiko nicht wert und schließlich kannten Roland und Nora sich schon seit der Schulzeit. Sie war also keine Fremde für Wolf Senior. Frühe Liebe, späte Hochzeit. Wie der Ball eben rollt und ins Tor fällt.

“Ich weiß”, näselte Roland stolz. Er war froh, dass sein Vater und Nora sich schon seit Jahren gut verstanden. “Um zwei ist sie spätestens hier. Hau also nicht ab, ja? Ich muss immer wissen, wo du bist. Sonst will ich dich im August heim holen und du bist nicht da.”

“Ich beuge mich deiner sanften Gewalt, Sohn”, versprach Alex hoch und heilig, indem er zwei Finger hob. “Keine Spaziergänge mehr.”

“Nein, keine Spaziergänge. Zumindest nicht allein! Und keine Telefonate mit Frauen führen, die in schmuddeligen Heftchen ihre schlüpfrigen Inserate aufgeben.”

“Nein, Roland. Nie wieder!”

“Und sie schon gar nicht hierher einladen. Dies ist ein ordentliches Haus!”

Wolf Senior prustete abwertend.

“Ein langweiliger Kasten ist es. Vollgestopft mit alten Säcken, die bei Monopoly mogeln!”

“Wie du.”

“Danke.”

“Bitte.”

Alexander tätschelte den Hund zum Abschied.

“Auf bald, Herr Schlunski. Du machst meinem Jungen viel Freude.”

“Das tut er”, versicherte Roland. “Wie du. Ich komm morgen wieder vor dem Dienst und schmeiß dich aus dem Bett.”

“Meide jedenfalls die Drachenbrut von Schwestern”, riet ihm Alex.

“Einige davon sind dir mehr als nur wohlgesonnen.” Er blinzelte seinem Sohn zu. “Du weißt, was ich meine.”

Roland nickte.

“Selbstredend. Ich bin schließlich dein Sohn. Jetzt aber los, Schlunski. Ab zu den Jungs.”

“Grüß die Bengels von mir.”

“Mach ich.”

Roland trat in den Flur hinaus und ließ seinen Vater in seinem Zimmer zurück. Etwas wehmütig schlenderte er den Gang entlang. Leider hatte sein Vater noch immer diese unangenehmen Erinnerungs-Feedbacks, die bruchstückhaft in sein Gedächtnis brandeten, wie Wellenbrecher bei beginnender Flut. Plötzlich, stetig ansteigend. Vor allem am frühen Morgen, so wie heute. Die Tropfen, die seine Durchblutung anregten, hatten es etwas besser werden lassen. Die musste Alex pünktlich nehmen. Die Schwestern sorgten dafür, dass er sie termingerecht bekam. Die Damen waren zwar sehr gewissenhaft, dennoch sah Roland ihnen ab und zu auf die Finger und ließ dabei durchblicken, dass er es war, der hier das Sagen hatte, da sein Vater manchmal glaubte, er würde das Medikament nicht brauchen. Zuckerbrot und Peitsche.

Das funktionierte bei Alex. Das und eine gehörige Portion Sarkasmus, gespickt mit einem Hauch von Ironie. Nur so hielten Alex und er die Situation überhaupt aus und ihre Uhren am laufen.

Roland hasste es, dass sein Vater hier drin sein musste, so sehr wie der Alte selber es hasste. Aber nicht mehr lange. Nicht mehr lange!

Er nahm Schlunski an die Leine. Inzwischen war der Tag vorangeschritten und mehr Menschen im Park unterwegs, die den freilaufenden Hund als Gefahr interpretieren konnten. Die beiden passierten das Schwesternzimmer.

“Ihr Hund hat ins Foyer gepisst!”, konnte sich das junge Ding da drin nicht verkneifen. Roland hatte die kleine Beißzange von Anfang an nicht gemocht. So hübsch, so kokett, aber sowas von vergriesgnaddelt.

“Sie brauchen ihm nicht zu danken”, schoss Wolf zurück. “Das hat er gern gemacht.”

Roland verließ das Seniorenheim galanten Schrittes wie ein hochnäsiger Snob.

“Was für ein Mann!”, sagte Paula.

“Was für ein Arschloch!”, sagte Melanie.

Weder Wolf noch Schlunski würdigten die Damen auch nur eines Blickes.

DIE JUNGS

Kurz nach sechs befanden sich Hund und Herr dann vor dem kleinen Dreifamilienhaus, in dem die Campell-Riege die Gegend unsicher machte. Roland schmunzelte. Etwas früh für den Geschmack der Jungs, also genau richtig! Er drückte zuerst die Klingel von Ben Campell. Es tat sich nichts. Roland ließ prüfend den Blick über die Parkplätze im Hof schweifen. Der Opel Zafira von Ben war nirgends zu sehen. Offenbar war die Familie schon sehr früh ausgeflogen. Na klar: Pfingstferien. Im Gegensatz zu den meisten Menschen waren die kleinen Campells auch außerhalb der Schulzeit regelrechte Frühaufsteher. Lerchen schreckten aus ihren Nestern hoch, wenn Mike, Tim und Nicole schon längst die Augen offen hatten und lautstark sangen, rangelten und spielten.

Für Ben und seine Frau Martina war es da von riesen Vorteil, dass das Haus nur noch von seinem Bruder und dessen Lebensgefährten, sowie von einer strunz tauben Rentnerin bewohnt wurde. Die restlichen Häuser des Wohnblocks hatten zum Glück genügend Abstand, um das Getöse überhören zu können. Also kein fröhliches Kinderlachen heute. Dann eben doch gleich die Jungs. Roland hakte Herrn Schlunski die Leine los, legte den Finger auf den Klingelknopf von Tobias Campell und ließ ihn dort. An der Haustür unten kratzte und winselte Herr Schlunski und oben im ersten Stock federte Albert Preis aus dem Schlaf hoch.

“Verdammter Hühnerfuck!”, schimpfte er. “Was ist denn jetzt kaputt?!”

Neben ihm regte sich langsam Toby.

“Paketbote mit Krampf im Finger?”

“Der hat gleich ein Loch im Kopf!”

Alby schmiss seine Decke auf Toby, der gähnte und sich grunzend dankbar tiefer in das Bett einkuschelte.

“N´ Morgen, Stinkstiefel”, nuschelte er und rieb seine Dreitagebart an der Hüfte seines Freundes.

“Ach, geschenkt!”, zischte Alby und schnellte in Boxershorts zur Tür, die noch immer im Nostalgieton vor sich hin dudelte.

“Wer?!”, schrie er in die Sprechanlage.

“Aufmachen. Polizei!”, rief Wolf wieder. Beruhigt und halb versöhnt drückte Alby auf den Türöffner. Kaum war die Tür von Wolf auch nur einen Spalt breit aufgedrückt, sauste Herr Schlunski schon die Treppe hinauf, winselte, wedelte und stieg alsbald munter an Alby hoch, der sich mit aller Kraft gegen den 70 Kg schweren Hund stemmen musste, um nicht umgeschmissen zu werden. Die beiden begrüßten sich freudig.

“He, Alter, wie geht´s, hm? Wo ist dein Herrchen? Lahmarsch!”

rief Alby durchs Treppenhaus. “Dein Hund ist längst oben!”

“Vierbeiner befinden sich deutlich im Vorteil!”, konterte Wolf.

Herr Schlunski ließ von Alby ab, rannte in der Wohnung durch alle offenstehenden Zimmer, schnüffelte aufgeregt, schnappte etwas in der Küche vom Boden auf und scharrte dann im Schlafzimmer an der Betthälfte von Toby, der sich noch immer verschlafen weigerte, der gemütlichen Liegestatt den Laufpass zu geben.

“Hey, Schlunski”, sagte er. “Braver. Kommst du uns besuchen?

Was hast du denn da im Maul?”

Inzwischen war Roland bei Alby angekommen und drückte ihm kurz die Hand.

“Wünsche wohl geruht zu haben”, schnörkelte er hervor.

“Tobias?”

“Noch am ratzen”, antwortete Alby. Da strafte ein gellender Schrei ihn Lügen.

“AAAAHHHHH!!!!! Schlunski!!! Ausspucken!! AUSSPUCKEN!!!!

ROOOLAND!!”

“Was zum Kuckuck ist denn jetzt los?”

Alby trat ins Schlafzimmer, wo Toby aufgesprungen war und panisch an Schlunski rüttelte, aus dessen Maul ein langes Schnürchen hing. Alby erkannte sofort, was das war. Das Schnürchen peitschte hilflos hin und her, drehte sich wie ein Propeller im Kreis und hing dann still herunter.

“Oh großer Gott, jetzt wird sein Schwänzchen schlaff!!”, rief Toby.

“Ausspucken!!”

Wolf warf vorsichtig einen Blick in das Schlafzimmer, wo nun auch Alby auf den Hund einredete, flehentlich und eindringlich.

Der aber gaffte nur dämlich vor sich hin. Was hatten die denn?

Was sollte die Hektik?

“Ich finde es unter deiner Würde”, unkte Wolf, “derart auf eine Erektionsstörung deines Lovers zu reagieren.”

Toby schnellte auf ihn zu.

“Ach, Bullshit! Wer redet denn von Alby? Jaspers Schwänzchen!

Das wird schlaff! Dein Hund hat meinen Jasper im Maul!! Er will meinen Jasper fressen!!”

“Jasper?”

“Meine Zwerg-Ratte!”

Wolf erinnerte sich. Das Tierchen lief ja für gewöhnlich frei in der Wohnung herum, aß und schlief mit den Jungs, was Wolf ehrlich gesagt ein Dorn im Auge war. Er fürchtete, das Biest könnte Krankheiten übertragen, hielt sich aber weitgehend aus der Sache raus. Die Jungs waren schließlich alt genug um zu wissen, was sie taten. Jetzt bemerkte auch Roland das Rattenschwänzchen, das deplatziert aus Schlunskis Schnauze ragte. Sehr deplatziert. Und sehr regungslos. Wie lummelige Maccaroni.

“Oh, nein. Wie unangenehm!”, entschuldigte er sich.

“Schlunski….!”

Das Telefon klingelte. Da Toby und Alby mit dem Anschreien des Hundes weitgehend beschäftigt waren und mit aller Überredungskunst versuchten, ihn zum Maulaufmachen zu bewegen, klingelte es lange. Roland fürchtete nicht, dass Schlunski versuchen würde, den Brocken runterzuschlucken. Der fraß nur, was wirklich schmeckte. Wohl aber fürchtete er, dass es mit der Geduld des Anrufers langsam ein Ende haben würde. Also nahm er das Gespräch entgegen.

“Hallo?”, sagte er höflich, da kam es aus dem Hörer: “Hey, ihr Schnullis, jetzt gehts rund. Erst von hinten, dann im Mund!” Nach nur dem Bruchteil einer Sekunde war Wolf klar, wer da anrief. Schnell schoss er zurück: “Wem fällt wohl so ein Schweinkram ein? Das kann doch nur Ben Campell sein.”

“Roland?! Hey, Superbulle! Na, alles senkrecht?”

“Begrüßt du deinen Bruder und deinen Schwager immer so?”

“Nur samstags. Was treibt dich denn so früh in den Ostteil?” “Schichtbeginn und Schlaflosigkeit. Ich wollte euch zum Frühstück einladen, aber da ihr schon ausgeflogen seid und die Jungs mir vergrätzt sind…..”

“Vergrätzt? Warum?” “Nun….”

“ROOOOLAAAND!!!”, krakelte es inzwischen zweistimmig aus dem Schlafzimmer.

“Es geht um diesen hellbraunen Milbenträger, dessen Heimat sich normalerweise im städtischen Abwassersystem befindet.”

“Um Jasper?”

“Wohl eben um diesen.”

“Was ist mit ihm? Steckt er wieder mit dem Kopf im Badewannenausguss?”

“Nein. Er steckt in Herrn Schlunski.”

“Neee. Mach Witze! In echt jetzt?” “Ich fürchte.”

“Toby wird ausrasten!” “Ist gerade dabei.”

“ROOOOLAAAND!!! Der macht nicht auf, der sture Esel!!! AUS!!

AUS!! PFUI!!”

“Kannst du kurz in der Leitung bleiben, Ben. Ich regle das schnell.”

“Schon gut. Ist ja nur ein Handygespräch vom Arsch der Welt.” Roland legte den Hörer auf das Telefontischchen und rannte ins Schlafzimmer. Er hob den Zeigefinger in die Luft und sagte streng: “Schlunski! Raus damit oder wir gehen Autofahren! Sofort!”

Huch! Das böse A-Wort! Schlunski würgte folgsam. Mit einem flauschigen Plopp viel Jasper auf den Boden. Schlunski starrte zwischen seinen Pfoten auf das ausgespiene Tier. Er wollte doch nur ein Späßchen machen. Jetzt war das Herrchen verärgert und die Jungs sogar stinksauer. Aber wenigstens schrie keiner mehr. Er konnte doch nicht wissen, dass Toby-Junge heute so schlecht drauf war. Alby stupste vorsichtig den leblosen Jasper mit dem Finger an, der voller Hundesabber auf dem Parkett lag, wie von einer amoklaufenden Katze dahingerafft.

“Boawäääh!”, machte er. “Der müffelt wie ein Abfalleimer mit alten Windeln drin.”

“Wenn der tot ist Roland Wolf”, knurrte Toby, “dann kannst du aber was erleben! Dann kaufst du mir ne neue Ratte und bringst ihr bei, Erdnüsse zu holen! Ist das klar?!”

“Ääähh”, machte Roland nur verlegen. “Wie richtet man Ratten denn ab?”

“Vergiss es!”, fauchte der Junge, hob Jasper behutsam auf und streckte ihn auffordernd Roland hin. “Reanimieren! Sofort!”

“Nun denn! Bestimmt ist er nur ohnmächtig.”

Wolf griff sich mit zwei Fingern die Ratte am Schwänzchen und hielt sie mit dem Kopf nach unten. Dann schüttelte er sie hin und her, dass Hunde Schlabber von ihr tropfte.

“Ich sagte reanimieren und nicht quälen!! Das ist doch nicht Frau Holles Federbett!!”

Dennoch zeigte die rohe Behandlung Wirkung. Alby sah es zuerst.

“Da! Sein Beinchen hat gezuckt!”

Auch Toby sah es jetzt. Er griff seinen vollgeschleimten Hausfreund, den er sich in beide Hände bettete und in die Küche trug. Unter warmem Wasser spülte er ihn sorgfältig ab.

“Tierquäler. Rattenhasser.”

Wolf verdrehte kurz die Augen und schlich zum Telefontischchen zurück.

“Ben? Bist du noch dran?”

“Ja, verdammt. Und? Jasper japst doch noch?” “Durchaus. Dein Bruder ist gerade dabei, ihn vom Sabber zu säubern. Das warme Wasser wird ihm guttun.”

“Hoffentlich föhnt er ihn nicht wieder. Nach dem letzten Bad hat er ihn fast zu Tode gestylt.” “Er hat auch schon im Ausguss gesteckt?”

Ben lachte schallend.

“Klar! Das hättest du sehen sollen! Der wollte bestimmt vor Tobys Affenliebe in den Gully flüchten, wo er eigentlich auch hingehört. Der vollgefressene Rattenbock ist aber mit dem Wanst nicht durchgekommen, sondern saß fest wie ein Stöpsel.” “Und da hast du ihm ritterlich geholfen?”

“Ich?! Hab ich was an der Waffel?! Ich hab mich schlapp gelacht und Handyfotos geschossen. Bei Gelegenheit musst du dir die mal angucken.

Schließlich hat Toby mich davon abgehalten, ihn mit dem Pümpel weiter runterzustopfen. Sonst hätte das leidige Thema längst ein Ende gefunden.” “Und mich nennt er Rattenhasser. Willst du ihn sprechen?”

“Jetzt auch nicht mehr. Sag ihm nur, wir sind gut angekommen. Er macht sich sonst immer gleich in den Frack, wenn ich mich nicht sofort bei ihm melde.” “Mach ich. Und wo steckt ihr?”

“Im Allgäu. Auf einem Bergbauernhof in der Nähe vom Alpsee. Nicole will auf einer Kuh reiten.” Roland konnte nicht anders. Bei dem Gedanken, wie das kleine rothaarige Töchterchen von Ben auf einer scheckigen Kuh saß, brachte ihn zum Lachen. Diese Anwandlung von Rodeofieber musste wohl in ihren amerikanischen Genen beheimatet sein.

“Das Kind ist irrwegig”, brachte er heraus. “Eine Kuh ist doch kein Reittier.”

“War auch nicht leicht einen Bauern zu finden, der das mitmacht. Aber ein Ben Campell lässt nichts unversucht, seine Rasselbande glücklich zu sehen. Also, wie gesagt, wir sind gut angekommen. Sag den beiden Schnullis, sie sollen es nicht allzu heftig krachen lassen. Die Alte unter ihnen ist zwar taub, aber noch nicht tot.”

“Ich werde es ausrichten. Schöne Pfingsten und grüß deine Familie von mir.”

“Mach ich, Superbulle. Und dito natürlich. Bleib sauber!”

“Ja, bloß kein Stress.”

Wolf legte auf.

“Jasper!”, kam es aus der Küche. “Mein kleines süßes Schnucki-Mausilein!”

“Wenn er das mal zu mir sagen würde!”, feixte Alby.

Toby setzte sich seinen kleinen, wieder auferstandenen Freund auf die Schulter. Jasper stellte sich auf die Hinterbeinchen, wackelte schnuffelnd mit den Barthärchen, sah Herrn Schlunski durch die Küchentür lugen und hüpfte mit einem nervösen Fiepen schutzsuchend unter ein Geschirrtuch, das auf der Anrichte lag.

“So!”, rotzte Toby zu Herr Schlunski. “Jetzt mag er dich nicht mehr. Fein, Köter!”

Schlunski winselte.

“Ach, Toby”, sagte Alby. “Er hat's doch nicht böse gemeint. Er ist halt ein Hund. Hunde jagen Katzen, Hasen, Ratten….es liegt in ihrer Natur.”

“Trotzdem! Wuff!!”, kläffte Toby und Schlunski zog den Kopf schnell wieder zurück. Toby öffnete missmutig den Kühlschrank und angelte nach einer Scheibe Schinken. Schlunski stob durch die Küchentür und warf den Jungen fast um, als er sie ihm aus der Hand riss und damit im Wohnzimmer unter dem Tisch verschwand, schnell aus dem Blickfeld seines Herrchens.

“Prima”, meinte Wolf. “Erst Banane und jetzt gekochter Schinken.

Warum machen mein Vater und du ihm nicht gleich einen Hawaiitoast?”

“Du warst bei Alex?”, fragte Toby. “Wie geht es ihm?”

“Den Umständen entsprechend. Meine Mutter fehlt ihm und ich auch. Er braucht viel Liebe und Zuwendung, was ich ihm leider momentan noch nicht geben kann.”

“Du sprichst von ihm, als wäre er ne Topfpflanze”, stellte Alby fest. “Und zwar eine, die kurz vorm eingehen ist.”

“Das ist er auch. Zwar nicht kurz vorm eingehen, aber doch sehr empfindlich. Die Blätter hängen runter, würde ich sagen. Apropos durchhängen: Urlaubsgrüße von Ben aus dem Allgäu.”

“Danke”, sagte Toby. “Auch fürs rangehen. Die Plagen sind heute schon in aller Herrgottsfrühe vom Platz gerauscht.”

“Wolltet ihr nicht mit?”

“Neee”, schüttelte sich Alby. “Diesmal nicht. Solourlaub. Urlaub von der Familie.”

“Fahrt ihr auch weg?”

Jetzt schüttelte Toby den Kopf.

“Neee. Heimchen spielen. Brettspiele machen, ohne dass einer heult. Musik hören, Filme gucken, rumalbern….”

“Rumvögeln”, verbesserte Alby und er und Toby grinsten sich an.

“Dann seid ihr nicht auf Frühstück aus? Mit Karlheinz und mir?”

“Um diese Zeit?”, wunderte sich Alby. “Was hat denn da offen, außer Schnellkaffees?”

Die Jungs wussten genau, dass das nicht nach dem Geschmack der beiden Ermittler war. Roland lächelte schief.

“Kein Schnellkaffee. Der Club `Friedjolf´. Gehobenes Ambiente.

Ruhig, stilvoll und in der Regel voll mit Bullen. Wir waren eine halbe Ewigkeit nicht mehr dort, weil wir ständig Nachtdienst übernommen haben. Jetzt hat Herr Caspari die Dienste zwangsgetauscht. Also, was ist? Lust auf ein reichhaltiges Buffett?

Marmeladetoasts oder Eier mit Schinken?”

“Muss dich enttäuschen”, antwortete Alby. “Wir sind erst um drei ins Bett gegangen.”

“Horrorfilme geguckt?”

“Nur einen und eine Komödie”, informierte Toby. “Sonst wird Alby mich noch verlassen.”

“Dieses Klebebonbon? Da sei unbesorgt. Na, dann entschuldigt mein Eindringen um diese für euch noch nachtschlafende Zeit.”

“Jetzt mach dir keinen Knoten in die Zunge!”, riet ihm Toby. Er kannte das vorgeschobene Geschnörkel von Wolf ganz genau.

Wolf war ihm und seiner Familie gegenüber inzwischen nicht mehr so distanziert, nach all dem was sie in dem Luftschutzstollen gemeinsam durchgestanden hatten. Ohne Wolf, seinen Kollegen Steinmann und deren unorthodoxe Methoden, wären Toby und seine Familie wohl nicht mehr am Leben. “Ich trag Herrn Schlunski ja nix nach.”, versicherte er. “Trinkst du wenigstens noch nen Kaffee mit uns?”

“Selbstredend. Stark?”

“Er schafft's allein aus der Kanne.”

“Dann kommt der gut. Erzählt, was ihr so getrieben habt.”

Die drei kochten den Kaffee zusammen und verschwanden dann im Wohnzimmer, um noch ein wenig zu quatschen. Vorher setzte Toby allerdings seinen Jasper in den Käfig. Dieser quittierte es ihm mit lautem Protestquieken, doch als er Schlunski sah, verkrümelte er sich sogar schnell in sein Totenkopfhäuschen. Es war schon fast acht, als der Kommissar die Wohnung der Jungs wieder verließ und in Richtung Innenstadt wanderte, zum letzten Punkt seiner morgendlichen Runde, bevor er den Dienst mit Steinmann antreten würde: dem Club `Friedjolf´.

KARLHEINZ

Der Club war ein bekannter und bevorzugter Polizistentreff. Klein, beschaulich und gediegen. Mit allem Querbeet, von der einfachen Hausmannskost bis hin zum noblen Cocktail. Eben ein Club der Sonderklasse. Das `Friedjolf´ lag nur etwa zwanzig Gehminuten vom Haus der Jungs entfernt. Roland traf kurz nach Steinmann ein, der es sich schon in ihrer Lieblingsnische bequem gemacht hatte. Nickelbebrillt, sich über das schüttere Haarkränzchen streichend, erinnerte Steinmann eher an einen gütigen Großvater oder an ein putziges Eichhörnchen, als an einen knallharten Polizisten. Doch das schlichte, gefällige Äußere täuschte, genauso wie Rolands Eleganz. Wolf und Steinmann waren die Prototypen des knallharten Bullen! Unnachgiebig und souverän. Mehr als 20 Jahre im Dienst der Bevölkerung hatten sie geschliffen. Sie waren wie ein gut eingespieltes Orchester. Die Saiten einer Stradivari.

Zwei Stricke an derselben Zwangsjacke. Als Steinmann seinen Kollegen durch den halbdunklen Raum auf sich zukommen sah, winkte er ihn heran. Wolf nahm ihm gegenüber Platz und Schlunski verschwand brav unter dem Tisch.

“Roland, alter Freund”, begrüßte ihn Karlheinz, als ob sie sich schon seit Jahren nicht mehr gesehen hätten. Dabei trennte sie nur eine viel zu kurze Nacht.

“Karlheinz”, nickte Wolf knapp. “Grüße von den Jungs.”

“Hört, hört. Schon wach gewesen?”

“Natürlich nicht.”

“Rolli! Du böser Bube, du. Macht dir doch nichts, dass ich schon bestellt habe?”

“Mit nichten, Heinzi. Wenigstens einer von uns sollte an seinen Blutzuckerspiegel denken.”

Die Kellnerin schwebte heran. Tamara. Etwas zu dünn, etwas zu blass, etwas zu gestresst. Die knallrote Uniformjacke schmeichelte ihrer hellen Gesichtsfarbe nicht besonders. Zu wenig, Sonne, zu wenig Freizeit, zu wenig Schlaf. Und offenbar hatte sie einen neuen Herdenführer. Ein Roland unbekannter Kellner, schon allein optisch ein Schnösel hoch zehn, beobachtete mit Argusaugen, wie die sichtlich nervöse Tamara vor Steinmann den Kaffee abstellte, sowie Rühreier mit Speck, der Menge nach zu urteilen eine doppelte Portion. Die Eier waren perfekt. Nicht trocken, weder zu kurz noch zu lang gebraten und der Speck war knusprig, aber nicht hart wie Stroh. Das Mädchen reichte fahrig lächelnd Wolf die Speisekarte.

“Nicht nötig, Tamara”, lehnte er ab. “Bringen sie mir bitte einen Milchkaffee ohne Zucker, ein Schinkensandwich, einen Schokoladenkuchen ohne Sahne und ein Steak Tatar auf einem großen Teller, ohne Zwiebeln, ohne Brot, ungewürzt und das Ei gut untergeschlagen. Und eine Schüssel Wasser. Danke.”

Tamara nickte freundlich und huschte in die Küche. Steinmann futterte ungeniert an seinem Rührei herum, das er gierig aufstocherte und häppchenweise in seinem Schlund versenkte.

“Hungrig?”, fragte Wolf.

“Verhalten”, kam die Antwort mit vollem Mund. “Bist du schon lange auf? Spätdienst-Jetlag?”

“Spätdienst-Jetlag”, bestätigte Wolf. “Ich bin seit zwei Uhr auf den Beinen und hab auch kaum ein Auge zu getan. Dafür hab ich meinen Vater besucht und war bei den Jungs. Jetzt hock ich hier und könnte einschlafen. Was will man mehr?”

“Ja, der Dienstwechsel ist hart nach so langer Zeit. Aber wenn alles nach Plan läuft, sind wir spätestens zur Tagesschau und der Wetterkarte wieder zu Hause. Also verzage nicht, Roland.”

“Ich verabscheue diese Schicht!”

“Du verabscheust jede Schicht. Außer Nachtschicht.”

“Es ist die Spannendste!”

“Kurzweilig.”

“Ja, kurzweilig. Und jetzt bin ich aus dem Trott.”

“Mein unsteter Geist.”

“Selbst sage dito. Oh….Herr Schlunski hat vorhin beinahe Tobys Ratte verspeist.”

Steinmann lächelte matt.

“Und? Wie geht's dem Jungen und dem Biest mit der Erfahrung?”

“Ganz gut. Schlunski hat Jasper unbeschadet wieder ausgespuckt.

Folgeschäden sind wohl keine zu erwarten. Beide sind lediglich verstimmt.”

“Uninteressant. Und Alex?”

“Macht mir weiterhin Vorwürfe.”

“Auch nicht gerade der neuste Stand der Dinge.”

Roland seufzte.

“Was meinen Vater angeht, hab ich am Alten genug. Du kennst sein Problem.”

“Nur zu gut. Nora?”

“Bestens, danke der Nachfrage. Veronika? Habt ihr Kontakt geplant für dieses Wochenende?”

Steinmann widmete sich plötzlich wieder intensiver dem Teller.

Veronika, seine Ex-Frau. Die einen um den Finger wickelt und dann enttäuscht, wenn es drauf ankommt. Typisch Veronika. Erst Hoffnungen machen und dann eine Kehrtwende. So war Nicki.

Gift für die Seele. Kontakt am Wochenende? Schön wär´s. Sie waren eben beide nicht in der Lage, einander Halt zu geben.

“Du weißt doch, Roland, sie wünscht mich zum Teufel.”

Wolf fummelte leicht schabend mit dem Finger an der Tischkante herum.

“Sie liebt dich doch aber.”

“Nein.” Steinmann spülte mit Kaffee nach und ließ das harte NEIN lange nachwirken, bevor er fortfuhr: “Sie hasst mich. Mich und alles, wofür ich stehe. Das weißt du!”

Wolf ließ den Tisch in Ruhe, bevor er Eichenspänchen unter dem Fingernagel haben würde und faltete lieber die Hände auf der Tischplatte, als wäre er der gute Onkel Doktor aus der Zahnklinik und Steinmann ein Proband mit nachlässiger Mundhygiene.

„Es ist deine Art auf Stress zu reagieren, die sie hasst. Nicht dich als Person”, sagte er lahm und schulmeisterlich. “Hau nicht bei jedem inneren Aufruhr die Wohnung kurz und klein. Frauen schätzen das nicht.”

“Ach?!”, feixte Steinmann, als ob er das nicht selber wüsste.

“Ja. Ach! Sie hegen und pflegen und halten alles rein. Sie wollen nicht, dass du kommst und nacktes Chaos in ihr Leben bringst.”

“Ich gebe ihnen lediglich einen Grund zum Putzen.”

Wolf lächelte sanft.

“Fahr mit Schlunski eine Runde um den Block. Dann hast du Grund genug zum Putzen auf der Rückbank liegen, flatschenderdings.”

Er gab ein leises Kotzgeräusch von sich.

“Ich esse, Roland!”, erinnerte ihn Steinmann. “Wo bleibt überhaupt dein Frühstück?”

Wolf sah sich nach der Küche um und wurde Zeuge, wie der neue Oberkellner Tamara seine Bestellung rüde aus der Hand nahm und sie wie selbstverständlich zum Tisch balancierte.

“So, so”, sagte er vor sich hin. “Dem Mädel das Trinkgeld abspenstig machen? Nicht mit mir, Laffe.”

Schlaksig kam der Schnösel, inzwischen bei Roland bei hoch fünfzehn angelangt, zu den beiden Kommissaren gestelzt.

“Ihr Frühstück der Herr, bitte sehr.”

Er stellte das Gewünschte vor Wolf. Als er allerdings das Tartar auffahren wollte, welches teurer Dings wohl dazu beigetragen hatte, dass der Piefke auf einmal Tamara bereitwillig die Arbeit abnahm, schüttelte Wolf gebieterisch den Kopf.

“Auf den Boden!”, rief er derb.

Der Kellner verharrte irritiert in seiner Bewegung, als würde der Kommissar tatsächlich mit einer Waffe auf ihn zielen und schob mürrisch das Kinn vor.

“Pardon?”

“Ja, Boden!”, fauchte Wolf energisch. “Das, was sie unter anderem auch noch naturgemäß mit Füßen treten! Auf den Boden damit!”

Steinmann schnitt ein Stück Speck ab, aß ungerührt weiter und tat so, als würde dieses Intermezzo nicht an seinem Tisch stattfinden.

Aus dem Augenwinkel beobachtete er allerdings den Kellner, der letztendlich zögernd tat, wozu er aufgefordert worden war. Er stellte wie in Zeitlupe das Tartar hin. Wolf reichte ihm die Wasserschüssel.

“Daneben!” instruierte er. Der Kellner tat es. “Schlunski!

Fressen!”

Kaum war der Befehl heraus, richtete der Hund sich zu seiner vollen Größe auf, dass er fast den Tisch mit anhob, gähnte ausgiebig mit gestreckten Pfoten, wobei er Krallen und Zähne sehen ließ und trat dann an den Blümchenteller und den Wassernapf. Sogleich ließ er sich das Fressen sichtlich schmecken.

Steinmann sah amüsiert, wie aus dem Gesicht des Kellners sämtliche Farbe wich und das vorgeschobene Kinn deutlich zurückgenommen wurde. Schockiert betrachtete der Mann, wie Herr Schlunski das liebevoll angerichtete Fleisch in sich hineinschlang und dabei laut schmatzte. Verunsichert und offenbar zutiefst beleidigt ruckelte er schließlich steifbeinig von dannen. Hinter der Bar links von Steinmann lugte derweil verstohlen grinsend Tamara hervor. Wolf lächelte zu ihr hinüber.

“Du hast traurigen Mädchen noch nie widerstehen können, Roland”, näselte Steinmann. Wolf hob die Schultern und folgte dem Oberkellner argwöhnisch mit den graugrünen Augen.

“Ich verunglimpfe rohe Menschen. Der Mann ist ein Kollegenschwein!”

“Ein ausgemachtes Kollegenschwein!”, gab Steinmann ihm recht.

Roland blinzelte dem Mädchen zu, während zwei weitere Gäste, die das Geschehen heimlich mitverfolgt hatten, sich schadenfroh über den Oberkellner mokierten, der sich offenbar im Allgemeinen nicht besonderer Beliebtheit erfreute. Wolf befasste sich nun ebenfalls mit seinem Frühstück. Steinmann wischte gerade mit einem letzten Stückchen Toast das letzte Krümelchen Ei vom Teller, als sein Handy klingelte. Wolf hob die Augenbrauen.

“Das Kasperle”, kommentierte Steinmann das Display.

Hauptkommissar Johannes Caspari, von seinen Leuten scherzhaft der Kasper genannt, rief seine Männer nur selten persönlich an.

Offenbar war etwas Ungewöhnliches passiert, was den Hauptkommissar zu dieser Ausnahme zwang, und Wolf und Steinmann sahen ihre Chance auf einen pünktlichen Feierabend ganz hinten am Horizont verschwinden. Steinmann nahm das Gespräch an.

“Ja, Chef? Sitzt mir gegenüber. Wann? Wir sind unterwegs.”

Er klappte geräuschvoll das Handy zu. “Ins Kommissariat. Wir beide. Sogleich. Ohne Umschweife.”

“Zitatende?”

“Zitatende.”

Wolfs Augenbrauen wanderten erneut zum Haaransatz.

“Die Hütte brennt?”

“Lichterloh.”

“Was hat das Feuerchen wohl entfacht?”

“Ein böser Bube, schätze ich. Ein mächtig böser Bube.”

“Klingt nach Spaß”, sinnierte Wolf. “Nach mächtig viel Spaß.”

“Du hast gut lachen, Rolli”, nörgelte Steinmann. “Du bist ja bald fein raus.”

“Reich doch auch die Kündigung ein”, schlug Roland ernst vor und trank seinen Milchkaffee aus. Steinmann zeigte ihm den Vogel und lamentierte: “Und wovon soll ich leben?”

“Lass dein Mobiliar ganz”, konterte Wolf. “Das wäre zumindest ein Anfang.”

“Roland?” Gelangweilt.

“Karlheinz?” noch gelangweilter.

“Du kannst mich!”

“Karlheinz! Ich will nicht! Zahlen!!”

Steinmann warf 20 Euro auf den Tisch. Roland schnappte sich schnell den Schein und während Karlheinz schon zum Ausgang hastete, reichte Wolf dem Oberkellner 50 Euro, ließ sich bis auf den letzten Cent herausgeben und folgte Steinmann. Als er die Bar passierte, reichte er im Vorbeigehen Tamara Steinmanns Zwanziger. Mit einem angedeuteten Knicks steckte sie ihn weg.

Schnippisch mit dem Hintern wackelnd verschwand sie aus dem Blick des geknickten Oberkellners. Roland und Karlheinz verließen mit Schlunski ganz schnell das `Friedjolf´.

Mit nur 30 km/h und Schlunski auf der Plane, schafften es die beiden Ermittler gerade noch so rechtzeitig ins Kommissariat, ohne Steak Tatar in den Innenraum des BMWs gewürgt zu bekommen. Gleich nachdem sie das Großraumbüro betreten hatten, sprang Caspari aus seinem Domizil.

“Wolf! Steinmann! Folgen! Bäumler! Klemmbrett untern Arm und mitkommen!”

Der junge, uniformierte Beamte, den Caspari angesprochen hatte, sah Wolf kurz an als wolle er sagen: `Was? ICH? ´, dann folgte er als Marys kleines Lamm Verschnitt mit stolzgeschwellter Brust seinem Vorgesetzten. Caspari eilte durch den Flur zum Treppenhaus hinüber und hinunter in die Tiefgarage. Sein sonst sorgfältig zurückgeklatschtes Seehundhaar war deutlich zerrauft.

Die beiden Kommissare und das Pseudo-Lämmchen folgten ihm mit Schlunski in einigem Abstand.

“Was haben wir bis jetzt?”, fragte Steinmann.

“Mysteriöser Leichenfund!”, informierte Caspari. “Die hinzugerufenen Beamten sind fast ausgeflippt! Und das in unserer Stadt! In unserem LAND! Unfassbar! Ich häng mich da selber rein! Das ist mein Fall! Das müssen wir aufklären, das walte Hugo!”

“Häh?”, machte Bäumler dümmlich. Seine Familie war zwar schon vor seiner Geburt aus dem Nordischen nach Stuttgart gezogen, aber der breite Schwabenmetropolendialekt Casparis, in den dieser in nervlichen Ausnahmesituationen oft verfiel, machte ihm dann und wann noch schwer zu schaffen. Dieses `le´ und `gell´ wollte ihm vokabelmäßig einfach nicht in den Kopf und so blieb deren Deutung ein rotes Tuch für ihn.

“So wahr er Caspari heißt”, half Roland daher dem bekennenden Nichtschwaben höflich weiter.

“Ah!”, raunte Bäumler und machte sich eine Notiz auf dem Klemmbrett. Wolf fragte sich, was Jens jetzt wohl aufgeschrieben hatte. Walte oder Hugo? Nicht dass es direkt eine Rolle spielte, aber….. Was machte denn dieser übereifrige Drehstuhlhocker ausgerechnet an seiner Seite? Gut, er mochte Jens Bäumler. Aber bei der Arbeit um sich rum? Wie sollte er ihn da gebrauchen?

Ohne seine Schreibmaschine vor der Nase wirkte der Junge so verloren. Direkt nackig. Wie eine Schnecke ohne Häuschen.

Caspari ratterte unterdessen in Maschinengewehrmanier weiter: “Von ihnen, meine Herren, erwarte ich vollste Aufmerksamkeit!

Steinmann, legen sie alles in ihre eiskalte Logik! Wolf, ich will ihren analytischen Verstand in Vollendung! Bäumler, alles haarklein mitschreiben. Wenn es sein muss: STENO! Pass gut auf, Bub, von unseren Kommissaren kannst du viel lernen.”

“Ja, Herr Caspari”, buckelte der junge Beamte. Also darum ging es dem Chef. Klein Jens aus der Reserve locken. Längst überfälliger Kindergartenkram. Aber warum ausgerechnet heute bei einem vermeintlich so wichtigen Fall? Den Jungen musste man zwar eindeutig fördern, aber gleich mit einem Fußtritt?

“Fall hart an der Grenze?”, fragte Wolf schließlich mit einem ernsten Seitenblick auf Jens, den dieser entweder ignorierte oder in seinem Feuereifer gar nicht erst bemerkte. Caspari schnappte: “Das toppt alles bisher Dagewesene. Nicht hier bei uns! Nicht in dieser Stadt! Unfassbar!!”

`Sagte er schon´, dachte sich Wolf, meinte aber laut: “Spurensicherung?”

“Seit heute früh vor Ort.”

“Schon was Verwertbares?”

“Blut, Wolf! Blut! Vor allen Dingen Blut! Blut en másse! Blut auf dem Boden! Blut an den Wänden! Blut an der Decke! Und eine dazugehörige Leiche. In Fetzen gerissen, als wär´s kein Mensch gewesen, sondern eine Rechnung vom Finanzamt.”

“Und wo?”

“Das wird euch umhauen. In einem Luftschutzstollen im Forstwald draußen.”

Wolf und Steinmann blieben ruckartig stehen und sahen sich an.

“Wie bitte?”, entfuhr es Steinmann und Caspari hielt samt Bäumler im Laufen inne.

“Ja, sie haben richtig gehört, meine Herren. Am Forstwald. In der Nähe vom Grillplatz. Wo verliebte Pärchen Händchen halten. Wo rüstige Rentner spazieren gehen. Wo Kinder Roller fahren und Ball spielen.”

Weder Wolf noch Steinmann brachten einen Ton zustande. Das war selbst ihnen eine Schweigeminute wert. Caspari deutete das Schockschweigen allerdings komplett falsch.

“Beruhigt euch, Männer. Kein Kind hat die Leiche gefunden. Zwei Pummelchen vom Denkmalamt haben sie auf einem Kontrollgang entdeckt. Der Stollen soll demnächst verfüllt werden. Steht auf deren To-Do-Liste ganz oben.”

“Wann war die letzte Kontrolle?”, fragte Steinmann, der sich als erster wieder im Griff hatte.

“Vor knapp einem Jahr”, klärte Caspari auf, der nun wieder auf sein Auto zustrebte.

“Also trat der Tod des Opfers zwischen diesem und letzten Juni ein.”

“Vermutlich. Genaueres vom Pathologen. Aber ich will, dass ihr euch die Leiche vor Ort anseht. Nehmt den Schauplatz unter die Lupe und zwar sehr genau! Hopphopp!”, rief er, als die beiden Ermittler nur zögerlich folgten.

`Ach du lieber Herr Gesangsverein´, dachte Wolf bei sich. Er sah Steinmann schräg von der Seite an, der jetzt mit einem Mal recht leidenschaftslos auf seinen Wagen zusteuerte. Nach außen hin wirkte er ruhig. Aber Wolf kannte ihn besser. Viel besser! Er kannte ihn, wie sich selbst. Es war die Körperhaltung, die Karlheinz verriet. Sein Kopf befand sich etwas zu tief zwischen den Schulterblättern. Steinmann wäre jetzt liebend gern woanders gewesen. Vielleicht in einem Käfig mit hungrigen Löwen, mit einem Stück Corned Beef in der Hand wedelnd. `Jetzt nur nicht nervös werden´, pegelte Roland sich selber runter. Es war also schief gelaufen. Okay. Ooookay! Sie hätten die Leiche zusammen mit dem Mietwagen entsorgen sollen. Aber sie hatten es nicht getan.

Die Zeit sollte für sie arbeiten. Aber jetzt hatte man den Toten verdammt früh gefunden. Ruhig Blut. Noch war nicht alle Tage Abend. Wolf war klar, warum Caspari sich da selbst drum kümmern wollte. Die Szenen im Stollen wallten in seiner Erinnerung hoch, wie er und Karlheinz, besonders Karlheinz, sich an dem Traktaufseher McIntosh zu schaffen gemacht hatten. Wolf dachte an die schummrigen Gaslämpchen, an das karge Licht, das sie verbreitet hatten. Sie hatten nur schemenhaft ausgeleuchtet, wie er selbst, Roland Wolf, dem Traktaufseher mit einer Machete den Arm und ein Ohr abgeschlagen hatte und wie Karlheinz Steinmann ihm dann den Rest gab, indem er ihn mit einem Messer aus reinem Titan vollkommen ausgenommen und seine Innereien fächerförmig um ihn herum verteilt hatte. Roland konnte nur ahnen, wohin das Blut alles gespritzt war; auch als McIntosh infernalisch Toby Campell ausgepeitscht hatte, weswegen Wolf gezwungen gewesen war, den Mann rasch außer Gefecht zu setzen, bevor er noch mehr Schaden anrichten konnte. Er konnte nur ahnen, wie es inzwischen um den Rest der Leiche bestellt sein und wie gruselig die Peripherie wirken musste, wo sie jetzt fast ein Jahr lang ungeschützt im Stollen gelegen hatte. Jetzt würden sie die Gelegenheit bekommen, das ganze Ausmaß dieses Desasters in voller Beleuchtung in Augenschein nehmen zu dürfen. Nicht das Wolf sich diesen Tag je herbeigesehnt hätte! Aber jetzt war es nun mal so. Sie mussten einfach das Beste daraus machen.

Verdammt! Hätten die vom Denkmalamt den Stollen nicht einfach verfüllen können und gut ist's? Scheiße! Diesmal lief es wirklich nicht nach Plan!

“Wo bleiben sie denn, Wolf?”

“Was ist mit meinem Hund?”, fragte Roland scheinheilig, sein gedrosseltes Tempo zu entschuldigen versuchend. “Nora muss heute arbeiten. Ich konnte ihn nicht allein zu Hause lassen.”

Steinmann startete schon den BMW.

“Plastikplane! Rückbank!”, deutete er an und Roland öffnete zähneknirschend die hintere Tür.

“Gnadenschuss! Schlachtbank!”, seufzte Caspari. Genauso kam sich Roland vor.

Bäumler und Caspari fuhren vorne weg. Wolf und Steinmann folgten. Herr Schlunski lag winselnd auf der Plane. Hoffentlich fuhr der Steinmann-Kumpel nicht so schnell um die Kurven.

Kurven machten Schlunski immer besonders zu schaffen. Sein Hundemagen krampfte sich zusammen und er rülpste hörbar.

“Gleich kommt's ihm hoch”, versicherte Wolf. “Fahr langsamer.”

“Dann kommen wir ja nie an!”, gab Steinmann zurück.

“Ich wünschte, es wär so”, seufzte Wolf und Steinmann konnte mitfühlen. Ihm war entsetzlich flau im Magen. Genau wie dem Hund. Dabei ging es ihm nicht mal um sich und Roland, sondern eher um die Jungs.

“Willst du resümieren?”, bot Karlheinz seinem Kompagnon an.

Dieser zog ein Rillo aus der Jackentasche und Steinmann entzündete es ihm. Wolf starrte angestrengt zum Seitenfenster hinaus.

“Dann lass mal hören.” Er blies den Rauch galant zur Wagendecke. Steinmann hielt das Steuer locker fest.

“Wie stehen wir im Allgemeinen da?”, fragte er. Wolf blieb völlig ruhig.

“Wie wir dastehen? Soll das dein Ernst sein? Ich schätze, Toby steht mit beiden Beinen schon im Knast! Wir sind da besser dran.”

“Wegen?”

Wolf sah ihn lange an.