Kalla vom Löwenclan - Laura Feuerland - E-Book

Kalla vom Löwenclan E-Book

Laura Feuerland

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Beschreibung

Europa, vor 30.000 Jahren So sehr hat sich Kalla auf das Winterlager im Otterbachtal gefreut. Doch dann häufen sich sonderbare Ereignisse, die sie sehr beunruhigen: Ihr bester Freund ist verschwunden, und sie selbst gerät versehentlich in die verbotene unterirdische Höhlenwelt. Außerdem haben sich fremde Männer im Tal versteckt und bringen den Löwenclan in große Bedrängnis. Doch all diese Wirren enden in einem noch viel gewaltigerem Drama, mit dem keiner gerechnet hat.

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Seitenzahl: 223

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Laura Feuerland

KALLAVOM LÖWENCLAN

ABENTEUER IN DER STEINZEIT

Mit Illustrationen vonDoris Katharina Künster

Für unsere Mütter und unsere Väter.

Und zur Erinnerung an alle Mütter und Väter,

die tausend Generationen hindurch

vor uns gelebt haben.

DER BLAUE VOGEL

ICH,Arut Ottergeistesvom Rentierclan, der ich zum, Schutzbefohlener Großen Wasser und des ins kalte Nordland gereist bin und weit nach Osten in die fernen Länder jenseits der schneebedeckten Berge, erzähle euch, wie der blaue Vogel geboren wurde und was danach geschah.

Es war die Zeit der ewigen Finsternis, und die Erde war kalt und schwarz und leer. Nur der Mond und die anderen Lichter der Nacht leuchteten droben am Weltendach.

Einmal musste der Mond niesen. Da fiel ein blauer Vogel aus seiner Nase heraus. Er flog hinunter zur Erde und ließ dort ein Ei fallen. Dann kehrte er in den Himmel zurück und verwandelte sich in den Lichtball, der Sonne genannt wird.

Das Ei fiel auf die Erde und zerbrach. Zwei Käfer krabbelten heraus. Sie waren hungrig und suchten nach Nahrung, doch fanden sie nicht einen einzigen Grashalm. Da fielen sie übereinander her, und jeder versuchte, den anderen aufzufressen. So heftig kämpften sie miteinander, dass ihre Panzer Funken sprühten. Aus den Funken entzündete sich ein Feuer; das wurde vom Wind fortgeweht, und bald stand die ganze Erde in Flammen. Als sie verloschen, war alles Land unter Asche begraben.

Das sah der Mond, und er weinte, und seine Tränen fielen hinab auf die Erde. Kaum aber hatten die Tropfen den Boden berührt, setzte eine gewaltige Sturmflut ein. Das Wasser vermischte sich mit der Asche, und schwarzer Schlamm wälzte sich durch Berge und Täler.

Da erhob sich aus dem Schlamm eine dunkle Frau mit gewaltigen Brüsten und starken Händen. Sie begann, die nasse Erde zu kneten, und formte daraus Wurzeln und Knochen, und ihr Name war Ama.

Aus dem, was sie schuf, wuchsen Pflanzen und Tiere und Menschen.

Da freuten sich der Mond und ebenso die Geister, die in den anderen Himmelslichtern wohnen. Und sie beschlossen, alles Leben, das Ama erweckte, zu schützen.

So stehen die Erde und alles, was auf ihr zum Leben erwacht, unter dem Schutz der Geister. Und wir ehren das Leben und danken den Geistern.

Und wir hören die Geschichte wieder und wieder, gestern und heute und morgen.

AM ABGRUND

Mauk saß auf der Erde, den Rücken an die noch sonnenwarme Felswand gelehnt, und schaute hinab in das weite Tal, wo sich der mächtige Strom durchs Land wälzte. Die Abendsonne verlieh dem Wasser eine leuchtende Ockerfarbe, die nach Westen hin in ein blutiges Rot überging.

Am Ufer fanden sich die ersten Tiere zur Abendtränke ein. Drei Wollnashörner standen nebeneinander, auf der anderen Uferseite stampfte eine Herde Bisons heran. In der Flussmitte ragten helle steinerne Inseln aus dem Wasser. Auf ihnen standen mehrere Reiher und stocherten mit den Schnäbeln nach Schnecken und Würmern.

Mauk blickte auf das kleine Geweihstück in der linken Hand und das Flintmesser in der rechten. Er hatte eine neue Spitze für seinen Speer zuschneiden wollen, doch sie war zerbrochen. Es war bereits der dritte Versuch gewesen, und Zorn stieg in ihm auf. War er jetzt nicht einmal mehr in der Lage, eine Speerspitze zu schneiden? Unzählige Speerspitzen hatte er im Lauf seines Lebens zugeschnitten, er, Mauk, der große Jäger und Anführer des Clans der Feuerpferde.

Wütend sprang er auf, warf das missratene Stück zu Boden und sah auf seine Hände. Diese Hände wollten Speere schleudern, Mammuts ausweiden, Fleischspieße über dem Feuer drehen! Bei dem Gedanken an Fleisch begann sein Magen laut zu knurren. Verdrossen holte er aus dem Lederbeutel, der an seinem Gürtel hing, eine Handvoll Beeren heraus und stopfte sie in den Mund. Dabei blieb sein Blick unverwandt auf die Tiere am Fluss gerichtet. Noch vor wenigen Mondwechseln hätte er sich längst mit seinen Männern an eines der Bisons herangemacht. Nun musste er sich damit begnügen, kleinere Tiere zu jagen, Hasen und Füchse, wenn er Glück hatte, erbeutete er eine Antilope. Für die Jagd auf die schnellen Rentiere und die mächtigen Bisons und Mammuts jedoch fehlten ihm die Männer.

Mauk spuckte eine faule Beere aus. Es herrschte nicht nur Mangel an Männern. Es fehlten auch Frauen, die kochten, Fleisch trockneten, Wurzeln und Beeren sammelten, Sehnenschnüre drehten, Tierhäute walkten, Kleidung nähten, Zelte reparierten.

Dabei besaß er nicht einmal mehr ein Zelt. Gar nichts mehr besaß er, doch konnte er das immer noch nicht fassen. War er nicht der große Mauk, der einen starken Clan anführte und sich immer alles nahm, was er wollte?

Mauk schloss die Augen. In Gedanken stand er auf einem anderen, höheren Hügel, die Sonne leuchtete und er sah hinab in ein weites Tal, durch das eine riesige Herde von feuerfarbenen Pferden galoppierte. Mit wehenden Mähnen waren sie dahingestürmt, strotzend vor Kraft und Schönheit, und das ganze Tal war erbebt unter ihren donnernden Hufen. In glühendem Rot hatte die wogende Masse der glänzenden Leiber geleuchtet; vom Hügel aus hatte es ausgesehen, als treibe der Wind einen Flammenteppich übers Land. Mauk erinnerte sich an das heiße Gefühl, das ihn bei dem Anblick durchströmt hatte. Eine unbändige Freude hatte ihn erfasst, Freude und Stolz darüberr, dass der Geist dieser prachtvollen edlen Geschöpfe der Schutzgeist seines Clans war. Er war ein ungestümer kühner Geist, der Geist der Feuerpferde, und Mauk dachte an die Geschichte seines Clans, wie er sie unzählige Male an den Feuern gehört hatte.

Ein Mann namens Ruan und zwei Frauen namens Ili und Rata hatten in einem Sturm ihre Sippe verloren. Lange irrten sie umher, riefen Tag und Nacht ihre Namen, doch erhielten sie keine Antwort. Schließlich kamen sie in ein weites Tal. Am Ende des Tals erhob sich ein hoher Berg, aus dem eine Rauchfahne aufstieg.

»Da sind ja die Unseren!«, riefen die drei erleichtert. Sie glaubten nämlich, ihre Sippe wäre auf dem Berg und hätte ein Signalfeuer für sie angezündet.

So schnell sie konnten, liefen sie auf den Berg zu.

»Geht fort!«, schrie ein mächtiger Adler, der am Himmel kreiste. »Geht fort, fort von dem Berg!«

Doch die drei verstanden nicht, was ihnen der Vogel zurief und eilten weiter auf den Berg zu. Da durchlief ein polterndes Dröhnen den Grund des Tales, der Berg wankte und spuckte kochenden Feuerschleim aus. Entsetzt wandten sich die drei um und rannten schreiend davon. Doch der feurige Brei folgte ihnen wie ein Ungeheuer. In rasender Geschwindigkeit schoss er die Hänge hinab und wälzte sich hinunter ins Tal. Schon glühte die Erde unter den Füßen der Flüchtenden, und in den Rauchwolken drohten ihre Lungen zu bersten. Da tauchten im Nebel plötzlich drei Pferde auf. Mit letzter Kraft warf Ruan die Arme um den Hals des nächststehenden Pferdes und hielt sich an seiner Mähne fest. Ili und Rata klammerten sich an die anderen beiden Pferde, und diese galoppierten mit ihnen davon. Wie der Wind flogen sie fort und trugen die Menschen zu einem kühlen Weiher, wo sie in Sicherheit waren.

Da fielen die drei auf die Knie und dankten Ama und dem Himmelsstier und allen anderen Geistern. Dann erhoben sie sich und betrachteten ihre Lebensretter. Es waren herrliche starke Pferde, und ihr Fell hatte die Farbe von feurigem Rot.

»Pferde mit feuerrotem Fell und langen Mähnen«, staunte Rata. »Und wie groß sie sind. Solche Tiere habe ich noch nie gesehen.«

»Sie kamen aus dem Feuer«, sagte Ruan. »Also sind es Feuerpferde. Wollen wir ihren Geist bitten, dass er weiter bei uns bleibt und uns beschützt.«

Wie zur Antwort stiegen die drei Pferde auf die Hinterbeine und wieherten laut. Und Ruan sprach: »Wir danken dir, Geist der Feuerpferde. Du hast uns das Leben neu geschenkt, und so werden wir einen neuen Clan gründen, um dieses Leben fortzuführen. Geist der Feuerpferde, wir bitten dich um deinen Schutz.«

So wurde Ruan der Ahnvater des Clans der Feuerpferde. Im folgenden Winter brachte Rata eine Tochter zur Welt und wurde somit zur Ahnmutter des Clans. Auch Ili bekam ein Kind. Noch weitere neun Kinder kamen zur Welt, und diese zeugten ebenfalls Kinder und alle wuchsen sie zu kühnen Männern und starken Frauen heran.

Nach Ruans Tod war sein Sohn Clanführer geworden und danach dessen Sohn. Mauk war der fünfte Clanführer in der Ahnenreihe, und wie seine Vorgänger war er mit seiner Sippe den Feuerpferden durch die Steppe gefolgt. Doch dann hatte Erdmutter Ama plötzlich beschlossen, die Feuerpferde fortzuholen. Zunächst war es den Clanleuten gar nicht aufgefallen, dass die Zahl der Tiere sank. Aber bald war es unübersehbarr, dass die einstmals riesigen Herden immer kleiner wurden, und schließlich verschwanden sie ganz aus den Tälern des Nordlands. Mit ihnen schwand aber auch die Schutzkraft des roten Pferdegeistes, und hilflos musste Mauk mit ansehen, wie aus seinem beherzten starken Clan ein furchtsamer Haufen wurde, der von einem Unheil ins nächste taumelte.

Angefangen hatte es im Sommer, als sie am Fuß eines Berges lagerten. Innerhalb eines einzigen Mondlaufs waren so viele Clanmitglieder gestorben, dass Mauks Hände nicht ausreichten, um alle zu zählen: zehn Männer, sechs Frauen und sechs Kinder. Die meisten von ihnen waren von Fieber und Blutschaum dahingerafft worden, darunter Mauks Mutter Berre, seine beiden Schwestern und drei seiner Brüder. Da hatte der Rest der Sippe den Lagerplatz eilig verlassen und war nach Westen gezogen. Doch das Verhängnis zog mit ihnen: Drei Männer wurden von einer Mammutherde zertrampelt, zwei Frauen vom Fluss fortgerissen. Zuletzt war noch der Donnergeist mit Sturm und Hagel über sie hergefallen und hatte mit einem Feuerspeer das letzte heile Zelt in Brand gesetzt.

Schließlich waren von der großen Sippe nur vier Leute übrig geblieben. Und Mauk wusste, wenn die Sonne im Berg versank, würden sie nur noch zu dritt sein. Denn die Frau, die drüben am Felsen lag, würde die kommende Nacht nicht überleben, ebenso wie das Kind, das sie am Vortag geboren hatte. Und dann würden nur noch er, sein Bruder Atlin und Roor übrig sein.

Mauk sah auf die Bisons unten am Fluss. Seine Füße scharrten, seine Hände zuckten. Wie gerne wäre er wieder einmal zu einer richtig großen Jagd aufgebrochen! Doch Roor und Atlin taugten nicht zur Jagd. Atlin war der Seher des Clans. Seine Welt war das Reich der Gestirne und der geheimen Zeichen, nicht die Welt der Bisons und Mammuts. Zwar konnte er mit Kohle und Ocker seltsame Zeichen malen, doch wie man Tiere jagte und Speere warf, davon hatte er keine Ahnung. Roor war Werkzeugmacher, und es hieß, dass er einst auch ein guter Jäger gewesen war. Aber das war zu einer Zeit gewesen, an die Mauk keine Erinnerung hatte, und so kannte er Roor nur als schweigsamen alten Mann, der ständig an irgendetwas herumwerkelte.

Eine Windbö kam auf und trieb ihm Staub ins Gesicht. Mauk straffte sich und ging zum Felsen hinüber, wo Roor und Atlin bei der kranken Oni wachten. Um sie wenigstens notdürftig vor dem Wind zu schützen, hatten die Männer sie in eine überdachte Steinmulde gelegt. Dort hatten sie die Kranke in ein Otterfell gewickelt und darüber eine Decke aus rotem Pferdeleder gebreitet. Dann hatte Atlin ein Feuer entfacht und Kochsteine in die Glut gelegt, um Kräuterwasser zu kochen. Doch als Mauk zu ihnen trat, war das Feuer erloschen, und die Kochsteine lagen unberührt in der Asche. Reglos saß Atlin neben der Frau, die tief versunken in den Felldecken lag. Wie zum Schutz hatte sie die Hände über dem Kind auf ihrem Leib gefaltet, doch Mauk sah sofort, dass Mutter und Kind tot waren.

Er bückte sich und strich der Toten das Haar aus der Stirn. Ihr Gesicht war bleich und ausgezehrt, doch hatte es Spuren seiner einstigen Schönheit bewahrt. Mauk erinnerte sich daran, wie Onis Augen geleuchtet hatten, als sie dem Clan berichtet hatte, dass sie ein Kind bekommen werde. Das war vor sieben Mondwechseln gewesen, doch schien es Mauk, als seien seither viele Sommer vergangen. Manchmal fragte er sich sogar, ob es seinen Clan wirklich gegeben hatte oder ob er nur ein Schlafbild gewesen war. Seine Gefährtin Oni und ihr Kind waren die letzte Hoffnung auf ein Fortbestehen des Clans gewesen. Nun war auch diese Hoffnung dahin.

Mauk ging um den Felsen herum und stieß auf Roor, der mit einer Geweihschaufel eine flache Grube ausgehoben hatte. Ihre Lage entsprach der Richtung des Sonnenlaufs, so wie es für den Bau eines Grabes vorgeschrieben war.

Mauk tastete nach dem Anhänger an seiner ledernen Halsschnur. Er bestand aus einem roten Fellstück und drei Zähnen eines Feuerpferdes. Er würde ihn Oni mitgeben, und es tat ihm leid, dass er ihr nicht mehr Gaben ins Grab mitgeben konnte, geschnitzte Perlen aus Mammutzahn zum Beispiel oder bunte Schneckenhäuser.

Er trat an den Felsvorsprung. Unter ihm gähnte ein tiefer Abgrund. Und wenn Oni beerdigt war? Was sollten sie dann tun? Hierbleiben? Weiterziehen? Wohin weiterziehen?

Immer wieder hatte er sich mit Atlin und Roor beraten und gerätselt: Ob Erdmutter Ama die Feuerpferde wirklich von der Erde genommen hatte? Oder hatte sie die Tiere nur weit fort geschickt? Mauk war entschlossen, die Suche nach ihnen aufzunehmen. Noch waren sie zu dritt, noch war die Sippe nicht ausgelöscht! Und wenn sie die Feuerpferde wiederfanden, dann – so war Mauk überzeugt – würde der Clan im Schutz des roten Pferdegeistes zu alter Größe und Stärke zurückkehren. Doch um den Clan zu neuem Leben zu erwecken, brauchten sie Frauen. Welcher fremde Clan aber würde ihm eine Frau überlassen?

Finster blickte Mauk an sich herab. Sein Hirschlederhemd war zerrissen, die Weste aus Fuchsfell wies Brandlöcher auf. Das Stirnband, das Oni ihm einst geflochten hatte, hatte er längst verloren, ebenso den muschelgeschmückten Gürtel, ein Geschenk seiner Schwester Rina. Aus dem einst mächtigen Clanführer war ein heruntergekommener Flüchtling geworden. Und wenn er der Toten nun noch das Clanamulett mit ins Grab gab, blieb ihm nur das Band aus Falkenfedern an seinem Oberarm, das darauf verwies, dass sein Schutztier der Falke war. Doch das zählte nicht viel. Wichtiger war der Clan, dem einer angehörte; von dessen Größe und Stärke hing das Ansehen eines Mannes ab. Ein Mann ohne Clan wurde als Ausgestoßener betrachtet. Jeder Fremde musste annehmen, dass seine Sippe ihn wegen eines schweren Vergehens verjagt hatte oder dass er seinen schützenden Clangeist derart erzürnt hatte, dass er von ihm verlassen worden war. Ein solcher Mann hatte keinerlei Rechte, man schuldete ihm keinen Respekt und schon gar nicht gab man ihm die Tochter oder Schwester zur Gefährtin. Und auch keine andere Frau, die auf sich hielt, würde ihn aufnehmen und zum Hüter ihres Heims erwählen.

Es raschelte. Mauk wandte sich um und sah gerade noch die Schwanzspitze eines Marders im Gebüsch verschwinden. Langsam ging er auf das Gestrüpp zu und schob die Äste zur Seite. Überrascht hielt er inne. Direkt vor ihm lag eine halbhohe schwarze Felsöffnung. Mauk suchte den Boden nach Spuren ab. Man musste vorsichtig sein, denn Höhlen wurden oft von Tieren bewohnt. Doch hier schlug ihm fauliger Geruch entgegen, eine Mischung aus scharfen Tiergerüchen, Erde und Verwesung.

Mauk trat zurück und wandte sich um.

»Atlin!«, rief er. »Komm her und bring die Lampe mit und einen Ast!«

Atlin holte einen Stock aus der kalten Asche und ergriff dann die Lampe. Sie bestand aus einem flachen ausgehöhlten Stein, der zur Hälfte mit Tierfett gefüllt war.

»Da scheint eine Höhle zu sein«, sagte Mauk. Er nahm Stock und Lampe, griff in seine Gürteltasche und holte ein paar getrocknete Pilzkrümel heraus. Dann nahm er einen Flintstein und einen zweiten, glitzernden Stein und stieß die Steine gegeneinander, bis Funken aufsprühten. Sie entzündeten sich an dem Zunderpilz, und mithilfe eines dürren Zweiges transportierte Mauk die kleine Flamme in die fettgetränkte Steinlampe. Auf ihrem Boden lagen kleine Moosfasern, die das Feuer sofort aufnahmen.

Wortlos reichte Mauk dem Bruder die Lampe. Dann holte er aus seiner Tasche einen Harzbrocken und band ihn mit einer Lederschnur am Stockende fest. Das Harzstück entzündete er am Feuer der Steinlampe und erhielt so eine Fackel.

Im flackernden Schein der beiden Lichter betraten die Brüder den dunklen Gang. Er war gerade so hoch, dass sie aufrecht darin stehen konnten. Mauk ließ Atlin vorangehen. Er wusste, dass sich dessen Augen sehr rasch an die Dunkelheit gewöhnten. Er selbst brauchte wesentlich länger, um sich zurechtzufinden.

»Da!« Atlin war stehen geblieben und deutete auf die Wand, wo ein Gewirr von Linien, Punkten und Gittern eingeritzt war. Dann schwenkte er die Lampe langsam weiter, bis das Licht auf ein rennendes Pferd fiel. Es hatte keinen Kopf und wandte sich mit leerem Hals einem Steinbock zu, der einen Pferdekopf in seiner Brust trug. Rechts davon stand ein Bison, über seinen Kopf sprangen zwei Rentiere. Um die Tiergruppe herum liefen vier weitere kopflose Pferde, nach verschiedenen Seiten gewandt. Manche Tiere berührten oder überdeckten sich, etliche waren mit Ocker und Asche bestäubt. Mauk sah, dass Atlin sich auf die Unterlippe biss, ein Zeichen, dass er sehr konzentriert war.

»Was ist los?«

Atlin schloss die Augen.

»Es hat einmal ein roter Pferdeclan hier gelebt«, sagte er schließlich, öffnete die Augen wieder und starrte die Bilder so eindringlich an, als versuchte er in sie einzutauchen. Mauk verstand nicht, wie und was genau Atlin in den Zeichen und Bildern las, doch zweifelte er keinen Augenblick an seinen Worten. Atlin war ein Seher, und wie alle Seher stand er unter dem Schutzgeist des mächtigen Höhlenbären. Schon als Kind hatte er die meiste Zeit in Höhlen verbracht und war von mehreren Clansehern unterrichtet worden. Sie hatten ihn gelehrt, geheime Zeichen zu lesen, mit den Geistern zu sprechen und ihre Antworten zu verstehen. Mauk hatte den Bruder nur selten zu Gesicht bekommen, denn der lebte sein eigenes Leben: Wenn die Vögel ihr Morgenlied sangen, ging er schlafen; und wenn abends die Eule rief, stand er auf und verbrachte die Nacht damit, die Reise der Himmelslichter zu beobachten.

»Ein roter Pferdeclan?«, wiederholte Mauk aufgeregt. »Meinst du, unser Clan hat sich früher einmal geteilt?« Ungeduldig wartete er darauf, dass der Bruder weitersprach. Er kannte dessen Eigenart, zwischen den Sätzen lange Pausen zu machen.

»Das kann ich nicht erkennen«, antwortete Atlin schließlich. »Aber es ist ein roter Pferdeclan hier gewesen. Bis es zu einem Kampf mit dem Bisonclan kam.« Er deutete auf zwei Bisons, die übereinanderstanden. Dann wies er auf einen Steinbock, der schräg darunter stand. Daneben stand eine Hirschkuh.

»Dann sind die Leute vom Steinbockclan gekommen, um dem roten Pferdeclan zu helfen«, erklärte Atlin. »Aber erst, als auch noch die Leute vom Hirschclan dazukamen, konnte der Bisonclan besiegt werden.«

Mauk nickte. Von jeher waren der Steinbockclan und der Hirschclan dem Pferdeclan freundschaftlich gesinnt und kamen einander zu Hilfe.

»Und was ist aus dem Clan der Feuerpferde geworden?«

»Er ist ins Südland gezogen«, sagte Atlin langsam.

»Ins Südland?« Mauk konnte seine Erregung kaum beherrschen.

Atlin nickte und deutete auf einen kleinen Kreis zwischen den Tiergruppen. »Das ist das Zeichen der Sonne. Mithilfe seiner Freunde ist es dem roten Pferdeclan zwar gelungen, den Kampf gegen den Bisonclan zu gewinnen, aber dann ist er nach Süden gezogen. Merkwürdig. Sonst ist es so, dass der Verlierer fortgeht und dem Sieger Platz macht. Hier war es umgekehrt.«

Schweigend starrten die Brüder auf die Tiere an den Wänden: Steinböcke, Bisons, Pferde, Rentiere, Hirsche, Mammuts, Wisente, ein langer schmaler Fisch.

»Den Zeichen nach haben verschiedene Clane hier im Tal gelebt«, sagte Atlin schließlich. »Doch ich sehe nirgendwo Spuren von einem Lager. Es müssen sehr viele Sommer vergangen sein, seit sie hier waren.«

Er hob die Lampe, und sie tasteten sich weiter in die Höhle hinein. Dabei mussten sie die Köpfe einziehen, denn der Gang wurde zunehmend enger und niedriger. Oft zweigten Nebengänge ab, und mehrmals mussten sie sich tief bücken, um weiterzukommen. Manchmal, wenn der Gang sich röhrenartig verengte, waren sie gezwungen, auf dem Boden zu kriechen. Und immer wieder stolperten sie über Knochenstücke, die verrieten, dass vor ihnen schon viele Tiere und Menschen hier gewesen waren. Einmal blieb Atlin stehen und leuchtete in eine Seitennische, wo sich eine kuhlenförmige Wölbung im Boden abdrückte.

»Bärenbett«, sagte er.

Mauk nickte wortlos, seine Brust wurde eng. Er spürte, dass die Höhle von einem ungemein starken Geist erfüllt war. Immer wieder wandte er sich verstohlen um, als erwarte er, dass jeden Augenblick der große Höhlenbär auftauchen werde. Schließlich weitete sich der Gang zu einem fast kreisrunden Raum. Mauk hob die Fackel. Erschrocken wich er zurück: Genau in der Mitte des Raumes stand ein breiter halbhoher Steinblock. Darauf lag der Schädel eines mächtigen Bären. Die blanken weißen Knochen glänzten im Schein der Fackeln, und dort, wo einst Augen und Maul gewesen waren, gähnten riesige schwarze Löcher.

Atlin und Mauk senkten die Köpfe. Dann zog Atlin einen Beutel unter dem Hemd hervor und entnahm ihm eine Muschel.

Mauk nickte stumm. Er kannte die Muschel. Sie bestand aus zwei flachen Hälften, die zusammengeklappt und mit Birkenpech verschlossen worden waren. In ihr befand sich der kostbarste Besitz des Clans, die Seele des ersten Ahnvaters Ruan. Seinen letzten Atemzug hatte Ruan in diese Muschel gehaucht, und sie wurde in hohen Ehren gehalten und vom jeweiligen Clanseher gehütet.

Feierlich legte Atlin die Muschel in den Rachen des Bärenschädels. Dann legten sich die Brüder auf die Erde, und Mauk hörte, wie Atlin den Bärengeist um Beistand bat. Schließlich erhoben sie sich, und Atlin verstaute die Muschel wieder in seinem Beutel. Dann machte er sich daran, die Wände genau zu untersuchen. Auch hier waren viele Tiere und geheimnisvolle Zeichen in die Steine geritzt.

»Ich werde morgen noch mal herkommen«, sagte Atlin. »Es sind sehr viele Geschichten, die hier erzählt werden.«

Sie suchten den Boden ab und leuchteten in die Seitengänge hinein. Der Boden wies Schleifspuren und Fußabdrücke auf, und immer wieder stießen sie auf kleine, in Stein geschliffene Schalen. In zwei kniehohen Nischen fanden sie Menschenschädel, einmal fünf, einmal sechs, die jeweils kreisförmig angeordnet waren.

Die Brüder nickten sich zu. Sie wussten, all die Spuren stammten von den geheimen Ritualen, die die Männer der unbekannten Clane bei ihren Zusammenkünften abgehalten hatten. Unzählige Male hatten sie sich hier in der Höhle versammelt, um Jagd-, Bitt- und Dankesopfer abzuhalten, jeder Clan nach seinen eigenen Regeln.

Als Mauk und Atlin die Höhle verließen, war es fast Nacht.

In tiefen Zügen sog Mauk die frische Luft ein. Hoch über ihm leuchtete das weiße Lichthorn des Himmelsstiers. Er erinnerte sich, dass es von manchen Clanen auch Mond genannt wurde. Das Horn war zur Herzseite hin gekrümmt, ein Zeichen, dass bald die Zeit der schwarzen Nächte anbrechen würde. Die schwarzen Nächte sind gefährlich, dachte Mauk. Aber wenn sie vorüber sind, dann werden wir aufbrechen und ins Südland gehen und nach den Feuerpferden suchen.

Roor hatte inzwischen Steine gesammelt und damit den Rand von Onis Grab befestigt. Danach hatte er ein kleines Feuer entfacht. Im Moment war er dabei, die Brust des toten Kindes mit Drosselfedern zu schmücken. Als das Neugeborene am Vortag seinen ersten Schrei getan hatte, hatte eine Drossel mit ihrem Lied geantwortet und war so zum Schutztier des Kindes geworden. Behutsam hob Mauk die beiden toten Körper auf und legte sie in das steinerne Grab. Dann nahm er das Amulett vom Band und legte es in die Hand der Frau. Atlin und Roor streuten eine Handvoll Beeren über die Toten. Dann wurden die Leichname mit Ocker bestäubt und mit dem Otterfell und der Pferdedecke bedeckt.

Gut, dass es ein Otterfell ist, dachte Mauk, während sie das Grab mit den restlichen Steinen schlossen. Der Otter war Onis Schutztier gewesen, und sein Geist würde sie beschützen, wenn sie nun mit ihrem Kind zum Schwarzen Fluss ging und ins Land der Ahnen reiste. Die Ahnen würden am Clanamulett und an der Pferdedecke erkennen, dass Oni eine Frau aus dem Clan der Feuerpferde war, und sie würden sie und das Kind freundlich aufnehmen.

Mauk richtete sich auf und starrte auf das steinerne Grab.

Und er selbst? Mit einem Schlag verließ ihn alle Hoffnung. Ein Gefühl von Leere und Trostlosigkeit überfiel ihn, und trotz der milden Abendluft begann er zu frieren. Während er die Hände rieb, um sich zu wärmen, glaubte er plötzlich eine Gestalt aus dem Dunkel heraustreten zu sehen. Eine weitere Gestalt folgte, immer mehr wurden es. Mauk stockte der Atem.

»Nel!« Ganz deutlich erkannte er seinen Bruder. »Nel!«

Er streckte die Hände aus, doch sie griffen ins Leere. »Nel!«, rief er noch einmal. Doch Nel ging wortlos an ihm vorüber. Die anderen folgten ihm, stumm, den Blick zu Boden gerichtet.

»Mutter Berre! Rina! Lor!«, rief Mauk.

Doch keiner hörte ihn, keiner wandte sich ihm zu. Schweigend zogen sie an ihm vorüber, eine endlose Reihe lautloser Schatten: seine Mutter Berre, ihr Gefährte Lor, seine Brüder und Schwestern und all die anderen, die ihm so nah und vertraut gewesen waren. Müde wanderten sie hintereinander her, mit schleppenden Schritten und gesenkten Köpfen. Der Zug schien kein Ende nehmen zu wollen und blitzartig durchzuckte Mauk die Erkenntnis: Bald werde auch ich durchs Schattenreich wandern! Wie konnte er nur glauben, Mutter Ama würde ihn, Atlin und Roor verschonen? Ama würde keinen von ihnen übrig lassen. So wie die Feuerpferde verschwunden waren, würde auch der Clan verlöschen, bis auf den letzten Mann.

In Mauks Kopf wirbelte es, er schnappte nach Luft. Das Ende war unausweichlich. Bald würde sich auch ihm das Tor zum Reich der Ahnen öffnen. Heute noch? Oder würde Ama zuerst Atlin und Roor zum Schwarzen Fluss schicken? Wollte sie Mauk, den Anführer des Clans, als allerletzten seiner Sippe abberufen?

Plötzlich wollte er Gewissheit haben, sofort. Er wandte sich um und ging langsam zum Felsvorsprung hinüber, direkt auf den Abgrund zu. Schwarz wie Pechkohle lag das Weltendach über ihm. Weder das kleine Feuer noch die winzigen Himmelslichter reichten aus, um die weite Ebene unter ihm zu erhellen.

Noch einen Schritt ging er, noch einen, noch einen dritten, ganz ruhig. Dann schloss er die Augen und blieb stehen. Der nächste Schritt würde in den Abgrund führen. Langsam hob er den linken Fuß –

»Mauk!« Wie aus weiter Ferne drang die Stimme des Bruders an sein Ohr. Dann zerriss ein durchdringender Schrei die Stille. Gleichzeitig ertönte das Geräusch von schwirrenden Flügeln. Ein großer Vogel flog dicht an Mauk vorüber und streifte seinen Kopf.

Da zog Mauk den Fuß zurück und stellte ihn auf die Erde.

»Mauk!«

Mauk wandte sich um. Vor ihm stand Atlin.

»Der Falke ist hier, hast du ihn auch gehört?«

»Du hast ihn gehört«, lächelte Atlin. »Der Falke ist dein Schutztier. Er hat dir ein Zeichen gegeben.«

Mauk tastete nach dem Federband an seinem Arm. Atlin hatte recht: Der Geist seines Schutztiers hatte zu ihm gesprochen. Er hatte ihn geheißen, stehen zu bleiben, einen Schritt vor dem Abgrund.

Und plötzlich war die Kälte verschwunden, und ein glühender Strom schoss durch seinen Körper. Es war ein Brennen, wie er es seit vielen Monden nicht mehr verspürt hatte, sein Herz klopfte, und neue Kraft stieg in ihm auf. Es war die heiße wilde Kraft der Feuerpferde, und da wusste Mauk, sie lebten noch, irgendwo draußen in den Steppen des Südens.

»Wir werden ins Südland gehen, gleich morgen«, sagte er unvermittelt, und seine Stimme durchschnitt die nächtliche Stille so laut, dass die Gefährten zusammenfuhren und die Drosseln in den Büschen aufflatterten.