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Wein erlebbar zu machen heißt: Wein genießen. Justin Leone, junger Shooting Star der Weinszene, vermittelt sein profundes Weinwissen auf seine typisch unkonventionelle, sehr bildhafte und einprägsame Weise. Wein zu erleben bedeutet auch, Einblick in seine Entstehung und individuelle Persönlichkeit zu geben. So vergleicht der Sommelier und Musiker einzelne Weine mit Musikstücken und Symphonien, die Geschmackskomponenten mit den Teilen eines Baumes, von der feuchten Erde des Wurzelwerks bis zu den Früchten. Auf diese Weise will Justin in seinem ersten Buch Einsteigern wie auch Fortgeschrittenen den Wein näher bringen, vom Weinanbau, den wichtigsten Rebsorten, den Reifestadien und der richtigen Weinverkostung. Das Buch wird abgerundet durch zahlreiche Spotify Playlists – ein Genuss für die Augen, die Ohren und vor allem den Gaumen.
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Wein durch ein psychedelisches Kaleidoskop zu betrachten oder Bach und Burgund in ihrem barocken Prunk zu vergleichen – das bringt nur einer fertig: Justin Leone. Geboren in Kanada und aufgewachsen in den USA, brachte Justin später seine ganz eigene „Cuvée“ aus Sommelier, Autor, Punkrocker, Modefreak und Lebenskünstler in seine derzeitige Wahlheimat München. Nachdem er den geheiligten Thron des Weindirektors im legendären Tantris bestiegen hatte, setzte sich seine Karriere fort mit der Auszeichnung als Deutschlands Sommelier des Jahres 2013, als Jurymitglied der Kochsendung „Master- Chef“ auf SKY und mit der Durchführung eines wöchentlichen Weinkurses im Tantris, der über dreieinhalb Jahre lang stets ausgebucht war. Sein erstes Solo hat er nun mit der Eröffnung des BBQ-Restaurants „Bottles & Bones“ auf der anderen Straßenseite begonnen.
Augen zu – wie schmeckt der Riesling? Frisch, lebhaft, mineralisch, komplex? Richtig. So hat er es gelernt. Und das ist genau der Grund, warum Justin Leone die Zeit für gekommen hält, den ganzen muffigen Weinsprech-Kram in die Tonne zu hauen. Es gibt nämlich einen anderen Weg, und der Shooting Star der derzeitigen Weinszene wird ihn uns zeigen. Da spürst du, wie „Beneath the Wheel“ von Depeche Mode deinen Gaumen kitzelt, oder hörst Didos „Here With Me“, wenn du diesen ersten herrlichen Schluck nimmst, der dir den Kopf verdreht, wie es kein anderes Getränk vermag. Willkommen zu Justins neuer Weinschule: wie Musik in den Ohren, Architektur vor den Augen, Mode auf der Haut oder das Dröhnen des Motors unter deinen Füßen – Wein ist überall, uns fehlt nur die Übersetzung. Tritt ein in die Welt, in der Kellermeister Dirigenten sind, Weinberge die Symphonien schreiben und Konzertsäle den Jahrgang aufzeichnen. Wo jede Rebsorte ein Rockstar ist, und die mitgelieferten Playlists das sinnliche Abenteuer vervollständigen. Dieser einzigartige, umfassende Kurs enthält außerdem Kapitel über Weinbau, Fassausbau, Blindverkostung, Weinreife und Service; nur ist er um Längen cooler als der Rest. Mit Just Wine erlebst du Wein wie nie zuvor, lernst ihn wie ein Profi kennen oder verliebst dich wieder ganz neu in ihn. „Das Letzte, was die Welt derzeit braucht, ist noch eines dieser langweiligen Weinbücher, die in den Regalen verstauben“, ist Leones Mantra, und dem können wir nur voll und ganz zustimmen.
Vorwort – Ein Punkrocker, ein Architekt, ein pensionierter Arzt …
I.
WINE: GRAB IT.
Bescheidene Anfänge
Wenn Dichtung fließt wie Wein
Ähm … und worauf wollen Sie hinaus, mein Herr?
Wein: Wie Musik an deinem Gaumen
Sei eins mit deiner Umwelt, wo zum Teufel du auch immer gerade steckst
Erste Schritte: Lern den Text, dann klappt die Rolle
Holz vor der Hütte
Um den Stamm herum: Landschaftsgestaltung für die Sinne
Unter dem Baum: Mach die Motorhaube auf und zeig, was er drauf hat
Dedicated Follower of Wine: Lektionen über Textur, Gewicht, Zweck und Qualität
Wallstreet-Fatzke oder Zottel-Hippie? Die Naturwein-Debatte
Die Architektur von Wein: Frank-Gehry-Meisterwerk oder Bauhaus-Bunker?
Feintuning für den perfekten Gaumen
II.
LISTENING: TUNE IT.
Trauben, Alter-Egos und 21 Gründe, häufiger Wein zu trinken
Riesling – Radiohead
Sauvignon Blanc und Sémillon – White Stripes
Albariño – John Mayer
Chenin Blanc – Christina Aguilera
Pinot Gris und Pinot Blanc – Daryl Hall und John Oates
Chardonnay – The Beatles
Viognier, Roussanne und Marsanne – Shakira
Gewürztraminer – Prince
Muscat – David Bowie
Pinot Noir – Queen
Nebbiolo – Tom Waits
Cabernet Sauvignon und Cabernet Franc – Red Hot Chili Peppers
Merlot – Coldplay
Malbec – Johnny Cash
Grenache – Michael Jackson
Zinfandel – Zac Brown
Syrah – Chris Cornell
Tempranillo – Led Zeppelin
Sangiovese – Axl Rose
III.
WINE: ROCK IT.
Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht: Blindverkostung
Ich mag es, wenn ein Plan aufgeht: Methode hinter dem Wahnsinn
Und das ist die Playlist für deine Blindverkostung
Im Cadillac über die Straßen schweben oder im BMW Gummi geben: Die Wahl der Waffen!
Immer nur schuften ist auch keine Lösung. Lass uns endlich die Gläser heben!
Der Kampf mit den Korken
Coravin: Wie ich lernte, die Maschine zu lieben
(Lippen-)Bekenntnis: Zeit, den Wein zum Mund zu führen
Einfach Atmen: Dekantieren 1×1
Von der Wiege bis ins Grab: Das unaufhaltsame Fortschreiten des Alters
Die Bedeutung des Jahrgangs: flüssige Geschichte
Fettnäpfchen, in die du besser nicht trittst
Champagner-Arroganz zum Preis einer Bierdose: das Anti-Snob-Paradox der Wein-Hipster
Du willst also Sommelier werden, wenn Du groß bist …
Pimpt eure Weinkarte richtig!
Luke, ich bin dein Sommelier: die dunkle Seite der Macht
Kunst, Wein und die Kritiker, die beides hassen
One for the Road
Impressum
Gerade wenn man glaubt, etwas zu wissen, muss man es aus einer anderen Perspektive betrachten, selbst wenn es einem albern vorkommt oder unnötig erscheint. Man muss es versuchen. … Sie müssen sich um eine eigene Perspektive bemühen. Und je länger Sie damit warten, um so unwahrscheinlicher ist es, dass Sie sie finden.
JOHN KEATING, „DER CLUB DER TOTEN DICHTER“
und Klassikliebhaber, ein Modedesigner, ein Schriftsteller, ein Hipster, ein Jazzpianist, ein Florist, ein Geologe, eine Hausfrau und ein Ingenieur gehen zusammen in eine Bar … nein, das wird kein schlechter Witz, sondern nur eine einfache Frage: Was haben sie gemeinsam? Alle trinken Wein. Wahrscheinlich hat keiner von ihnen eine Ahnung vom Leben oder von den Erfahrungen der anderen. Was aber, wenn wir sie alle zusammenführen könnten in eine pulsierende Menge der Wertschätzung für Wein? Was, wenn wir ihre gemeinsame Liebe zum Wein unter irgendwie vertrauter Führung an unbekannte Orte bringen könnten? Als einer, der sich sein Wissen über Wein auf alles andere als traditionelle Weise angeeignet hat, weiß ich, wie sehr ein allzu nüchterner Ansatz abschrecken kann. Deshalb ist dies kein Wörterbuch, kein Lexikon, keine Gebrauchsanweisung und auch keine Doktorarbeit. Im Ernst, das Letzte, was die Welt meiner Meinung nach derzeit braucht, ist noch eines dieser langweiligen Weinbücher, die in den Regalen verstauben. Dies ist die Geschichte, wie ein Möchtegern-Rock-n-Roller auf der breiten Straße der Konvention ankam und sofort auf dem Absatz umdrehte.
Ob Anfänger oder Fortgeschrittene, die Lehre bleibt dieselbe. Vielleicht wirst du hier nicht jeden Begriff verstehen oder kennst dich bereits mit allen Trauben und Regionen gut aus. Sei’s drum. Dieses Buch soll inspirieren, nicht das Evangelium verkünden. Wein erfordert Hingabe, Arbeit und tonnenweise Liebe zum Detail. Also denke ich gar nicht daran, FÜR DICH alle Rebsorten, Orte, Böden und Stile abzuklappern. So viele Informationen sind heutzutage im Handumdrehen zu bekommen, da reichen einfache Querverweise. Ich will dich mit einer neuen Denkweise ausstatten, um deinen Blick zu erweitern und ein altes Thema in neuem Licht zu zeigen, ohne die ganze snobistische Aufgeblasenheit. Und vor allem will ich, dass du selbst am Ende den Wein ENTDECKST oder WIEDERENTDECKST, und zwar mit DEINENEIGENEN WORTEN. Mit deinen Gedanken, Eindrücken, Gefühlen und Empfindungen. Schließlich geht es in diesem Buch nicht um mich, es geht um dich. Und darum, dir zu zeigen, wie du den toughen Weintrinker in dir zu packen kriegst. Also, mach dich bereit, wir brechen zu einer Expedition auf: zum Geist, zur Seele und zum Geschmack. Wir begeben uns sozusagen zu einer Ausgrabung in Sachen Kultur, Geschichte, Wissenschaft, Design und Kunst, in der Hoffnung, den vielen Geheimnissen des Weins auf den Grund zu kommen und endlich zu verstehen, warum er so verdammt cool ist. Aber vergiss ja das Aspirin nicht!
Gib einem Mann einen Fisch, und du ernährst ihn für einen Tag. Lehre ihn fischen, und du ernährst ihn ein Leben lang.
ALTES SPRICHWORT
Wenn ich hier meine lausige Vergangenheit ausbreite, dann nur, weil ich hoffe, dass ihr Wie und Warum vielleicht ein paar Leute dazu bringt, andere Wege zu gehen. Und wenn’s nur einer ist, wäre ich schon zufrieden. Also, los geht’s.
Nachdem ich klassischen Kontrabass und Englische Literatur an der Indiana University in Bloomington, USA, studiert hatte, tat ich, was jeder verantwortungsbewusste Akademiker tun sollte: Ich ging auf Tour mit einer Rockband. Wir waren die Staaten rauf und runter unterwegs und traten mit großen Shows an fantastischen Orten auf. Das Leben auf Tour war aber kein Zuckerschlecken. Unsere Nerven lagen oft blank, und die zunehmende Ungeduld kündigte schon das nahe Ende unserer Gruppe an. Ich war pleite, deprimiert und verwirrt. Ich fühlte mich von der Welt im Stich gelassen. Ich sah das Leben aus meinem Apartmentgefängnis heraus an mir vorbeiziehen, wie ein Hündchen im Schaufenster der Tierhandlung, das darauf wartet, gekauft zu werden. Dann, eines Tages, kam mir die Idee: Ich könnte zurückkehren in den warmen, bequemen Schoß der akademischen Welt und einen Abschluss als Musikmanager machen. Wenn du deinen Gegner schon nicht besiegen kannst, dann mache ihn dir verdammt noch mal zum Freund. Ich würde der verflucht beste Agent werden, den Hollywood je gesehen hatte. Aber wie konnte ich mich gegen all die anderen Überflieger durchsetzen? Als Agent musst du dein Image verkaufen. Du bist der coolste, stylishste, geschmackssicherste Kerl auf diesem Planeten. Alle Starköche kennst du persönlich und kriegst mit einem einzigen Anruf am Samstagabend einen Tisch. Und an dem ist dann das Menü perfekt und die Weine … ach, die Weine sind ein Traum … Genau. Da wusste ich plötzlich, dass die beste Vorbereitung für mich, um in die heiligen akademischen Hallen zurückzukehren, direkt mit Essen und Wein zu tun haben würde. Deshalb würde ich auch nicht zurück nach Indiana gehen. Und das war mit das Beste, was mir jemals passiert ist.
Die Band warf zwar genug Geld für die Miete und ein paar Basics ab (eine Packung Nudeln, ein Stück Butter und ein Liter Milch pro Woche. Davon lebte ich tatsächlich eine ganze Zeitlang), aber bis ich anfing, bei Potbelly Sandwiches zu verkaufen, hatte ich praktisch keinen eigenen Cent in der Tasche. Es waren mehr „Erbärmlichkeits-“ als Bagatelldiebstähle, die ich beging, wenn ich den Bandmitgliedern Kleingeld aus den Nachtkästchen klaute, um die Fahrkarten nach Chicago zu bezahlen, wo ich ganze Tage in der Bücherei verbrachte. Weil ich zu dieser Zeit einen Truck besaß, war ich als Fahrer für die Roadshows gesetzt, was hieß, dass ich Spritgeld bekam. Dass da nicht jeder Dollar seinen Weg in den Tank fand, dürfte klar sein. Nach ein paar Etappen auf der Tour konnte ich mir hier und da eine billige Flasche leisten, womit die praktische Seite meiner Studien begann. Kurz darauf veränderte ein Weinladen mein Leben für immer. Dort entdeckte ich einen einfachen Coteaux du Languedoc von Pierre Clavel namens „Le Mas“ für 5,99 Dollar.
Ich brachte den Wein nach Hause, um mein übliches Abendessen aus Pasta mit Butter und ein bisschen geliehenem Parmesan aufzupeppen. Aber schon beim ersten Duft dieses im Glas gefangenen Sonnenlichts Südfrankreichs erstarrte ich. Das war mehr als einfaches Traubensaftaroma. Ich war völlig verwirrt. Frisch umgegrabene Erde und sonnendurchflutete wilde Brombeeren, scharfe Tapenade aus schwarzen Oliven mit frisch eingeöltem Sattelleder, Grillfleisch, Schweiß, Blut zogen durch meine Nasenlöcher … Blut? Das ist Traubensaft! Wie kann das möglich sein????! Kann mir jemand sagen, was zum Teufel hier vor sich geht?! Wie ein Wissenschaftler, der über eine nobelpreiswürdige Entdeckung gestolpert ist, stürmte ich rüber ins Zimmer eines anderen Bandmitglieds und hielt ihm das Glas unter die Nase. „Riechst du das?? Weißt du, was das ist??? Es fängt als Traubensaft an, aber am Ende riecht es wie FLEISCH?!“ Er starrte mich ungläubig an, überzeugt, dass ich vor lauter Armut und Tütennudeln endgültig übergeschnappt war. Aber für mich es war ein Augenblick der Offenbarung. Ich musste diese Sache mit dem Wein unbedingt herauskriegen und dem Kult des „Terroir“ beitreten.
Bewaffnet mit dem Mindestlohn und freien Abenden, machte ich mich daran, den Fibonacci-Code des Weins zu entschlüsseln. Ich kochte im Stil der Region, die ich gerade studierte. Es war der Versuch, die Kultur hinter dem Wein und die Art, wie die Einheimischen ihn genießen, zu verstehen. Ich war entschlossen, der geschmackvollste Agent in der ansonsten so geschmacklosen Stadt Los Angeles zu werden – und dann kam meine Freundin übers Wochenende zu Besuch. Das wollte ich ganz besonders romantisch feiern, und dafür musste das mit dem Wein noch ein Stück besser werden. Ich ging in die Stadt, ausgerüstet mit einem gefälschten Ausweis, aber ohne einen Schimmer, wo ich anfangen sollte. Ich strich um die Weinregale herum wie eine eingesperrte Maus auf der Suche nach Käse. Bis Meredith auftauchte, die Geschäftsführerin des Ladens. Mit engelsgleicher Geduld hörte sie sich mein hilfloses Geplapper und meine unbeholfenen Beschreibungsversuche an, bis ich schließlich die beste Flasche Wein auf Gottes schöner Erde für 20 Dollar und irgendwas in Händen hielt. Damit würde ich die Welt meiner Ballerina aus den Angeln heben. Aber nicht nur ihre. Die Erschütterung über dieses unglaubliche Verkaufserlebnis hielt auch bei mir in den darauffolgenden Tagen an. Ich war fasziniert von Merediths Professionalität, Geduld und Sanftheit, von der Art, wie sie den Unsinn, den ich von mir gab, deuten und ein solches Vertrauen in einer so ungeheuer fremdartigen Welt herstellen konnte. Ich musste ihr Handwerk lernen. Ich musste auch anderen die Schönheit zeigen, die ich an diesem Tag empfunden hatte. Ich musste Sommelier werden.
Nach ein paar Tagen kam ich wieder, diesmal mit meinem richtigen Ausweis, und bat Meredith um einen Job. Egal was, es war mir gleich. Ich wollte nur von ihr lernen. Sie nahm meinen Ausweis, lächelte über mein wahres Alter und bot mir einen Job am Empfang an mit einem Versprechen: Wenn ich so lange durchhielt, bis ich alt genug war, könnte ich zum Weinverkauf wechseln. Also stellte ich mich jeden Tag an den Empfang mit einem Weinbuch unter der Theke und beobachtete sehnsüchtig die Vorbereitungen des Sommelierteams. Wie sie zu Platten mit Blauschimmelkäse alte deutsche Auslesen einschenkten und für Lammkeulen teuren Syrah dekantierten. Ich lernte Tag und Nacht und gab noch mein letztes Geld für Weine, Bücher, Lebensmittel und gelegentliche Restauranterfahrungen aus. Der endgültige Auslöser aber war ein Gastro-Artikel des Journalisten David Lynch: der Bericht über seine ersten Wochen bei der New Yorker Restaurantinstitution „Babbo“. Der Artikel war zum Brüllen – das voll aus dem Leben gegriffene Bild des hektischen, verrückten und romantischen Daseins eines Topsommeliers in der Stadt, die niemals schläft. Und dann das Foto: der vollendet modellierte Kopf mit in der Sonne leuchtendem Haar, der perfekte, bis ins kleinste Detail makellose Maßanzug, das Glänzen seines Laguiole-Kellnermessers, während er im vorbildlich gepflegten Grün eines Gartens eine Parade alter Barolos öffnet. Der Stil, die Klasse, die Eleganz, das Prestige, die Romantik … Ich wollte wie er sein. Daran erinnere ich mich bis heute.
Ich machte es auf die Old-School-Art. Das war um 2002, also noch bevor das Internet seine heutige Bedeutung hatte (Mann, ich klinge schon wie ein Oldie) und bevor es den Coravin gab (mehr dazu später). Ich kaufte Kiste um Kiste Wein, so wie ein Jurastudent seine Bibliothek aufbaut. Ich wusste, dass ich mit Burgunder anfangen musste, weil sogar die Profis über diese Weine immer mit gesenkter Stimme sprachen; entweder aus zu großer Ehrfurcht oder aus Angst, das Thema direkt anzugehen. Irgendwie schien niemand wirklich etwas davon zu verstehen. Es war mehr ein Mythos als etwas, womit man sich beschäftigte. Aber wenn es sonst keiner tat, musste ich eben derjenige sein, der das Schwert aus dem Stein zieht. So kam ich zwischen meinem frühmorgendlichen Job als Kellerratte und meiner Abendschicht in einem lebhaften Bistro in der Innenstadt nach Hause, machte mir etwas zu essen und vergrub mich in die Bücher. Umgeben von Landkarten, Büchern, Grafiken und Notizen öffnete ich drei bis fünf Burgunder gleichzeitig, um mich den feinen Nuancen verschiedener Volnay-Erzeuger, winziger Wetterunterschiede bei den Jahrgängen dieser Erzeuger und allen möglichen anderen Details, die es zu sezieren gab, zu widmen. Ich schrieb Hefte über Hefte mit Verkostungsnotizen voll, löste immer das Etikett ab und klebte es auf die linke Seite; notierte wo, wie, wann, mit wem und zu welcher Speise ich den Wein geöffnet hatte ... und schrieb seitenweise meine Eindrücke nieder. Alles, was ich roch, schmeckte oder fühlte, wurde festgehalten. Natürlich bemerkte ich, wie sich Muster herausbildeten. Ich stellte fest, dass ich bestimmte Beschreibungen wiederverwendete, wenn ich bestimmte Weinstile probierte, und daraus wurden die Bausteine meines eigenen Weinvokabulars. Und ich bemerkte auch, als jemand mit musikalischem Hintergrund und einem Faible für Literatur, dass meine Beschreibungen anders waren als das, was in meinen Referenzbüchern stand. Das war richtig erfrischend. Und je älter ich wurde, je mehr Erfahrung ich sammelte und Interessen entwickelte, umso farbiger und komplexer wurden meine Gedanken. Und nun, fast zwei Jahrzehnte, drei Kontinente und eine Handvoll Kerben mit Michelin-Sternen auf meinem Gürtel später, mit einer angehenden Journalistenlaufbahn im Rücken, erfolgreichen Weinschulen, und internationalen Auszeichnungen, kann ich schließlich dieses ganze Leben in dieses eine Buch packen. Und hoffen, eines Tages vielleicht jener Sommelier mit dem glänzenden Laguiole zu sein, der die Justins der nächsten Generation inspiriert. Oder besser noch: keine Justins mehr, sondern diejenigen mit noch mehr Lust auf Provokation.
Man muss immer trunken sein. Das ist alles … Doch womit? Mit Wein, mit Poesie oder mit Tugend? Womit ihr wollt. Aber berauscht euch.
CHARLES BAUDELAIRE
Natürlich könnte ich jede Menge Philosophisches auf diesen Seiten ausbreiten, mich über dies oder jenes auslassen, versuchen, die Widerspenstigen zu bekehren, die Willigen zu bestärken und die Überheblichen zu züchtigen. Nur ist das einfach nicht mein Stil. Ich fange lieber da an, was Wein für mich ist: in Flaschen gefüllte Dichtung. Besser gesagt: pure Emotion. Denn genau das kann eine simple Flüssigkeit in uns bewirken: zu Tränen rühren, zum Lachen bringen, glühende Begeisterung entfachen oder zu stillem Nachsinnen führen.
Nimm zum Beispiel den nächsten Abschnitt. Er ist mein Versuch, die unzähligen Bilder zu fassen, die mir im Frühjahr 2016 nach einer besonders überwältigenden Verkostung in der Quinta do Vallado in Portugal durch den Kopf gingen. Ich war einer der wenigen Auserwählten, die einen unglaublich seltenen Portwein verkosten durften, der seit 1888 im Fass reifte. Der ursprünglich nur für mich selbst geschriebene Text erwies sich als so überzeugend, dass ihn das Weingut als Hommage in seiner Festschrift zum 300. Jubiläum abdruckte. Er ist auch der bis heute reinste Ausdruck meiner persönlichen Philosophie und meiner aufrichtigen Verehrung für dieses geheimnisvolle, magische Geschenk, das man als Wein kennt. Mit höchster Kunst bereitet und gepflegt, ist Wein eine der unmittelbarsten Verbindungen, die wir Menschen mit der Natur eingehen können. Ich hoffe, dass die folgende Prosa in deiner Seele eine bestimmte Saite anschlägt, wie und in welchem Rhythmus auch immer. Und wenn nicht jetzt, dann vielleicht nachdem du dieses Buch gelesen hast und auf dem Weg zur echten Kennerschaft bist: Verlass dich drauf, auch in dir wird der Beat zu grooven beginnen.
Quinta do Vallado im Douro-Tal
Ich blicke auf diese majestätische Flüssigkeit aus scheinbar uralten Zeiten und frage mich, wo ich überhaupt anfangen kann. Wie nur soll ein einfacher Sterblicher, der erst kurze Zeit auf diesem Planeten verbracht hat, etwas über ein Monument wie dieses aussagen? Ein wahrer Monolith, der dem unerbittlichen Zahn der Zeit widerstanden und nicht schlechter, sondern eher noch besser daraus hervorgegangen ist.
Allein schon aus der zeitlichen Perspektive betrachtet, kann man nur versuchen sich vorzustellen, wie die Welt zu jener Zeit aussah, als dieser Wein seinen außerordentlichen Anfang nahm. All das, was er gesehen und ausgehalten hat, seit er von seinen mütterlichen Wurzeln getrennt wurde. Thomas Edison hatte gerade sein Patent für den Filmprojektor eingereicht, der erste Säugling wurde in einen Inkubator gelegt, der Trinkstrohhalm erschien und zum allerersten Mal wurde klassische Musik aufgenommen. Die erste moderne Abstimmung fand statt, Jack the Ripper hielt London in Angst und Schrecken, während Van Gogh mit frisch abgesäbeltem Ohr noch nichts von diesem seltsamen neuen Schreibgerät wusste, dem Kugelschreiber.
Weine wie diesen zu verkosten sind im Leben einmalige Gelegenheiten, und es sind tatsächlich auch die Momente, in denen man sich spürt. Sich erinnert. Den Schmerz fühlt. Sich sehnt. Schwelgt. Sie erzwingen …nein, regen eher an, sich mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Und jeder dieser vom Himmel gesandten Tropfen bringt eine Transzendenz mit sich, eine Flüssigkeit aus Körpererfahrung, die so viele kostbare, lang vergessene Augenblicke wieder deutlich aufleben lässt.
Das unverwechselbare Krachen eines Ahornholzschlägers auf einen staubigen Baseball, der bei meinem ersten Spiel in der Little League direkt in meinen frisch geölten Lederhandschuh fliegt. Die Belohnung dafür, dass ich das Spiel gewonnen habe: eine Handvoll der besten English Butter Toffees meiner Mutter, die ich wie einen gefundenen Schatz in meiner kleinen heißen Hand halte. Die Heimkehr an ein prasselndes Feuer, in die heimelige Umgebung zwischen Fichten- und Zedernholz, das Knacken der Glut, das in den Ohren knistert und den Eierflip an meinen Lippen wärmt. Der feurige Duft von Zimt, Nelken und Anis, der in der schwindenden Glut durch das Zimmer tanzt.
Oder an faule Tage am Meer, den Geruch von frisch geröstetem Kaffee, so bittersüß wie die Kerne einer Chambertin-Traube, die den größten Jahrgang des Jahrhunderts ankündigt. An den Duft, der von der Küche herüberweht und sich mit den warmen Brisen der salzigen Meeresluft vermischt. Die verschwenderische Nussigkeit feiner Marcona-Mandeln flirtet mit der Opulenz getrockneter Feigen, Sultaninen und dekadent üppiger Trockenpflaumen, unterbricht kurz schmutzige Storys und geistreiche Bemerkungen, während der berauschende Duft kubanischer Maduros langsam die Nacht verglimmen lässt. Alter Cognac rinnt schlückchenweise über die Zunge wie von den reifsten Mandarinen, der aufregende Biss der Blutorange beschwört ostindische Expeditionen vergangener Jahrhunderte herauf. Überirdische Aromen, mehr Fabel als Wirklichkeit.
An die frischen Morgen auf dem Schloss eines Freundes, die dicken Mauern voller Geschichte, Triumphe, Grausamkeiten, packend wie die Aromen in diesem Glas. Sie schweben um mich herum, sind da, mehr ein Gefühl als etwas Fassbares. Ein Spaziergang durch die Anlagen im Herbst, der Duft von Laub auf dem moosigen Boden, frischer Tau glitzert auf dem Unterholz. Wie eine prachtvolle Mahagonitäfelung, behängt mit alten Tapisserien, deren Moschusduft betört und ebenso zeitlos ist wie ihr ehrwürdiges Erbe.
Weine wie diesen kann man besser mit Emotionen ausdrücken als mit Worten. Mit Impressionen einer fantastischen Reise statt mit sterilen Fakten, Punkten und Potenzialen. Denn Momente wie dieser haben mit bloßem Wein nichts mehr zu tun. Es sind ganz eigene Erfahrungen. Momente, in denen die Zeit stillsteht, und doch die gesamte Zeit auf einmal abzulaufen scheint. Sie sind wahrhaftig außergewöhnlich und selten und müssen von den Wenigen, die das Privileg und das Glück haben, sie zu erleben, hoch geschätzt werden. Natürlich könnte ich noch seitenweise weiter die herrlich berauschende Schönheit dieses außergewöhnlichen Exemplars feiern, doch eine absolute Wahrheit zwingt mich zur Kürze: Alle Schönheit liegt am Gaumen des Schmeckenden. Meine Geschichte ist hiermit geschrieben, nun es ist Zeit, dass Sie die Ihre schreiben.
Quinta do Vallado„A.B.F“1888
We all need something to help us unwind at the end of the day. You might have a glass of wine, or a joint, or a big delicious blob of heroin to silence your silly brainbox of its witterings but there has to be some form of punctuation, or life seems utterly relentless.
RUSSEL BRAND, „MY BOOKY WOOK
Hier kommt also dein Decoder-Ring, und du musst ihn nicht mal aus einer Cornflakes-Packung herauskramen. Du wirst bald merken, wie alltägliche Aktivitäten dir ganz von selbst das noch nicht ausgesprochene Wort der Trauben erschließen. Ich sage nicht, dass du schon nach den ersten paar Seiten geniale Aussagen treffen wirst, aber du wirst auf jeden Fall mitreden können. Und nicht nur einfach mitreden, sondern AUF DEINE WEISE REDEN, MIT DEINEN EIGENEN WORTEN. Wein ist schließlich etwas unendlich Persönliches; und anders als man gemeinhin glaubt, hast du absolut das Recht, deinen eigenen Dialekt zu entwickeln, der dich anspricht. Wenn wir beide einen Bissen von derselben Mandarine nehmen, wissen wir nie, ob unsere Synapsen im Gehirn auf die gleiche Weise feuern. Vielleicht unterscheiden sich unsere Eindrücke grundlegend voneinander, doch das spielt keine Rolle. Es kommt darauf an, wie wir selbst diese Wahrnehmungen verstehen und herauszubekommen, wie wir diese Empfindungen ausdrücken können. Wie in jeder großartigen Beziehung ist Kommunikation der Schlüssel; und Kommunikation braucht SPRACHE.
Sie ist unsere grundlegendste Art der Verständigung, ob im Gespräch mit anderen oder als innerer Dialog. Zumindest versuchen wir, mit ihrer Hilfe unsere Umgebung zu verstehen. Leider kann Sprache Menschen aber auch ganz furchtbar voneinander entfremden. Jeder, der schon mal im Ausland gelebt hat, kennt den brutalen Frust des Alltags nur zu gut – ob man nun ein Sandwich bestellen, nach dem Weg fragen oder ein Rezept einlösen möchte. In einer fremden Sprache nach Wörtern zu suchen, die man wahrscheinlich falsch verwendet und falsch ausspricht, kann auch Leute mit gesundem Selbstbewusstsein kirre machen. Da einer Erfindung oft eine Notwendigkeit vorausgeht, wurde die Sprache sehr wahrscheinlich eher aus fundamentaler Not geboren als aus einer Laune heraus, und es ist schon erstaunlich, wie schnell die Lernkurve nach oben geht, sobald man merkt, dass das Toilettenpapier alle ist.
Der Wein jedoch scheint sich diesem instinktiven Sinn für Notwendigkeit entzogen zu haben. Zwar trinken viele regelmäßig Wein, aber kaum einer achtet auf dessen nuancierten Dialekt. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum die meisten Gelegenheitsweintrinker die Weingurus meiden wie Hippies eine Veranstaltung der National Rifle Association. Weinterminologie kann im besten Fall prätentiös, wenn nicht sogar ausgesprochen einschüchternd wirken, und in Nullkommanix die snobistische „Elite“ vom „Normalo“ trennen: Leute, die abends mit Freunden ein Glas trinken gehen, während der Boss einen wichtigen Kunden mit einem großen Rotwein beeindrucken will, oder einfach nur jemand, dem dieses Zeugs aus Trauben am Dienstagabend höllisch gut zur selbst gemachten Bolognese schmeckt. Deshalb wenden sich die Leute vom „Weinsprech“ ab, weil er einen so verunsichert: Je präziser, exzentrischer und esoterischer die Terminologie wird, umso weniger Leute fühlen sich dem Thema gewachsen. So wie wenn du der einzige Trottel im Country Club bist, der weder eine Mitgliedschaft noch einen Maserati hat. Das stresst. Doch hinter dieser Fassade liegt die Schönheit des Weins; eine universelle Sprache, die uns alle verbindet, ein sensorisches Alphabet für die Nase. Und nur darum geht es in diesem Buch: Den schlummernden, glückselig berauschten, bacchantischen Poeten in dir zu wecken. Der irgendwo verschüttet liegt zwischen der Plattensammlung und den Ferien-Polaroids, unter den Kochbüchern und hinter den Kindheitserinnerungen, gegenüber der Lieblingsklamotte und zwischen den Sitzkissen im Familienauto.
Wein ist Kunst, und was Kunst für uns bedeutet, zeigt sich überall: jede Berührung, jedes Gefühl, jeder Geruch, jedes Geräusch, jede Empfindung, jede Emotion, jede Erinnerung, jede Ernüchterung, jeder Schmerz, jede Begeisterung, jeder Liebeskummer, jede Faszination und jede Hochstimmung. Alles dreht sich darum, was wir damit verbinden, und natürlich ist alles relativ. Wir fahren Auto, tragen Uhren, kaufen Klamotten, hören Musik, fotografieren Denkmäler, legen Parfüm auf, essen und trinken hoffentlich gut. Und wir glauben, dass wir die meisten dieser Dinge verstehen oder zumindest eine Ahnung davon haben. Trotzdem halten viel zu viele Wein für eine bizarre, mysteriöse Alchemie, ein Hexengebräu, dessen Geheimnis nur bleiche und golemartige Freaks mit Vitamin-D-Mangel – besser bekannt als „Sommeliers“ – imstande sind zu entschlüsseln. Und ich bin hier, um klarzumachen, dass das nicht stimmt.
Wein ist eines der zivilisiertesten Dinge der Welt und eines der natürlichsten Dinge der Welt, das zu größter Vollkommenheit gebracht worden ist, und es bietet dem Vergnügen und dem Verständnis weiteren Spielraum als vielleicht irgendein anderes rein sinnliches Ding…
ERNEST HEMINGWAY
Die wahre Schönheit und das Privileg, einen gut gemachten, ehrlichen, authentischen Wein zu trinken, ist wie der Unterschied zwischen einem Klingelton fürs Handy und einer Komposition in mehreren Sätzen. Ich meine nicht die sauteure Luxuskreszenz, die dein reicher Onkel auf seiner Yacht schlürft. Ich meine einfach handwerklich bereitete Weine, die es in jeder Form, Größe und Preislage gibt. Sie müssen nicht teuer sein, nur gut. Gut kann 8 Euro, aber auch 800 Euro bedeuten, das liegt ganz bei dir. Aber zurück zum Vergleich mit dem Klingelton: Der ist ein Wegwerfartikel, kurz ganz lustig, während die Komposition Aufmerksamkeit, Nachdenken und Besinnung erfordert. Wenn die richtigen Saiten angeschlagen werden, werden Gefühle geweckt, kommen Ideen, fließt die Inspiration. Es sind Offenbarungen, die mehr bewirken als nur stumpfsinnige Sättigung. Doch um die Tiefe solcher Schöpfungen verstehen zu können, sollten wir beim Beispiel der Musik bleiben. Professionell betrieben oder einfach als Hobby: Musik spielt im täglichen Leben zweifellos eine wichtige Rolle. Sie macht die Spannung in einem Film spürbar, indem sie Angst, Freude oder Beunruhigung hervorruft. Sie unterstreicht einige unserer liebsten Erinnerungen, begleitet einige unserer größten Erfolge und hilft uns, mit Niederlagen fertigzuwerden. Sie ist eine universelle Ausdrucksform, die wir alle auf einer bestimmten Ebene verstehen können.
Ich möchte den „Weinsprech“ in leichter verständliche musikalische Begriffe übersetzen. Es gibt bestimmte Elemente, die jeden Wein einzigartig machen, selbst bei Weinen von der gleichen Rebsorte, aus demselben Jahrgang oder sogar demselben Weinberg: DER WINZER, DER JAHRGANG, DER WEINBERG, DIE REBEN SELBST sowie DAS PUBLIKUM sind die fünf Säulen, auf denen der Charakter eines Weins beruht. Eine veritable Symphonie für deinen Gaumen!
Überlege zunächst, welches Musikstück du in deinem Glas hast. Ist es Beethovens „Neunte“, Dvořáks Symphonie „Aus der Neuen Welt“ oder Bizets „Carmen“? Das sind ja nun ganz unterschiedliche Kompositionen, und genauso verschieden sind die Weinlagen Wehlener Sonnenuhr an der Mosel, Richebourg in Vosne-Romanée oder Viña Bosconia in Rioja. Das Stück ist festgelegt, ebenso wie der Boden unter den Füßen, sei es von Ludwig van oder Van Halen. Genauso zeitlos ist die Komposition der Natur. Wir erwarten in tonaler Hinsicht sicherlich andere Dinge von diesen verschiedenen Komponisten, so wie wir auch davon ausgehen, dass die Aromen in der Flasche dem Etikett entsprechen – doch jede Aufführung ist einzigartig. Die Noten auf dem Papier sind für die Ewigkeit; sie werden in der gleichen Reihenfolge, im gleichen Register, mit den gleichen Tönen gespielt. Das bleibt unverändert. Ebenso wie die außergewöhnliche Säure der Chenin-Blanc-Weine vom Tuffstein der Coulée de Serrant an der Loire, wie die packenden Tannine im Nebbiolo von den aktiven Kalksteinböden im piemontesischen Serralunga oder die unglaublich verfeinerten floralen Noten vom Kreideboden der Lage Les Clos in Chablis. Diese „Aufführungen“ sind vorhersagbar, und auch wenn sie im Einzelnen immer etwas unterschiedlich ausfallen: Das „Stück“ ist für unseren Gaumen erkennbar und hochwillkommen.
Weinberge in Serralunga, Piemont und Les Clos in Chablis, Burgund.
Wenn du dich nun entschieden hast, eher in der Stimmung für Strauss als für Strawinsky oder Sinatra zu sein, dann ist der nächste Schritt, die richtige Aufnahme auszuwählen. Und hier kommt der Winzer ins Spiel. Wenn Herbert von Karajan mit den Berliner Philharmonikern den „Don Juan“ spielt, fiel die Interpretation – selbst mit denselben Musikern – sicher völlig anders aus als die von Essa-Pekka Salonen, Leonard Bernstein oder Zubin Mehta. Auch mit demselben Stück und im selben Konzertsaal. Denn jeder Dirigent hat, wie auch ein Winzer, seinen eigenen, unverwechselbaren Stil, seine Signatur. Ob die Interpretation streng, gemessen und kämpferisch ist oder lebhaft, heiter und zart, kann für deinen Hör- (Trink-)Genuss einen riesigen Unterschied machen. Wie lang sind die Pausen? Gibt es bombastische Crescendos? Ändert sich das Tempo immer wieder abrupt, knallen die Stakkati wie Pistolenschüsse oder kommen sie weich und rund? Der Winzer kann die Partitur der Symphonie, die sein Weinberg ist, nicht ändern, doch er interpretiert, was wir in unserem Mund „hören“. Jede Entscheidung, die im Weinberg oder Keller getroffen wird, ist ein Schlag mit dem Taktstock für die Ausführenden. Das kann die Herkunft der verwendeten Fässer sein, deren Zusammenstellung oder Größe, der Grad des Toastings und die Dauer der Reifung in ihnen. Und das ist nur eine mögliche „Interpretation“ des vorgegebenen Stücks. Eine lange kalte Maischestandzeit für eine üppigere Textur oder eine heiße, schnelle Gärung für einen wilderen, eckigeren Geschmackseindruck? Massive Grünlese und Ertragsbeschränkung, um dickere, gewichtigere, dunklere Weine mit mehr Konzentration zu bekommen – wie schwelgerische Leggiero-Streicherpassagen, die untermalt werden von nachdrücklichen Largo-Sätzen und skandierenden Blechbläser-Stößen?
Als junger, hoffnungsvoller Kontrabassist hatte ich die Ehre, unter dem renommierten Dirigenten Daniel Lewis an der damals noch relativ neuen Colburn School of Music in Los Angeles zu spielen – ein Elite-Jugendorchester, das zum Großteil von 9- bis 15-jährigen Schülerinnen und Schülern aus Korea, Japan und China dominiert wurde. Ich konnte sicherlich mithalten, doch die technische Perfektion, mit der diese KINDER spielten, war oft geradezu unheimlich. Sie zupften und strichen ihre Instrumente mit der Präzision eines Schnellfeuergewehrs. Zu Tränen rührend war ihr Spiel dagegen selten. Zeitsprung nach vorn: Jahre später erfüllte ich mir einen lang gehegten Traum mit dem Besuch eines Konzerts der Wiener Philharmoniker im Musikverein, vielleicht der Saal mit der makellosesten Akustik der Welt. Das Durchschnittsalter der Besucher dürfte so um die 70 gelegen haben, und die meisten von ihnen schliefen im ersten Satz ein. Die Musiker waren kaum jünger. Manche sahen tatsächlich so aus, als könnten sie im nächsten Moment aus den Latschen kippen. Aber dieser Klang: der Schmerz, die Sorge, die Siege und Enttäuschungen, der Verlust, der Jubel und das Elend, die aus jeder Note herausbrachen! Beethoven selbst wäre zu Tränen gerührt gewesen. Die Lehre daraus? Schreiben wir es der Erfahrung zu. Diese kampferprobten Veteranen hatten wahrhaftig gelebt und überlebt, um mit jeder Note davon zu künden. Alte Reben sind nicht anders. Es sind masochistische Biester, die nicht viel von Bequemlichkeit halten. Alte Reben sind Kämpfer; je härter die Bedingungen, je elender und karger der Boden, je mehr Sonne und je weniger Wasser, umso stärker schalten sie auf Überlebensmodus. Das bedeutet, dass sie ihre Energie nach unten richten statt nach oben. Weniger Blätter und Trauben, mehr Selbsterhaltung. Die verzweifelte Suche nach Nährstoffen um jeden Preis. Wenn sie sich dafür 15 Meter tief durch soliden Fels kämpfen müssen, dann muss das eben sein. Nur die unnachgiebig fightende Rebe findet Wege, um durch meterdicken Kalkstein, Schiefer oder was auch immer zu kommen, indem sie winzige Haarrisse oder Verwerfungen ausnutzt. Sobald sich ihre Wurzeln durch einen Spalt gezwängt haben, dehnen sie sich aus, sprengen den Fels und machen weiter mit der Suche nach Nahrung.
An einigen Stellen, etwa an den Schieferklippen der Mosel, liegt der Grundwasserspiegel bis zu 400 Meter unterhalb der 74-Grad-Steilhänge. Die Bedingungen sind so hart, dass man noch in 70 Meter Tiefe Rebenwurzeln gefunden hat! Stell dir die Zeitreise vor: buchstäblich Millionen und Abermillionen von Jahren, Epochen, Ereignissen und Katastrophen sind in den unzähligen Schichten enthalten und werden nun langsam im Zellgewebe der Wurzeln verdaut. Sie fressen buchstäblich die Geschichte von Mutter Erde auf, schicken sie nach oben in den Fluxkompensator und wandeln sie in Nährstoffe für die Trauben um. Und so landen sie schließlich in unserem Glas. Im Endeffekt ist eine alte Rebe die Leitung, die uns Menschen, die wir gerade mal an der Oberfläche der Erdgeschichte kratzen, eine ursprüngliche, wunderbare Verbindung zur Vergangenheit unseres Planeten schenkt. Wenn dich das nicht völlig umhaut, dann weiß ich nicht, was sonst.
Wir wollen für einen Moment mal annehmen, dass alle Variablen in der Gleichung konstant sind: dieselben Musiker unter einem bestimmten Dirigenten, die alle dasselbe Stück spielen. Das sollte ähnliche Ergebnisse hervorbringen, stimmt’s? Nicht ganz. Denn die vierte unserer Säulen ist ebenso wichtig wie die anderen, auch wenn sie leider am wenigsten beachtet wird. Jeder Konzertsaal auf der Welt hat seine eigene, unverwechselbare Akustik, was mit Vor- und Nachteilen, Stärken und Schwächen verbunden ist. Wie gut sich bestimmte Tonhöhen oder Klangfarben abheben, die Klarheit jeder Stimme, die Wärme des Klangs, der Nachhall am Ende einer Passage – sie sind überall verschieden. Das hängt einfach mit der Struktur zusammen, der Bauweise. „Dieselbe“ Aufführung wird im Symphony Opera House anders klingen als im Wiener Musikverein oder im Disney Center in Los Angeles – im Guten wie im Schlechten. Genau das macht auch die Faszination der Jahrgänge beim Wein aus. Ein Saal mit perfekter Akustik kann eine schlechte Darbietung nicht in etwas wunderbar Virtuoses verwandeln, und ebenso wenig kann ein Jahrgang mit perfekten Bedingungen einen stümperhaft gemachten Wein zu etwas Herrlichem erheben. Umgekehrt kann ein schwieriger Jahrgang etwas beeinträchtigen, was sonst eine grandiose Performance des Weinbergs hätte werden können. Gute Musiker werden trotzdem jede Note treffen, und zwar mit Leidenschaft, trotz der akustischen Limitiertheit einer unterdurchschnittlichen Bühne. Das mag dann zwar nicht die beste Aufnahme aller Zeiten werden, aber immer noch eine sehr gute Vorstellung abgeben. Die Musiker müssen nur warten, bis sie auf ihrer Tour nach Wien kommen, um das zeitlose Opus Magnum aufzunehmen, von dem sie wissen, dass es in ihnen steckt.
Sollte ich es noch nicht oft genug gesagt haben, sage ich es gern noch einmal: Nichts von dem, was ich bisher geschildert habe, wäre wichtig, wenn es kein Publikum gäbe. Der Geschmack eines Apfels bedeutet nichts, wenn keiner da ist, der den Apfel isst. Ohne jetzt zu sehr ins Philosophische abzudriften: Du bist die wichtigste der fünf Säulen! Und natürlich gibt es nicht nur diese vier anderen Pfeiler; es ist nur so, dass sie für mich die Quintessenz darstellen. Sowieso verkünde ich nicht das Evangelium, also biege dir bitte alles, was du hier liest, so hin, dass es für dich am besten passt. Am wichtigsten ist, dass du am Ende, wenn du dieses Buch gelesen hast, deine eigene Sprache, deine eigenen Interpretationen und dein eigenes Repertoire entwickelst. So, dass du deine nun geschulten Instinkte einsetzen kannst, um der selbstbewusste, stolze Weinliebhaber zu werden, von dem du eigentlich schon weißt, dass er in dir steckt.
On ne peut pas connaître un pays par la simple science géographique … On ne peut, je crois, rien connaître par la simple science; c’est un instrument trop exact et trop dur … Le monde a mille tendresses dans lesquelles il faut se plier pour les comprendre avant de savoir ce que représente leur somme.
JEAN GIONO, „L’EAU VIVE“