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Als die junge Kathie sich aufmacht in die große Stadt, ist sie voller Zuversicht, ihr Glück zu machen: München ist in den ausklingenden 30er Jahren ein verheißungsvoller Traum und die große Chance, dem eintönigen und wenig aussichtsreichen Provinzleben zu entrinnen. Kathie weiß nicht, dass in jüngerer Zeit schon einige junge Frauen ihres Typs - dunkelhaarig, hübsch und kräftig - in und um München vermisst gemeldet wurden.
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Seitenzahl: 210
Andrea Maria Schenkel
Kalteis
Roman
Hoffmann und Campe
Aktennotiz zum Abschluss des Verfahrens
Josef Kalteis
Geheime Reichssache
Eine Begnadigung des Verurteilten ist abzulehnen. Die Vollstreckung des Urteils ohne Verzug ist im Gefängnis Stadelheim durchzuführen. Eine öffentliche Bekanntmachung ist unerwünscht.
Erläuterung: Zahlreiche Verbrechen dieser Art wurden seit Beginn der 30er Jahre aktenkundig. Solche Taten konnten nur auf dem maroden Nährboden der Weimarer Republik gedeihen. Die Demokratie, ein Krebsgeschwür, eine Brutstätte asozialer Elemente. Aber dass diese Taten selbst nach der Machtergreifung nicht abnahmen und unsere treuen Volksgenossen weiter beunruhigen und verunsichern, können wir nicht hinnehmen. Die deutsche Volksgemeinschaft ist gesund und soll auch weiterhin gesund bleiben. Volksschädlinge wie dieser sind deshalb aus ihr zu entfernen. Es kann nicht geduldet werden, dass jenes asoziale Element jahrelang den Münchner Westen heimsuchen konnte und München, die Wiege der Bewegung, die Stadt, die unserem geliebten Führer so sehr am Herzen liegt, besudelt.
Da es sich bei dem Täter um einen Volksdeutschen, einen Arier, zudem noch Mitglied der NSDAP, handelt, sind eine umgehende Vollstreckung des Urteils und absolutes Stillschweigen erforderlich. Von Mitteilungen in volksdeutschen Presseorganen sowie dem Völkischen Beobachter ist abzusehen. Alle Berichte sowohl mündlicher als auch schriftlicher Art unterliegen aus diesem Grunde der Geheimhaltung. Es ist jeder Schaden, der dem Ansehen der Partei und der nationalsozialistischen Bewegung entstehen könnte, zu vermeiden. Das eingereichte Gnadengesuch wird abgewiesen. Eine Sicherheitsverwahrung und Umerziehung im KL Dachau ist abzulehnen.
Heil Hitler!
München, den 29. Oktober 1939
gez. …
Er sitzt da. Auf der Pritsche, den Kopf in die Hände gestützt. Die Augen geschlossen, offen? Er weiß es nicht. Der Raum in fahles Licht getaucht, das vom Hof her durch das kleine, vergitterte Fenster hereinfällt.
Er sitzt da, stundenlang sitzt er schon da. In immer der gleichen Haltung, die Hände gefaltet wie zum Gebet, das Gesicht zur Hälfte darin verborgen, die Ellbogen auf die Oberschenkel gestützt, bewegungslos. Die Zeit schwindet dahin. Es kommt ihm vor, als rinne sie durch seine Finger, an seinen Armen entlang, über die Beine hinab zum Boden. Ständig. Unaufhörlich. Und doch kann er sich trotz dieser Langsamkeit an nichts erinnern. Nicht an den Tag, die Nacht, die Stunde, die Minute … Alles verschwimmt in diesem fahlen Licht, diesem endlosen Grau, als hätte auch er sich aufgelöst, als wäre sein Leben bereits verronnen.
Nichts, nichts ist geblieben, ein endloser Raum aus Nichts, nur Leere.
Selbst die Angst ist aus seinem Kopf, aus seinem Körper entwichen. Die Angst, die gestern noch greifbar war. Die langsam seinen Rücken entlang hoch bis in seinen Kopf kroch, Zentimeter für Zentimeter. Die seinen Körper, ihn ganz gefangen hielt. Tief in ihm lauernd, lähmte sie seine Gedanken und ergriff von jeder einzelnen Zelle seines Körpers, von seinem ganzen Ich Besitz. Selbst sie war im Laufe der Nacht dieser Leere gewichen. Hatte nicht standhalten können, sich nicht durchsetzen können gegen das Nichts, das ihn nun erfüllt, ausfüllt.
Irgendwann in dieser Nacht öffnet jemand die Klappe der Zellentür. Er, das Geräusch hörend, wendet den Kopf nicht. Warum auch? Es bedeutet nichts mehr. Nichts bedeutet mehr etwas. Nichts.
Als um sechs Uhr das Licht in der Zelle wieder angeschaltet wird, bemerkt er es nicht, um ihn herum ist das fahle, graue Licht der Nacht geblieben. Den Kopf weiter in die Hände gestützt, bleibt er auf seiner Pritsche sitzen. Mit dem Nichts, mit der Leere, die schlimmer ist als die Angst.
So sitzt er auch noch da, als gegen zehn vor sieben die beiden Männer die Zelle betreten.
Sie sprechen mit ihm, als sie hereinkommen, aber was sie auch sagen, er versteht es nicht. Worte dringen nicht mehr durch diese Leere, durch dieses Nichts hindurch, das ihn umgibt. Ihn einhüllt, ihn fest im Griff hat.
Er reagiert erst, als er die Berührung spürt, die Hand auf seiner Schulter. Weiß, dass es nun Zeit ist aufzustehen. Langsam, mechanisch erhebt er sich. Die Männer legen seine Hände auf den Rücken und er spürt die metallene Fesselung an seinen Handgelenken.
Vier Schritte braucht er, um den Raum zu verlassen. Vier Schritte. Er zählt sie mit.
Vor der Zellentür wartet bereits der Gefängnisgeistliche auf ihn.
Ob er ihnen voranschreitet oder hinterherläuft, er kann es nicht sagen. Genauso wenig kann er sich an die Worte des Geistlichen erinnern. Gesehen hat er, wie dieser den Mund zum Sprechen öffnete. Auch an Laute, die sich ihren Weg zu seinem Ohr gesucht haben, erinnert er sich. Aber sie waren ohne Zusammenhang, ohne Sinn. Drangen nicht zu ihm durch. Konnten die Mauer des Nichts nicht überwinden.
Wieder zählt er die Schritte. Jeden einzelnen, eins, zwei, drei, vier … und dann nimmt er das Geräusch wahr. Das andere Geräusch, das neben den Schritten noch hörbar ist und sich jetzt immer mehr in sein Bewusstsein drängt.
Leise und dann immer lauter, bis es seinen Kopf völlig ausfüllt. Es ist der Klang der Gefängnisglocke, die seinen letzten Gang anzeigt. Die Totenglocke. Ihr Klang erfüllt ihn jetzt, erfüllt seinen ganzen Körper.
Erfüllt ihn nun ebenso sehr wie vorher das Nichts. Er weiß, sie wird erst verstummen, wenn er nicht mehr am Leben ist. Sie wird das Letzte sein, das er hören wird, zeigt sie doch seinen Tod an, für jedermann hörbar.
Sie führen ihn hinunter in den Gefängnishof. Dort erwarten sie ihn bereits. Der Staatsanwalt, der Gerichtsarzt und der Nachrichter mit seinen Helfershelfern.
Die in schwarze Anzüge gekleideten Gehilfen nehmen ihn in Empfang. Sie packen ihn links und rechts an beiden Armen. Legen ihn bäuchlings auf das Kippbrett. Er spürt noch den festen Griff der Hände, da schieben sie das Brett unter die Fallschwertmaschine.
Der Nachrichter zieht den Sperrhebel. Das Messer fällt herunter, trennt den Kopf vom Rumpf.
Der Leichnam, nun Eigentum des bayerischen Staates, wird dem gerichtsmedizinischen Institut der Stadt München übergeben. Die Verwandten des Hingerichteten haben auf den Leichnam und somit auf die Übernahme der entstandenen Kosten verzichtet. 247 Reichsmark werden aus der bayerischen Staatskasse als Entlohnung an den Nachrichter Johann Reichard überwiesen.
Dauer der Hinrichtung vom Betreten des Gefängnishofes bis zur Exekution durch die Fallschwertmaschine: 17 Sekunden.
Kathie sitzt im Zug nach München. Sie hat sich ans Fenster gesetzt. Sieht nach draußen. Regentropfen klatschen an die Scheiben. Rinnen vom Fahrtwind getrieben schräg über die Fenster. Treffen auf andere Tropfen, schließen sich zusammen, bilden Straßen. Verfangen sich im Rahmen und fließen von dort in kleinen Bächen am Fenster hinab. Hinter den nassen Scheiben ist die Landschaft kaum zu erkennen. Das Grün der Wiesen, die abgeernteten Felder, die Wälder, alles verschwimmt im Regennass.
Sie sitzt da in ihre Gedanken versunken. Weg vom Dorf, weit weg in München ist sie bereits. Dort würden sie zur Lederer gehen. Sie und die Maria. Zur Lederer, der Base der Mutter. Versprochen hatte sie es, versprechen musste sie es der Mutter, als sie heute Morgen ging. Aber bleiben, nein, bleiben wollte sie dort nicht. Nur ihre Sachen unterstellen und weiter. Was soll sie auch bei der, würde die ihr doch die gleichen Vorschriften machen wie der Vater. Würde ihr sagen, was richtig war und falsch, würde alles bestimmen, ihr ganzes Leben. Frei will sie sein in München. Frei. Und das Versprechen? An das Versprechen braucht sie sich nicht zu halten, die Mutter würde es eh nicht merken, und außerdem hatte Kathie ihre Finger hinter dem Rücken gekreuzt, als sie es der Mutter versprach. Die hat es nicht bemerkt. Selber schuld.
Vor wenigen Jahren, Kathie war noch ein kleines Kind, da ist sie mit ihrer Mutter hin und wieder nach München gefahren. Nicht oft. Manchmal nur durfte sie sie begleiten. Brav sein musste sie dann. Brav am Fenster sitzen im Zug und brav an der Hand der Mutter durch die große Stadt gehen. Brav auf dem Stuhl sitzen und warten, bis die Mutter fertig war mit ihren Besorgungen. Da saß sie dann, die kleine Kathie, auf viel zu hohen Stühlen mit baumelnden Beinchen, wartete, dass die Mutter endlich fertig wird und sie eine »Stadtsemmel« bekommen würde. Eine Zuckerschnecke oder ein paar Zuckerstangen, weil sie doch so brav war.
Stoffe kaufte sie ein, die Mutter, und all die anderen Sachen. Die sie dann auf dem Land weiter an die Dörfler verkaufte. Einen Hausierhandel hat sie. In den großen Taschen und im Rucksack lagen all die schönen Dinge verstaut. Dinge aus der Stadt, die man auf dem Land nicht oder nur schwer bekommen konnte. Knöpfe, Stoffe, Nähseiden, Garne. Auch das eine oder andere Kochgeschirr hatte die Mutter dabei. Kämme und Schleifen. Zwar konnte man diese Dinge auch beim Kramer kaufen, aber selbst der Weg zum Kramer war für manche zu weit, und »die Wolnzacherin«, wie sie die Mutter nannten, brachte auch das eine oder andere auf Bestellung aus der Stadt mit.
Kathie liebte es, in den Taschen nach diesen Herrlichkeiten zu suchen, den bunten Knöpfen, den Schleifen, den Kämmen. Die Mutter sah das nicht gerne, »sind die Sachen doch zum Verkaufen da«. Aber die kleine Kathie öffnete oft heimlich die Schachteln mit den Knöpfen. Sah sich die Schätze an, welche die Mutter von ihren Einkäufen aus München mitbrachte.
Bunte Knöpfe, Knöpfe aus weißem Perlmutt, aus buntem Bakelit. In allen Farben, rot, blau, grün. Sogar silberne Knöpfe hatte sie. Silberne Knöpfe, die in der Sonne blinkten. Manche wie Münzen, andere wie kleine Spiegel. Stundenlang konnte sie sich alles anschauen. Die Knöpfe, die Nähseiden. Nicht nur Zwirn hat die Mutter eingekauft, nein, auch die teuren Nähseiden. In allen Farben. Passend zu den Stoffen. Stickgarn, in bunten Strängen, und die Muster für die Töchter der Bauern, zum Sticken der Aussteuer. Damit die Kammerwägen der Bräute gefüllt waren und jeder sehen konnte, was die Mädchen alles in die Ehe einbrachten.
Kathie merkte sich genau, wie die Mutter die Taschen eingeräumt hatte. Verstaute schnell die Schachteln, wenn sie sie kommen hörte. Legte alles an genau denselben Platz zurück. Nicht merken sollte die Mutter, dass sie wieder gestreunt hat. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie fürchtete, die Mutter würde es schlagen hören, so heftig klopfte es in ihrer Brust.
Einmal, da brachte die Mutter einen Perlenkragen aus München mit. Eine Kundschaft hatte sie darum gebeten. Modern waren diese Krägen. Auf die Kleider aufgenäht wurden sie. Die Glasperlen weiß, grau und rosa-rot. In den Händen hielt Kathie den Kragen. Spürte, wie kühl sich die Glasperlen anfühlten, wie schwer der Kragen in ihren Händen lag. Nicht widerstehen konnte sie. Mit dem umgelegten Kragen sah sie sich im Spiegel an. Wie eine kleine Madame sah sie aus, mit dem Spiegelbild unterhielt sie sich, wie eine »feine Dame« mit der anderen. Ins Gespräch mit sich selbst versunken, hat sie die Mutter nicht bemerkt. Nicht gemerkt, wie diese hereinkam ins Zimmer. Ganz erschrocken war sie darum, als sie deren Stimme hörte.
»Du schaust so lange in den Spiegel, bis dir der Teufel selber entgegenschaut.«
»Wie kann mir der Teufel aus dem Spiegel entgegenschauen?«, hat die Kathie sie noch gefragt.
»Schau nur lange genug hinein, dann wirst du es schon sehen. Bist nicht die Erste, der das passiert. Und jetzt gib mir den Kragen, der ist nicht für dich, den hab ich extra aus München mitbringen müssen. Der gehört einer Kundschaft und die kauft ihn mir nicht mehr ab, wenn er schmutzig ist.«
Nicht gern gab sie den Kragen her. Hat sich geschworen, sie wird auch einmal so einen Kragen tragen und nicht nur so einen. Aussehen wird sie wie die Schauspielerinnen in den Filmen, die auf den Fotografien im Schaukasten des Lichtspielhauses.
Aber im Spiegel sucht die Kathie seit jenem Tag immer nach dem Teufel. Lugt in alle Ecken, ob sie ihn sehen kann oder er ihr gar schon über die Schulter blickt, Beelzebub. Gesehen hat sie ihn nie.
Der Teufel, der Teufel, der Teufel, im Takt der ratternden Räder des Zuges wiederholt sich dieses Wort immer und immer wieder in ihrem Kopf. Der Teufel, der Teufel.
Maria, mit der sie nach München fährt, sitzt ihr gegenüber. Die Augen geschlossen, müde geworden durch das monotone »Tatagtatag« des Zugs, und eingeschlafen.
Nicht böse ist ihr Kathie deshalb, froh ist sie darüber. So kann sie ihren Gedanken nachhängen, ohne von Maria gestört zu werden.
Träumen von der Stelle, die sie sich in München suchen will, von dem neuen Leben. Zur Firma Hofmann will sie gehen, hatte sie denen doch schon im Januar geschrieben. Die Hofmanns kennt die Kathie. Kauft doch die Mutter ihre Stoffe immer in der Paul-Heyse-Straße. Und dahin hat sie die Kathie auch mitgenommen, zu den Stoffen, den Knöpfen und den bunten Garnrollen. Nur greifen musste man danach. Kathie sieht die Garnrolle noch immer in ihrer Hand liegen, wenn sie daran denkt. Rot war sie gewesen und fest hatte sie die Hand darüber verschlossen. Nicht mehr hergeben wollte sie sie. Keiner hatte gemerkt, wie sich die Finger um die Garnrolle schlossen. Den Schatz tief verborgen in der Kinderfaust. Draußen auf der Straße zeigte sie die Rolle der Mutter.
»Gestohlen«, sagte die zu Kathie. »Gestohlen hast du sie. Ich kann dich nicht mehr mitnehmen, wenn du so was machst.«
Kathie musste das Kleinod zurückbringen. Die Mutter schubste sie vor sich her zurück in das Geschäft. Die Scham darüber kann die Kathie heute noch fühlen, aber die Hofmann schimpfte sie nicht, nur gelacht hat sie und gesagt: »Die Roten gefallen mir auch am besten. Nehmens das nicht so ernst, Frau Hertl, die Kathie ist doch ein kleines Kind.«
Der Familie Hofmann schrieb sie, ob sie ihr nicht helfen könnte bei der Stelle in München. Als Dienstmädchen wollte sie arbeiten. Zuerst einmal als Dienstmädchen. Bei einem Rechtsanwalt oder Künstler oder sonst einer dieser reichen Münchner Familien. Sicher war sie sich, die Hofmanns, die würden ihr helfen, die müssen doch solche Leute kennen. Bei denen kaufen doch immer die ganzen Damen ein. Hat sie sie doch mit eigenen Augen gesehen, als sie da war in München, mit der Mutter, zum Stoffeeinkaufen. Die Damen mit den Hüten und den Pelzen. Schuhe mit Absätzen haben sie alle getragen und Seidenstrümpfe. Solche wollte sie auch besitzen. Feine Schuhe würde sie sich kaufen und seidene Strümpfe. Gleich von ihrem ersten Geld würde sie das machen. Aussehen möchte sie wie eine dieser Damen aus der Stadt.
Der Zug hält auf freier Strecke an. Kathie sieht aus dem Fenster, an das noch immer der Regen in großen, schweren Tropfen fällt. Langsam fährt der Zug wieder an. Maria hat einen festen Schlaf, weder das Ruckeln des Zuges noch das Anfahren lässt sie hochschrecken.
Genau wie Kathie will sie sich eine Stelle in München suchen. Diese ist nicht glücklich darüber, sie am Rockzipfel hängen zu haben. Aber sie wird sie schon loswerden, da ist sie sich sicher. Wenn sie nur erst in München sind. Kathie sieht wieder aus dem Fenster, diesmal ist ihr Kopf leer. Sitzt einfach nur da und schaut den Regentropfen zu, wie diese ihre Bahnen am Fenster ziehen.
Kurz vor München ist die Maria doch noch wach geworden. Gegenseitig helfen sie sich und heben die Koffer aus dem Gepäcknetz. Jede hat einen kleinen Koffer bei sich. Nicht viel. Aber das Wenige ist alles, was Kathie hat. Extra für die Fahrt hat sie ihren schönen, grünen Mantel angezogen, den mit den großen, grünen Knöpfen und dem Gürtel, den kleinen, blauen Hut mit den hellen Bändern, den sie sonst nur am Sonntag in der Kirche trägt.
Der 18. Februar, das war der Faschingssamstag. Dienstbotenball beim Sedlmayer in der Wirtschaft. Da ist immer was los. Jedes Jahr. Immer druckt voll ist es bei denen, droben im Ballsaal. Aus der ganzen Umgebung kommen die Leute. Ist ja auch der Höhepunkt der Faschingssaison. Da kann man nicht fehlen. Freilich bin ich auch hin, was denken Sie denn? Getanzt und geratscht habe ich die ganze Nacht und ein bisschen rumpoussiert natürlich auch. Mit dem Franz. Der war früher in Aubing in Stellung, jetzt ist er aber zu München drinnen in einer Fabrik.
Was er da genau macht? Kann ich nicht sagen, das weiß ich nicht. Aber küssen kann der ziemlich gut, das kann ich Ihnen sagen. Deshalb ist es ja auch so spät oder, besser gesagt, so früh geworden.
Bis vor die Haustür hat er mich noch begleitet und dann ist er zum Bahnhof. Zu Fuß.
Fünf in der Früh war’s, wie ich in die Küche rein bin. Warum ich das so genau weiß? Ich hab auf den Regulator geschaut, der bei uns in der Küche in der Ecke hängt. Gleich neben dem Kanapee.
»Volk ans Gewehr« spielt der zu jeder vollen Stunde. In dem Augenblick, wie ich also die Küchentür aufmache, ist es fünf und der Regulator schlägt mir »Volk ans Gewehr« entgegen. Ich bin so erschrocken, beinahe hätte ich laut aufgeschrien. Im letzten Augenblick habe ich mich noch gefangen. Ich wollt nicht, dass die Mutter wach wird und merkt, dass ich gerade erst heimgekommen bin. Das wäre mir nicht recht gewesen.
Ich bin rüber zum Wasserhahn, um mich abzuwaschen. Eiskalt war das Wasser aus der Leitung. Richtig gut getan hat mir das kalte Wasser. Wie ich mir das Gesicht abtrockne, kommt die Mutter herein. Gesagt hat sie nix, aber geschaut hat sie schon ein bisschen.
»Magst an Kaffee, bevor du ins Bett gehst? Der würde dir bestimmt gut tun!«
»Ja, Mutter, das wäre jetzt gut.«
»War ziemlich was los drüben beim Sedlmayer, weilst gar so spät dran bist?«
»Ja, voll war’s und schön, wie immer. Den Franz hab ich auch getroffen und der hat mich heimbegleitet.«
»So, so, der Franz. Der arbeitet doch jetzt in München? Komm setz dich her, Mädel, gleich kriegst an Kaffee und erzähl, wie es war, drüben beim Sedlmayer!«
So hab ich mich aufs Kanapee gesetzt und der Mutter beim Kaffeekochen zugeschaut. Wie sie fertig war, ist sie mit zwei Hafen voll Kaffee zu mir zum Kanapee. Hergesetzt hat sie sich und den Kaffee vor uns auf den Tisch gestellt.
Dagesessen sind wir und haben geredet. Über den Ball und wer alles da war. Und nach und nach bin ich immer müder geworden. An die Mutter angelehnt habe ich mich, und wie ich dann zum Gähnen gar nicht mehr aufhören konnte, da meinte sie: »Jetzt wird’s Zeit für dich. Jetzt legst dich ein bisserl hin. Heut ist Sonntag und du hast ja frei. Den Kirchgang, den kannst heute auch einmal verschieben. Dem Herrgott, dem macht das nichts aus.«
So bin ich dann aufgestanden und rüber in meine Kammer gegangen. Auf das Bett setzte ich mich, und gerade, wie ich anfange, meine Joppe aufzuknöpfen, da habe ich die Mutter rufen hören.
»Na, da schau einer sich doch das einmal an. Beim Sedlmayer muss es ja ziemlich zugegangen sein. Jetzt liegen die Liebespaare schon direkt vor unserem Gartenzaun, auf den Ranken im Schnee. Magda, komm einmal her. Schau dir das an.«
Ich bin noch mal rüber zu meiner Mutter in die Küche. Sehen wollte ich es mit eigenen Augen, sonst hätte ich es gar nicht glauben können. Wirklich, direkt vor unserem Gartenzaun lagen zwei im Schnee.
»Na so was, dass es denen nicht zu kalt ist?«
Da, in dem Moment, ist der Mann hoch. Seinen Mantel zugeknöpft und umgeschaut hat er sich. Und dann ist er in Richtung Aubing davon.
Das Mädel, zuerst ist es liegen geblieben. Erst als er schon weg war, ist es mühsam aufgestanden aus dem Schnee.
Ich sage das Mädel, denn jetzt konnte ich sehen, dass das wirklich noch ein Mädel war. Ein ganz junges Ding. Aufgestanden ist es und auf unser Haus zugelaufen.
»Da stimmt was nicht!« Sehen konnte man, dass da was nicht stimmte.
Schnell meine Joppe wieder zugeknöpft, in die Schlappen und den Mantel rein. Raus aus dem Haus, schauen wollte ich, was da los war. Da ist es mir schon in die Arme gelaufen. Ganz aufgeregt war’s. Ich hab ihr die Haare aus der Stirn gewischt und ihr ins Gesicht geschaut, da sah ich, dass es die kleine Gerda war. Das Pflegekind von den Meierschen.
Ich sag noch: »Gerda, was ist passiert? Was hast du gemacht?«
Da fing die Gerda zum Weinen an.
»Der hat mich am Hals gepackt. Am Hals hat er mich gepackt, den Rock hochgeschoben und die Unterhose hat er mir ausgezogen.«
Kaum verstanden hab ich sie. Gestoßen hat es sie, richtig gestoßen. Nur immer »am Hals hat er mich gepackt, die Hose und in den Schnee hat er mich gedrückt«.
Die Mutter, die gleich hinter mir aus dem Haus raus ist, nahm die Kleine in den Arm. An sich gedrückt hat sie die Gerda, das Häuflein Elend.
»Wie ein kleines Vögelchen«, hab ich mir noch gedacht. Die Gerda hat ausgesehen wie ein kleines, zerrupftes Vögelchen, das der Katze noch einmal ausgekommen ist. So sah sie aus, wie sie sich von der Mutter ins Haus hat führen lassen. Mit hängenden Kopf und Schultern, zusammengezuckt ist sie bei jedem Schluchzer.
Die Mutter hielt sie im Arm, ganz fest, und gesagt hats nur: »Komm rein in die warme Stube. Es wird jetzt alles gut. Brauchst dich nicht zu schämen. Komm rein. Und erzähl mir alles.«
Die Wut hat mich gepackt, wie ich das gesehen hab. Darum bin ich auf mein Fahrrad und dem Kerl nachgefahren. Ich wollte den nicht so ohne Weiteres davonkommen lassen. Den nicht! Angst hatte ich keine, nur eine ungeheure Wut im Bauch. Eine furchtbare Wut. Deshalb hab ich mich aufs Fahrrad gesetzt und bin losgeradelt. Hinter ihm her wollte ich, ihn nicht entwischen lassen.
Gesehen hatte ich ja noch, dass der in Richtung Aubing davon ist. Geradelt und geradelt bin ich.
Beim Zacherl oben, da ist die Frau Schreiber auf ihrem Fahrrad vor mir her. Ich bin noch schneller in die Pedale getreten. Einholen wollte ich sie, fragen, ob sie den Mann gesehen hat.
»Nein, hier ist keiner entlanggelaufen. Den hätte ich sehen müssen, drüben zwischen den Krautgärten muss der abgebogen sein.«
Der Schreiber hab ich noch gesagt, nein, zugerufen hab ich ihr: »Der hat die kleine Gerda überfallen!« Herausgeschrien hab ich das: »Der Hund hat die Gerda überfallen!« Während ich bereits mit meinem Fahrrad in Richtung zu den Krautgärten unterwegs war.
Ich bin den Weg zwischen den Hecken rüber zu den Gärten geradelt.
Den Mann, den konnte ich nirgends sehen, aber die Lücke im Zaun, die ist mir aufgefallen. Und die Tritte im Schnee, die sah ich erst, als ich vom Rad abgestiegen bin.
Durch die Lücke im Zaun haben die geführt.
Dagestanden bin ich mit meinem Rad, nicht gewusst hab ich, was ich jetzt machen soll. Unschlüssig war ich, ob ich durch den Zaun durch soll und das Radl einfach liegen lass. Zum Glück ist die Schreiber hinter mir hergeradelt. Mit dem Arm hat sie in der Luft herumgefuchtelt. Gerufen hats, dass ich auf sie warten soll. Sie wollte mich nicht alleine gehen lassen und deshalb ist sie mit dem Radl umgekehrt.
Auch die Schreiber sah die Spur im Schnee.
»Der ist da durch. Der kann nur durch den Zaun rein sein. Der Garten, das ist der Garten von der alten Glas. Die ist zur Zeit nicht da, die ist bei ihrer Tochter«, hat sie gesagt.
Mit der Schreiber zusammen bin ich dann durch das Loch im Zaun rein in den Garten. Die Räder, die ließen wir einfach im Schnee liegen.
Hinterm Gartenhaus haben wir ihn gefunden. Mit dem Rücken stand er zu uns. Es sah so aus, als machte er sich seinen Mantel sauber, als wischte er ihn mit dem Schnee ab.
Er hörte uns nicht kommen, denn wie ihn die Schreiber ansprach, was er hier mache, da ist er zusammengezuckt, mit einem Ruck drehte er sich um. Erschrocken starrte er uns an, hat sich aber gleich wieder gefangen, weil er doch sah, dass wir nur zwei waren und zwei Frauen noch dazu.
»Nichts mach ich hier, gar nichts.«
Vorbeidrängeln wollte er sich an uns. Wegschubsen mit der Schulter und vorbeidrängeln. Da ist der bei der Schreiber aber an die Falsche gekommen. Nicht zugelassen hat sie das. Dagestanden ist sie. Die Arme in die Hüften gestemmt, so ist sie dagestanden mit breiten Beinen. »Bleibens stehen und sagen Sie mir, was Sie hier machen!«, hat sie ihn angeschnauzt.
»Nichts mach ich, gar nichts!«
Er, der Mann, der war fast einen Kopf größer als die Schreiber. Einen Rempler gab er ihr, die Schreiber ist nach hinten in den Schnee gestürzt und raus ist er aus dem Grundstück.
Gelaufen ist der jetzt, gelaufen, als ob der Teufel hinter ihm her wäre. Richtung Schmied.
Auch ich bin raus aus dem Grundstück. Zurück zu meinem Radl, so schnell ich konnte, und beim Zeiler, da hatte ich ihn dann eingeholt.
Ganz außer Atem war er, fast nicht mehr laufen konnte der. Ich bin ein ganzes Stück neben ihm auf meinem Fahrrad hergefahren. Angst hatte ich keine, nur diese Wut, und mit jedem Meter ist sie gewachsen.
Verschwinden soll ich, hat er mich angezischt. Was ich von ihm wolle, nichts getan hat er. »Nichts! Nichts!«
Stur bin ich auf dem Fahrrad sitzen geblieben, nicht aus den Augen hab ich ihn gelassen. Die ganze Zeit bin ich ganz langsam neben ihm hergefahren.
»Redens doch keinen Blödsinn! Ich hab doch gesehen, was Sie gemacht haben. Drehens um. Gehens mit mir zur Polizei! Erwischen tun die Sie sowieso! Machens deshalb keinen Unsinn und kommens mit mir mit.«
Über mich selbst hab ich mich noch gewundert, so ruhig bin ich geblieben. Innerlich, da hab ich gezittert, aber die Stimme, die war ganz fest.
»Da brauch ich Sie nicht dazu. Ich gehe selber zur Polizei.«