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"Wir waren zu mächtig, um Feinde zu sein. Wir waren dafür gemacht,
Seite an Seite die Welt aus ihren Angeln zu reißen."
Wenn die 17-jährige Emilia eines liebt, dann sind es Rätsel. Als sie bei einem Museumsbesuch das sagenumwobene Voynich-Manuskript lesen kann, spürt sie, dass sie einem unglaublichen Mysterium auf der Spur ist - denn das Dokument gilt als eines der größten, nie entschlüsselten Geheimnisse der Menschheit. Dann trifft sie auf den attraktiven, aber sehr verschlossenen Goldalchemisten Ben, und die Ereignisse überschlagen sich: Emilia ist eine Nachfahrin des uralten Silberordens! Schnell gerät sie ins Kreuzfeuer rivalisierender Geheimlogen, und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt ...
Der grandiose Auftakt einer neuen mitreißenden Urban-Fantasy-Trilogie in der ewigen Stadt Rom
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Seitenzahl: 639
Cover
Über die Autorin
Titel
Impressum
Widmung
Motto
Playlist
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 35
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Dankeschön
Glossar
Gold & Schatten – Das erste Buch der Götter
Staub & Flammen – Das zweite Buch der Götter
Kira Licht ist in Japan und Deutschland aufgewachsen. In Japan besuchte sie eine internationale Schule, überlebte ein Erdbeben und machte ein deutsches Abitur. Danach studierte sie Biologie und Humanmedizin. Sie lebt, liebt und schreibt in Bochum, reist aber gerne um die Welt und besucht Freunde. Für News zu Büchern, Gewinnspielen und Leserunden folgen Sie der Autorin auf Instagram (@kiralicht) und Facebook.
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Für die Originalausgabe Copyright © 2020 by Kira Licht
Copyright deutsche Originalausgabe © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München
Textredaktion: Annika Grave
Cover: Sandra Taufer, München unter Verwendung von Motiven von © IChaikova / shutterstock; IChaikova / shutterstock; run4it / shutterstock; Bokeh Blur Background / shutterstock; Phatthanit / shutterstock; elyomys / shutterstock
eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)
ISBN 978-3-7325-9475-7
www.bastei-entertainment.de
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Für Lena.
Im nächsten Leben finde ich dich früher.
»In meine Hand nahm ich das Schwert, das mir gegeben,
und ich lernte, es zu benutzen.«
– Ägyptisches Totenbuch
Die Zeit hatte keine Bedeutung in dieser Einöde. Hier gab es keinen Tag, keine Nacht, keine Jahreszeiten. Licht und Dunkelheit schienen gleichberechtigt, und das Leben besaß keinen Rhythmus.
Doch sie hatte ihren eigenen Takt gefunden und der Monotonie den Schrecken genommen. Sie lauschte dem Wispern der Elemente in der Luft, spazierte zwischen Seen aus Quecksilber und brutal zerklüfteten Landschaften aus Blei und Gold. Sie badete in heißen Quellen aus Brom, die Luft geschwängert von Neon und Rhodium, und das tobende Firmament schien einen Moment lang atemlos innezuhalten, wenn sie sich einer Königin gleich aus den Wellen erhob. Blitzende Späne aus Lithium schmückten ihr langes schwarzes Haar. Das hier war ihr Zuhause geworden. Wunderschön, einsam, tödlich.
Ein regenbogenbunter Schimmer jagte über ihr Gesicht, wenn sie ihr Spiegelbild in einem Splitter aus Bismut betrachtete. Sie hatte sich nicht verändert. Ihre Haut war makellos, ihr Körper jugendlich und straff, ihre Haltung aufrecht und ungebrochen. Es waren ihre Augen, die sie verrieten. Zu viel war passiert. Zu viel war verloren.
Sie hatte getobt, getrauert, gehofft. Vergeblich. Ihr Hass saß tief, so tief, dass sogar die Zeit machtlos dagegen schien. Sie würde nicht vergessen.
Also zehrte sie von den Erinnerungen und spann ihre Geschichte weiter, füllte die Zukunft, die sie nie gehabt hatte, mit Bildern und Leben. Sie mochte die Königin dieser Einöde sein, doch die Macht der Fantasie war der heimliche Herrscher.
Also stellte sie sich vor, wie es sein würde, wieder zu sprechen, zu atmen, zu leben. Sie träumte davon zu entkommen, und wenn sie sich ausmalte, wie allumfassend sie sich rächen würde, dann schlich sich ein fast vergessenes Lächeln auf ihre Züge. Früher sagte man: Irgendwann ist auch ein Traum zu lange her.
Doch sie träumte noch immer.
Rom, Museo Nazionale Romano
»… und dann meinte mein Paparino: Ich kann meiner kleinen Principessa doch nichts abschlagen. Also sind wir zu Tiffany gefahren, und er hat mir den Ring gekauft. Ist er nicht süß?«
Mariagrazia Visconti hielt mir einen Klunker vor die Nase, der aussah, als sei eine Edelsteinmine auf ihrem Zeigefinger explodiert. Saphire, Rubine, Smaragde, Peridots und Turmaline, mit scheinbar letzter Kraft gebändigt von einer breiten Schiene aus Roségold.
Ich, die immer noch überlegte, wer jetzt »süß« war – der Ring oder ihr Vater – nickte nur vage. Die grünen Smaragde gefielen mir, aber der Rest ließ mich eher schaudern. Ich konnte mich nur wenig für Schmuck begeistern, und noch weniger mochte ich Gold. Ich war unbewusst sogar ein Stück zurückgewichen, als sie mir den Ring so nah vor das Gesicht gehalten hatte. Aber vermutlich hatte ich mich einfach nur erschrocken. Trotzdem. Meine Wahl war und würde immer auf Silberschmuck fallen. Ich mochte sein kühles, fast geheimnisvolles Schimmern. Die zurückgenommene Eleganz, die – ganz anders als Gold – niemals Hallo, bin ich nicht toll? zu rufen schien.
»Das ist eine limited Edition.«
»Hübsch.« Ich war eine grottenschlechte Lügnerin.
Gemurmel wurde lauter, als sich eine Gruppe Mitschüler an uns vorbeischob. Die meisten wirkten gelangweilt, genervt oder beides. Kein Wunder. Das Wetter war herrlich, all unsere Abschlussklausuren waren geschrieben und benotet und das hier nur noch ein Alibi-Beaufsichtigungsprogramm, das sich die Schuldirektion ausgedacht hatte.
»Er heißt ›Endless Summer‹«, fügte Mariagrazia noch hinzu, als würde mich das endlich zu Begeisterungsstürmen bewegen.
Ich betrachtete den Ring erneut. Bist du sicher, dass er nicht »Schlechtes Gewissen« heißt? Das war der einzig adäquate Titel, der mir für diesen gemmologischen Overkill einfiel.
»Oh Mann, dein Vater kommt nicht zu unserer Abschlussfeier?« Meine beste Freundin Laetitia »Tizi« Farnese hatte sich zwischen uns gedrängt und je einen Arm um uns gelegt. »Das tut mir aber leid, Marigra.«
Touché. Mariagrazia schnappte nach Luft. Sie löste sich aus der unfreiwilligen Umarmung und funkelte uns böse an. »Wer hat euch das erzählt? Und nenn mich nicht so.«
»Niemand, Marigra.« Tizi zuckte mit der linken Schulter und betonte den ungeliebten Spitznamen. »Aber die roten Flecken, die da gerade auf deinen Wangen glühen, sprechen eine deutliche Sprache.«
Beide Familien, die Viscontis und die Farneses, waren wohlhabend. Doch im Gegensatz zu Tizi, deren Sandalen genauso wie meine von einem günstigen Marktstand stammten, gab Mariagrazia mit allem an, das man mit Geld kaufen konnte. Ich hatte genug Zeit gehabt, mich an ihr großspuriges Gehabe zu gewöhnen. Tizi war immer noch allergisch dagegen. Jetzt deutete sie mit dem Kopf auf Mariagrazias Taille.
»Das sieht übrigens ziemlich ungesund aus.«
»Das ist vintage Gucci.«
Ich betrachtete ihr Outfit nun genauer. Mariagrazia trug eine weiße Highwaist Jeans, die knapp unter ihrem Busen endete. Um ihre ohnehin schon superschlanke Mitte hatte sie einen breiten Gürtel geschnallt, der vermuten ließ, dass Mariagrazia Kiemen besaß, durch die sie atmete. Denn ihr Lungenvolumen hatte sie dank des Korsettersatzes von »vintage Gucci« so ziemlich halbiert.
»Ihr könnt mich mal.« Mariagrazia ließ uns stehen und schloss eilig zu dem Schülergrüppchen auf, das sich inzwischen versammelt hatte.
Tizi legte den Kopf schief und sah ihr hinterher. »Die hat sich in den Osterferien doch das untere Rippenpaar entfernen lassen. Los, lass uns wetten.«
Ich stöhnte. »Erstens: Du bist ein böser Mensch. Zweitens: Sorry, aber ich bin erst mal bedient.«
Tizi drehte sich zu mir, grinste und griff dann nach meinem linken Handgelenk. »Aber sie steht dir doch ganz ausgezeichnet.«
»Ja, total super.« Ich entzog ihr meine Hand wieder. »Erinnere mich daran, nie wieder mit dir zu wetten.« Ich würde in zwei Monaten meinen achtzehnten Geburtstag feiern und bis dahin eine Kinderuhr tragen dürfen, die sich aus einem Armband mit Tigermuster und einem Gehäuse mit Katzenohren zusammensetzte. Ohren! Und sie standen spitz von dem Gehäuse ab und waren absolut nicht zu übersehen. Das freundlich lächelnde Katzengesicht samt Brille auf dem Ziffernblatt war noch das Harmloseste daran.
Tizi sah schon nicht mehr hin. »Und da kommt auch endlich unser Pferdeflüsterer!«
Der dritte im Bunde, unser bester Kumpel Matteo Giordano, erschien. Ein neongrünes Scrunchie, bunt bedruckt mit glitzernden Einhörnern, leuchtete in seinem goldblonden Man Bun.
Die Schultern meiner besten Freundin bebten lautlos.
Matti hob warnend den Zeigefinger. »Kein Wort dazu.« Dann glitt sein Blick zu mir, wohl um den Grad meines Leidens herauszufinden. Ich zog ein gequältes Gesicht. Er nickte wissend.
Tizi hatte nach einem Eiscreme-und-Netflix-Marathon behauptet, ihre fünf Lieblingslippenstifte am Geschmack erkennen zu können. Matti lag am Boden vor Lachen, ich schob es auf ihren Zuckerschock. Natürlich mogelten wir, indem wir ihr meinen Lipbalm unterjubelten. Und natürlich hatte sie es bemerkt und die Zeit unseres Leidens von zwei Wochen auf zwei Monate verlängert. Seit heute war ich also stolze Trägerin einer lächelnden Uhr mit Ohren und Matti Besitzer eines Glitzereinhorn-Scrunchies. Tizi hatte beide Schrecklichkeiten in einem ihrer Lieblings-Asia-Shops erstanden. Für uns beide, die wir, im Gegensatz zu ihr, lieber gedeckte Farben und unauffälligere Looks bevorzugten, eindeutig Höchststrafe. Aber Wettschulden waren nun mal Ehrenschulden.
»Liebste Emilia, lieber Matti, ihr seht beide so niedlich aus!« Tizi hüpfte einmal auf und ab und strahlte. Ich seufzte wieder lautlos, Matti brummte irgendwas Unverständliches. So war das bei uns. Tizi war die kleine Laute, ich die große Ruhige und Matti irgendwas dazwischen.
»Weitergehen, Herrschaften«, erschallte Signore Badescus Stimme hinter uns. »Wir wollen alle nach Hause.« Unser betagter Geschichtslehrer ging an uns vorbei, ohne uns weiter zu beachten.
»Da widerspreche ich nicht«, murmelte Matti, dann stupste er Tizi an, als er loslief. »Hey Zwerg, wie weit bist du mit deinen Bewerbungsunterlagen?«
»Gestern kam der Sprachnachweis von TOEFL. Das heißt, heute Abend kann ich endlich-»
Ich sah meinen beiden Freunden hinterher. Matti, so groß und blond, neben Tizi, klein und dunkelhaarig, und doch wirkten sie beide in ihren Jeans und Shirts so vertraut wie Geschwister. Für einen Moment umfing mich ein Gefühl von Traurigkeit. Unsere Schulzeit war so gut wie vorbei. Danach würden uns unsere Zukunftspläne in alle Winde zerstreuen. Matti würde zu einem Jahr Work & Travel in die USA aufbrechen. Tizi würde Regie an der renommierten »University of the Arts« in London studieren. Uns blieben noch drei Monate. Drei Monate, die sich jetzt, im Gegensatz zu unserer gemeinsamen Kindheit, anfühlten wie ein Wimpernschlag. Tizi fing sofort an zu reden und gestikulierte wild, Matti hörte zu und nickte nur kurz.
Drei Monate. Und was aus mir werden würde, stand noch in den Sternen.
In diesem Moment drehten sie sich zu mir um.
»Komm schon, Schnarchnase«, rief Matti, wofür er rundherum böse Blicke von den anderen Ausstellungsbesuchern erntete. Tizi verbeugte sich gespielt in diverse Richtungen, bis die Leute sich wieder abwandten. Ein Grinsen umspielte meine Lippen, als ich auf sie zuging.
Drei Monate. Wir würden das Beste daraus machen.
*
»Also für heute habe ich genug altes Papier gesehen.« Mattis Unterkiefer knackte, als er ein Gähnen unterdrückte. »Was geht denn heute Abend noch?« Er scrollte mit dem Daumen seinen Instagram-Feed herunter.
Tizi legte gespielt entsetzt eine Hand auf ihr Herz. »Ist das etwa einer der seltenen Abende, an denen du kein Date hast?«
Ich stieg sofort mit ein. »Oder hat man dich abserviert?«
Matti schenkte mir daraufhin nur einen verkniffenen Blick. »Haha.«
»Oh Mann. Sie hat dich tatsächlich abserviert.«
»Hat sie nicht. Sie-«
»So, Herrschaften.« Signore Badescus Stimme war trotz des Flüstertons penetrant wie ein Nebelhorn. »Augen nach vorn und zugehört. Wir kommen jetzt zum letzten Exponat.« Um uns herum stöhnten unsere Mitschüler simultan auf.
»Jaja, schon gut, danach sind Sie entlassen.« Er wedelte mit der Hand, als könne er es gar nicht erwarten, uns wie einen Schwarm lästiger Moskitos aus dem Raum zu verscheuchen.
»Das Voynich-Manuskript trägt den Namen eines seiner letzten Besitzer, Wilfrid Voynich, der von 1865 bis 1930 lebte, es datiert aber vermutlich in die Frührenaissance Norditaliens, also circa um 1500. Es ist das wertvollste Stück dieser Wanderausstellung und wurde von der Universität von Yale zur Verfügung gestellt. Das handschriftlich verfasste Werk ist nicht gebunden, bestand ursprünglich vermutlich aus 116 Seiten, von denen noch 102 erhalten sind – und wir haben hier das Glück, das Manuskript mittels beigefügter Scans komplett vor uns zu haben. Sie sehen hier vorrangig Zeichnungen von Gewächsen, bei denen es sich um Heilkräuter handeln soll, außerdem soll es um Astronomie gehen. Dann sind da noch ein paar Bilder, die als eine Art Anleitung zur Körperpflege interpretiert werden könnten.«
Ich betrachtete die sicher hinter dem Glas verborgenen Papierbogen, die fast den gesamten letzten Teil des Raumes einnahmen. Die jeweiligen Rückseiten waren digital hinzugefügt, sodass man sie betrachten konnte, ohne das sehr brüchig aussehende Material berühren zu müssen.
Die Bilder schienen jeder Realität zu trotzen. Kolorierte Zeichnungen von Heilkräutern, die ich noch nie gesehen hatte, mit überdimensional großen Wurzeln und geradezu kunstvoll verschlungenen Blättern. Schaubilder von Regelkreisläufen, die in ihrer fragmentierten Darstellung fast wie ein Blick durch ein Kaleidoskop wirkten. Frauen, die in Zubern badeten, die nicht geometrisch und kantig, sondern rund und anmutig geformt schienen, sodass sie fast wie Lebewesen aussahen. Eine lebendige Badewanne. Mir lief ein kalter Schauer die Wirbelsäule hinab. Wie gruselig …
Ich überflog eine Seite, die nur aus Text bestand:
Wenn der Drache den Mond verschlingt und der Löwe durch den Wolf gereinigt wird … leuchtet klar wie ein Kristall und ist rund wie eine Himmelskugel … und der Pelikan seine toten Jungen durch sein eigenes Blut wiederbelebt …
»Es gilt bis heute als einer der mysteriösesten Texte überhaupt, denn seine Schrift ist von Wissenschaftlern nicht zu entschlüsseln. Im Mai dieses Jahres behauptete ein Forscher, den Text als ›Protoromanisch‹, also als Vorläufer der romanischen Sprachen identifiziert zu haben, doch das erwies sich als falsch.«
… ist es notwendig, dass das Gefäß von gekrümmter Gestalt ist, damit der Meister das Firmament und die Schädeldecke verwandeln kann und …
Moment.
»Sogar Computer können es nicht dekodieren.«
Was. Zur. Hölle?
… benötigen die sechs Planeten die Berührung von Mond und Sonne. Kein Zweifel. Die Buchstaben waren klar und deutlich, der Stil zwar altmodisch, aber unverkennbar in meiner Muttersprache Italienisch. Ich hob die Hand wie zu einer Wortmeldung, ließ sie dann aber schnell wieder sinken.
Tizi kicherte leise. «Was war das denn für ein Reflex?«
»Äh, …« Ich sah zur Sicherheit nochmal hin. … treibt sie aus dem begrenzten Gesichtskreis der Retorte und zertrümmert sie, wenn der Lapis vollendet ist.
»Kneif mich mal«, wisperte ich in ihre Richtung, ohne sie anzusehen.
»Was?« Jetzt schwang in ihrer Stimme ein Lachen mit.
Matti sprang ein. Er zog mich am Haar, so, wie er es schon als Sechsjähriger getan hatte.
»Autsch, Blödmann.« Ich schubste ihn halbherzig. »Geht’s noch?«
»Aber du wolltest doch-»
»Hey, du bist ja ganz blass.« Tizi musterte mich und legte besorgt eine Hand auf meine Schulter »Ist dir nicht gut?«
»Doch …«
Sie runzelte skeptisch die Stirn. »Wirklich?«
Vorsichtig löste ich ihre Hand von mir, damit ich mich wieder dem Exponat zuwenden konnte, und las den erstbesten Satz mit gedämpfter Stimme vor. »Nur der Tria obliegt es, den Gesetzen der Materie zu folgen, so die Sonne im Widder ist, und das Leben gleich der Schöpfung zu bewahren.«
Matti gab ein amüsiertes Glucksen von sich. »Erde an Emilia. Alles okay bei dir?«
Mein Mund war ganz trocken. »Das steht da.« Fahrig deutete ich auf das Manuskript.
»Da steht nichts als unleserliches Geschnörkel.«
»Habe ich gerade vorgelesen, was dort steht, oder nicht?«
»Ich glaube, ich muss sie noch mal an den Haaren ziehen«, sagte Matti über meinen Kopf hinweg zu Tizi. »Das hat früher immer Wunder gewirkt.«
»Untersteh dich.« Ich wandte meinen Blick nicht von dem Text. Die Buchstaben wirkten harmlos, vielleicht etwas zu verschnörkelt für eine hübsche Handschrift, und die Sätze ergaben nicht wirklich Sinn. Doch die einzelnen Worte waren eindeutig richtig geschrieben … Löwe, Kristall, Materie, Schöpfung. Wo also war das Problem?
»Und damit sind Sie entlassen. Wir sehen uns ein letztes Mal morgen, Herrschaften. Kommen Sie gut nach Hause.«
Ein erleichtertes Raunen erklang, dann begannen unsere Mitschüler sich zu zerstreuen. Doch Matti, der normalerweise immer der Erste war, der bei dem Stichwort »schulfrei« wie ein zu groß geratener Welpe über Tische und Bänke ins Freie stürzte, rührte sich nicht. »Emilia?«
Ich sah kurz zu ihm, doch dann wandte ich den Blick wieder ab. Ein Gedanke hatte mein Bewusstsein gestreift, ganz flüchtig. Ich jagte ihm hinterher, griff danach, hielt ihn fest und ließ zu, dass er in meinem Kopf Gestalt annahm: Es war ein Code. Mein Herz begann wie wild zu klopfen. Dieser Text in Geheimschrift war nichts anderes als ein Code. Es musste einer sein, da war ich mir sicher. Ich liebte Rätsel, und sofort war mein Interesse geweckt.
Ich ließ meine Freunde stehen und ging an den vielen Seiten des Manuskripts entlang. Wenn der Drache den Mond verschlingt und der Löwe durch den Wolf gereinigt wird … leuchtete klar wie ein Kristall und ist rund wie eine Himmelskugel … benötigen die sechs Planeten die Berührung von Mond und Sonne.
Ich ging bis zum Ende des Raums. Die Zeichnungen waren alle unterschiedlich, aber der Text wiederholte sich immer wieder.
Entweder hatte der Verfasser nie vorgehabt, einen Text mit Sinn und Verstand zu verfassen, oder ich irrte mich. Warum sonst sollte man ständig diese kryptischen Sätze wiederholen?
»Was soll denn das?«, murmelte ich.
Tizi und Matti hatten mich eingeholt. Meine beste Freundin drängte sich zwischen mich und die Glaskästen. Sie verschränkte die Arme über der Brust. »Du kannst einem echt Angst machen. Was ist nur los mit dir?«
»Da steht etwas von toten Pelikanen.« Meine Stimme überschlug sich fast. »Und was bitte ist eine Retorte?«
Die beiden sahen mich mit großen Augen an. Erst da fiel mir wieder ein, was Matti vorhin gesagt hatte. Unleserliches Geschnörkel.
»Lest es vor, bitte.« Ich deutete über Tizis Schulter auf eine der Seiten. Matti verdrehte die Augen, als bete er um Geduld.
Tizi zuckte etwas hilflos mit den Schultern. »Wie soll das funktionieren? Da stehen doch gar keine Buchstaben.«
»Aber-« Ich brach ab. Was war hier eigentlich los?
Matti, der der Überzeugung war, dass es sich für einen echten Kerl gehörte, immer ein Feuerzeug, einen Flaschenöffner und ein Schreibgerät parat zu haben, zog einen Kuli aus der Tasche seiner Jeans.
Er griff nach meinem Arm und malte ein paar seltsam verschlungene Zeichen auf die Haut.
»Keine Ahnung, was du dort siehst, aber so ungefähr sieht das für uns aus.«
Ich betrachtete meinen Arm. Das sah tatsächlich wie das »unleserliche Geschnörkel« aus, von dem Matti gesprochen hatte.
»Machen wir ‘nen Abflug, Hase?« Aleandro Medici tauchte neben Matti auf und boxte ihm mit zärtlicher Brutalität die Faust gegen den Oberarm. Die beiden hatten sich – wie Tizi und ich es spaßeshalber nannten – »gesucht und gefunden«, seit sie herausgefunden hatten, dass die Pubertät ihnen, anders als vielen anderen, gnädig gesonnen schien. Matti war als Kind ein Moppel gewesen, Aleandro so mager, dass man jede Rippe zählen konnte. Dann waren sie in der neunten Klasse gemeinsam der Ruder-AG beigetreten – und hatten sich innerhalb von zwei Jahren in absolute Sportskanonen verwandelt. Beide hatten die für Ruderer typischen breiten Schultern bekommen, die trainierten Oberarme und die sexy Brustmuskeln … und sie schleppten so viele Mädchen ab, dass Tizi und ich es irgendwann aufgegeben hatten, ihre Eroberungen zu zählen. Bei Aleandro half außerdem noch der geschichtsträchtige Nachname und die Tatsache, dass seine Familie einen Zweitwohnsitz in Venedig besaß. Ein Stadtpalais, einst bewohnt von der High Society der Renaissance. Jetzt halb verfault, aber trotz des absplitternden Blattgoldes immer noch eine grandiose Kulisse für Instagram-Fotos.
»Moment noch«, murmelte Matti, der unter dem Hieb nicht mal gezuckt hatte.
Ich starrte immer noch auf meinen Arm. Matti hatte geschwungene Zeichen darauf gemalt. Das war es also, was dort stand? Daraus konnte ich nichts lesen. Wieso sah ich jedoch die Buchstaben auf dem Papier ganz deutlich? Wieso konnte ich etwas lesen, das niemand sonst entziffern konnte?
»Emilia?«
Tizis Stimme ließ mich den Kopf heben. Ich betrachtete meine drei Freunde und überlegte, ob sie sich einen Scherz mit mir erlaubten, während ich mir die Kulireste vom Arm wischte. Aleandro strich sich mit der linken Hand durch das dichte dunkle Haar, das sich im Nacken sanft lockte. »Was ist los? Krisensitzung? Muss ich Händchen halten?« Er sah fragend zwischen uns hin und her.
»Nein, es ist nichts.« Ich sah eindringlich zu Tizi. Ich wollte nicht weiter darüber sprechen. »Reingefallen!« Ich stupste Matti an und grinste. Der schien erst alles andere als überzeugt, doch dann lachte er auf.
»Oh Mann, ich habe echt schon gedacht, die vielen schlaflosen Nächte in letzter Zeit hätten dir zugesetzt.«
»Dann los.« Aleandro warf einen irritierten Blick auf Mattis Einhorn-Scrunchie, sagte aber nichts. »Ich muss nachher noch kurz im Laden vorbei.«
Aleandros Eltern gehörten ein paar Edelboutiquen im Zentrum. Reiche Römerinnen und wohlhabende Touristinnen tauschten hier ihr Geld gegen glitzernde Abendroben, teure Handtaschen und schwindelerregend hohe Schuhe. Obwohl Aleandro regelmäßig seine »Ein Medici arbeitet nicht, dafür hat man Personal«-Attitüde vor sich hertrug, half er öfter in den Läden seiner Eltern aus. Bevorzugt in der Boutique, die hippe Couture Labels führte und ein eher junges weibliches Publikum anzog.
Von der Seite spürte ich Tizis bohrenden Blick, als wir den Jungs zum Ausgang des Museums folgten. Aleandro besaß zwar ein Auto, aber heute waren beide mit ihren aufgemotzten Rädern da. Im Stadtverkehr Roms war das eine der schnellsten Fortbewegungsmöglichkeiten. Tizi würde mich auf ihrem Roller mitnehmen. Mamma und ich besaßen zwar auch einen, aber heute hatte sie ihn gebraucht.
»Arrivederci.« Wir umarmten Matti und Aleandro kurz.
Tizi klimperte ungeduldig mit ihrem Schlüsselbund.
Wir sahen den Jungs nach, die lässig in Richtung der Fahrradständer schlenderten. Beide waren um die 1,85 m groß, durchtrainiert und besaßen den für Sportler typisch geschmeidigen Gang, der ihr gutes Körpergefühl verriet. Frauen im Umkreis von 30 Metern reckten interessiert die Köpfe.
Tizi seufzte wehmütig. »Es könnte so einfach sein. Such dir einen aus, und ich nehme den anderen. Wir könnten bis an unser Lebensende glücklich sein, zu viert ein altes Haus kaufen und es renovieren, unsere Kinder zusammen aufziehen, wenn nicht-« Sie brach ab und sah dann zu mir.
Ich nickte und stimmte so ihren Worten zu, die sie nicht ausgesprochen hatte. Matti und ich waren wie Geschwister, und Aleandro, trotz der charmanten Mischung aus elitärem Snob und herzensgutem Kerl, einfach nicht mein Typ. Tizi empfand ähnlich, und auch von Aleandro wusste ich, dass wir nur gute Freunde für ihn waren.
Matti hob noch einmal kurz die Hand, als sie über den Vorplatz an uns vorbeiradelten. Da wir getrödelt hatten, waren auch unsere anderen Mitschüler schon in Richtung Freizeit verschwunden.
»Erinnerungs-Selfie«, flötete Tizi nun, und ich schrak kurz zusammen. Lachend drängten wir uns nebeneinander und lächelten in die Kamera ihres Handys. Ich musste immer ein bisschen die Knie beugen, weil Tizi mit ihren 1,63 m fast fünfzehn Zentimeter kleiner war als ich. Tizi machte ein Foto, dann sahen wir uns die Aufnahme gemeinsam an.
»Perfekt«, meinte Tizi. Ich nickte und betrachtete unsere Gesichter auf dem Bild. Tizis Haare waren gewellt und etwas heller als meine Dunkelbraunen. Sie ließen sich überhaupt nicht bändigen und Tizi beneidete mich offen um meine – wie sie es nannte – »spiegelglatte« Mähne, die mir weich über die Schultern fiel. Dafür besaß Tizi die prägnanten Wangenknochen und den Schmollmund eines Models, während mein Gesicht herzförmig und meine Lippen eher unspektakulär waren. Meine Augen waren Braungrün, ihre vom gleichen warmen Karamellton wie ihre Haare.
»Also, was war da los?« Tizi hatte das Foto bei Instagram gepostet, und jetzt verriet ihre Stimme, dass sie keine Ausreden dulden würde. Gemeinsam gingen wir zu ihrem Roller, der etwas seitlich am Museum geparkt war.
»Es ist ein Code.« Wie automatisch flüsterte ich. »Dieses ›Geschnörkel‹ wie Matti es nannte. Es ist irgendeine logische Verschlüsselung, die mein verdrehtes Gehirn automatisch zu dekodieren scheint.«
Da ich keine Geheimnisse vor Tizi hatte, wusste sie von meiner Schwäche für mathematische Rätsel. Trotzdem schien sie skeptisch. »Aber das, was du vorgelesen hast, ergab keinen Sinn.«
»Ich weiß. Das macht es ja so merkwürdig. Warum verschlüsselt man Satzfragmente, die wie aus einem Horrorroman klingen? Warum wiederholt man sie immer wieder?«
»Willst du es irgendwo melden?« Tizi hob den Sitz des Rollers an und verstaute ihre Umhängetasche. »Es scheint ja wirklich niemand außer dir lesen zu können. Du könntest zur Aufklärung eines uralten Rätsels beitragen. Willst du das echt für dich behalten?«
Das hatte ich mich auch schon gefragt.
»Wir könnten ja nochmal rein gehen und du-»
»Nein, ich glaube, ich muss erst mal-« Ich hatte Angst, mich lächerlich zu machen. Zuerst würde ich selbst versuchen, etwas mehr über dieses Voynich-Manuskript herauszufinden. Die Ausstellung war noch etwas über zwei Wochen in der Stadt. Bis dahin würde mir genug Zeit bleiben.
»Wir können auch morgen noch mal herkommen«, bot Tizi an. Sie kannte mich einfach zu gut. Ich lächelte dankbar.
Doch als ich dem Museum endgültig den Rücken zuwandte, überkam mich der Drang, wieder umzukehren. Das hier war eindeutig etwas Großes. Es fühlte sich fast an, als würde es nach mir rufen, mich locken … komm her, messe dich mit mir, zeige mir, wie gut du wirklich bist.
Gerade als Tizi sich auf den Roller geschwungen hatte, änderte sich das Gefühl. Ruckartig drehte ich den Kopf in Richtung Museum. Jetzt war da ein unangenehmes Prickeln in meinem Nacken, kalt, ja fast stechend. Mein Herz überschlug sich. Ich war nervös, regelrecht angespannt, und dennoch wusste ich plötzlich, dass ich nicht so einfach gehen konnte. Das hier würde mich nicht loslassen.
»Ich gehe noch mal rein«, sagte ich just in dem Moment, in dem Tizi sich zu mir umdrehte. Sie wollte gerade den Helm aufsetzen, hielt aber dann in ihrer Bewegung inne.
»Was? Jetzt doch?«
»Ja, es lässt mich irgendwie nicht los.« Noch mal drehte ich mich kurz zum Museum um. »Fahr ruhig. Ich laufe oder nehme den Bus, wenn grad einer kommt.«
»Woher der plötzliche Meinungswechsel?« Sie wirkte etwas überrumpelt und skeptisch zugleich.
Ich zuckte mit den Schultern. Das Gefühl war unerklärbar und doch so intensiv, dass ich es nicht ignorieren konnte. »Fahr einfach. Ich gucke mal, ob ich mit jemandem sprechen kann, der vielleicht mehr über dieses Manuskript weiß. Mehr als man im Internet findet und so …«
»Okay.« Sie klang ein wenig vor den Kopf gestoßen. So als hätte ich bis zur letzten Sekunde gewartet, um ihr dann durch die Blume klarzumachen, dass ich sie nicht dabeihaben wollte.
Noch bevor ich etwas erwidern konnte, hatte sie sich den Helm aufgesetzt.
»Bis später!«, rief ich extra laut. Sie nickte knapp.
Erst nachdem Tizi Gas gegeben und über die Piazza di Sant´ Apollinare davongebraust war, konnte ich das seltsame Gefühl von vorhin genau bestimmen: Ich hatte mich beobachtet gefühlt.
Die Suche nach einem Mitarbeiter entpuppte sich als aussichtslos. Einer der Sicherheitsleute schickte mich in einen schmalen Gang, von dem rechts und links Türen zu verschiedenen Büros abgingen. Als ich das Schild »Wissenschaftliche Mitarbeiter« entdeckte, hatte ich an die entsprechende Tür geklopft. Doch niemand öffnete. Ich warf einen kurzen Blick auf meine Katzenuhr. Es war kurz nach zwölf – vielleicht machten die Mitarbeiter gerade Mittagspause? Auch hinter den anderen Türen hörte ich keine Geräusche. Der gesamte Gang schien wie verlassen. Gerade als ich mich enttäuscht abwenden wollte, stand jemand vor mir. Sehr nah vor mir. War ich tatsächlich so abgelenkt gewesen, dass ich seine Schritte nicht gehört hatte?
»Hallo.«
Okay … ich war nicht klein, aber er war definitiv groß. Mein Blick glitt an dem piekfeinen Stoff seines Shirts entlang bis hoch in sein Gesicht. Markantes Kinn, gerade arrogante Nase, Wangenknochen, die jedes Contouring zu einem Witz degradierten. Dunkle Haare, dunkle Augen, finsterer Blick.
Interessant.
Ich wich trotzdem einen großzügigen Schritt zurück. «Hi.« Ein kühler Schauer rieselte meine Wirbelsäule hinab.
»Wir müssen uns unterhalten.«
Wenn das sein Anmachspruch war, brauchte er dringend Nachhilfe.
Etwas blitzte zwischen seinen Fingern auf. Es war rund, schimmerte bläulich grau, und zuerst dachte ich, es wäre eine Münze. Doch dann erkannte ich, dass es sich um eine Art kreisrundes Amulett handelte, das wie eine Schlange aussah. Der Typ hielt es so, dass ich es nicht übersehen konnte. Fast so, als wolle er mir damit etwas sagen. Er stand auf Schlangen? Kitschige Amulette? Fingerakrobatik?
Freak.
Noch einmal ließ er die Schlange so auffällig zwischen seinen Fingern tanzen.
Ich konnte mich eben noch beherrschen, nicht bedauernd aufzuseufzen. Hübsches Gesicht, aber definitiv nicht alle Zacken an der Krone.
Schade.
»Ich muss dann mal weiter.« Ich wollte mich abwenden und zückte alibimäßig mein Telefon.
Er machte einen Schritt zur Seite und versperrte mir so den schmalen Weg.
»Ähm, entschuldige?« Ich wedelte mit meiner Hand samt Telefon vor seiner Nase. »War ich irgendwie nicht deutlich genug? Unsere Unterhaltung ist beendet.«
Er sah kurz, aber eindringlich auf mein Telefon. Instinktiv umfasste ich es fester, weil ich einen Moment lang befürchtete, er wolle es mir abnehmen. Doch er schien schon wieder das Interesse daran verloren zu haben. Sein Blick ruhte auf mir, als er den letzten Abstand zwischen uns erneut überwand. »Das hier ist wichtig.«
»Was? Dass du mir beweist, dass du das Wort ›Intimdistanz‹ nur aus dem Wörterbuch kennst?« Ich musste den Kopf leicht in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu sehen. Herrgott, was frühstückte dieser Kerl? »Geh mir aus dem Weg, sofort.« Ich empfand keine Angst, nicht wirklich, trotzdem klopfte mir das Herz bis zum Hals.
»Es ist nicht schlimm, wenn du nicht registriert bist. Die Bürokratie ist kein Problem, und wir werden keine Fragen stellen.«
Registriert? Ich sollte dringend zusehen, dass ich Land gewann. Zum Glück war ich in einem der miesesten Viertel von Rom groß geworden und hatte gelernt, dass Angriff die beste Verteidigung sein konnte. »Soso, wir werden also keine Fragen stellen. Perfekt. Wenn wir dann auch noch den Weg freigeben könnten, könnte ich das einzig Richtige tun: Vergessen, dass du mich so bedrängt hast und dir nicht meine Gang auf den Hals hetzen, die dich vierteilen wird.«
Sein Blick wurde noch finsterer. »Hör zu, Mädchen.« Statt zurückzuweichen, beugte er sich dreist noch ein Stück näher zu mir. »Es kostet mich ein Blinzeln, und du steckst in gewaltigen Schwierigkeiten.«
Mädchen? Er war höchstens zwei Jahre älter als ich. Und drohte er mir etwa? Ich schnaubte. »Ernsthaft, Junge?« Erneut wich ich ein Stück von ihm zurück und wedelte dann wieder mit meinem Handy. »Noch einen Schritt weiter, und ich rufe die Polizei. Keine Ahnung, für wen du dich hältst, aber lebe den ›mystischen Magier‹, oder was auch immer du darstellst, auf der nächsten Roleplay Convention aus, okay?«
Er lächelte.
Es war definitiv das Unheimlichste, das ich an diesem Tag gesehen hatte. Und wir sprachen hier von Katzenuhren, Einhorn-Scrunchies und einem gar nicht so geheimen Geheimdokument mit einer Vorliebe für tote Pelikane und Schädeldecken.
Das Handy in meiner Hand vibrierte, doch ich beachtete es gar nicht. Stattdessen starrte ich wie gebannt auf den tiefgoldenen Schimmer, der sich in diesem Moment von rechts und links über seiner Hornhaut schloss wie ein zweites durchsichtiges Paar Augenlider.
Hilfe.
In diesem Moment wünschte ich, Matti würde mich noch mal an den Haaren ziehen.
Hitze. Ich ließ das Telefon fallen. Es zuckte auf den Bodenfliesen hin und her, als schien seine Elektronik zu schmelzen und von innen heraus zu brodeln. War er dafür verantwortlich?
»Die Polizei wird dir nicht helfen können.«
Klar, er hatte ja auch mein Handy geschmolzen. Die eine Hälfte meines Verstandes verpasste der anderen Hälfte eine Ohrfeige. Komm mal klar. Niemand schmilzt irgendwas, wir sind hier nicht bei Marvel. Mein Telefon war alt, und vermutlich hatte es spontan entschlossen, sich selbst mittels eines überhitzten Akkus ins Handy-Nirwana zu katapultieren. Ich warf noch mal einen Blick darauf. Eine schmale dunkle Rauchfahne quoll aus dem Anschluss des Kopfhörers. Hm. Respekt für diese Akkuleistung. Warum war es bei mir dann immer so schnell leer gewesen?
Klatsch. Noch eine Ohrfeige. Der Typ hatte zwei Paar Augenlider!
Ich riss den Kopf hoch. Das konnte nicht sein, ich hatte mich getäuscht, es war das spärliche Licht in dem Gang, gruselige Kontaktlinsen, meine überbordende Fantasie. Ich sah ihm in die schwarzen Augen und da war … nichts. Das Gold war verschwunden.
»Das hier ist wichtig.« Sein Blick war ernst, seine Stimme seltsam endgültig.
Mein Herz raste noch schneller, trotzdem arbeitete mein Verstand auf Hochtouren. »Wenn das hier wieder so ein Prank-Video von Matti wird, dann richte ihm aus, dass ich seinen kindischen Hintern persönlich-»
»Wer ist Matti?«
»Jetzt tu nicht so.«
Er zuckte die Schultern. »Nie von ihm gehört.«
Er stellte sich stur. Von mir aus. »Du bist schuld, dass ich mein Telefon habe fallenlassen.« Ich zeigte mit dem Finger auf ihn. »Also schulden Matti und du mir ein Handy. Ganz einfache Rechnung. Und ich werde noch heute Abend einen Hacker engagieren, der Mattis dämlichen YouTube-Kanal dem virtuellen Erdboden gleichmacht.«
Der Typ verschränkte die Arme vor seiner Brust und legte den Kopf leicht schief. Er besaß das Talent, keine Miene zu verziehen und trotzdem irgendwie amüsiert zu wirken.
Na warte. »Gib mir dein Handy.«
Seine rechte Braue hob sich leicht.
Ich schnippte mit den Fingern meiner ausgestreckten Hand. »Los, her damit. Auge um Auge, Handy um Handy. Steht schon in der Bibel.«
»Der Tora.«
»Hm?«
»Es stand zuerst in der Tora. So sollst du geben Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.«
Besserwisser. »Wahnsinn. Na los, rück es raus und bestell´ dem Blödmann schöne Grüße.«
Mit geradezu filmreifer Gleichgültigkeit fischte er ein Smartphone aus der linken Tasche seiner Jeans und legte es in meine offene Handfläche. Obwohl ich selbst das älteste Telefon der Welt besaß, erkannte ich dieses Modell sofort.
»Das kommt doch erst in drei Monaten raus.« Und kostet gefühlt zwölf Trillionen Euro.
»Dann hast du ja Glück, dass du einen der wenigen Prototypen in der Hand hältst.«
Ich unterdrückte den Impuls, ihm das Ding an den Kopf zu werfen. Stattdessen schloss ich die Finger schützend darum. Es war zu schön, um an seinem Schädel zu zerschellen. »Ist es geklaut?«
Er schüttelte den Kopf.
»Vom Laster gefallen?«
»Spar dir weitere Unterstellungen.«
Ich zuckte die Schultern. »Wie du willst. Sobald ich von Matti ein neues habe, bekommst du das hier wieder.« Vielleicht.
»Du kannst es behalten.«
Er hatte gerade nicht wirklich gesagt, was er gesagt hatte. Oder hatte er doch? »Was?«
»Behalte es.«
»Oh, verstehe, es ist eine Attrappe.« Ich drückte einen seitlichen Knopf, und das Display erwachte in all seiner Pracht zum Leben. Einen Moment lang war ich sprachlos.
»Hübsch, nicht wahr?«
Nur mühsam löste ich meinen Blick. »Geht so.« Ich ließ das Handy in meine Beuteltasche fallen, als wäre es ein Paket Taschentücher.
Der Typ verzog mal wieder keine Miene. »Dann können wir uns jetzt unterhalten.«
»Nein, immer noch nicht.« Schnell bückte ich mich und klaubte mein altes Telefon vom Boden. Es fühlte sich immer noch warm an.
»Muss das Spielchen mit dem Weglaufen jetzt wirklich sein?« Seine Stimme klang genervt, was ihn noch arroganter wirken ließ. »Du könntest uns beiden eine Menge Zeit sparen, wenn wir zwei uns einfach ein ruhiges Plätzchen suchen und …«
Weg von hier.
»Du spinnst ja«, unterbrach ich ihn und drängte mich ohne einen weiteren Blick an ihm vorbei. »Auf Nimmerwiedersehen.« Irgendetwas stimmte hier nicht. Mein Verstand bäumte sich protestierend auf, und mein Instinkt zwang mich zur Flucht. Meine Beine bewegten sich wie ferngesteuert.
Weg von hier, schnell.
Ich sollte Matti anrufen, ich würde das klären, ich musste … egal. Erst mal weg von hier. Was war da gerade passiert? Hatten meine Augen mich getäuscht?
Ich holte erst wieder Luft, als ich durch die breiten Türen des Museums ins Freie stürzte. So. Jetzt würde ich mir Matti vorknöpfen. Ich war gerade in der richtigen Stimmung dafür. Mein altes Telefon war unübersehbar hinüber, also griff ich widerwillig nach dem neuen Handy in meiner Tasche. Das Display sprang an, und noch mal bewunderte ich die umeinander wirbelnden Farben. Eine SIM-Karte war offenbar aktiv, denn ich sah das Kürzel eines Mobilfunkanbieters.
Ich öffnete kurz prüfend das Telefonbuch, doch das Handy schien gänzlich unbenutzt. Ich fand keine Kontakte, keine Apps und keine Mailkonten. Ob der mysteriöse Typ immer ein nagelneues Ersatzhandy bei sich trug? Ich kannte Mattis Nummer auswendig, was in meiner jetzigen Lage absolutes Glück war.
Er ging schon nach dem zweiten Klingeln dran, um ihn herum hörte ich Stimmengewirr.
»Hallo?« Er klang ein wenig außer Atem.
»Pfeif deinen Kumpel zurück, Witzbold. Der Spaß ist vorbei«, sagte ich betont lässig.
Einen ewigen Moment lang war es still am anderen Ende der Leitung. Dann prustete Matti los. »Emilia? Was stimmt bei dir nicht? Und was ist das für eine Handynummer?«
Ich ging nicht auf seine Fragen ein. »Beende diese Show, bitte.« Jetzt war meine Stimme ernst geworden. »Wegen dem Typen habe ich mein Handy geschrottet. Du hattest deinen Spaß, jetzt ist Schluss damit. Okay?«
»Schluss mit was?« In seiner Stimme schwang ein Lachen mit.
Ich stöhnte. Ernsthaft? Er wollte das weiter durchziehen? Im Hintergrund wurde das Stimmengewirr noch mal lauter. »Du schuldest mir ein Handy.« Ich hoffte, dass ihn diese Ansage wieder zur Vernunft brachte.
Doch jetzt lachte er so laut, dass ich den Hörer sogar etwas von meinem Ohr weghalten musste.
»Irgendwie bist du heute komisch. Hast du bei Davine irgendeine Tablette gefunden und geschluckt? Du weißt, so was soll man nicht machen. Denk daran, wie es Newton ging, als er das mal gemacht hat.«
Ich war ein wenig fassungslos. »Der Typ hat mich fast zu Tode erschreckt, wie er so aus dem Nichts vor mir stand. Ich weiß, ich hätte ihm vielleicht nicht unbedingt sein Handy abnehmen sollen, aber immerhin habe ich wegen ihm meines fallen lassen und er …«
»Du, lass uns später reden …« Matti klang eindeutig so, als würde er mich gerne abwürgen wollen. »Sind grad beim Training angekommen.« Im Hintergrund hörte ich Aleandro irgendwas rufen.
»Herzlichen Dank.« Ich konnte immer noch nicht glauben, dass er mich so dreist abbügelte. »Die zwei Sekunden, um diese dämliche Aktion abzublasen, wirst du ja wohl noch finden.«
»Was für eine Aktion? Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst. Spring doch einfach ne Runde vor YouTube herum. Ich glaube, der ganze Prüfungstress schlägt dir aufs Gemüt. Ich melde mich später noch mal!«
»Was? Das ist ja wohl-« Ich wollte gerade etwas erwidern, da hatte er bereits aufgelegt.
Ich schnaubte und steckte das Handy wieder weg. Nicht nur, dass er die Ballettübungen, die ich anhand von YouTube-Tutorials in meinem Zimmer machte, als »Herumspringerei« bezeichnete, er trieb es mit diesem Spielchen eindeutig zu weit. Jetzt wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, die ganze Aktion aufzulösen. Wie weit wollte er es denn noch treiben? Stirnrunzelnd blickte ich auf das Telefon in meiner Hand.
»Mit Weglaufen löst man keine Probleme.« Und wieder hatte er kein Geräusch gemacht.
Ich schrak zusammen, als ich ihn dicht hinter mir spürte.
Ganz in der Nähe gab es eine Bushaltestelle. Ohne ihn zu beachten sprang ich die Stufen hinunter. Ich war in der Öffentlichkeit, hier waren Dutzende Menschen, es konnte mir nichts passieren. Trotzdem raste mein Herz. Nicht umdrehen. Geh weiter und behalte die Bushaltestelle fest im Blick. Wenige Meter … es sind nur noch wenige Meter.
»Also gut. Du willst die Nummer mit dem Weglaufen durchziehen. Von mir aus.« Schon wieder er. »Wie lange wird das dauern? Ich habe nachher noch Termine.«
»Verschwinde endlich!« Meine Stimme ging in dem Rattern der Reifen eines kleinen Lkws fast unter. Das Kopfsteinpflaster schien jedes kleinste Geräusch zu verdreifachen. Um uns herum drehten die ersten Passanten interessiert die Köpfe in meine Richtung. Ich wurde noch mal schneller, obwohl ich mir immer wieder sagte, dass mir hier vor aller Augen nichts passieren konnte. Meine Tasche schien mich bei jedem Schritt bleischwer nach unten zu ziehen. Doch das würde bald ein Ende haben. Ich würde in den Bus steigen und diesen Typen stehen lassen. Endlich erreichte ich die Bushaltestelle und blieb direkt an der Haltebucht stehen. Ein gutes Dutzend Menschen wartete dort bereits. Mir konnte gar nichts passieren. Es war absolut …
»Ich werde uns einen Wagen rufen.«
Es war nicht zu fassen. Wann hörte er endlich mit dieser dämlichen Show auf? »Du hast echt nen Knall, und Matti kann was erleben.«
Er lachte dunkel. »Es ist meine Aufgabe, für die Sicherheit derer zu sorgen, die mir anvertraut werden. Du musst auf mich hören, weil ich es besser weiß und weil ich deinen Hintern retten werde, wenn es nötig ist. Ganz einfach.«
Ich schnaubte. »Wahnsinn, das klingt echt, als ob du wirklich glaubst, was du da erzählst. Anvertraut. Bin ich ein herrenloses Waisenkind?«
»In meiner Welt schon.«
Ich erstarrte. In seiner Welt? Im nächsten Moment erblickte ich meinen Bus in der Ferne. Endlich.
»Man sieht sich.« Ich drehte mich von ihm weg und machte den letzten schmalen Schritt in Richtung der Bordsteinkante. Der Bus würde mir den Staub von den Schuhspitzen fahren, aber das war mir egal.
»Was lässt dich glauben, dass du in diesen Bus einsteigst?« Er klang völlig ruhig, ja regelrecht tiefenentspannt.
Da war es wieder. Dieses dumpfe Gefühl von Angst, das mich vorhin schon mehr oder weniger kopflos hatte flüchten lassen. Einem inneren Impuls folgend, schwang ich herum.
Geschickt ließ er etwas um seine Finger tanzen. Ich holte erschrocken Luft. Es war schon wieder eines der kleinen Schlangen-Amulette, doch dieses Mal schien es fast durchsichtig zu sein. Er hatte mehrere davon dabei?
Schon schnippte er es in die Luft.
»Nein!« Ich hörte mein eigenes erstickt hervorgestoßenes Wort. Um mich herum drehten die Leute wieder neugierig den Kopf in meine Richtung, doch niemand außer mir schien das Amulett sehen zu können. Wie konnte das sein? Der Typ wedelte fast genervt mit der Hand, und das Amulett schoss vorwärts. Zuerst dachte ich, es sollte mich treffen, doch dann hob es noch weiter ab und glitt hoch über meinen Kopf hinweg. Ich folgte seinem Weg und erkannte mit Schrecken, dass es direkt auf den Bus zuflog.
»Mein Gott«, flüsterte ich, als die Schlange sich im Flug entrollte und zersprang. Ihr Inhalt schien ein durchsichtiges Gas zu sein, das umringt von den Splittern des Amuletts vorwärts schoss.
»Reiner Sauerstoff ist eines meiner Astralelemente.« Er klang, als würde er über etwas völlig Alltägliches reden. »Unsere Luft besteht jedoch nur zu etwa 20 Prozent aus reinem Sauerstoff.«
Die Gaswolke prallte auf die untere Front des Busses, und ich rechnete mit dem Schlimmsten. Doch nichts geschah.
»Führt man einem Verbrennungsmotor reinen Sauerstoff zu, benötigt er die fünffache Menge Benzin.«
Der Bus beschleunigte, obwohl er doch eigentlich langsamer werden sollte.
»Dies führt zu einer kurzen Leistungssteigerung.«
Der Bus wurde wieder langsamer.
»Doch anders als bei dem Gasgemisch, das unsere Luft ausmacht, fehlt bei reinem Sauerstoff die Kühlwirkung der anderen Gase. Der Motor überhitzt sehr schnell.«
Ich trat einen Schritt zurück, als der Bus mit scheinbar letztem Schwung an der Haltestelle ausrollte.
»Und das bedeutet: Ende der Reise.«
Er war nah hinter mir und sprach ruhig und leise, flüsterte fast in mein Ohr, doch ich war immer noch zu schockiert, um zu reagieren.
Die Tür schwang auf. »Motorschaden«, sagte der Fahrer. »Scusi, signore e signori.« Im nächsten Moment griff er nach dem Mikro über sich. »Bitte steigen Sie alle aus. Der Motor ist überhitzt. Der nächste Bus kommt in zehn Minuten. Vielen Dank für Ihr Verständnis.«
Erst als die Fahrgäste protestierten und sich aus dem Bus drängten, erwachte ich unfreiwillig aus meiner Starre, weil ich komplett im Weg stand. Ich stieß gegen den fremden Typen, und als ich mich zu ihm umdrehte und wir gemeinsam zur Seite wichen, fehlten mir immer noch die Worte.
Sein Blick glitt über meinen Kopf hinweg. »Das ging ja schnell, sehr schön.«
Eine dunkle Limousine hielt in der Bucht der Haltestelle direkt hinter dem Bus.
Der Typ lächelte knapp. »Wenn ich sage, wir unterhalten uns …«, er nickte dem Fahrer kurz grüßend zu und beugte sich wieder zu mir, »dann unterhalten wir uns.«
»Du bist ja vollkommen irre.« Der Wagen war mehr oder weniger aus dem Nichts aufgetaucht, auf Hochglanz poliert und schien die Manifestation des Wortes »Luxusschlitten« zu sein. Breite Räder, aufwendig gestaltete Felgen, getönte Scheiben. Sofort war der rauchende Bus für die meisten Passanten nur noch halb so interessant. Mir hingegen lief es schon wieder kalt den Rücken hinunter. Der nachtschwarze Wagen sah aus wie das Flaggschiff der Mafia. Wie etwas, aus dem man garantiert nicht mehr lebend aussteigen würde … Und der Typ hatte mein Handy gekocht! Er hatte einen Bus außer Gefecht gesetzt. Er warf mit irgendwelchen Amuletten um sich. Zu was war er noch alles fähig? Ich war immer noch schockiert von dem, was ich gesehen hatte. Einen Bus! Er hatte einen Bus gestoppt. Ein leicht hysterisches Kichern entkam meinen Lungen. «Vollkommen irre.«
Er ignorierte mich, während der Fahrer der Limousine aus dem Wagen sprang, die Beifahrertür aufriss und sich salutierend an die Mütze seiner Uniform tippte.
»Es ist mir vollkommen egal, für was du mich hältst, solange du dich in diesen Wagen setzt und wir in die Loge fahren. Dort ist es sicher, und wir können alles klären. Bitte sei jetzt einfach mal vernünftig.«
Loge? Waren wir bei Hofe, oder was? Erst da realisierte ich, was gerade vor sich ging. Wollte er mich entführen? »Sag mal, geht‘s noch? Wenn du mich noch länger belästigst, rufe ich lautstark nach der Polizei.«
Er legte den Kopf schräg, und sein Blick sagte sehr deutlich: Ach, wirklich?
Als jedoch wie aufs Stichwort zwei Schutzpolizisten auftauchten, wurde sein Blick plötzlich wachsam. Zwar widmeten die beiden Männer sich eher dem dampfenden Bus als uns zwei streitenden Teenagern, doch seine Haltung hatte sich merklich verändert. Ich deutete mit dem Kopf auf die beiden Polizisten. »Na? Möchtest du mich immer noch entführen?«
Der Typ beachtete mich gar nicht, stattdessen machte er ein unauffälliges Handzeichen in Richtung der Limousine. Der Fahrer nickte knapp und glitt geschmeidig zurück in den Wagen. Dann sprang der Motor an, und die Limousine glitt so lautlos davon, wie sie erschienen war. Ich glaubte zwar jetzt irgendwie nicht mehr so wirklich, dass Matti hinter all dem hier steckte, aber derjenige, der mich hochnehmen wollte, hatte sich echt Mühe gegeben. Allein so einen Wagen für einen Tag zu mieten, musste doch mehrere hundert Euro kosten. Und dann diese ganzen Spezialeffekte …
Meine Glückssträhne schien anzudauern, denn im nächsten Moment hielt ein zweiter Bus in der Haltebucht. Die Linie fuhr nicht in die Richtung, in die ich wollte, doch ich würde dort einsteigen, selbst wenn der nächste Halt erst die Antarktis wäre. Hauptsache weg von hier. Weg von ihm.
Der Typ schien Gedanken lesen zu können. «Muss ich noch ein öffentliches Verkehrsmittel lahmlegen?«
Ich warf ihm einen knappen Blick zu, und obwohl mein Herz schon wieder vor Aufregung klopfte, straffte ich die Schultern. »Ich werde jetzt in diesen Bus einsteigen, und solltest du auch nur einen halben Schritt hinter mir her machen, schwöre ich, dass ich ganz Rom zusammenschreien werde. Ich werde dafür sorgen, dass man dich verhaftet. Möchtest du das?«, fragte ich und imitierte damit seinen Tonfall.
Etwas in seinem Blick veränderte sich, und ich erkannte so etwas wie Resignation darin. Vielleicht auch noch mehr, doch ich konnte es nicht genau deuten, in der halben Sekunde, in der wir uns direkt in die Augen gesehen hatten.
»Dann geh.« Mehr kam von ihm nicht. Er stand sehr aufrecht, die breiten Schultern angespannt, die dunklen Augen so ernst, als stünde er vor einem Richter.
Irgendetwas in mir, irgendetwas, das sich leise zu regen begann, zögerte für den Bruchteil einer Sekunde. Da war dieses Kribbeln, wenn ich an die fremdartigen Amulette zurückdachte. Da war dieses Gefühl von Erkenntnis, das sich tief in mir regte. Da war diese zarte kleine Stimme, die flüsterte: Was, wenn doch?
Doch dann schwang ich endgültig herum und betrat den Bus, gerade als die Türen sich quietschend öffneten. Zum Glück fand ich einen Sitzplatz. Meine Knie fühlten sich wie Pudding an. Der Typ war echt so was von unheimlich. Keine Ahnung, was das für Tricks waren oder wie er das gemacht hatte. Jedenfalls hatte er es eindeutig auf mich abgesehen, und irgendetwas an ihm stimmte so ganz und gar nicht. Ich sah starr geradeaus, als der Bus langsam beschleunigte. Ein Gedanke hatte sich in meinem Unterbewusstsein festgebissen: Zu was war er noch fähig?
Theoretisch hätte ich auch nach Hause laufen können. Das Museum lag unweit des Hauptbahnhofs, der wiederum ganz in der Nähe unserer Wohnung lag. Jetzt war ich drei Stationen in Richtung Kolosseum gefahren, um ganz sicherzugehen, dass der Typ mir nicht folgte. Ich lief den Weg zurück, weil ich mich nicht traute, einen anderen Bus zu nehmen. Zum Glück lagen die Stationen relativ nah beieinander, und der knapp fünfzehnminütige Fußweg sorgte dafür, dass sich meine Nerven wieder etwas beruhigten. Ich hatte die Zeit genutzt und mir mein altes Handy noch mal genauer angesehen. Doch da schien man leider nicht mehr viel machen zu können. Das Gehäuse hatte sich gekrümmt, und das Display war gesplittert. Ich hoffte inständig, dass ich wenigstens die SIM-Karte würde retten können.
Auch das ungute Gefühl blieb. Ich hatte mich ein paar Mal umgedreht, aber mir war niemand aufgefallen.
Ich passierte den Blumenladen auf dem Bahnhofsvorplatz, und die fröhlichen Farben der Pflanzen, die in mehreren Etagen vor dem Geschäft aufgebaut waren, ließen mich kurz stehenbleiben. In einem hohen Eimer leuchteten große gelbe Sonnenblumen um die Wette. Ihre Kerne in dem Kranz aus Blütenblättern schimmerten tief dunkelbraun wie Bitterschokolade. Auch ohne es vorher zu wissen, hätte ich die besondere Art ihrer Anordnung sofort erkannt. Die Kerne lagen spiralförmig in ihrem Kelch, links- und rechtsdrehend, und wirkten doch ungeordnet und willkürlich. Trotzdem erkannte ich das Muster darin im Bruchteil einer Sekunde – die Fibonacci-Zahlenfolge. Viele Muster in der Natur basierten auf dieser Reihe, so auch die Anordnung der Sonnenblumenkerne. Die linksdrehenden und die rechtsdrehenden Spiralen stellten immer aufeinanderfolgende Fibonaccizahlen dar, und ich konnte sie so deutlich sehen, als habe sie jemand in zwei neonleuchtenden Farben für mich markiert. So war es immer. Meine Augen schienen mehr als die üblichen zwei Arten von Sinneszellen zu besitzen. So, als hätte ich zusätzlich zum Farben- und Hell-Dunkel-Sehen eine dritte Art von Zellen im Auge. Ich hatte sie irgendwann mal »Musterzellen« getauft – und Muster waren nichts anderes als Codes. Wie automatisch glitten meine Gedanken zurück zum Voynich-Manuskript. Jemand hatte Monate damit verbracht, jede einzelne Zeichnung anzufertigen. Die Fülle an Text war zu groß und raffiniert verschlüsselt, um nur sinnlose Satzfragmente zu enthalten. Und das ließ für mich nur einen Schluss zu: Es musste sich um eine Fälschung handeln. Das ungute Gefühl breitete sich noch weiter in meinem Magen aus, doch dieses Mal bezog es sich nicht auf den unheimlichen Typen von vorhin. Es war eher eine Mischung aus wachsamer Neugier und unguter Vorahnung. Warum schickte man ein uraltes kodiertes Buch auf eine Wanderausstellung rund um die Welt, wenn es sich so offensichtlich um eine Fälschung handeln musste?
Gemeinsam mit Touristen und Einheimischen überquerte ich die Via Giovanni Giolitti, passierte einen McDonald‘s und bog wenig später in die Via Daniele Manin ab. Das Bahnhofsviertel war vor einigen Jahren aus touristischen Gründen etwas verschönert worden. Die Häuserfronten, an denen die Besucher der Stadt in ihren Taxen entlang zu den Hotels kutschiert wurden, hatte man neu gestrichen, kleine Cafés eröffnet und die von den Touris so geliebten Stehpizzerien modernisiert. Die Gastronomie hatte diese Finanzspritze gefreut, ebenso wie die Immobilienbesitzer. Nur die, die schon seit Jahrzehnten hier wohnten, hatten nichts davon abbekommen. Und so glich das Viertel einer bunt gemischten Parade von Fassaden, hinter denen sich das wahre Rom verbarg. Hier lebten jene auf kleinstem Raum, die die Stadt antrieben wie ein Uhrwerk. Kellner, Touristenführer, Hotelpersonal und all die, die selbst an Feiertagen dafür sorgten, dass Rom so lebendig schien, wie in den Reiseprospekten versprochen wurde.
Ich bog in eine der vielen namenlosen Hinterhausgassen ab. Hier war es schummrig, denn Wäscheleinen waren von Haus zu Haus gespannt, und die tiefhängenden Kleidungsstücke sperrten einen Großteil des Tageslichtes aus. Fahrräder und Vespas standen kreuz und quer vor den Kellereingängen, Musik hallte aus weit geöffneten Fenstern, und irgendwie war es auf eine chaotische Art gemütlich hier, obwohl vor vielen Kellertüren schwere Schlösser hingen und die unteren Fenster vergittert waren. Das hier war das Bahnhofsviertel, und wie überall auf der Welt war diese Gegend auch immer ein Ort, der die anzog, die eher im Schatten lebten. Ich kannte diese Straßen wie meine Westentasche und hatte keine Angst vor denen, die hier in Bahnhofsnähe strandeten. Ich bahnte mir meinen Weg, bis ich vor einem niedrigen Fenster stehen blieb. Der Sims davor war schon lange abgebrochen, und niemand hatte ihn je ersetzt. Vor mir lag ein unordentliches Büro mit einem zum Bersten überladenen Schreibtisch. An den Wänden hingen Fotos berühmter Inszenierungen, und über allen prangte der Schriftzug »Studio Aurora Bottega«. Ich rückte noch etwas näher. Die Scheibe war verschmiert und staubig, doch das störte mich nicht. Durch die geöffnete Tür des Büros konnte ich über den Flur in den Saal sehen. Tänzer probten eine Choreographie, und ihre schlanken anmutigen Körper wirkten schwerelos und erhaben. Ich liebte das Tanzen. Jene Kombinationen aus Ordnung und Chaos, Takt und Improvisation, die so federleicht schienen und dennoch fast jeden Muskel des Körpers forderten. Ich legte meine Hand an die Scheibe und fühlte mich – mal wieder – wie ein Stalker. Signora Aurora war eine Legende. Und weil sie Diva und Bohème zugleich war, lebte sie absichtlich in einem der einfachsten Viertel Roms. All die vielen reichen Töchter wurden in abgedunkelten Limousinen hier abgesetzt. Tänzer aus aller Welt besuchten ihre Meisterklassen. Choreographen erarbeiteten Neuinterpretationen der berühmtesten Ballette mit ihr. So gerne hätte ich einen Grundkurs besucht, doch ihre Preise waren sehr hoch, und niemals wäre ich Mamma gegenüber so egoistisch gewesen. Ich begnügte mich mit dem Traum, der wunderschön und melancholisch zugleich war. Irgendwann …
Ich wandte den Blick ab, drehte mich von dem Fenster weg und wollte schon weitergehen, als eine Gestalt hinter einer Mülltonne unweit vor mir hervortrat. Sein Haar war kurz und leuchtend silbern gefärbt. Ein merkwürdiger kühler Schauer rieselte meine Wirbelsäule hinab, ein seltsames Kribbeln, das ich vorhin schon bei dem Typen im Museum gefühlt hatte.
»Wir sollten uns mal unterhalten.«
Déjà-vu. War das irgendwie ein neuer Trend, den ich verpasst hatte? Frauen mit diesem Spruch und todernster Eindringlichkeit in der Stimme anzuquatschen?
Wieder dachte ich an Matti. Wir kannten uns lange genug, um schon so ziemlich jeden Streich am anderen ausprobiert zu haben. Aber von genau so einem epischen Prank hatte er vor Kurzem gesprochen, und es war einfach ein bisschen zu viel Zufall, gleich zweimal an einem Tag von einem wildfremden Kerl angequatscht zu werden.
»Bist du auch ein Freund von Matti?« Ich versuchte, gelangweilt zu klingen.
»Nie von ihm gehört.« Der Typ lächelte, indem er nur kurz den linken Mundwinkel nach hinten zog. Es wirkte anzüglich und herablassend zugleich. »Ich heiße Dariano. Aber für meine Freunde bin ich Dario.« Beim Stichwort »Freunde« tauchten vier weitere Gestalten aus den Schatten auf, als hätten sie sich eben erst daraus manifestiert. »Wie heißt du?«
Ich antwortete nicht. Stattdessen wich ich zurück und betrachtete die vier Gestalten hinter Dario. Drei Männer und eine Frau, alle in dunkelgrauen Klamotten und hoch geschnürten Boots. Erst bei genauerem Hinsehen stellte ich fest, dass sie alle etwa in meinem Alter sein mussten. Einer der Jungs besaß flammend tiefrotes Haar, das in weichen Wellen um seinen Kopf lag. Das Mädchen trug ein ärmelloses Shirt, und die Muskeln an ihren Armen traten dezent hervor, als sie sich bewegte. Sie hatte ihr schwarzes Haar zu einem straffen Dutt oben auf dem Kopf frisiert. Bei den anderen beiden Jungs handelte es sich um Zwillinge. Mit den breiten Schultern und den kantigen Gesichtern wirkten sie wie die perfekte Besetzung einer kitschigen High-School-Romanze mit dem Titel »Double Trouble: Hilfe, ich liebe Zwillinge!«.
Plötzlich hob Dario den Kopf und fixierte etwas hinter mir, aber bevor ich mich umdrehen konnte, erklang eine dunkle Stimme. »Da bist du ja.«
Ich erstarrte. Diese Stimme hätte ich überall wiedererkannt. Wie hatte er mich gefunden?
Der ominöse Typ kam neben mir zum Stehen. »Du sollst doch nicht immer wegrennen. Die Leute werden noch denken, du magst mich nicht.«
Mir fehlten nicht oft die Worte, aber jetzt gerade war genau so ein seltener Moment. Ich sah völlig perplex zu ihm hoch, absolut unfähig, mich zu rühren. Was zur Hölle passierte hier?
Er lächelte so liebenswürdig, wie ich es ihm niemals zugetraut hätte.
»Und jetzt musst du sagen«, fuhr er fort. »Tut mir leid, mein lieber Ben, es kommt nicht wieder vor. Natürlich mag ich dich.«
Es hätte nicht viel gefehlt und mir wäre die Kinnlade auf die Brust geklappt.
Vor uns klatschte Dario affektiert Beifall. »Wie niedlich. Können wir jetzt zum Geschäftlichen kommen?«
Der Typ, Ben, machte einen halben Schritt an mir vorbei und stellte sich nun fast schützend vor mich. »Aber gerne doch.« Jetzt hatte seine Stimme alle Freundlichkeit verloren. »Was kann ich für dich tun, Dario?«
»Oh, wir waren nur neugierig … wollten mal Hallo sagen und fragen, wer sie denn ist.« Dario machte eine großartige Geste. »Und an den Gerüchten muss ja definitiv was dran sein, wenn der Orden seine Kampfmaschine losschickt.«
An Bens Kinn zuckte ein Muskel. Es war offensichtlich, dass er diesen Spitznamen nicht mochte.
»Verschwindet einfach.« Seine Stimme war nur noch ein tiefes Grollen.
Dario tat entsetzt. »So unhöflich, Lord Hastings? Hast du die guten englischen Manieren zu Hause gelassen?«
Dario kam näher, besser gesagt: Er schlenderte betont lässig in unsere Richtung. »Da ist doch nichts dabei. Wir quatschen ein wenig über die gute alte Zeit, tauschen Geschichten aus dem Krieg aus …« Er grinste böse. »Du stellst mir deine kleine Freundin vor.«
Aus Bens Kehle erklang ein dunkler Laut, der fast wie ein Knurren klang. »Keinen Schritt weiter, Sekundant.«
»Oder was? Lass sie mich doch mal ansehen. Ist so gar nicht dein Typ, oder? Steht eure Lordschaft nicht auf Blondinen?«
Ich warf Ben einen kurzen Seitenblick zu. Schon wieder zuckte besagter Muskel an seinem Kinn.
»Wir gehen jetzt.«
Dario gab ein missbilligendes Schnalzen von sich. »Es ist mir schon fast peinlich, einen Hardliner wie dich an den Gläsernen Pakt erinnern zu müssen. Aber hiermit weise ich dich offiziell auf Paragraf drei hin.« Er beugte sich unverschämt nah zu Ben. »Parley, du Arsch.«
Die Stille danach konnte man fast schneiden. Ben, halb vor mir, schien noch ein paar Zentimeter größer zu werden. Ich hielt schon wieder die Luft an.
»Was ist denn, Rosso?«, blaffte Dario. Ich schreckte kurz zusammen. Der Typ mit dem kastanienroten Haar ließ sich jedoch nicht beirren, als er neben Dario Stellung bezog. Sein Lächeln war so falsch wie bedrohlich. »Was mein Bruder hier in Kurzform zitiert hat, wiederhole ich der Richtigkeit halber noch mal im Originalwortlaut. Nicht, dass es zu Missverständnissen kommt.« Er räusperte sich und guckte dann so förmlich, als stünde er unter Eid bei Gericht. »Ich zitiere Paragraf drei des ›Gläsernen Pakts‹. Das Recht auf ›Parley‹. Die Parteien zweier Orden haben jederzeit das Recht, sich zum Parley zu bitten, einer gewaltfreien Unterhaltung im Sinne des Informationsaustausches. Die zum Parley aufgeforderte Partei darf der auffordernden Partei verlangte Informationen nicht verweigern, es sei denn, es handelt sich hierbei um vertrauliche Informationen, die den aufgeforderten Orden diffamieren oder ihm schaden könnten. Wir fordern euch hiermit also zum Parley auf.«
Wie bitte? Was war hier eigentlich los? War ich durch ein schwarzes Loch in eine andere Realität gerutscht und hatte es einfach nicht bemerkt?
»Er weiß genau, wovon ich rede, Rosso. Mach dich nicht zum Affen«, zischte Dario, während er Rosso unsanft den Ellbogen in die Seite stieß. Sein Blick glitt wieder zu Ben, der jedoch eiskalt blieb.
»Du sprichst den Falschen an. Mach die Augen auf. Du siehst doch, was sie ist. Wenn du Informationen zu ihrer Person willst, erweise ihrem Orden und ihr selbst die Ehre, die das Parley ihr gebührt.«
Ich hatte die ganze Zeit überlegt, woher mir das Prinzip des »Parley« so bekannt vorkam – war das nicht aus den »Fluch der Karibik«-Filmen? – als mein Gehirn endlich verarbeitete, was Ben gerade angedeutet hatte. Erschrocken sah ich zu ihm hoch.
»Ich?« Meine Stimme klang erstickt.
Dario fixierte mich wie ein unter Glas gefangenes Insekt. Einen ewigen Moment lang war es totenstill in der Gasse. »Das gibt’s doch nicht«, wisperte er schließlich. Rosso und seine Spießgesellen rückten etwas näher. Das Mädchen flüsterte einem der Zwillinge etwas ins Ohr.
Der nickte daraufhin knapp, Ben lächelte selbstzufrieden, und ich verstand nur Bahnhof.
»Könnte mich mal jemand einweihen?« Ich wich zurück. »Und so angestarrt zu werden, ist echt unangenehm.«
Natürlich bekam ich keine Antwort. Stattdessen duellierten Dario und Ben sich schon wieder mit Blicken.