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»Kafka gelesen« versammelt 27 zeitgenössische Autorinnen und Autoren, die über ihr Verhältnis zu Franz Kafka und seinem Werk schreiben. Persönlich, künstlerisch, anekdotisch, bewegend oder lustig. Als Franz Kafka vor 100 Jahren starb, war die Welt eine andere. Doch bis in unsere Gegenwart des 21. Jahrhunderts haben seine Romane, Parabeln, seine Tagebücher und unvergleichlichen Briefe nichts von ihrer originellen oder verstörenden, berührenden und immer auch tröstlichen Wirkung eingebüßt. Im Gegenteil: Dass seine Werke, sein Leben und sein Blick auf die Welt gerade in dieser Gegenwart, in der wir leben, eine Menge über uns selbst erzählen und dass Franz Kafka für heute Schreibende ungebrochen ein Fixpunkt der Moderne ist, zeigt dieser Band. 27 deutschsprachige und internationale Autorinnen, bildende Künstler, Denkerinnen und Lyriker schreiben über das, was in ihren Augen das Überzeitliche, das drängend Aktuelle dieses jüdischen, deutschen Jahrhundertschriftstellers aus Prag ausmacht.
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Seitenzahl: 314
Herausgegeben von Sebastian Guggholz
Als Franz Kafka vor 100 Jahren starb, war die Welt eine andere. Doch bis in unsere Gegenwart des 21. Jahrhunderts haben seine Romane, Parabeln, seine Tagebücher und unvergleichlichen Briefe nichts von ihrer originellen oder verstörenden, berührenden und immer auch tröstlichen Wirkung eingebüßt. Im Gegenteil: Dass seine Werke, sein Leben und sein Blick auf die Welt gerade in dieser Gegenwart, in der wir leben, eine Menge über uns selbst erzählen und dass Franz Kafka für heute Schreibende ungebrochen ein Fixpunkt der Moderne ist, zeigt dieser Band.
27 deutschsprachige und internationale Autorinnen, bildende Künstler, Denkerinnen und Lyriker schreiben über das, was in ihren Augen das Überzeitliche, das drängend Aktuelle dieses jüdischen, deutschen Jahrhundertschriftstellers aus Prag ausmacht.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
[Frontispiz]
Ein Buch über Kafka
Karl-Markus Gauß: Ein Irrtum, den ich Kafka verdanke. Der 16. Zürauer Aphorismus
Jon Fosse: Kafka ist Kafka
Patricia Görg: Ins Endlose
Thomas Stangl: Darum liebt man die Wasserjungfrauen
Isabelle Lehn: Vom Trost der Tagebücher: »Ich« zu schreiben, um sich selbst zu entkommen
Sjón: Schief gewickelt
I
II
III
IV
V
Ulf Erdmann Ziegler: Mit Karl nach Oklahoma. Bericht von einer Lesereise
Katerina Poladjan: Die Anwesenheit der Abwesenden. Brief an Franz
Michael Kumpfmüller: Hände weg von Kafka!
Gisela von Wysocki: Nebenschauplatzschöpfung
Spaziergang von Zürau nach Oberklee bei Tag (Federzeichnungen)
Esther Kinsky: Kafkas Katze
Ulf Stolterfoht: krähe nach kafka
Clemens Setz: Die heilige Zwirnspule
Maria Stepanova: und/oder
I
II
III
Joseph Vogl: Im Labyrinth
Marie Luise Knott: Eine grüne Sprache
Marcel Beyer: Der Polier
Dana Grigorcea: Eine graue Maus berichtet von der Kunst
Jan Faktor: Die Vollendung
Sasha Marianna Salzmann: Gay Literacy
Spaziergang von Zürau nach Oberklee bei Nacht (Holzschnitte)
Jan Peter Bremer: Hast du wirklich …
A. L. Kennedy: Metamorphosen
Jaroslav Rudiš: Max, Marta und ein Schloss in Berlin
Michael Lentz: »Es wäre am schönsten gewesen.«
Anmerkungen
Thomas Lehr: Das Kinesische Zimmer
Adam Thirlwell: Gescheiterter Versuch, nicht über Franz Kafka zu schreiben
Beiträge
Werke von Franz Kafka
»Böse Zungen, oder vielmehr deren Besitzer, behaupten – und ich sehe sie dabei hämisch lächeln – dass ich an einem Buch über Kafka schreibe. Diese Anschuldigung trifft nicht zu, ich weise sie zurück«, beginnt Wolfgang Hildesheimer eine nur drei Seiten lange Miniatur mit dem schon alles zusammenfassenden Titel: Ich schreibe kein Buch über Kafka in seinem Band Lieblose Legenden. Dann fährt er fort: »Ehrlichkeitshalber möchte ich zugeben, dass ich mich vor langer Zeit einmal mit dem Gedanken trug – wie schließlich jeder sensible Intellektuelle –, ein Buch über Kafka zu schreiben. Durch diese Phase muss man nun einmal hindurch, und man braucht sich später ihrer so wenig zu schämen wie einer jugendlichen Schwärmerei.« Er habe sich nun entschieden, lieber ein Buch über Ekkehard Golch zu schreiben, einen ganz gewöhnlichen (fiktiven) Mann, der sein Leben als Studienrat in Altmünzach verbracht hat, in »einer Stadt, in welcher Schnellzüge nicht halten«. Seine Begründung liefert der erzählende Biograph offenherzig: »Was mich damals allerdings davon abhielt, war weniger eine Abkehr von dem Thema als der Umstand, dass meine sämtlichen Bekannten bereits an einem Buch über Kafka schrieben (nicht alle an einem; jeder für sich natürlich). Aus irgendeiner Tücke des Schicksals heraus, die zu bedauern ich heute wahrhaftig keinen Grund mehr habe, hatten sie alle früher damit angefangen – ich habe mich verhältnismäßig spät entwickelt –, und nun war für mich kein Aspekt mehr übrig, im Lichte dessen ich Kafka hätte deuten können.«
Eine Vielzahl an Aspekten für gegenwärtige, individuelle Deutungen liefert diese Anthologie – und zeigt damit, dass noch immer ein erheblicher Bedarf an der Beantwortung der Frage besteht, wie man sich ganz persönlich Kafka und seinem Werk nähern kann. Denn seine Romane, Erzählungen und Parabeln, seine Briefe und seine Tagebücher sind auch heute noch wirksam, weit mehr und ein Vielfaches breiter als zu Kafkas Lebzeiten vor über 100 Jahren. An Kafka, auf diesen Punkt lässt es sich bringen, kommt man als Schreibende oder Schreibender einfach nicht vorbei. Daraus ließe sich fast eine eigene kafkaeske Türhüterparabel entwickeln – viel schöner ist es allerdings, wenn diese von Kafka beeinflussten und auf Kafka sich berufenden Schreibenden in einem Band versammelt sind, in dem nun eine Fülle an anekdotischen Geschichten über erste Kafka-Lektüren, an prägenden Erfahrungen und Erkenntnissen mit einzelnen seiner Werke, an kundigen Ausdeutungen rätselhafter Motive oder Sätze angeboten wird, mit denen als Rüstzeug jeder Leser und jeder Leserin selbst ohne Scheu in den Kosmos Kafka eintreten kann.
Die 26 Textbeiträge und zwei Bilderstrecken dieses Bandes sind Einladungen, fremden Lektüren zu folgen, sich an die Fersen der Autorinnen und Autoren – einer hochkarätigen Auswahl aus den wichtigsten literarischen Stimmen unserer Gegenwart – zu heften und mit ihnen in die Sprachlandschaft und Textwelt Kafkas aufzubrechen. Erstaunliche Korrespondenzen zwischen einzelnen Beiträgen und wiederkehrende Motive bei der Beschäftigung mit Kafka fallen ins Auge, seien es die auffällig präsenten Tiere, die fast aus dem einen in den anderen Text überzuspringen oder untergründig hinüberzukriechen scheinen, seien es individuelle autobiographische Ausdeutungen im Abgleich mit Kafkas Lebensweg, sei es das vermeintliche Scheitern als Ausgangspunkt und gar Antriebsmotor für ein darauffolgendes umso beglückenderes Gelingen.
Dass Kafka immer noch von so vielen gelesen und immer wieder gelesen wird, zeugt von der unerschöpflichen Tiefe seines Schreibens, das an Themen und Fragen rührt, die keiner Alterung unterliegen und kein Verfallsdatum besitzen. Kafkas Fragen sind auch für uns heute noch nagend und ungelöst. Kafkas wunde Punkte brennen in vielen von uns und sind bis heute nicht verheilt. Kafkas Sprache, mit der er immer wieder die eigentlich aussichtslose Beschreibung des Unsagbaren unternimmt, ist eine Sprache, die uns auch heute noch nahegeht.
Die Zitate aus den Werken Kafkas folgen der Kritischen Ausgabe in der Fassung der Handschrift, die seit vielen Jahrzehnten bei S. Fischer erscheint. Sie sind nicht mehr einzeln in Fußnoten mit Seitenzahlen nachgewiesen, damit der Lesefluss gewahrt und nicht unterbrochen wird, und sie lassen sich leicht in den schönen kommentierten Leinenbänden finden. In den einzelnen Texten erwähnte zusätzliche Werke sind ganz hinten im Buch aufgeführt, bei den jeweiligen Biographien der Beitragenden. Und wenn man nach einem besonders schönen Kafka-Satz ein wenig suchen muss, durch die Bände blättert und sich mal hier, mal da festliest, dann ist damit das Beste gelungen, was dieser Band Kafka gelesen leisten kann: Kafka wird von neuem gelesen.
Karl-Markus Gauß
Ich kann mir Sätze und Verse leicht merken, aber neige dazu, sie mir fehlerhaft einzuprägen und mitunter jahrzehntelang falsch weiterzugeben. Lese ich ein Gedicht, das ich auswendig wiederzugeben weiß, nach Jahren noch einmal, komme ich oft dahinter, dass ich es an zwei, drei Stellen geradezu sinnverkehrend umgeformt habe. Das zeugt weniger von der Schwäche meines Gedächtnisses als vielmehr davon, dass mein Inneres alle äußeren Eindrücke skrupellos so lange bearbeitet, bis es glaubt, dass sie zu mir passen.
Meine Kinder mochten es, wenn ich ihnen von den großen Werken der Weltliteratur und vom Leben derer erzählte, die sie verfasst hatten. Im November 1995 fuhren wir für vier Tage nach Prag. Mein Sohn war damals elf, seine Schwester sieben Jahre alt. Als wir unsere ersten Runden in der Stadt hinter uns hatten, wollten wir in dem Restaurant, das sich im obersten Stock unseres Hotels befand, zu Abend essen und über die Lichter der Stadt schauen. Auf halber Höhe geschah, was vielen eine schreckliche Vorstellung bleibt, aber einigen tatsächlich widerfährt: Der Lift blieb stecken, und das Licht erlosch. Wie wir später erfuhren, handelte es sich um einen halbstündigen Totalausfall des Stromnetzes, der das ganze Stadtviertel betraf. Wir waren zu acht im Lift, in völliger Finsternis: ein vornehmer alter Herr aus Wien, ein Ehepaar aus Deutschland in mittleren Jahren und eine junge, grell geschminkte Pragerin, die mir beim Betreten des Lifts aufgefallen war, so fahrig und nervös wirkte sie. Als Erster war der Ehemann aus Deutschland dran, er klagte, keine Luft zu bekommen, und war bereits ins Hecheln geraten, seine Frau versuchte ihm, langsam ein- und ausatmend, vorzumachen, wie er die Panik bekämpfen solle. Der Zweite war der soignierte Herr aus Wien, der vor sich hinzuschimpfen begann und in immer gröberen Worten Menschen zieh, die gar nicht da waren, aber Schuld daran hätten, dass er jetzt da war und sich in dieser misslichen Situation befand. Der Dritte wäre ich gewesen, der ich fürchtete, mit der Beklemmung, die ich verspürte, womöglich die ganze Familie anzustecken. Davor rettete uns die Frau aus Prag, die sich an unsere Kinder wandte und, die deutschen Wörter charmant tschechisch intonierend, fragte, woher sie kämen, wie ihnen Prag gefalle, was sie später im Restaurant bestellen wollten. So kam eine Unterhaltung in Gang, die zur Frage führte, die mein Sohn an sie, die Einheimische, richtete: »Kennen Sie Kafka?«
Wir waren tagsüber an zahllosen Souvenirläden vorbeigekommen, die Leibchen mit Kafkas Porträt feilboten, Teetassen, Kalender, Notizhefte, Stifte, Taschen, allerlei Tand, der mit seinem Bildnis bestickt, bedruckt, verziert oder mit Sätzen von ihm beschriftet war. Es lag nahe, da und dort auf den in seiner Stadt schier omnipräsenten Kafka zu sprechen zu kommen, und was mir von seinem Leben zu berichten einfiel, reichte aus, dass meine Kinder heftig mit ihm zu sympathisieren begannen. Natürlich, sagte die Pragerin, kenne sie Kafka. Das ermunterte meine Tochter festzustellen: »Der hatte einen wirklich argen Vater.« Das alles geschah in einer finsteren Kabine, der Deutsche schnappte nach Luft, der Österreicher stieß Flüche aus, die bezaubernde Pragerin unterhielt sich mit unseren Kindern, und ich dachte mir, das ist der Unterschied zwischen Kafka und dir: Er wurde von seinem Vater bedrängt und entmutigt, dich unterstützen und schützen deine Kinder.
Als Student hatte ich die Gesammelten Werke von Kafka in der siebenbändigen Taschenbuchausgabe mit den schwarzen Einbänden erstanden, im sechsten Band, Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß, stieß ich auf einen Text, der leicht zu übersehen war. Die 109 nummerierten kurzen Abschnitte waren nämlich ohne Zeilenabstand unter dem vom Herausgeber Max Brod gewählten Titel Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg auf nicht mehr als elf Seiten zusammengedrängt. Später hat man diese Aphorismen, zwischen denen sich freilich auch kurze Erzählungen und Parabeln befinden, unter dem Titel Die Zürauer Aphorismen gesondert veröffentlicht und jeden der Texte auf eine eigene Seite gesetzt, wie das die handschriftliche Fassung Kafkas auch nahelegt.
Meine 1976 erworbene Taschenbuchausgabe, die ich zum Verfertigen dieses Textes wieder zur Hand nahm, zeigt mir heute, dass dem 22-Jährigen, der ich damals war, der 16. Aphorismus besonderen Eindruck machte. Ich hatte ihn unterstrichen, zu beiden Seiten – also vor dem ersten Wort und nach dem letzten – mit großen Ausrufezeichen versehen und am rechten Rand zudem das Wort »zit.« gekritzelt. Ich stoße in fast allen Büchern, die ich in meinen jungen Jahren erwarb, auf Spuren meiner eigenen Lektüre, mit geheimen Siglen und Zeichen; ein Doppelrufzeichen und das Wort »zit.« – welches bedeutet, dass ich mir diesen Satz zitierfähig im Gedächtnis behalten wollte – bezeugt stets die höchste Wertschätzung des Lesers von einst.
Kafka hat diese Aphorismen in Zürau, einem Dorf in Böhmen, geschrieben, wo er die acht Monate vom September 1917 bis zum April 1918 im Haus seiner Schwester Ottla verbrachte, eine Zeit, in der er fast so etwas wie Glück empfunden zu haben scheint. Er fühlte sich befreit, weil einen Monat vorher die Tuberkulose in ihm ausgebrochen war und ihm die damals todverheißende Krankheit ermöglichte, mit den Lebensplänen, die ihn bedrückten, Schluss zu machen: mit der Hochzeit, zu der die Verlobung mit Felice Bauer endlich doch führen sollte, mit dem täglichen Gang ins Büro der Versicherungsanstalt, vor allem mit den Anforderungen des Vaters, denen er nicht Genüge zu leisten vermochte.
Der 16. Aphorismus lautet: »Ein Käfig ging einen Vogel suchen.« Wie bei Kafkas Schriften häufig, sind auch viele Zürauer Aphorismen einerseits einfach und andererseits rätselhaft. Und wie so oft bei Kafka scheinen viele von ihnen eine Pointe zu haben, von der man, hat man sie lange genug hin und her gewendet, oft nicht mehr zu sagen weiß, welchen Sachverhalt sie eigentlich mit schlagender Prägnanz fasst. Ein Käfig ging einen Vogel suchen – möglich, dass Kafka das Leben in Prag als Käfig empfunden hat, dem er durch die Krankheit entronnen war; und dass er sich der Freiheit nicht sicher fühlte, sondern ahnte, fürchtete, spürte, dass ihm der Käfig hinterher war. In keinem anderen Werk Kafkas spielen Tiere übrigens eine so große Rolle wie in den Zürauer Aphorismen. In Zürau sah und traf er kaum Menschen, aber er sah und hörte die Tiere. Ein wiederkehrendes Bild ist die »Kette«, an die gelegt zu sein er nicht als rundweg quälend für Tier und Mensch beschrieb, sofern sie nur, wie der 66. Aphorismus es für einen namenlosen »Er« formuliert, »lang genug ist, um ihm alle irdischen Räume frei zu geben und doch nur so lang, daß nichts ihn über die Grenzen der Erde reißen kann«.
Ein Käfig ging einen Vogel suchen: Ich habe mir den Aphorismus eingeprägt und alle paar Jahre Gelegenheit gefunden, ihn in kleinerer oder größerer Runde zum Besten zu geben. Auch auf jener Reise nach Prag erwähnte ich ihn, und meine Kinder, die beide über ein rätselhaftes Gedächtnis verfügen, in dem Ereignisse gespeichert sind, die meine Frau und ich längst vergessen haben, erwähnen ihn noch heute, wenn wir, was selten geschieht, sentimental unserer Reise nach Prag gedenken. Sie sagen dann: Ja, Kafka! »Ein Vogel ging einen Käfig suchen.« So haben sie den Aphorismus im Gedächtnis behalten, korrekt und doch falsch, denn ich hatte ihn mir ja auf verdrehte Weise gemerkt und weitergegeben.
Wann ich das Subjekt und das Objekt des Satzes zu vertauschen begann, kann ich nicht sagen, ich hatte es ja bis vor kurzem nicht bemerkt, nicht einmal geahnt. So habe ich all die Jahre nicht Kafka zitiert, sondern das, was mein Inneres aus seinem Aphorismus gemacht hat. Für mich ging nicht der Käfig den Vogel, sondern der Vogel den Käfig suchen, vermutlich um die Freiheit gegen die Sicherheit einzutauschen, die das gewohnte Gefängnis ihm bietet.
Meine Kinder waren nach den bald dreißig Jahren, die seit unserer Reise nach Prag vergangen sind, erstaunt und auch ein wenig enttäuscht, als ich ihnen gestand, dass ich mich und sie getäuscht hatte. Nach einigem Bedenken überzeugten sie mich jedoch davon, dass mein Irrtum etwas für sich hat. Ich berichte diese Geschichte hier genau so, wie sie sich in meiner Erinnerung zugetragen hat. Es ist also möglich, dass es anders war.
Jon Fosse
Endlich ist es so weit. Ich werde Franz Kafka übersetzen. Ich habe mir etliche Übersetzungen von Franz Kafkas Erzählungen ins Norwegische und andere skandinavische Sprachen besorgt, dazu deutsche Ausgaben in Großschrift, und ich habe einen Vertrag mit einem norwegischen Verlag gemacht, Skald, mit Sitz in Lekanger, einem kleinen Ort in der Landschaft Sogn im spärlich besiedelten Westnorwegen, dort wird meine Übersetzung einer Auswahl von Kafkas Erzählungen erscheinen.
Die Verlegerin, Simone Stibbe, zugleich meine Lektorin, ist Deutsche und naturalisierte Nynorsk-Frau, die über ein Neunorwegisch von beeindruckend hohem Niveau verfügt.
Ich werde also versuchen, einiges von dem Autor, den ich vielleicht am höchsten schätze, ins Neunorwegische zu übersetzen, in meine Sprache, in der es bislang keinerlei Kafka-Übersetzungen gibt, da bei uns fast alle literarischen Übersetzungen die dominierende Sprachform verwenden, das Bokmål, in Kafkas Fall dessen konservativste Variante, das Riksmål mit seinem Ruch der traditionell einsprachigen norwegischen Oberklasse (der König spricht Riksmål, um es mal so zu sagen).
Ich habe nie ganz begriffen, warum dem Neunorwegischen so ausgewichen wird, aber mittlerweile ist mir klar, wenn sich das ändern soll, dann müssen die Neunorwegisch-Leute selbst für solche Übersetzungen sorgen und sie dann möglicherweise in einem von den Nynorsk-Verlagen veröffentlichen; der kleine Skald-Verlag ist tatsächlich der zweitgrößte, während der Verlag, der meine Bücher herausbringt, Det Norske Samlaget, der größte ist; dennoch hat man bei Samlaget seltsam wenig Interesse an den Tag gelegt, als ich vorschlug, dass das Haus mit seiner Vergangenheit als Verlag der größten Klassiker wie Homer, der griechischen Tragödienautoren oder Shakespeares sich jetzt allmählich mal modernen Klassikern zuwenden könnte.
Seit ich zum ersten Mal etwas von Kafka gelesen habe, als Teenager muss das gewesen sein, stehen seine Stimme und das Universum seiner Dichtung für mich ganz einzigartig da, seine Prosa ist keine Prosa neben anderer Belletristik, ja, obgleich es Kurzprosa und Romane sind, fühlt es sich doch so an, als hätte er sich sein eigenes Genre erschrieben, oder seine eigenen Genres, es ist geradezu, als hätte durch seine Dichtung ein Paradigmenwechsel in der Belletristik stattgefunden, so dass nach Kafka und vor ihm zu lesen oder zu schreiben zwei ganz und gar verschiedene Dinge sind, als hätten sich durch ihn die Prämissen dafür verändert, was Literatur ist. Und darum wäre es auch falsch zu sagen, ich sei von Kafka beeinflusst, denn seine Dichtung ist, so fühlt es sich für mich an, schlicht und einfach eine Voraussetzung für meine eigene.
Ich habe ganz gut Deutsch zu lesen gelernt, und um dem sozusagen wirklichen Kafka näherzukommen, habe ich ihn auch auf Deutsch gelesen, oder es versucht, dennoch kann ich zu schlecht Deutsch, als dass ich dafür qualifiziert wäre, aus dieser Sprache zu übersetzen, und daher habe ich mich also mit Übersetzungen in Sprachen versorgt, die ich gut verstehe, ins norwegische Riksmål, ins Dänische und Schwedische, ich besitze mehrere Übersetzungen in jede dieser Sprachen, und ich denke, am Ende kommt auch noch Simone und wird mit ihrer ganzen Gründlichkeit auf jeden Satz und jedes Wort schauen, so gesehen dürfte es vertretbar sein, dass ich mir diese Übersetzungen vorgenommen habe.
Und doch. Nach dem, was ich gelesen habe, ist Kafkas »Prager Deutsch« sowohl vom Jiddischen als auch vom Tschechischen beeinflusst, seine Sprache weise Spuren von Dialekt auf und Anachronismen, eine Sprache, die von Max Brod wohl »normalisiert« wurde – und ich habe mich in meiner Lektüre für die Erstausgaben entschieden, nicht für die »wissenschaftlichen«, schließlich hat Kafka mit diesen Büchern seinen Platz in der Weltliteratur erobert. Ich habe mir deutsche Hörbücher besorgt, ich fahre mit dem Wagen herum und versuche, nicht in die Bedeutung, sondern in die Musik, die Musikalität von Kafkas Sprache hineinzulauschen, an den Stellen, wo sie – bei aller momentanen bürokratischen Starre – fließt, so schön dahinfließt.
Ich fange an. Ich vergleiche den ersten Satz in verschiedenen Übersetzungen, die Bedeutung ist recht klar, in ihr stimmen alle überein, doch die Wortfolge unterscheidet sich von Übersetzer zu Übersetzer auffallend, in einer Weise, die nicht mit den Unterschieden zwischen den Sprachen zu tun hat (ich kann in Nynorsk übersetzen, und die Unterschiede in der Wortfolge bleiben ebenso groß, es gibt eine gewisse Anzahl von Redeweisen, die alle dasselbe bedeuten, gleiche Denotation, relativ ungleiche Konnotation, kann man vielleicht sagen).
Und da habe ich keine andere Wahl, als mich mit meinen eigenen Ohren zu dem Ort hindurchzuhören, an dem die sprachliche Musikalität, über die ich vielleicht verfüge, sich mit Kafkas eigener trifft und sich damit trifft, wie es mir möglich ist, auf Nynorsk zu schreiben. Und so geht es dann. Satz für Satz, Seite für Seite, Stunde um Stunde, Tag um Tag.
Aber Kafka bleibt Kafka, in meiner Übersetzung und in all den anderen, und ich denke, das sagt einiges darüber aus, was für ein starker Autor Kafka ist (um Harold Blooms Begriff zu verwenden): Unabhängig von der Beschaffenheit der einzelnen Übersetzungen lässt sich, solange die Bedeutung bewahrt bleibt (und das ist ja fast immer der Fall), Kafkas Autorenstimme (ein besonders ungenauer Begriff, aber mir will kein besserer einfallen – Schriftstimme, vielleicht, falls ich es wage, einen neuen Begriff zu prägen) deutlich vernehmen, und ich denke, dass Autoren, die wirklich etwas Eigenes haben, die wirklich stark, »originell« sind, souverän durch jedwede Übersetzung hindurch hörbar bleiben. Das Kafka-Typische setzt sich durch.
Ich übersetze eine Auswahl von Kafkas Erzählungen, und obgleich ich seine Autorenstimme zuvor schon gut kannte, steigt meine Hochachtung für sie immer noch, je näher ich den kleinen Regungen in seiner Dichtung komme, nicht zuletzt begeistert es mich, wie plastisch alle Szenen geschrieben sind. Ich weiß, dass Kafka sich für das Theater begeisterte, und wahrscheinlich ist der Welt ein großer Dramatiker entgangen, da er nicht auch Stücke geschrieben hat.
Und je mehr ich mich an die »Details« heranschreibe, oder an das Konkrete, wird mir auch immer klarer, wie dasjenige, was man als das Tragische bei Kafka bezeichnen kann (also nicht das »Ernste« oder Ähnliches), sehr, sehr nah beim Komischen liegt (was für das Tragische wohl immer gilt – ich weiß nicht, soll ich lesen oder weinen, oder wie geht die Redewendung), und mir wird so allmählich klar, warum es heißt, Kafkas Freunde und auch er selbst hätten lauthals gelacht, wenn er ihnen vorlas.
Hier und da lese ich auch etwas, das über Kafkas Dichtung geschrieben wurde, zum Beispiel Deleuzes und Guattaris Kafka. Für eine kleine Literatur, aus dem ich den Gedanken mitgenommen habe, dass die stärkste Dichtung nicht in einer großen und mächtigen und sich selbst behauptenden Sprache geschrieben wird, sondern sie entsteht zumindest außerhalb des Hauptgebietes einer solchen Sprache, zumal in »einer kleineren Sprache«, geschrieben von Schriftstellern, deren Sprache unter dem Druck einer größeren und mächtigeren Sprache steht, wie es für Kafka mit seinem »Prager Deutsch« der Fall war. Dieser Gedanke kann – vielleicht ein klein wenig anders gelesen – auch dazu beitragen, die Stellung der in der Minderheitensprache Neunorwegisch in Norwegen geschriebenen Literatur zu begreifen, die immer eng vom dominierenden Bokmål umschlossen ist. Vielleicht sind Deleuze und Guattari da etwas auf der Spur, das zum Verständnis der vergleichbar starken Position der neunorwegischen Literatur in Norwegen beitragen könnte, weil sie nämlich eine kleinere Literatur ist, selbstverständlich weder eine bessere noch eine schlechtere. Wieder einmal ist meine, unsere Schwäche unsere Stärke.
Meine Übersetzung von Kafkas Erzählungen wird in Norwegen so gut aufgenommen, dass ich mich sogar an die Übersetzung von Der Proceß wage, und auch diese Übersetzung wird gut aufgenommen. Und ich denke, dass Kafka in meinen Übersetzungen offenbar recht gut zu Wort kommt, ist der Minderheitensprache Neunorwegisch zu verdanken mit ihren sowohl dialektalen als auch anachronistischen Anteilen, mit ihrer steifen, konstruierten Bürokratenseite. Mag sein, dass Kafkas »kleine Literatur« auf Neunorwegisch mehr als in der Mehrheitssprache Bokmål zu ihrem Recht kommt, zumal in deren elitärer Form Riksmål?
Was aber wiederum, der Wahrheit die Ehre, gar nicht so wichtig ist, denn Kafka ist ein so starker Schriftsteller, dass er Kafka bleibt, egal in welcher Sprache, ob er jetzt in der Mehrheitssprache Bokmål nach Norwegen kommt, in deren feierlichsten Form Riksmål oder eher auf Neunorwegisch, mit all dem sprachlichen Reichtum dieses Autors. Kafka ist Kafka.
Aus dem Norwegischen (Nynorsk) von Hinrich Schmidt-Henkel
Patricia Görg
»Aller Nebel war schon verschwunden, in der Ferne erglänzte ein hohes Gebirge, das mit welligem Kamm in noch ferneren Sonnendunst führte.«
(Der Verschollene)
Auf dem Fußboden einer fast unmöblierten Hamburger Wohnung sitzt 1983 Danièle Huillet, neben ihr auf einem Stuhl ihr Partner Jean-Marie Straub. Die beiden Filmemacher proben »trocken«, mit wenigen, nur näherungsweisen Requisiten, zwei Szenen aus Kafkas Romanfragment Der Verschollene. In der anderen Ecke des Zimmers hockt Harun Farocki mit einer Bierflasche in der Hand als Gauner Delamarche auf dem Boden – und lässt, selbst Filmemacher, nebenbei eine laufende Kamera jene Probenarbeiten dokumentieren.
Straub und Huillet fordern ihren Darstellern sehr viele Wiederholungen ab, bis sie einigermaßen einverstanden sind mit dem entstehenden Sprachkörper. Denn das ist ihr Markenzeichen: Literatur absolut ernst zu nehmen, indem sie Schau-Spiel und psychologisierendes Fleisch, das sie beglaubigen soll, eliminieren oder aufs Zeichenhafte reduzieren, während Sprache ihren starken physischen Auftritt hat. Sowohl mit Profis als auch mit Laien erarbeiten sie einen je eigenen Sprechrhythmus, oftmals aus dem Atemrhythmus der jeweiligen Person – was zu ungewohnten, nicht nach gängigen Erwartungen betonten Sequenzen und ebenso irritierenden Zäsuren im Text führt. Eine Art Sprechoper scheint den Stoff zu überformen. Wie findet man sich da zurecht? »Statuarik!«, »Künstlichkeit!« lauten die Formeln der Ablehnung. Statt des üblichen Erzählkinos, programmiert wie ein Massagesessel für Emotionen, erlebt man bei Straub/Huillet ausgenüchterte, verdichtete Szenen, lange Einstellungen und eine Deklamation, die befremdet, weil sie die Verhältnisse selbst zum Sprechen bringen soll.
Ihr Schwarzweißfilm, der – zum Glück! – gar keine Verfilmung sein will, heißt Klassenverhältnisse.
Zwischen 1912 und 1914, mit längeren Pausen, einmal ganz von vorne ansetzend, schreibt Kafka an seinem Amerika-Roman. Schließlich bricht er ab.
Sein Protagonist Karl Roßmann ist bis dahin im Land der begrenzten Möglichkeiten einem Schicksals-Mahlstrom erlegen, der ihn Umdrehung für Umdrehung in ähnliche Situationen bringt, dabei aber immer weiter nach unten zieht. Obwohl ihm der vorgeblich wohlmeinende Onkel schon am Anfang einbläut, er solle »lernen, seine Stellung zu begreifen«, erweist sich diese als äußerst fragil. Im Laufe der Handlung verliert er das einzige Foto seiner fernen Eltern, den Militärkoffer des Vaters mitsamt den wenigen Habseligkeiten und sogar seine Restfreiheit, denn er gerät in quälende Gefangenschaft. Was ihm bleibt, ist Kafkas schlackenlose, einzigartige Sprache, von einem Verhängnis ins nächste führend, ein angelesenes Amerika ausmalend, in dem der Mensch ins System eingepasst ist wie das Rädchen einer Maschine – natürlich stets ersetzbar durch Bauteile gleicher Machart.
Karl kommt nirgendwo zur Ruhe, auch nicht nachts: »Er wählte also eine beliebige Richtung und machte sich auf den Weg.«
In den Harburger Bergen, auf langmähnigem Gras, drehen Straub/Huillet eine Episode, die sie ausgiebig im Zimmer geprobt haben. Sie spielt während der Nacht. Der Darsteller des Karl Roßmann kniet vor seinem aufgebrochenen Koffer, sagt: »Ich kann die Photographie nicht finden.« Zwei Repliken weiter beteuern die Gauner Delamarche und Robinson: »Jeder Irrtum ist ausgeschlossen, in dem Koffer war keine Photographie.« Pechschwarzer Wald, aus dem die Stämme alter Bäume schimmern, liegt rings um das Geschehen. Durchs Scheinwerferlicht torkeln immer wieder Falter, werden aus dem Bild gewedelt. Obwohl es sich um Außenaufnahmen handelt, obwohl Jean-Marie Straub die Crew anweist, mit dem nächsten Take zu warten, bis das Geräusch einer entfernten Eisenbahn verklungen ist, wirkt die Szenerie wie im Studio nachgebaut. Sie ist dermaßen aufs Elementare rückgeführt, dass die darin auftretenden Personen sofort zu Figuren werden: Die beiden lagernden Gauner erscheinen als das lungernde, lauernde Böse, ein Kellner als helfende Hand, Karl vor dem geöffneten Koffer als Parzival seines Geschicks.
Straub/Huillet sparen nicht an Filmmaterial. Sie investieren um die 13 Takes pro Szene, weil sie wissen, dass sich ihr Kern, eine lakonische, stahlharte Wahrheit, erst nach so vielen Versuchen herauszuschälen beginnt, man sie erst dann sehen und hören kann.
Karl, einmal mehr damit beschäftigt, seine Haut zu retten, wandert in die nächste Falle.
Kafkas Schreiben, von scheinbar einfacher Klarheit, ist atemberaubend enigmatisch. Noch jeder verirrt sich in seinem Labyrinth aus unaufgelöster Schuld, in der Untergründigkeit dessen, was selbst nach mehrmaligem Lesen nicht deutlicher, sondern nur immer bodenloser wird.
Der Verschollene macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Im düsteren Dreigestirn der unvollendeten Romane ist er jedoch derjenige, dessen darin herrschendes »Gesetz«, normalerweise stets das Gesetz des eigenen Untergangs, nicht an halb mythische Instanzen wie das Gericht oder einen Schlossherrn gekoppelt ist. Auch wenn Karl Roßmann von Anfang an als Verstoßener eingeführt wird, wirkt an ihm, durchaus greifbar, die Verwertungslogik des Kapitalismus. Es ist beileibe kein Lapsus, wenn Kafka in der Eingangsszene, in der das Schiff des Fortgeschickten in den New Yorker Hafen einfährt, die Freiheitsstatue mit einem Schwert statt einer Fackel schildert.
Abgesehen vom fast grotesk märchenhaft aufgestiegenen Onkel und seinem Umfeld bevölkern abgearbeitete, einsame Menschen, Überflüssige und Ausgesetzte den Roman. Sie werden eingepasst in die Abläufe oder ausgeschieden, und getreu der amerikanischen Devise, den individuellen Traum niemals aufzugeben, bemüht sich auch Karl, wieder auf die Füße zu kommen, solange die Verhältnisse ihn nicht gänzlich bezwungen haben. Sie spielen allerdings mit ihm, wie die Katze mit der gefangenen Maus spielt, gaukeln ihm vor, es gäbe noch ein Entrinnen.
Kafka wäre nicht Kafka, würde sich das Herauslesbare darin erschöpfen. Er schafft zusätzlich einen ungreifbaren, magischen Mehrwert: die allgegenwärtige Fremdheit, einen Schwindel der Existenz, in dessen Strudel wir mitgerissen werden, ohne zu wissen, wohin.
Vielleicht das Schönste an Straub/Huillets Film sind seine leeren Räume. Wenn Karl in einer Schiffskajüte auf den Heizer und seine Klagen trifft, ihn zum Aufstand bewegt und sie zusammen die winzige Kammer verlassen, bleibt die Kamera einfach da, fasst ruhig, mit unverwandtem Blick, jene nur von Relikten des Menschen bevölkerte Szene ins Auge, die sich nicht empört.
Aufgerichtete Wände bleiben. Eine karierte Tischdecke bleibt, eine erkaltete Pfeife, ein Seesack. Ein Ventilator an der Wand, falls es zu heiß hergeht. Die geöffnete Tür und zwei Lichtschalter. Man hört, wie Karl und der Heizer eine Treppe hochsteigen, sich entfernen.
Manchmal pausiert die Kamera auch bei Nebenfiguren, während die Hauptfiguren sich weiter durchs Labyrinth des Lebens winden: Das Küchenmädchen Line sinnt ihnen rauchend nach.
Später ist eine verwaiste Kaimauer im Bild, mit einer tapferen Pflanze an ihrem Rand. Zuvor schritten der Onkel und Karl dort entlang, der Onkel seine Mär vom Aufstieg aus dem Nichts vortragend.
Ebenso ragt der Park des Bankiers Pollunder als Überhang in den Film, sich selbst überlassen, nachdem Pollunder und Karl in ihm angekommen und ins Haus gegangen sind. Wind streichelt Bäume. Sie wollen nichts von Dramen wissen. Eine ungewöhnliche Einstellung.
Sie zeigt: Die Verhältnisse bleiben bestehen, während die Figuren sich zwischen ihnen bewegen.
Kafka, so gut wie nie zufrieden mit seinem Schreiben, empfand auch den Verschollenen als Unglücksprojekt. Zwar breitet er die ganze Pracht des Versagens in einem fiktiven Amerika aus, aber etwas in ihm weiß wohl, dass die Gelegenheiten seines Protagonisten, zu scheitern, so unbegrenzt und riesig sind wie das echte Land Amerika.
Zur Erklärung, warum er an diesem Roman nicht mehr weiterarbeite, dient die Aussage, er führe »ins Endlose«.
Die Spekulationen über den geplanten Schluss des Verschollenen, befeuert von Max Brods Erlösungshoffnungen, haben lange das scheinbar paradiesische Kapitel des »Großen Theaters von Oklahama« als positive Utopie und letztliche Rettung des Karl Roßmann sehen wollen. Dies ist jedoch durchaus nicht sicher. Weder weiß man, an welcher Stelle das Phantombild eines Unternehmens, das angeblich »jeden brauchen kann«, eingefügt worden wäre, noch sind die zynischen Untertöne zu überhören, die mit schräg Trompete blasenden, varietéhaften Werbeengeln anheben und während einer Musterung der spärlichen Interessenten, ausgerechnet auf einer Rennbahn, nicht enden. Dass die Angeworbenen dann mitten im Willkommensessen aufgescheucht und verladen werden, um Gott weiß wohin gebracht zu werden, vervollkommnet die Zweifel.
Wie kann man die offene Struktur der vorhandenen letzten, fragmentarischen Passagen darstellen?, müssen sich Jean-Marie Straub und Danièle Huillet gefragt haben.
Ihr Film ist eine Parallele zum Roman, und da Parallelen sich im Unendlichen schneiden, gelingt ihnen genau dort, in jenem Fluchtpunkt Kafkas, seine verblüffend großartige Widerspiegelung:
Karl, unerklärlich wie durch ein Wurmloch seinem Gefängnis entkommen, liest an einer Hauswand das Werbeplakat derer, die jeden willkommen heißen, untermalt von Johann Sebastian Bach, der einzigen externen Musik des ganzen Films, zugleich als Ausdruck und Entlarvung sämtlicher überirdischer Versprechen fungierend.
Schnitt: Schon wird er gemustert.
Schnitt: Schon fährt er mit der Eisenbahn an einem großen Fluss entlang, durch eine menschenleere, buschbestandene Landschaft, die in Schwarzweiß für sich existiert, aufgenommen vom beharrlichen Kamerablick, vorbeistreifend am Gleichbleibenden, schauend, wie es im Wechsel gleich bleibt, immer weiter, immer weiter, immer weiter – ins Endlose.
Thomas Stangl
Der sterbende Kafka macht einen Witz; oder eher: Er träumt im Morphiumrausch einen Witz. Aus seinem Traum und Rausch herausgekommen, schreibt der Sterbende, Stummgewordene auf eines der Gesprächsblätter, die ihn noch in der Welt der Sprache und unter seinen Freunden halten, den Satz: »Unendlich viel Auswurf, leicht und am Morgen doch Schmerzen, im Rausch ging mir durch den Kopf, daß für diese Mengen und die Leichtigkeit irgendwie der Nobelpreis«
Dieser Satz (hinter dem kein Punkt steht), ein Satz am Rand seines literarischen Schreibens, hat etwas von einer Selbstkarikatur (bekanntlich verstand es Kafka virtuos, sich selbst nicht ernst zu nehmen), zugleich – noch eigentlicher, wie Kafka gerne sagte – zeichnet er eine Verbindungslinie zwischen Körper, Sprache und Außenwelt; das Zeichen der Krankheit, die Ausscheidung gleicht der Schrift; durch sie – etwas an sich Ekelhaftes – verdient der Autor seinen Ruhm.
Ich bin ein ungeheures Ungeziefer.
In Kafkas Satz zeigt sich das Staunen vor der Krankheit. Das Ekelhafte ist schön. Es verwandelt sich und damit die Krankheit in etwas anderes, nicht einfach in Wörter und Sprache, sondern in etwas wiederum Körperliches. Etwas verspielt Körperliches; ist das Staunen produktiv und verwandlungsmächtig, oder ist es bereits die Krankheit? Die im Übrigen trotz aller Verwandlungen tödlich bleibt, der Schmerz verschwindet nicht, und das Ekelhafte bleibt ekelhaft, solange man es unvermittelt, unverdoppelt erfährt.
Wahrheit entsteht aus Paradoxien. Noch eigentlicher. Leicht und doch Schmerzen. Sie ist körperlich: von einem Ende des Raums in den anderen geworfen werden. Ich begreife nicht den Sinn, ich begreife die Bewegung und durch sie den Raum. Auch eine Person ist aus Widersprüchen zusammengesetzt, entsteht durch ein Hin-und-her-Geworfenwerden: Lässt man die eigene Unschuld lang genug durch die Sprach- und Reflexionsmaschine hindurchgehen, zeigt man sich als teuflischer Mensch; gerade diese Selbsterkenntnis wiederum ist Nachweis der eigenen Ehrlichkeit; auf ihr aber zu bestehen, führt auf eine neue Stufe teuflischer Verworfenheit usw. Es ist nie nur der eigene Blick, der in dieser Sprache erscheint, die Blicke der anderen werden immerzu vorweggenommen, reflektiert, umgewendet, entkräftigt, bestätigt. In dieser Dynamik verwickeln sich Kafkas Briefe und manche seiner Texte; in ihr verwickelt er seine Leserinnen-Geliebten. Man kann es als Qual ansehen, noch eigentlicher aber ist es ein lustvoller Prozess, voller Witz und Schönheit. Zumindest in der Verschiebung aus dem Persönlichen heraus, in den Raum des Literarischen, dieses Gefängnis und Paradies.
Meine Ohrmuschel fühlte sich frisch, rauh, saftig an, wie ein Blatt. Die Berührung des eigenen Ohrs, durch Kafkas Sprache hindurchgegangen, ist zu einem fast erotischen Akt geworden, in dem ich, ein Lebendiges, und das lebendige andere, das Blatt und das Bild eines Blattes, rau und saftig, ein Spannungsfeld formen, ständig ineinander übergehen. Das Blatt, das Wort Blatt berührt meine Finger, meine Zunge. Jenseits der Schande bin ich nur noch Körper.
Ich bin ein ungeheures Ungeziefer, in einer Nacht verwandelt, die jenen Nächten im November 1912 gleicht, in dem ich Ungeziefer mich glücklich in Sprache verwandelt habe, rau, saftig, ekelhaft.
Es wäre wenig wert, würde das Lesen von Kafkas Texten nicht seinem Schreiben verwandt sein, dem »natürlichen Zug und Sturm« der Texte folgen, das »Feuer zusammengehöriger Stunden« verlangen. Kürzlich hörte ich von einem sechzehnjährigen Wenigleser, dem Die Verwandlung in die Hände fiel und der nicht mehr mit dem Lesen aufhören konnte. Ich erinnerte mich an mein erstes Lesen der Erzählung, noch etwas jünger als sechzehn, im gleichen Rausch, in einer Art von begeisterter Beklemmung. Dieses Lesen ist kein Lesen, ab jetzt ist alles anders, ich werde vom ersten bis zum letzten Satz fortgezogen, und das Bild meines Daliegens auf dem Rücken, mit zappelnden dünnen Beinchen, schiebt sich über die brüchige Sicherheit, mit der ich bisher in meinem halb kindlichen, halb erwachsenen Körper daheim war. Ich finde mich in diesem Käfer wieder, eine Identifikation, die keinerlei Umfeld braucht, ich bin allein in diesem Text, der von mir spricht, habe jede Verbindung zu meinem eigenen Leben, dem Leben wie ein Mensch unter Menschen verloren. Ich wusste nichts von Kafka, nichts von seiner Familie, nichts vom historischen Kontext, und dieses Wissen fehlte mir nicht. Man merkt (auch wenn man nichts versteht und gerade wenn man sich nicht zwanghaft um Interpretationen bemüht), dass das etwas anderes ist.
Dieses Lesen war eine Erfahrung, die mich selbst verwandelte, von da an musste ich ein Schriftsteller sein, es gab keine andere Möglichkeit mehr für mich kleines Ungeziefer, auch wenn ich weder gut schreiben konnte, noch irgendetwas zu sagen wusste. Auch noch die bösesten Blicke (anderer) auf mich selbst ließen sich verwandeln.
Als ich beim Wiederlesen der Verwandlung Jahre danach mehr über Kafka, seine Familie, den historischen Kontext wusste, fast mehr als über mich selbst, meine Familie und Gegenwart (so schien mir), änderte das übrigens gar nichts an meinem Lesen, dem Rausch, der eigenen Verwandlung, dem Bewusstsein jener Präsenz über jede Bedeutung hinaus.
Man kann sich tatsächlich mit jedem Satz in ein Tier verwandeln, wird von den Menschen nicht mehr verstanden, zieht sich in den Bau der Sprache zurück, vielleicht scheint ein Glanz dieser Sprache hinüber in die Welt der Menschen, vielleicht ist auch nur ein Mäusepiepsen zu hören, das niemand als Gesang erkennen wird.
Kafka ist (über alle Nobelpreisberühmtheit hinaus) berühmt geworden, weil seine Literatur dieser oder jener Erfahrung des zwanzigsten Jahrhunderts zu entsprechen schien; so vielfältig interpretierbar war. Aber gerade weil diese Interpretationen alle falsch (oder zumindest unzureichend) sind, ist er der wesentliche Autor der Gegenwart (jeder Gegenwart) geblieben: Jedes seiner vielen Fragmente und jeder seiner wenigen abgeschlossenen Texte weist auf eine Region, wo die Sprache und das eigene Lebendigsein als Körper im Raum, in der Zeit zusammenstoßen und zusammengehören. Traum und Vernunft sind nicht zu trennen; das Selbst und das fremde Material, das man andauernd verarbeitet, mit jedem Atemzug, jedem Schluck Wasser, jedem Satz, den man hört oder liest, versteht und annimmt oder missversteht, ablehnt, vergisst. Schreiben ist wie Atmen, Trinken, Erbrechen.
Auf meiner ersten kleinen Pragreise, 1986 oder 1987, suche ich diese Körperlichkeit in den Häusern und Straßen. Einen Bildband von Klaus Wagenbach im Gepäck, finde ich – vom Haus-an-der-Stelle-des-Geburtshauses am Altstädter Ring über das Palais Kinsky, in dem der Galanteriewarenladen Hermann Kafkas lag, das noch graue kleine Häuschen im noch nicht von Touristen verstopften, noch nicht bunten Alchemistengässchen und so weiter, bis hin zum Grab am Neuen Jüdischen Friedhof mit der Tafel, die an die drei Schwestern erinnert – Ort für Ort. »Kafka« ist noch nicht da als touristischer Ortspatron, in der mit der Niederschlagung des Prager Frühlings gewaltsam aus der Gegenwart herausgeschnittenen und in eine Zwischenzeit versetzten Stadt, die für Fremde faszinierend, für Bewohner grau und erstickend ist.