Kalter Weihrauch - Marlene Faro - E-Book

Kalter Weihrauch E-Book

Marlene Faro

4,8

Beschreibung

Chefinspektor Artur Pestallozzi wird zu seinem zweiten Fall an den Wolfgangsee gerufen. Eine tote junge Frau ist neben dem Adventmarkt gefunden worden, offenbar eine Novizin aus dem nahen Kloster. Ihr Körper weist Spuren von Mißhandlungen auf und ein Merkmal, das nicht nur Gerichtsmedizinerin Lisa Kleinschmidt zutiefst verstört. In die Ermittlungen platzt ein zweiter Mord, Angst vor einem Serienkiller macht sich breit. Da gibt eine Nonne einen Hinweis, der zunächst völlig unglaublich klingt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 381

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (50 Bewertungen)
41
9
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Marlene Faro

Kalter Weihrauch

Roman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung und E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Tiago Ladeira – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4218-6

Für Heinz

(»Scho wida«, wie Inspektor Krinzinger sagen würde)

Wir gehören nicht der Nacht und nicht der Finsternis.

Thessaloniker 5, 5

Die Stimmen waren so quälend laut, ganz besonders die der Frauen. Schrill und kreischend, alkoholgeschwängerte Atemwolken, die aus offenen Mündern entwichen. Jedes Lachen eine rotierende Kreissäge in seinem Kopf. Gerade hatte einer einen Witz erzählt, andere würden folgen, jeder zotiger als der vorher. Das würde noch Stunden so weitergehen, bis nach Mitternacht. Immer lustig, immer fidel. Er wusste nicht, wie er es ertragen sollte. Nicht einmal der Anblick der vielen Kinder konnte ihn noch trösten, besänftigen. Er fühlte sich wund, inwendig und außen wund, als ob man ihm die Haut abgezogen hätte. Aber man durfte ihm nichts anmerken. Das war seine einzige Chance. »Noch eine Runde für alle, und nicht am Schnaps sparen!«, grölte jemand. Er kannte die Stimme. Es war seine eigene.

I

Der Schnee fiel, wie vom Fremdenverkehrsverein bestellt. Glitzernd weiße Flocken rieselten vom Himmel auf den Weihnachtsmarkt, senkten sich auf die Dächer der hölzernen Buden und auf die gestrickten Mützen der Besucher. Kinder streckten ihre kleinen rosa Zungenspitzen hervor, um sie zu erhaschen und ihr Schmelzen zu fühlen. Die Welt lag da wie von Puderzucker bestäubt.

Krinzinger stand auf dem Kirchenplatz, gleich vor der Krippe mit den geschnitzten Hirtenfiguren direkt unter dem sanft glimmenden Stern von Bethlehem, der zum Glück noch mit altmodischen Glühbirnen zum Leuchten gebracht wurde und nicht mit diesen kalt gleißenden Ökoscheinwerfern, die die EU vorschrieb. Mitten im Geschehen stand er, auch wenn das sonst keiner merkte, und hatte alles im Griff. Sogar die gefühlten 10.000 Touristen, die an diesem ersten Adventwochenende über den Ort hereinbrachen, jeden Kitsch mit spitzen Entzückensschreien bedachten und erstaunlicherweise auch kauften (die zuckergussverzierten Lebkuchenengel der Loibnerin zum Beispiel, die so hart waren, dass jedes Jahr mehrere Zahnkronen darin abbrachen), um sich sodann den dampfenden Punschständen zuzuwenden. ›Feurige Liebe‹ war in diesem Jahr der Renner, ein ebenfalls von der geschäftstüchtigen Loibner Hanni ersonnenes Gebräu aus viel Wasser, wenig Amaretto und ordentlich Schnaps, das vor dem Servieren mit einem Streichholz in Brand gesetzt wurde, sodass bläuliche Flämmchen in den Henkelbechern züngelten. Was wiederum Jauchzen und Kreischen hervorrief. Vor allem die Damen waren schon in bester Stimmung.

Krinzinger zog den Inhalt seiner Nase hoch. Zum Glück war seine Frau nicht in der Nähe, sondern machte sich gerade am Stand mit den gestrickten Socken wichtig. Die hasste dieses Geräusch nämlich abgrundtief und bedachte ihn dann immer mit einem bösen Blick. Er beschloss, eine weitere Runde zu drehen. Zwar war er heute Abend nicht im Dienst, ausnahmsweise, aber ein Inspektor und Amtsorgan war eben immer auf der Hut, sozusagen. Einer wie er, Bezirksinspektor Krinzinger, hatte niemals wirklich frei. Ein Ort war ihm anvertraut mit all seinen Bewohnern und mit seinen Gästen, die aus der ganzen Welt kamen, um sich von der Schönheit der Landschaft und der Musik Mozarts betören zu lassen. Plötzlich fühlte Krinzinger eine Regung aufsteigen, die sich wie Wohlbehagen, ja beinahe wie Stolz anfühlte. Oder war es doch nur der Kaiserschmarrn vom Mittagessen, der so wohlig seinen Bauch füllte? Nix da, das war schon Stolz. Stolz war er auf seine Heimatgemeinde und auf sich selber. Und auf alle rundherum, von denen ein paar gewiss nicht zu seinen Freunden gehörten. Aber vor ein paar Jahren hatten sie sich zusammengehockt, endlich einmal waren alle an einem Tisch gesessen und hatten auf das ständige Hickhack, auf den Neid und auf die ewige Konkurrenz untereinander – welcher war der schönste Ort am See, welcher war am berühmtesten -, vergessen, alle rauften sie sich um den Mozart, dabei hatte der nie auch nur einen Fuß ins Salzkammergut gesetzt. Als ob das von Bedeutung gewesen wäre! Manche Touristen, und gar nicht so wenige, hielten den Wolfgang Amadeus sowieso bloß für den Erfinder der Nougatmarzipankugel. Jedenfalls, sie hatten sich also zusammengehockt, die Herren Bürgermeister und die Herren Manager von den Fremdenverkehrsbüros, die von den Trachtenvereinen und von den Musikkapellen, die Wirte und die Hotelbesitzer. Na ja, ein paar Weiberleut waren auch dabei gewesen, die mussten ja schließlich die Arbeit machen. Die Köpfe hatten geraucht, und die Schnapserln waren gekippt worden, ein paar Mal hätte es beinahe eine Rauferei gegeben. Und dann hatten sie den Weihnachtsmarkt erfunden, jawohl! Das hatte zunächst nach keiner weltbewegenden Idee ausgeschaut, Weihnachtsmärkte gab es ja mittlerweile wie Rosinen im Schmarrn, jedes Kuhdorf stellte ein paar Standeln auf und verkaufte Honig, Kerzen und die windschiefen Strohsterne der Volksschulkinder. Aber plötzlich waren alle Gemeinden rund um den See wie elektrisiert gewesen, als ob sie aus dem Winterschlaf erwacht wären, der sie alljährlich im Spätherbst erfasste. Denn das konnten sich die in der Stadt ja gar nicht vorstellen, wie das war am Land, wenn der Winter von November bis April über den Häusern und den Berggipfeln lag wie eine dunkle feuchte Tuchent. Nur Kälte und Dunkelheit rundum. Einmal war er, Krinzinger, zwei Wochen lang durch den Ort gestapft auf seiner täglichen Runde, mit tropfender Nase, und keine Menschenseele war ihm entgegengekommen, nicht einmal ein Hund. Doch dann hatte es auf einmal etwas gegeben, worauf man sich freuen konnte, wenn die Sommersaison vorbei war und der Nebel über den See gekrochen kam wie in einem Vampirfilm. Lachen und Geselligkeit, Punschhütten und Geigenmusi, Zimtsterne und Kletzenbrot. Freche kleine Ziegen für die Kinder zum Streicheln. Mit Lichterketten festlich geschmückte Dampfer, die durch das dunkle Wasser pflügten und die golden schimmernden Orte miteinander verbanden. Überall flackerten und knisterten offene Feuer, Kohlenstücke in gusseisernen Körben und Holzstämme, die langsam zu Asche verglosten. Tannen und Fichten standen an jeder Ecke, aber nicht so aufgemotzte wie in den Kaufhäusern, sondern schlichte frischgeschlägerte Bäumchen aus dem Wald, die sich nur mit ihrem Duft schmückten. Das Beste aber war die Laterne. Fast 20 Meter hoch schaukelte sie weit draußen auf dem See und leuchtete wie eine Sternschnuppe vom Himmel, die mit ihrem Schein die Gesichter der Menschen am Ufer zum Leuchten brachte und ihre Herzen wärmte. Nie gab es Raufhandel, auch wenn der Punsch floss. Von dem er heute Abend übrigens erst eine einzige Probe gekostet hatte, auch das gehörte nämlich unbestreitbar zu den Amtshandlungen eines wachsamen Inspektors. ›Feurige Liebe‹ von der Loibner Hanni war ja wirklich ein fürchterliches Gebräu, aber der Mandarinenpunsch … Krinzinger beschloss, sich noch einen Henkelbecher voll zu genehmigen, am besten von der Christine. Die schöpfte ihm immer eine Extraportion Mandarinenspalten aus dem Kessel, nach denen er dann voller Wonne fischen konnte, so wie nach den Kandiszuckerkieseln im Hustentee seiner Kindheit. Krinzinger zog seine wattierte Jacke stramm und setzte sich in Bewegung, fein ausgewogen nach allen Seiten grüßend. Servus, Lois. Habedieehre, Schorsch. Hallo, Suse. Der Herr Bürgermeister samt Gattin und quengelnden Enkelkindern kam ihm entgegen, die Ziegen wollten offenbar nicht mehr gestreichelt werden. Italiener kreisten ihn kurzfristig ein, die Frauen trugen Pelzmäntel, die verteufelt echt aussahen. Er linste kurz hinüber zum Socken-Stand, aber seine Frau war zum Glück in ein Verkaufsgespräch vertieft, die sah es nämlich gar nicht gern, wenn er der hübschen Christine seine Aufwartung machte. Lachen und Klirren, Schwaden von Glühwein und Duftwolken von kandierten Mandeln umgaben ihn – und ein leises Zirpsen. Oder war es ein Rufen gewesen? Ein erstickter Schrei? Ein Laut war jedenfalls an sein Ohr gedrungen, der seltsamerweise eine angstvolle Reaktion bei ihm ausgelöst hatte. Krinzinger fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Er blieb stehen und sah sich um, ein kompaktes Hindernis inmitten der drängelnden und schubsenden Menge. Und dann sah er sie: eine Touristin, die offenbar soeben die Böschung heraufgeklettert war, die sich hinter dem Musikpavillon zu einem Wäldchen absenkte. Das Wäldchen übte leider eine magische Anziehungskraft auf Umweltverschmutzer aus. In Sommernächten war es die Dorfjugend, die sich in seinem Dickicht vergnügte und leere Bierflaschen, Red-Bull-Dosen und Zigarettenstummel zurückließ, während des Weihnachtsmarktes wurde es dann noch schlimmer. Dabei hatte die Gemeinde extra mobile Toilettenhäuschen aufstellen lassen, vor denen unentwegt Schlangen von Frauen anstanden, die Männer schlugen sich einfach in die Büsche. Doch wenn die Warteschlangen zu lang wurden und der Punsch einfach zu viel gewesen war, dann … der arme Dragan musste dann immer am nächsten Morgen mit der Schaufel anrücken. Aber die Frau, die offenbar durch knietiefen Schnee gewatet war – ihre Hosenbeine waren von Eiskristallen überzogen –, sah nicht aus, als ob sie sich über mangelnde Hygiene beschweren wollte. Ihr Gesicht war kreidebleich, ihre Augen waren weit aufgerissen und ihr Mund war geöffnet, als ob sie um Luft ringen würde. Gleich würde sie zu schreien beginnen, weshalb auch immer. Krinzinger setzte sich in Bewegung. Er rempelte sich den Weg zum Musikpavillon frei, Besucher wichen kopfschüttelnd zur Seite, ein Mann schimpfte hinter ihm her, der sich seinetwegen Punsch auf den Anorak geschüttet hatte. Alle hielten ihn offenbar für einen Betrunkenen, der dringend frische Luft brauchte. Endlich war er beim Musikpavillon angelangt, die Frau starrte ihm leintuchblass entgegen und streckte die Hände nach ihm aus.

»Da, da, da hinten …« Sie wies hinter sich, aber sie blickte sich nicht um, als ob ein nicht beschreibbares Grauen in ihrem Rücken lauern würde. Krinzinger beschloss, sich nicht mit langem Nachfragen aufzuhalten. »Bleiben Sie ganz ruhig da stehen«, befahl er der Frau, dann wälzte er sich über die Böschung und versank sofort bis zu den Knien im Schnee. Schnee rieselte von den Zweigen, die er streifte, und sickerte in seinen aufgestellten Jackenkragen. Das lärmende Treiben vom Weihnachtsmarkt wurde schlagartig gedämpft durch die dichten Nadelbäume, das Licht versickerte in seinem Rücken. Stille und ein gespenstisches Gefühl von Einsamkeit umgaben ihn, er hörte sich selber keuchen. Zum Glück war es eine helle Nacht, übermorgen würde Vollmond sein. Krinzinger hielt inne und lauschte, sein Herz pumperte. Wohin sollte er sich wenden, das Wäldchen war ja nun wirklich kein unüberschaubares Terrain, und dennoch gab es ein halbes Dutzend mögliche Verästelungen und Fußstapfen, die vor ihm lagen. Er entschied, den eingesunkenen Spuren im Schnee zu folgen, die ihm von schräg rechts entgegenkamen. Ob die verwirrte und geschockte Frau aus dieser Richtung gestolpert gekommen war? Hoffentlich! Er spürte, wie plötzlich Groll und Ärger ihn packten. Auf was hatte er sich da bloß eingelassen, wieso hatte er sich von einem hysterischen Weibsbild so ins Bockshorn jagen lassen? Kreuzteufel, er konnte nur inständig hoffen, dass niemand die Szene beobachtet hatte, sonst würde er morgen wieder einmal das Gespött im Wirtshaus sein. Wie immer, wenn er sich … die Fußstapfen wurden weiter, als ob jemand in großen Schritten durch den Schnee gerannt wäre oder es wenigstens versucht hätte. Sie führten ihn scharf um die tiefhängenden Zweige einer uralten Fichte – und dann sah er es. Sie. Er sah sie. Liegen im Schnee. Der Mond schien.

Krinzinger ging in die Knie. Eigentlich beugte er nur ein Knie und stützte sich darauf. Eine Frau lag auf dem Rücken vor ihm, eingesunken und wie verschmolzen mit dem Schnee. Eine reglose junge Frau in einem weißen Kleid, das ihr bis zu den Knöcheln reichte. Eine Braut! Eine Braut, dachte er. Eine Braut, Herr im Himmel! Lass es nicht die Vroni sein! Die hatte doch am vergangenen Wochenende geheiratet! Aber die Vroni und der Patrick waren auf Hochzeitsreise in der Dominikanischen Republik, es konnte also nicht die Vroni sein. Danke, lieber Gott, ihre Mutter hätte das nicht überlebt! Krinzinger stierte vor sich hin, sein Gehirn war wie aus Watte. Vielleicht war ja alles bloß ein Albtraum. Gleich würde er zu Hause in seinem Bett aufwachen, fröstelnd, und die Steppdecke würde wieder einmal auf den Boden gerutscht sein. Er wartete, mindestens fünf Herzschläge lang, aber nichts geschah, nur der Schnee wurde zu Wasser in seinem Hemdkragen. Der Mond schien. Die Frau lag da.

Er rappelte sich wieder hoch. Was war er nur für ein schlechter Polizist! Vielleicht war die junge Frau ja gar nicht tot, sondern war in den Wald gerannt und ohnmächtig geworden. Aus Liebeskummer. Frauen neigten bekanntlich zu den seltsamsten Handlungen. Und er ging in die Knie, statt sie zu retten. Aber er fühlte, dass es sinnlos war, auch wenn er noch nicht einmal ihren Puls kontrolliert hatte. Er machte zwei vorsichtige Schritte, dann stand er neben ihrem Kopf. Er beugte sich hinab und versuchte, seine Finger an ihren Hals zu legen, der von einem weißen Kragen eingeschnürt war. Kalt, eisig kalt, nicht einmal ein Flattern. Ihre Augenlider waren halb geschlossen, ihr Gesicht war wächsern bleich unter der gebräunten Haut, die nass war vom Schnee. Sie trug eine Art Kopftuch, das verrutscht war. Und dann wurde ihm plötzlich klar, dass es keine Braut war, die vor ihm lag. Sondern … Krinzinger machte einen so jähen Schritt zurück, dass er beinahe gestrauchelt wäre, im letzten Moment klammerte er sich an einem schwankenden Zweig fest. Es war noch viel schlimmer. Es war einfach unbegreiflich. Noch Jahre später würde ihm der Schweiß ausbrechen, wenn er an jenen Augenblick im Schnee zurückdachte. Er holte tief Luft und fühlte sich zum ersten Mal zu alt für seinen Job. Damit wollte er einfach nichts mehr zu tun haben. Aus, basta! Er wollte nur weg.

Er hastete den Weg zurück, den er gekommen war. Die Stimmen wurden lauter, er erklomm die Böschung auf allen vieren. Menschen standen um die Touristin, die ihm den Rücken zuwandte und in hohem schrillem Tonfall berichtete, offenbar hatte sie den ersten Schock bereits überwunden. Ein Mann schickte sich an, über den Abhang in das Wäldchen zu klettern. Krinzinger hob die Hand.

»Halt!«

Er war selbst verblüfft, wie gebieterisch er klang. Solch eine Geste war ihm noch nie gelungen, in all den Jahren nicht. Aber alle hielten inne, sogar die Frau verstummte. Die Gesichter wandten sich ihm zu, verblüfft, sensationslüstern, zum Widerspruch bereit. Jetzt durfte ihm kein Fehler unterlaufen. Wenn es ihm jetzt nicht gelang, Autorität zu zeigen, dann würden die ersten Schaulustigen innerhalb weniger Minuten sämtliche Spuren zertrampeln, und das Chaos würde ausbrechen. Der Schweiß rann ihm über den Rücken, aber seine Stimme klang fest.

»Ich bin Bezirksinspektor Krinzinger. Leider besteht die Möglichkeit, dass es in dem Wald hinter mir einen Unfall mit Todesfolge gegeben hat. Das Gebiet ist ab sofort gesperrt. Jeder, der es zu betreten versucht, macht sich strafbar und hat mit einer sofortigen Anzeige zu rechnen.«

Die Leute glotzten ihn an. Eine Frau zog ihre beiden Kinder weg, dafür drängelten andere nach. Krinzinger nestelte sein Handy aus der Jackentasche und hoffte, dass das Zittern seiner Hände in der Dunkelheit nicht auffallen würde. Sein Kollege Gmoser, der heute Abend Dienst hatte, meldete sich nach dem dritten Klingeln.

»Poli…«

»Ich bin’s, Krinzinger. Du musst sofort herkommen, zum Musikpavillon beim Weihnachtsmarkt. Und gib allen anderen Bescheid, egal ob sie Bereitschaft haben oder nicht. Wir brauchen jeden Mann.«

»Aber wieso …«

»Frag nicht! Sofort!«

Er beendete das Telefonat. So hatte er noch nie mit dem Gmoser gesprochen. Die Menschen wurden immer mehr, offenbar verbreitete sich die Nachricht vom grausigen Fund gerade wie ein Sternschnuppenregen zwischen den Ständen. Krinzinger stellte sich so breitbeinig in den Schnee, wie es der Schwarzenegger Arnold in seinen Filmen immer gemacht hatte. Conan der Barbar! So einen hätte er jetzt brauchen können an seiner Seite! Einen, der ohne Furcht und … und dann wusste er plötzlich, wen er anrufen, wen er um Hilfe bitten musste. Die Erleichterung durchflutete ihn so überwältigend wie das Aufrichten nach dem Holzhacken. Er warf der drängelnden Menge einen Blick zu, der das Tuscheln und Murren schlagartig dämpfte. Dann holte er wieder sein Handy hervor und klickte sich durchs Menü. Über ein Jahr war es her, dass er diese eine Nummer gespeichert hatte, dass er diese ruhige, gelassene Stimme gehört hatte. Krinzinger drückte die Wähltaste. Herrgott, mach, dass er abhebt!

*

Die Autos draußen vor den Fenstern pflügten durch den braunen Matsch, der am Nachmittag noch weißer Schnee gewesen war, wenigstens eine Viertelstunde lang. Es klang, als ob sie durch Brei fahren würden. Leo Attwenger knackte mit den Fingerknöcheln, diese Unart konnte er sich einfach nicht abgewöhnen. Besonders wenn er grantig war. Wie heute, an diesem Freitagabend, das erste Adventwochenende hatte gerade begonnen. Am Domplatz würde es jetzt schon hoch hergehen, bei Glühwein und heißen Maroni und Schmalzbroten mit ordentlich Zwiebel obendrauf. Nur er hockte hier in diesem trostlosen Kabuff, das sich Büro nannte, und musste noch Dienst schieben bis um zehn. Dem Chef ging es allerdings auch nicht besser, der saß im Nebenzimmer und brütete über Stapeln von Unterlagen, die die Svetlana vom Übersetzungsbüro am Vormittag gemailt hatte. Ein prominenter Anwalt war erdrosselt worden, der sich auf Geschäfte mit der Russenmafia eingelassen hatte. Illegale Wettbüros, wo vor allem Zuwanderer aus dem Osten zockten. Die Stadtverwaltung versuchte zwar, das Problem in den Griff zu bekommen, aber der mit allen Wassern gewaschene Winkeladvokat hatte immer wieder ein Schlupfloch gefunden, durch das die Betreiber entwischen konnten. Einstweilige Verfügung, Einspruch, Anzeige auf freiem Fuß, haha. Die Kellner in den Cafés mit den fensterlosen Hinterzimmern lachten den Kollegen vom Referat für Geldwäsche und vom Büro für Bekämpfung der organisierten Kriminalität frech ins Gesicht. Und der prominente Anwalt war in seinem pompösen Büro am Salzachkai gesessen und hatte ganz unverhohlen mit seinen Beziehungen bis in die höchsten Petersburger Kreise geprahlt und mit seinen Jagdausflügen zum Ural. Aber dann hatte er den Hals offenbar nicht voll genug kriegen können oder ein wenig zu laut geprotzt, das hatten die Herren nicht gern, die sich die teuersten Penthäuser und Villen zulegten so lässig wie ein kleiner Kriminalbeamter ein Paar neue Laufschuhe. Die knallten ganz im Ernst Koffer voller Geld auf den Tisch, wenn ihnen eine Immobilie ins Auge stach, das hatte ihm der Eugen erzählt, der ins Maklergeschäft eingestiegen war. Und wehe dem, der nicht verkaufen wollte! Jedenfalls, der feine Herr Anwalt war vorige Woche in seinem Mercedes Coupé in der Tiefgarage unter dem Kapuzinerberg gefunden worden, mit einem hässlich dünnen Stück Draht um den Hals. Kein schöner Tod. Na ja, das Sterben war nie schön, wenn man keine kleinen Ganoven provozierte, sondern die Herren in Designerklamotten. Die italienische Mafia war in den letzten Jahren dazu übergegangen, lästig gewordene Mitglieder und Informanten nicht mehr in frischem Beton zu versenken, sondern mit einem Filetiermesser zu zerschnetzeln, schön langsam bei lebendigem Leib. Jedenfalls, das Video aus der Überwachungskamera war natürlich verschwunden gewesen, und die Parkwächter hatten nichts gesehen und gehört, logo. Und jetzt plagten sie sich damit herum, wenigstens einen Schimmer von Licht in das Geflecht aus Briefkastenfirmen und verschlüsselten Dateien im Büro des Anwalts zu bringen, während andere Punsch schlürften und heiße Maroni in sich hineinstopften und die aufgedrehte Stimmung zum Anbaggern nützten. Oder sich anbaggern ließen. Wie die Sandra zum Beispiel. Dabei hatte die Sache mit der Sandra so vielversprechend begonnen. Im vergangenen Monat hatten sie sich kennengelernt, beim Jazzfest in der Altstadt. Die Sandra war genau sein Typ, vollbusig und dunkelhaarig und kein bisschen zickig. Eine langjährige Beziehung war ihr gerade in die Brüche gegangen, und jetzt war sie nicht im Geringsten an einer festen Bindung interessiert, darüber hatte sie ihn gleich beim ersten Mojito informiert. Wunderbar, so was hörte er gern. Guter Sex und keinerlei Verpflichtung – Sandra, ich liebe dich. Aber auf die Frauen war eben kein Verlass. Schon nach zwei Wochen hatte sie ihn mit ständigen Lamentos genervt. Was machen wir am Wochenende, sehen wir uns, nie hast du Zeit für mich! Und natürlich hatte sie ihn heute Abend zur Eröffnung vom Adventmarkt schleifen wollen, aber er war im Dienst, sorry. Das hatte ebenso natürlich zu einer heftigen Diskussion geführt, die mit der trotzigen Ankündigung von der Sandra geendet hatte: Gut, dann geh ich eben mit meinen Freundinnen! Gut, dann geh halt, hatte er zurückgeblafft. Und jetzt hockte er da und konnte sich nur zu gut ausmalen, wie drei aufgekratzte späte Girlies mit lächerlich blinkenden roten Zipfelmützen auf dem Kopf durch die Getreidegasse flanierten und sich von Italienern anquatschen ließen, die wieder einmal in Horden in Salzburg eingefallen waren. Na dann, viel Spaß, Mädels!

Leo streckte sich, dann öffnete er die Schreibtischschublade, wo sich die Müsliriegel befanden. Leer, auch das noch. Im Nebenzimmer klingelte das Handy, dann hörte er, wie der Chef jemanden begrüßte, sehr freundlich. Leo beschloss, sich draußen am Automaten im Gang einen Choco grande zu holen. Nach gewissenhaftem Testen aller zur Auswahl stehenden Heißgetränke war er nämlich zu dem Ergebnis gelangt, dass der Choco grande …

»Leo, es gibt Arbeit!«

Der Chef stand im Türrahmen und schlüpfte bereits in sein Jackett. Artur Pestallozzi trug immer die gleiche Kluft: schwarze Jeans und gestreiftes Hemd, ein graues Sakko darüber. Das stand ihm gar nicht so schlecht, Leo besaß die Größe, das neidlos anzuerkennen. Aber dieser unmögliche Wintermantel, der aussah wie vom Caritas-Basar! Ein zerknautschtes Ungetüm, das sogar Columbo in den Altkleidersack gestopft hätte. Bloß, wie brachte man diese Tatsache seinem Chef bei? Der noch dazu ein wirklich netter Kerl war. Leo seufzte.

»Gibt es ein Problem?« Pestallozzi hielt inne.

Leo schüttelte eilig den Kopf und sprang auf. »Ganz im Gegenteil! Ich bin so was von froh, dass wir rauskommen! Wohin müssen wir?«

»Zum See.«

Leo erstarrte mitten in der Bewegung. »Zum See?«

»Zum See. Der Krinzinger hat angerufen!«

»Der Krinzinger?«

Leo verspürte immer ein heißes, zorniges Kribbeln im Nacken, wenn Verdächtige durch ständige Wiederholungen Zeit zu schinden versuchten. Wo waren Sie gestern Abend? Gestern? Kennen Sie diesen Mann? Diesen Mann? Und jetzt klang er selbst wie ein Echo im Wald. Aber es war ihm einfach so herausgerutscht. Vor einem Jahr im Sommer hatte ihr bislang spektakulärster Fall genauso begonnen. Mit einem Anruf vom Krinzinger bei der Salzburger Mordkommission. Auch damals waren sie zum See beordert worden und dort …

»Komm, Leo, wir haben keine Zeit«, unterbrach Pestallozzi sein Erinnern. »Ich erzähl dir im Auto Genaueres. Viel weiß ich aber auch noch nicht.«

Leo schnappte sich seinen Wintermantel, anthrazitgrauer Tweed, eng geschnitten, kniekurz, ein wirklich großzügiges Geschenk von der Mama zu seinem letzten Geburtstag, und sie hasteten zum Aufzug. In der Tiefgarage ließen sie sich in den Skoda fallen, Leo gab bereits Gas, während Pestallozzi noch am Sicherheitsgurt nestelte. Eigentlich hätten sie schon längst Anrecht auf ein neues Modell gehabt, aber es musste ja gespart werden, damit die maroden Banken im Land mit Milliarden gesponsert werden konnten! Doch diese Ungerechtigkeit konnte zum Glück mit schnittigem Fahren wieder ausgeglichen werden. Leo stieg aufs Gaspedal, der Chef warf ihm einen warnenden Blick zu. Hinaus auf die Alpenstraße, wo die Autokolonnen durch den Matsch zockelten. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein, alles bewegte sich in Richtung Altstadt und Domplatz, über den Straßen prangten die Lichterketten der Weihnachtsbeleuchtung. Aber sie mussten hinaus aus dem Trubel, über die Salzachbrücke und hinauf in die Hügel. Leo konzentrierte sich auf den Verkehr. Endlich lag die Stadt hinter ihnen wie eine funkelnde Christbaumkugel, dann wurde es immer dunkler längs der Straße, nur der Mond schimmerte zwischen Wolkenfetzen. Der Chef sah zum Fenster hinaus.

»Der Krinzinger hat eine tote Frau gefunden«, sagte Pestallozzi endlich, gerade als sie durch Hof fuhren. »In einem kleinen Wald hinter dem Weihnachtsmarkt. Das heißt, eigentlich hat eine Touristin die Frau gefunden.«

»Scheiße«, sagte Leo spontan.

Eine tote Frau. Auf dem Weihnachtsmarkt. Frauenmorde waren das, was sie alle am meisten verabscheuten. Nein, Mord an Kindern war das Allerschlimmste. Aber Mord an Frauen kam gleich danach. Und jetzt hatten sie also eine tote Frau, noch dazu am Weihnachtsmarkt. Halleluja, das würde ein beschaulicher Advent werden!

»Ist sie ermordet worden?«

»Das kann der Krinzinger noch nicht sagen. Sie liegt im Schnee, aber ohne äußere Anzeichen von Gewalt.«

»Na hoffentlich keine Gräfin!«

Das sollte natürlich ein Scherz sein, eine Anspielung darauf, wie sie im letzten Sommer den alten Baron Gleinegg … aber der Scherz kam nicht gut an, das spürte er selber.

»Sorry«, sagte Leo. »Ich hab’s nicht so gemeint.«

»Schon gut«, sagte Pestallozzi. »Nein, es ist keine Gräfin. Es ist noch viel …«, er suchte nach Worten, das kam bei ihm nur selten vor, »… noch viel ungewöhnlicher. Es ist eine Nonne, sagt der Krinzinger.«

»Eine Nonne?« Leo starrte den Chef an.

»Schau nach vorn«, sagte der.

Schnee wirbelte im Licht der Scheinwerferkegel, die Landschaft und selbst die Straße leuchteten weiß wie frischgewaschene Wäsche, nur die Fahrrinnen waren dunkelbraun. Der Fuschlsee war hinter Gestöber verborgen, dann kamen der Wald und endlich die lange Kurve hinunter nach St. Gilgen. Der See lag vor ihnen, eine Ahnung in der Dunkelheit, an seinen Ufern gesprenkelt von Lichtern, die sich ab und an zu Orten zusammenballten. Leo musste plötzlich an die Modelleisenbahn denken, die ein alter Nachbar vor vielen Jahren auf dem Dachboden aufgebaut gehabt hatte. Der Nachbar war schon lang tot. Die Jahreszeiten waren von ihm stets aufs Neue liebevoll dekoriert worden, und ganz genauso hatte die Winterlandschaft ausgesehen, durch die dann eine altmodische Lok gerattert war. Miniaturhäuschen und Watteschnee, winzige Tannen und Lichterketten mit Lämpchen so klein wie Hagelzucker. Aber natürlich keine Frau, die …

Sie fuhren nun bereits am Ufer entlang, dicht neben dem Wasser, das sich schwarz-silbrig kräuselte. Rechts ragten Felsen hinauf zum Zwölferhorn, die mit Drahtgittern gegen Steinschlag gesichert waren. Wie schnell das Leben doch vorbei sein konnte. Ein Felsbrocken, der auf das Autodach polterte, und schon verriss man das Lenkrad und landete im eiskalten Wasser. Im kalten Wasser wie der Edi im letzten Sommer. Pfhhhh, Leo versuchte, sich zu entspannen. Was der Chef da so knapp von sich gegeben hatte, das ließ auf eine lange Nacht schließen, die vor ihnen lag. Andererseits, vielleicht war die Nonne ja auch bloß gestolpert. Spazieren gegangen, ausgerutscht und gestolpert. Und der übereifrige Krinzinger hatte natürlich gleich ein riesen Tamtam inszeniert, der hatte ja sonst nichts zu tun in seinem Dorf hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen. Genau, so war es gewesen. Bestimmt. Hoffentlich! Leo ruckelte auf dem Sitz herum.

Abersee und Gschwendt und die große Kurve an Strobl vorbei. Und dann bogen sie auch schon von der Bundesstraße ab runter in den Ort. Der Parkplatz zur rechten Hand war so überfüllt wie vor einem Fußballmatch, die Straße links und rechts zugeparkt von Bussen mit ausländischen Kennzeichentafeln. Kolonnen schoben sich dem Ortskern entgegen, Männer trugen ihre Kinder auf den Schultern, freiwillige Helfer in knallorangen Westen versuchten, Ordnung in das Chaos zu winken. Einer kam ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen, er sah erschöpft und überfordert aus.

»Sie können da nicht durchfahren!«

Pestallozzi hielt seinen Ausweis aus dem Beifahrerfenster. »Mordkommission Salzburg. Chefinspektor Artur Pestallozzi und das ist mein Kollege Leo Attwenger. Der Inspektor Krinzinger hat uns …«

Der Mann wurde sofort freundlicher. »Tut mir leid. Endlich seid’s da! Bei uns ist die Hölle los, die Leute sind wie die Ameisen, der Krinzinger weiß schon nicht mehr, wie er …«

»Und wie kommen wir jetzt am besten zum Krinzinger?«

Der Mann sah sich um, ihr Wagen war mittlerweile regelrecht eingekeilt. Leo wollte schon nach dem Blaulicht greifen, aber Pestallozzi hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Nur jetzt keine Panik verursachen. Tausende Menschen drängten sich in den engen Gassen rund um den Kirchenplatz, von denen die meisten hoffentlich noch nicht wussten, was der Krinzinger da im Schnee bewachte. Und so sollte es bleiben, möglichst lang. Zum Glück waren jetzt weitere Gestalten in orangen Westen aufgetaucht, die Männer besprachen sich kurz, dann begannen sie, eine Schneise freizuwinken und freizuboxen. Ein mühseliges Unterfangen, die Besucher wollten nicht weichen, eine Faust knallte aufs Dach des Skoda, und ein Familienvater schimpfte wütend zum Fenster herein. Nach 100 Metern kamen sie endlich zu einer Stelle, an der eine dunkle Allee von der Hauptstraße abbog. Einer der Männer beugte sich wieder zu Pestallozzi.

»Da müssts runter bis zum Platz vor der Hauptschule. Von dort geht ein Weg zum Pavillon. Das letzte Stück müssts zu Fuß gehen, das ist heute einfach nicht anders möglich!«

»Danke, passt schon!«

Sie rollten durch die dunkle Allee und parkten sich vor dem langgestreckten Gebäude ein, unzählige leere Fahrradständer waren in den Boden gerammt. Dunkelheit umgab sie beim Aussteigen, doch der Schattenriss der Häuser in Richtung See war gesäumt von einem flackernden Licht, als ob es dahinter brennen würde. Sie bogen auf den einzig möglichen Pfad ein, der zur Ortsmitte führte, Pestallozzi vorneweg, Leo hinterdrein. Schon nach wenigen Schritten versank er im knöcheltiefen Schnee, verdammt, darauf war er natürlich nicht vorbereitet gewesen, auf so eine Expedition in der Pampa. Die Raulederboots würden das bestimmt nicht überstehen. Und wer ersetzte einem dann den Schaden, bitteschön?

Der Pfad mündete in einen Weg, der sich abwärts durch Hecken wand, schon konnte man das Gedränge auf der Uferpromenade erkennen und eine plumpe Gestalt, wie ein Legomännchen, die vor dem Musikpavillon stand und mit den Händen fuchtelte. Sie hielten auf die Gestalt zu, so schnurgerade und entschlossen, dass die Menschen wie von selbst zur Seite wichen.

»Krinzinger!«, rief Pestallozzi.

Einen Moment lang hatte Leo den Eindruck, dass das Legomännchen auf den Chef zustürzen und ihm um den Hals fallen wollte. Doch dann entschied sich Krinzinger für schlichtes Salutieren. Pestallozzi klopfte ihm auf die Schulter.

»Grüß dich, Friedl! Gut, dass du uns gleich verständigt hast. Das war bestimmt kein leichtes Stück Arbeit, die Leute in Zaum zu halten, ausgerechnet heute! Wo ist der Fundort?«

Bezirksinspektor Gottfried Krinzinger deutete auf die Böschung hinter ihm. »In dem Wald gleich da unten. Der Gmoser hält Wache.«

»Dann wollen wir uns das einmal anschauen. Leo, du bleibst da und sorgst für Ruhe.«

Leo schluckte seine Enttäuschung hinunter. Na gut, wenn der Chef es so wollte, dann würde er eben hier Wache schieben, statt seinen messerscharfen Verstand zur Verfügung zu stellen. Aber es sollte ihm keiner zu nahe kommen! Er pflanzte sich vor den Gaffern auf und verschränkte die Arme.

Krinzinger und Pestallozzi kletterten den Abhang hinab. Sie bahnten sich ihren Weg durch den Schnee, der stellenweise schon ganz zertrampelt war. Das Schneetreiben ist eine Katastrophe, dachte Pestallozzi. Jeder Fußabdruck ist längst zugeweht, die von der Spurensicherung werden ordentlich fluchen. Er versuchte, exakt in die Stapfen von Krinzinger zu treten, das war das Mindeste, was er tun konnte. Und dann waren sie neben der alten Fichte angelangt. Gmoser stand da und salutierte, Pestallozzi nickte zurück. Stille umfing die drei Männer. Krinzinger lief der Rotz aus der Nase, er wischte ihn mit dem Handrücken fort. Pestallozzi machte einen vorsichtigen Schritt nach vorn und beugte sich über die Tote. Ihr Gesicht erinnerte ihn an … an ein Bild? An diese mexikanische Malerin, genau, wie hatte sie bloß geheißen. Kahlo, Frieda Kahlo. Mit ihren schwarzen Augenbrauen und ihrer dunklen Haut. Oder nein, sie erinnerte an eine Ikone. An die Madonnen, die auf russischen Heiligenbildern prangten. Seltsam. Tot war sie und dennoch schien sie unversehrt, nur ihr Kopftuch war verrutscht. Dieses Kopftuch und das lange weiße Gewand dazu …

»Sie ist so jung«, sagte Pestallozzi langsam. »Ich bin mir nicht sicher, ob sie eine Nonne ist. Vielleicht eine Novizin? Hier gibt es doch ein Frauenkloster in der Nähe, oder?«

»Genau, Richtung Mondsee«, sagte Gmoser schnell, auch wenn er wusste, dass er damit Krinzinger zuvorkam und ihn brüskierte. Aber er wollte einfach seine eigene Stimme hören, nachdem er fast eine Stunde lang mutterseelenallein im Mondlicht neben der Toten gestanden war. Davon würde er noch lang träumen.

»Gibt es eine Abgängigkeitsanzeige?«

Gmoser hielt jetzt lieber den Mund, Krinzinger schüttelte den Kopf. Dann wurde ihm bewusst, dass Pestallozzi ihnen ja den Rücken zuwandte.

»Bis jetzt jedenfalls noch nicht. Die leben dort ganz für sich, von denen hört und sieht man nichts. Außer im Klosterladen, da gibt’s Honig und Kerzen zum Kaufen.«

Pestallozzi nickte, aber er wandte den Blick nicht ab. Was ist dir nur zugestoßen, dachte er und war erstaunt, wie leicht ihm diese Zwiesprache fiel. Er bemühte sich doch immer um Distanz zu den Opfern. Aber diese junge Frau … du bist einen langen Weg gekommen, du bist nicht von hier. Aber wir werden herausfinden, was geschehen ist, versprochen. Pestallozzi holte tief Luft. Warum war er plötzlich so verbittert? Weil er selbst vor vielen Jahren in einen Klosterkindergarten hatte gehen müssen? Und nicht daran zurückdenken konnte, ohne dass Übelkeit über ihn kam? Aber so eine persönliche Betroffenheit durfte ihm einfach nicht in die Quere kommen, das konnte er sich nicht durchgehen lassen. Er richtete sich wieder auf und wandte sich den beiden Beamten zu.

»Ist die Spurensicherung schon unterwegs?«

Krinzinger nickte eifrig. »Ich hab gleich angerufen, wie, wie …« Er hielt inne, das Duwort machte ihm doch noch ordentlich Schwierigkeiten. Vor einem Jahr war es ganz leicht gewesen, als sie den Fall Gleinegg zu einem Abschluss gebracht hatten und zusammengesessen waren bei heißem Tee und sogar einem Schnaps. Aber jetzt? Andererseits, der Chefinspektor war wirklich ein anständiger Kerl, nicht so ein arroganter Pimpf wie manche Kollegen, die einem auf den Seminaren über den Weg liefen. Krinzinger setzte neuerlich an: »… wie du es mir gesagt hast. Und dann habe ich auch noch die Gerichtsmedizin informiert. Die haben gesagt, dass sie die Frau Doktor Kleinschmidt schicken.«

»Sehr gut. Dann können wir hier im Augenblick nicht mehr tun. Außer natürlich das Gelände absichern, so gut wie möglich. Wie lang wird der Rummel da draußen noch gehen?«

Krinzinger sah wenig glücklich drein. »Normalerweise sollte um neun Uhr Schluss sein. Aber wir drücken halt immer ein Auge zu. Von den Punschständen sind die Leut ja kaum wegzukriegen. Und die Unsrigen sind froh, wenn sie ein Geschäft machen. Das ist schon wichtig für den Ort.«

»Kommen auch Händler von auswärts?«

»Ein paar. Aber das Meiste machen die Frauen bei uns da in der Gegend. Marmeladen und Socken und solche Sachen halt. Und der Lois stellt immer seine Schnitzereien aus, die gehen weg wie die warmen Semmeln.«

Pestallozzi nickte. »Na gut, dann werden der Leo und ich einmal zu diesem Kloster schauen. Wo ist das genau?«

»Auf der Bundesstraße Richtung Mondsee, so ungefähr 20 Minuten. Auf der rechten Seite.«

Sie stapften zurück, Gmoser musste weiter Wache halten. Leo sah ihnen erwartungsvoll entgegen. »Die von der Spurensicherung kämpfen sich gerade durch. Und die Lisa ist auch schon unterwegs.«

»Ich weiß. Wir zwei fahren jetzt zum Frauenkloster Richtung Mondsee. Friedl, du leitest hier den Einsatz. Wir sehen uns dann spätestens morgen wieder. Alsdann!«

Krinzinger salutierte, Leo wollte den Weg hinauf zur Hauptschule einschlagen, aber Pestallozzi hielt ihn zurück. »Komm, wir drehen noch eine Runde zwischen den Stan- deln. Ich möchte mir anschauen, wie es da so zugeht.«

Der Schnee fiel immer dichter, die Flocken schienen wässriger geworden zu sein. Erste Pfützen bildeten sich zwischen den Ständen. Sie bogen auf die Hauptstraße ein, die vom Musikpavillon zum Kirchenplatz führte, zwei große schlaksige Männer, die wie Fremdkörper zwischen all den Familien und händchenhaltenden Paaren wirkten. Kinder bissen in rote Äpfel, die klebrig von Zuckerglasur waren, es roch nach frischgeschlägerten Nadelbäumen und nach offenen Feuerstellen, die meisten Erwachsenen hielten dampfende Henkelbecher in den behandschuhten Händen. Vor der Kirche hatte sich ein Kreis von Schaulustigen gebildet, in der Mitte standen drei Männer in Lederhosen und gestrickten Kniestrümpfen und bliesen mit aller Kraft in meterlange Alphörner, es klang ein wenig nach Schiffsuntergang. Pestallozzi und Leo blieben stehen und blickten über die Köpfe hinweg. Weihnachtsstimmung wie aus dem Bilderbuch, wie aus einer Hansi-Hinterseer-Show. Aber auch ohne die tote junge Frau im Wald würde ich mich nicht wirklich freuen können, dachte Pestallozzi, als er in die lächelnden Gesichter rundum blickte. Weil mir immer noch eine Geschichte hinter dem schönen Schein einfällt. Und hier ist es auch nicht anders. Vor ein paar Jahren war eine Familie aus Wien mit ihren zwei Buben extra zum Adventmarkt am See angereist. Die Kinder waren an der Bundesstraße entlanggelaufen, ein Autofahrer war zu schnell gefahren und hatte sie erwischt. Einer der Buben war sofort gestorben, der andere war schwer verletzt auf der Fahrbahn liegen geblieben. Und der Autofahrer war einfach weitergefahren und hatte dann eilig seinen Wagen im Heuschober versteckt. Nach tagelangen Ermittlungen hatten ihn die Kollegen endlich aufgespürt. Der Lenker war zu drei Monaten Haft verurteilt worden, aber das war ihm und seinem Anwalt noch immer zu viel gewesen. Schließlich war das Urteil zu 720 Euro Geldstrafe herabgemildert worden. 720 Euro Strafe für ein sterbendes Kind, das einer einfach hatte liegen lassen. Aber tollpatschige Bankräuber, die mit einer Schreckpistole herumfuchtelten und ohne Beute davonliefen, bekamen gnadenlos fünf Jahre Haft und mehr aufgebrummt. So war das. Er hatte selbst keine Kinder, aber er mochte sich nicht vorstellen, was in ihm vorgegangen wäre nach so einem Schandurteil. Das noch dazu eine Frau gefällt hatte. Was ist bloß los in diesem Land, dachte Pestallozzi. In meinem Land. Und wieso macht es mir so zu schaffen? Werde ich vielleicht doch depressiv? Oder einfach nur alt?

Ein Ellbogen bohrte sich gegen seine Rippen, Leo neben ihm wippte ungeduldig auf und ab. Pestallozzi nickte dem Jüngeren zu, und sie drängten sich wieder durch die Menge. Gleich neben der Kirche war ganz eindeutig der beliebteste Punschstand vom ganzen Markt aufgebaut, wo sich das obere Dutzend der Gemeinden am See drängte. Die Männer trugen teure Lodenmäntel, Brokatdirndln blitzten unter den Umhängen der Frauen hervor. Eine hübsche Blondine stand hinter den Kesseln und schäkerte und lachte. Sie gingen vorüber, die Unterhaltung der gutgelaunten Runde perlte ohne die kleinste Pause weiter, und dennoch konnte Pestallozzi die Blicke in seinem Rücken spüren. Die da standen waren einflussreich genug, um bestimmt schon Bescheid zu wissen über den Fund im Wald. Aber keiner würde sich hervordrängen und mit Fragen auf sich aufmerksam machen. Eine tote junge Frau – Schlimmeres konnte einer Gemeinde, die vom Fremdenverkehr lebte, nicht widerfahren. Und alle Ehefrauen würden einen Herzschlag lang ihre Männer prüfend ansehen und inständig hoffen, dass sie alles, nun ja, wenigstens fast alles von ihnen wussten. Aber es ist doch eine Nonne, dachte Pestallozzi. Oder eine Novizin, wie auch immer. Er kannte ja noch nicht einmal ihren Namen. Sie stapften zurück durch den Schnee zur Hauptschule hinauf, der Skoda war von glitzernden Eiskristallen überzogen. In seinem Inneren war es so kalt wie in einem Grab. Ob ich mir wenigstens die nassen Socken ausziehen soll, dachte Leo. Meine Füße sind ja wie Eisklumpen.

»Soll ich fahren?«, fragte Pestallozzi. Aber Leo schüttelte nur heftig den Kopf. So ein Jammerlappen war er nun wirklich nicht, dass er den Chef ans Lenkrad gelassen hätte. Sie fuhren durch die Allee und hinauf auf die Bundesstraße, das Gedränge hatte zum Glück schon ein wenig nachgelassen. Dann wurde es wieder dunkel, Wald säumte die Straße zu beiden Seiten. Leo schwieg und wartete auf Anweisungen.

»Irgendwo da vorn muss es nach rechts gehen«, sagte der Chef endlich. Noch ein Kilometer und dann bog eine schmale Straße den Berg hinauf. Die Fahrbahn war nicht vom Schnee geräumt, sie holperten und rutschten dahin, Leo fluchte lautlos. Wenn sie jetzt steckenblieben, dann war das Schlamassel perfekt. Der Skoda quälte sich die Serpentinen hoch, fast wären sie an dem großen dunklen Anwesen vorbeigefahren. Im letzten Moment entdeckte Pestallozzi Lichtschein hinter einem Fenster. Leo trat auf die Bremse, der Skoda drehte sich beinahe um seine eigene Achse. Dann kam er endlich dicht an einem Graben zum Stehen.

»Passt schon«, sagte Pestallozzi. »Da kommt heute sicher niemand mehr vorbei.«

Sie stiegen aus, die Dunkelheit war wie ein klammer Mantel, der sich um sie legte. Der Mond war hinter Wolken verschwunden. Sie stemmten sich mit gebeugten Rücken gegen die Kälte, Pestallozzi hielt auf die düstere Front zu. Endlich konnten sie ein hölzernes Tor erkennen, das keinen Griff aufwies, nur ein eiserner Ring hing an seinem rechten Flügel. Gruselig. Leo sah den Chef an, und der nickte. Er ergriff den eisernen Ring und ließ ihn gegen das Tor poltern, es klang, als ob dahinter bloß Leere wäre. Dann standen sie im Schnee und – nichts geschah. Scheiße, dachte Leo. Warum konnten sie an diesem verdammten See nie zu einem normalen Tatort gerufen werden? Wo er sich auf sicherem Boden fühlte? Zu einem Fitnessstudio, zum Beispiel. Oder in eine Disco, noch besser. Eine Disco, jawohl. Dort würde er heute Nacht noch hingehen, und wenn es vier Uhr in der Früh werden würde. Ins ›Take five‹, dort hatte er sich schon viel zu lang nicht mehr blicken lassen. Wummernde Bässe und ein ordentlicher Gin Tonic an der Bar, das hatte er sich 100-prozentig verdient nach diesem Irrwitz. Nach diesem …

Der Chef griff nach dem Ring und ließ ihn neuerlich fallen, das Dröhnen hätte Tote zum Leben erwecken können. Nur diese Schwestern schienen mit Stöpseln in den Ohren zu schlafen. Oder gerade auf Knien zu rutschen. Oder was immer man so trieb hinter solchen Mauern. Er legte jedenfalls keinerlei Wert darauf, Näheres darüber zu erfahren. Sie lauschten beide, endlich schienen Schritte näherzukommen. Dann waren die Schritte ganz nah, ein rostiges Schieben ertönte, und ein Fenster öffnete sich in dem hölzernen Portal, Leo hätte beinahe laut gelacht. Sie konnten das Gesicht hinter dem Fenster nicht erkennen, nur das Funkeln von Brillengläsern.

»Ja bitte?«, fragte eine Frau, ganz eindeutig war es die Stimme einer älteren Frau.

»Grüß Gott, Schwester«, sagte Pestallozzi. »Ich weiß, dass wir Sie zu einer sehr ungewöhnlichen Stunde stören. Ich bin Chefinspektor Artur Pestallozzi aus Salzburg, und das ist mein Kollege Leo Attwenger. Leider hat es unten am See einen Todesfall gegeben, und es könnte sein, dass er mit Ihrem Haus zu tun hat. Wir müssen mit der Frau Oberin sprechen.«

Die Frau blieb still. Vielleicht betet sie ja, dachte Leo. Oder überlegt, ob sie die Hunde aus dem Zwinger lassen soll. So einer traue ich alles zu.

»Ich werde die Schwester Superior holen«, sagte die Frau endlich und schob das Fensterchen wieder zu. Ihre Schritte verhallten.

»Na super«, sagte Leo. Mittlerweile sahen sie beide aus wie Schneemänner, nur die Karottennasen fehlten noch. Außerdem musste er pinkeln, das fiel ihm gerade ziemlich dringend auf. Na super.

Endlich waren wieder Schritte zu hören, offenbar näherten sich diesmal zwei Frauen, eine trat ziemlich energisch auf. Dann wurde ganz unerwartet eine niedrige Tür geöffnet, die in das Holzportal eingelassen war. Eine Frau, ganz in Weiß gekleidet, stand in einem dämmrigen Gang und machte eine knappe Handbewegung. »Sie sind von der Polizei, hat man mir gesagt. Bitte treten Sie ein.«

Sie folgten ihrer Einladung, die mehr wie eine Anweisung klang, beide mussten sie sich bücken. Dann standen sie ebenfalls in dem hohen gewölbeartigen Gang, in dem es so kalt war, dass ihr Atem noch immer zu Wolken gefror. Ein Schatten an der Wand huschte davon. Die Schwester ging ihnen voran und öffnete eine weitere Tür, ihre Schritte hallten auf dem Fliesenboden. Sie betraten einen kleinen Raum, dessen einziges Fenster vergittert war. Ein abgenutztes Sofa stand an der Wand, ein Holzsessel gegenüber. Auf einem Tischchen lagen Broschüren offenbar frommer Art. Es roch nach Kräutertee.

»Bitte«, sagte die Frau erneut und wies auf das Sofa. Sie setzten sich der Frau gegenüber.

»Es tut uns leid, dass wir Sie zu so später Stunde noch stören müssen«, sagte der Chef neuerlich. Manches Mal war seine unerschütterliche Geduld einfach unerträglich, Leo wagte sich das kaum einzugestehen. Er jedenfalls hätte ganz bestimmt einen anderen Ton angeschlagen in diesem Kammerl, das aussah wie ein Verhörzimmer in der Ukraine. Und ein Männerklo gab es 100-prozentig auch nicht in diesem Kasten. Leo fühlte das Unheil nahen.

»Wir haben gerade zur Nacht gebetet«, sagte die Frau. Ihr Alter war schwer einzuschätzen, irgendwo in diesem Niemandsland zwischen 50 und 100. Man bekam ja auch nur ihr Gesicht zu sehen und ihre Hände, alles andere war unter Bahnen von Stoff begraben. Bestimmt trug sie darunter drei Lagen warme Wäsche. Und trockene Socken.

»In einem Wald unten am See, gleich beim Weihnachtsmarkt, wurde die Leiche einer jungen Frau gefunden«, sagte Pestallozzi. »Über die Todesursache wissen wir noch nichts, es hat jedenfalls keine sichtbare Gewaltanwendung stattgefunden. Die junge Frau trug ein bodenlanges weißes Kleid, das dem Ihren sehr ähnlich ist, und eine Art Kopftuch. Könnte es sein, dass sie aus diesem Kloster gekommen ist? Vermissen Sie eine der Schwestern? Oder vielleicht eine Novizin?«

Die Frau, die eine Schwester ›Supirior‹ oder so ähnlich war, wirkte vollkommen gefasst. Sie sah auf das Kruzifix, das der einzige Schmuck in diesem Zimmer war, dann sah sie wieder den Chef an.

»Unsere Postulantin Agota hat das Kloster gestern Abend offenbar verlassen. Wir haben ihre Abwesenheit erst heute früh beim Morgengebet entdeckt.«

»Eine Postulantin ist …?«

»Das Vorstadium bis zur Aufnahme als Novizin. Beide Seiten sollen die Möglichkeit haben, sich zu prüfen. In unserer Gemeinschaft dauert es mindestens fünf Jahre, bis wir die endgültigen Gelübde der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams ablegen.«

»Kommt es öfter vor, dass eine Schwester oder eine Postulantin das Haus verlässt?«

»Man muss normalerweise um Erlaubnis ansuchen.«

»Aber kann man einfach so gehen? Ich meine, ist das Tor versperrt?«

»Doch, selbstverständlich gelangt man nach draußen, wenn man es möchte. Wir sind ein Kloster und kein Gefängnis.«

»Ah ja.« Pestallozzi dachte nach, die Frau sah ihm dabei zu.

»Und haben Sie daran gedacht, irgendwo nachzufragen? Eine Abgängigkeitsanzeige zu erstatten? Waren Sie denn nicht beunruhigt?«

Ein Hauch von Unbehagen wurde auf dem Gesicht der Frau sichtbar. »Natürlich haben wir uns Sorgen gemacht. Aber wir wollten die Angelegenheit innerhalb unserer Gemeinschaft regeln.«

»Natürlich. Wie so vieles, was innerhalb der Kirche geregelt wird.«

Leo starrte den Chef an, so einen sarkastischen Tonfall hatte er noch nie von ihm gehört. Die Tante in Weiß sah auch ganz schön schmallippig drein.

»Was können Sie uns über diese Agota sagen?«, fuhr der Chef in betont neutralem Ton fort. »Wir wissen natürlich noch nicht mit Gewissheit, ob es sich bei der Toten um dieselbe Person handelt.«

Die Superior wirkte endlich betroffen. »Sie ist erst im vergangenen Jahr in unser Haus gekommen, aus Ungarn. Unser Orden organisiert dort Hilfsprojekte für junge Frauen aus … hauptsächlich aus Romafamilien.«

Frieda Kahlo, dachte Pestallozzi. Ein Gesicht wie die Madonnen auf alten Ikonen. Das war also des Rätsels Lösung. Die junge Frau war eine Roma gewesen. Oder eine Zigeunerin, wie man sie früher genannt hatte. In den Wirtshäusern gab es noch immer Zigeunerschnitzel mit viel Paprika auf den meisten Speisekarten. Aber wie bist du bloß auf einen Weihnachtsmarkt im Salzkammergut geraten? Tot im Schnee? Er wollte sich nicht vorstellen, wie fremd sich diese Agota gefühlt haben musste.

»Ist Agota ihr richtiger Vorname?«