Lesereise Graz - Marlene Faro - E-Book

Lesereise Graz E-Book

Marlene Faro

4,8

Beschreibung

Graz, das einst den wenig schmeichelhaften Spitznamen "Pensionopolis" trug, ist heute eine vielfältig durchmischte Studentenstadt und Kunstmetropole. Ganze Viertel verändern sich rasant, eine junge Szene mischt die Gemütlichkeit auf. Über die berühmte Südbahnstrecke ist Marlene Faro immer wieder in die steirische Landeshauptstadt gereist und hat sich, dem granitharten Mur­nockerlpflaster zum Trotz, umgesehen. Ist mit aufregenden Roll­treppen gefahren, tückischen Straßenbahnen ausgewichen und hat den Schlossberg erklommen. Hat am Stadtrand ein schma­les Kabinett entdeckt, das in Japan Kultstatus besitzt, und konnte das Geheimnis des Keuschheitsgürtels lüften. Sie ist auf eine der weltweit allerersten Bestsellerautorinnen gestoßen und hat die Spuren eines kalifornischen Gouverneurs verfolgt. "In Graz muss man nicht gewesen sein", heißt es in Thomas Bernhards Stück "Heldenplatz". Die Autorin möchte ihm an dieser Stelle heftig widersprechen.

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Marlene FaroLesereise Graz

Copyright © 2017 Picus Verlag Ges.m.b.H., Wien

Alle Rechte vorbehalten

Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien

Umschlagabbildung:

© mauritius images/Arcaid Images/Alamy

Rechts im Bild: Kunsthaus Graz, Architekten

Colin Fournier und Peter Cook

ISBN 978-3-7117-1080-2

eISBN 978-3-7117-5347-2

Informationen über das aktuelle Programm des Picus Verlags und Veranstaltungen unter

www.picus.at

Marlene Faro, geboren 1954 in Wien, studierte Geschichte und Politikwissenschaften. Sie schrieb jahrelang Reportagen für internationale Magazine, seit 1996 auch Romane, Kurzgeschichten, Sachbücher und Krimis. Im Picus Verlag erschien ihr Erzählband »Alte Schachteln«.

Marlene Faro

Lesereise Graz

Dächer, Murnockerln und Ochsenblut

Picus Verlag Wien

Inhalt

Der rote Koffer

Ein erstes Abenteuer. Vom Fremdsein und vom Ankommen

Die Altstadt – ein Abenteuerparcours

Von tückischen Straßenbahnen und halsbrecherischen Murnockerln, von Sissi-Busserln und Maulstreichen

Little Italy und Joanneumsviertel – Graz links der Mur

Von Herren in Schwarz und einer steilen Rolltreppe. Und Norbertine

Die heimliche Landesbühne – Kastner & Öhler

Ein verpasster Zug und seine Folgen. Schon wieder Rolltreppen und eine höchst wichtige Uhr

Schloss Eggenberg – Ochsenblut und Kerzenlicht

Von Pomp und Zeremoniell, von Söhnen und Töchtern. Und von Pfauen

Über den Dächern

Eine Spendenaktion, ein luftiges Café und eine Doktorarbeit

Vom Hilmteich zur Franzens-Uni, das junge Graz

Von Bloggerinnen, Kastanien und einem schrägen Innenhof. Und einem alten Herrn, der einmal ein junger Herr war

Schlüssel, der weibliche Unterleib und ein Außerirdischer

Die Schell Collection und das Lendviertel

Arnie

Ein kleiner Ort und große Träume. Und vom G’scheiterwerden

Grandhotels und Glasscherbenviertel – Graz rechts der Mur

Eine gelungene Umwidmung und steirische Tapas. Eine fürsorgliche Gattin wird zur Bestsellerautorin

Graz – eine Annäherung

Über den Semmering und weiter auf die Laßnitzhöhe. Und allerlei Wissenswertes, das man beim Reisen erfährt

Annenstraße – die unendlich Baustelle

Ein Geschäft mit unmöglichem Namen. Von furchtsamen Leuten und syrischen Karotten

Auf der Wendeltreppe

Eine Muschel im Fluss und ein Schneckenhaus. Vom Abschiednehmen und vom Wiederkommen

Der rote Koffer

Ein erstes Abenteuer. Vom Fremdsein und vom Ankommen

Zu den erstaunlichen Erfahrungen des Älterwerdens gehört offenbar, dass sich Kreise schließen im Leben und Geschichten aus Vergangenheit und Gegenwart sich mit einem Klick verzahnen im Kopf. So ist es mir auch bei meinen Rundgängen durch Graz ergangen, die mich immer wieder an Erlebnisse aus dem Jahr 2008 erinnert haben, als ich für ein Buchprojekt durch Kärnten gereist bin. Gustav Mahler ist mir wiederbegegnet und kunstbegeisterte Bäckermeister scheint es quer durch Österreich zu geben. Einmal bin ich im Sommer 2008 nicht direkt von Klagenfurt nach Wien zurückgefahren, sondern habe den Umweg über die steirische Landeshauptstadt genommen, die ich nicht kannte. Meinen roten Koffer, prall gefüllt mit vollgeschriebenen Heften, Zetteln, Plänen und Visitenkarten, habe ich am Grazer Hauptbahnhof in ein Schließfach gewuchtet, dann bin ich losgebummelt – es sind mir hauptsächlich Baustellen in Erinnerung geblieben. Am späten Nachmittag bin ich zum Bahnhof zurückgekommen, habe die große Halle betreten – und bin vor Schreck erstarrt. Mitten im Getümmel leuchtete knallrot ein Koffer in einem sperrangelweit offen stehenden Schließfach, das aus unerfindlichen Gründen aufgesprungen war. Die Ausbeute monatelanger Recherchen lag da wie auf dem Präsentierteller, aber niemand hatte danach gegriffen. Am Schalter der Österreichischen Bundesbahnen reagierte man gelassen: »Jojo, dös passiert bei uns do öfta!« Ich hielt den roten Koffer bis Wien umklammert, unter den misstrauischen Blicken meiner Mitreisenden, am liebsten hätte ich ihn gestreichelt. So ist mein allererster Eindruck von Graz gewesen: eine Stadt, in der mir Gutes widerfahren ist.

Österreichs zweitgrößte Stadt gilt als Ort, an dem es sich angenehm leben lässt. Fast schon italienisch anmutend mit luftigen Plätzen und alten Häusern mit hölzernen Fensterflügeln, eingebettet in eine sanfte Hügellandschaft zu beiden Seiten der Mur. Graz ist für mich nach vielen Gesprächen eine Stadt des Understatements, die sich wohltuend unaufgeregt präsentiert. Kein Mozart, der zu Marzipankugeln verknetet wird, keine Fiaker, vor denen Japaner ihre Selfiesticks in die Höhe recken. Die ruhmreiche Vergangenheit ist in den Geschichtsbüchern versunken. Bis Maria Theresia ist Graz Residenzstadt und Zentrum von Innerösterreich gewesen, hat Pest, Heuschreckenschwärme und Belagerungen überstanden. Großes hat sich zugetragen und ist oft nicht einmal wahrgenommen worden. Der Mathematiker und Astronom Johannes Kepler hat in Graz gelebt und sich seinen Unterhalt als Professor an der protestantischen Stiftsschule im Paradeishof verdient. Überqualifiziert würde man heute wohl sagen. Weil seine Vorlesungen über Arithmetik kaum Zuhörer fanden, musste er auch Stunden über Rhetorik und Vergil halten. Zur gleichen Zeit hat Kepler mit Galileo Galilei und Tycho Brahe korrespondiert und mit selbst gebauten Instrumenten die Sonnenfinsternis vom 10. Juli 1600 vorausgesagt. Als die Gegenreformation mithilfe der Jesuiten auch in Graz triumphierte und evangelische Bürger ausgewiesen wurden, verließ Kepler die Stadt und reiste weiter nach Prag. Graz wurde wieder katholisch, Ferdinand II. sorgte dafür. »Und wenn’s Graz gilt!«, soll er ausgerufen haben, als es im Dreißigjährigen Krieg für die papsttreuen Habsburger auf Messers Schneide stand. Graz war eine der wichtigsten Städte des Kontinents und wurde erst langsam an die Peripherie des sich verändernden Europa gedrängt.

Unter Kaiser Franz Joseph ließen sich k. u. k. Offiziere nach langen Jahren in staubigen Garnisonen gerne an der Mur nieder, gut betuchte Rentner aus bürgerlichen Berufen sind ihrem Beispiel gefolgt, das hat der Stadt den wenig schmeichelhaften Spitznamen »Pensionopolis« eingebracht. Der ist heute schon fast wieder vergessen, denn über fünfzigtausend Studenten inskribieren jedes Jahr an den Grazer Universitäten, viele davon aus Kärnten, mischen die Beschaulichkeit auf und bringen Dynamik in verkrustete Stadtlandschaften. Doch der Zustrom schafft auch Probleme, ganz besonders am Wohnungsmarkt. Alteingesessene Grazer sprechen völlig unbeschwert von den »Glasscherbenvierteln« ihrer Heimatstadt, vom »schlechten« und vom »guten« Murufer. Die desolaten Viertel rechts der Mur werden gerade schick und die Mieten gehen durch die Decke. Graz wirkt manchmal so heiter wie eine Kulisse für die »Gilmore Girls«, aber dann schweift der Blick ab, zu einer Ufermauer oder an einer Fassade hinauf, und die Wut hinter dem schönen Schein wird sichtbar. »SCHEISS MIETEN« steht an einer Feuermauer in schwindelerregender Höhe, und es besteht einzig die Möglichkeit, dass sich da jemand abgeseilt hat, um diesen knappen Kommentar zu sprayen. Die Frustration findet ihren Niederschlag auch im Wahlverhalten, ausgerechnet im tiefschwarzen Graz kann die KPÖ regelmäßig einen Stimmenanteil von über zwanzig Prozent verbuchen und ist damit zweitstärkste Partei im Gemeinderat, undenkbar im übrigen Österreich.

Diese Stadt ist für Überraschungen gut, ich erlebe es immer wieder auf meinen Stadtwanderungen. Treppen waren die Highlights, so seltsam das auch klingen mag, ich habe auf ihnen kleine Abenteuer erlebt und kuriose Geschichten erfahren. Die Rolltreppen vom Joanneumsviertel und vom Kaufhaus Kastner & Öhler, der Schlossbergsteig, die Doppelwendeltreppe in der Burg. »Wenn ich in Graz bin/kann ich das Treppensteigen nicht lassen«, schreibt Erich Fried, und ich möchte, von so viel gleichem Empfinden ermuntert, einen persönlichen Tipp hinzufügen. Wenn man ganz am Ende der Herrenmodeabteilung von Kastner & Öhler mit der Rolltreppe hochfährt, dann erscheint in einem zunächst völlig leeren, überflüssig anmutenden Fensterrahmen peu à peu der Uhrturm, es ist ein verblüffendes Spektakel und bestimmt der ungewöhnlichste Blick auf das Wahrzeichen der Stadt. Im Zeitalter von Wikipedia, YouTube und Google Earth ist es unglaublich schwer geworden, Winkel zu finden, die noch nicht beschrieben und ausgeleuchtet sind. Deshalb möchte ich mir einen weiteren, etwas kurios klingenden Hinweis erlauben. Wenn man mit der Straßenbahn, vorzugsweise der Linie eins, zum Grazer Hauptbahnhof fährt, dann kann man die umwerfendste aller Tonbandstimmen hören, sie klingt wie Tracy Chapman nach einer durchzechten Nacht. »Main railway station, change for long distance trains, commuter trains and buslines« – cooler kann man diese Zeilen nicht sagen, ich habe mich jedes Mal auf die Station Hauptbahnhof gefreut. Die Mienen der Fahrgäste rundum sind allerdings völlig unbeeindruckt geblieben, vielleicht fallen solche Kleinigkeiten ja wirklich nur Zugereisten auf.

»Warum wollen ausgerechnet Sie als Nichtgrazerin über Graz schreiben?«, hat mich die lokale Berühmtheit Heinz Siegl barsch gefragt, als ich ihn in seinem Geschäft »Gummi Neger« aufgesucht habe. (Anmerkung 1: Alle Leserinnen und Leser, die jetzt erschrocken zusammengezuckt sind, mögen sich bis zum Kapitel »Annenstraße« gedulden, dort wird der grässliche Name näher beleuchtet. Anmerkung 2: Ab jetzt wird nur mehr in Ausnahmefällen gegendert.)

Nun ja, genau deshalb, weil das Fremdsein den Blick schärft. Nicht nur für die Sehenswürdigkeiten einer Stadt, sondern für ihren öffentlichen Raum ganz allgemein. In Wien würde es mir nie auffallen, aber in Graz, wo ich tagelang herumlaufe, bepackt mit Plänen und Heften und Apfelsaftflaschen, spüre ich es in allen Gliedern: Es gibt fast keine Bänke zum Ausruhen mehr. Zufällig gerät mir ein Artikel in die Hände, der beschreibt, dass Kommunen in der Schweiz Sitzgelegenheiten gerade abmontieren, um »Nichtsesshafte« abzuschrecken. Auch Stellflächen gibt es kaum mehr, auf denen sich eine Handtasche oder ein Rucksack ablegen ließe, nur mehr abschüssige Flächen. Nirgendwo soll Heimat entstehen, schon gar keine für kurze Zeit. Vier coole Typen vom Grazer Werkstattkollektiv »Brauchst« möchten dieser Entwicklung nun entgegensteuern und haben sich vorgenommen, in den kommenden Jahren sage und schreibe zweihundertachtzigtausend Sitzbänke zu fabrizieren und zu verschenken, unterstützt vom EU-Projekt »Human Cities«. Im vergangenen Jahr haben sie im Jakominiviertel schon probeweise ein paar der knallgelben Exemplare aufgestellt, aber die waren gleich wieder weg. »Deshalb haben wir uns gedacht, wenn jeder Grazer sein eigenes Bankerl hätte, dann würde nichts mehr verschwinden. Derzeit ist es ja so, dass man sich das Sitzrecht im Freien mit einem Cappuccino im Straßencafé erkaufen muss.«

Diesen Preis habe ich gerne bezahlt, Erholung außerdem an der Murpromenade und in den wunderbaren Innenhöfen gefunden, wo erstaunlich viele Psychiater und Therapeuten ihre Dienste anbieten. Dann bin ich erfrischt weitergezogen und habe mich bemüht, den Straßenbahnen (siehe folgendes Kapitel) und den Radlern auszuweichen. »Achtung, hier knallt’s mit dem Rad«, weist eine Bezirkszeitung auf unfallträchtige Kreuzungen wie den Esperantoplatz hin, als Fußgänger fühlt man sich manchmal ein bisserl überflüssig in Graz. Ein Empfinden, das zum Glück aber nicht lange anhält. Hilfe wird freundlich angeboten, sobald man nur einen Stadtplan aufklappt, zum Beispiel die höchst empfehlenswerte Free Map, made by locals for young travellers, erhältlich im Tourismusbüro und an den meisten Hotelrezeptionen. Sie hat mich, wiewohl nur mehr young at heart, auf meinen Erkundungstouren begleitet und nie in die Irre geführt. Verständigungsschwierigkeiten, die mir prophezeit worden waren, sind erfreulicherweise ausgeblieben. Als typisch für den Grazer Dialekt wurde schon im 19. Jahrhundert die Bestätigungsformel »wol« samt ihrer Verdoppelung »wolwol« genannt, und sie erschallt noch immer, vorzugsweise am Würstelstand. Könnt ich noch ein wenig Senf haben? »Wolwol!«

Eine Beobachtung hat mich besonders gerührt. Während Wien von weit angereisten Touristen überschwemmt wird, sind es an der Mur hauptsächlich Steirer, viele davon ältere Semester, die kommen, um ihre Landeshauptstadt zu besichtigen. Über einen mühsam entfalteten Stadtplan gebeugt stehen sie dann da und kramen nach ihren Lesebrillen. »Und, wo samma jetzt?«, ruft ein entnervter alter Herr im Trachtenjopperl am Dietrichsteinplatz, seine Frau zuckt gottergeben mit den Schultern: »No, in der Pampa halt!« Zum Glück befindet sich eine g’schaftlhuberische Buchautorin in der Nähe und kann Auskunft geben.

»In Graz muss man nicht gewesen sein«, lässt der Grantler Thomas Bernhard die Haushälterin Frau Zettel in seinem Stück »Heldenplatz« sagen. Wo sollte man denn gewesen sein? New York mag beeindruckend sein, Graz vermag zu verblüffen. In Graz verfassen Menschen Liebesbriefe an ein Kaufhaus, wird auf uralte Böden noch immer Ochsenblut aufgetragen (nein, nicht die Farbe, sondern echtes Blut!), bekommt man einen Schneekugelstöpsel, der verloren gegangen ist. Wie eine Schneekugel birgt diese Stadt Kurioses, Liebenswertes und manchmal auch Erschreckendes. Die Grazer (und natürlich auch die Grazerinnen!), die ich getroffen habe, möchten jedenfalls nirgendwo anders sein.

Die Altstadt – ein Abenteuerparcours

Von tückischen Straßenbahnen und halsbrecherischen Murnockerln, von Sissi-Busserln und Maulstreichen

Gräz schreibt Franz Grillparzer noch, wenn er in seinem Tagebuch 1819 von einer Reise nach Italien berichtet: »Gräz, herrlich umgeben, macht, wenn man aus den Bergen kommt, den Eindruck, als ob man zum Frieden käme aus dem Krieg. Der Schloßberg überragt es wie ein Beschützer.«

Schon die allerersten Siedler müssen es so empfunden haben, den Berg wie einen wohlwollenden Wächter über der Ebene und dem Fluss Mur. Als die Römer nach Norden vorrückten, entstand zwischen den Hütten eine allererste Weggabelung, die auch zweitausend Jahre später in der steil bergauf führenden Sporgasse noch zu den beliebtesten Treffpunkten der Stadt gehört. Eine »kleine Burg« wurde errichtet, im Slawischen als »gradec« bezeichnet, und 1128 zum ersten Mal in einer Urkunde erwähnt. Ein Jahrhundert später war die Siedlung bereits zur Stadt aufgestiegen, wurde unter Friedrich III. zur Residenz der Habsburger, erst im 17. Jahrhundert verlagerte sich das Machtzentrum allmählich nach Wien. Die Anziehungskraft von Grätz oder Gräz hielt dennoch an, die Stadt begann sich auch am gegenüberliegenden Flussufer auszudehnen, die Vororte St. Andrä, Gries, Lend und Karlau rechts der Mur entstanden. Als 1844 der Grazer Bahnhof eröffnet wurde, erfasste ein wahrer Bauboom die Stadt. Graz bekam nach Wiener Vorbild ebenfalls eine Ringstraße, an der noch vor dem Ersten Weltkrieg das Opernhaus entstand. Die Ausdehnung wurde auch in der ständig wachsenden Anzahl der unterschiedlichsten Viertel sichtbar, Graz unterteilt sich heute in siebzehn Bezirke, der Frauenanteil beträgt (wie in Manhattan) über fünfzig Prozent.

Dieses Gerüst aus Daten habe ich mir beim Verweilen auf einer Bank am Murufer angeeignet, gleich zu Beginn meiner Expeditionen durch die zu entdeckende und beschreibende Stadt. Und mein allererster Eindruck lautet: In Graz kann man sich nur schwer verlaufen. Auf den meisten Plätzen genügt ein Blick Richtung Himmel, um den Uhrturm am Schlossberg als Orientierungshilfe zu erblicken, und nie ist der Fluss zu weit weg, um nicht an seinen Ufern entlang wieder in die Stadtmitte zu finden. Trotzdem überleben Touristen und Zuwanderer die ersten Tage nur durch glückliche Fügung und, möglicherweise, eine Heilige, die bislang unbedankt über der Herrengasse und dem Hauptplatz wacht. »Es herrscht reger Straßenbahnverkehr«, beschreibt ein Graz-Führer lakonisch den Nervenkitzel. Denn die Grazer Straßenbahnen pflügen in einem schlichtweg mörderischen Tempo durch die Innenstadt, kein separierter Gleiskörper und kein Zebrastreifen machen auf die drohende Gefahr aufmerksam, kein Klingeln warnt vor der sich heimtückisch nähernden Bim. Mütter zerren ihre Kinder von den Schienen, alte Paare schubsen sich gegenseitig im allerletzten Moment zurück, wenn etwa der Einser nach Mariatrost durch die Herrengasse braust. Wo der Hauptplatz in die Murgasse mündet, bleibt überhaupt nur mehr ein halber Meter, um sich an die Hauswand zu drücken, wenn der Siebener nach Wetzelsdorf um die Kurve brettert. Die Einheimischen reagieren stoisch, junge Männer balancieren wie im Zirkus ohne abzusteigen auf ihren Rädern, bis auch der letzte Waggon vorbei ist, nur der Gast erleidet eine kleine Panikattacke und bummelt dann tapfer weiter, vorzugsweise zu den Würstelständen vor dem Rathaus, wo halb Graz das Mittagessen zu verzehren scheint und mit Puntigamer oder Murauer nachspült.

Während man in seine Käsekrainer beißt, braucht man sich nur umzusehen, denn hier pocht das Herz von Graz, sozusagen. Sternförmig zweigen die schönsten Gassen der Stadt ab, die Sporgasse, die Sackgasse und die Herrengasse. Zentrum des Platzes ist der Erzherzog-Johann-Brunnen, der 1878 im Beisein von Kaiser Franz Joseph enthüllt wurde. Der aufmüpfige Bruder von Franz I. und Enkel Maria Theresias gilt als erster Biobauer (na ja, wohl eher Biogutsherr) der Steiermark und wird für seine Volksnähe bis heute verehrt. Er hat den grauen Lodenjanker zum Steirerrock geadelt, seine Kammermaler haben das Leben der kleinen Leute festgehalten. Er hat sich für die Gründung der Steiermärkischen Sparkasse eingesetzt, »um die in unvorstellbarer Armut lebenden weiten Teile der Bevölkerung aus ihrer sozialen Not herauszuführen«, und hat das Universalmuseum Joanneum gegründet, aus dem wiederum die Grazer Technische Universität hervorgegangen ist. Unvergesslich hat ihn aber seine Liebe zur Postmeisterstochter Anna Plochl aus Aussee gemacht, die er erst nach langen Jahren des Herumstreitens mit dem kaiserlichen Bruder und dem Verzicht auf die Thronfolge heiraten durfte. Aus Anna wurde eine Gräfin von Meran, aus Johann der populärste Steirer – neben Arnold Schwarzenegger. Wenn der Erzherzog-Johann-Jodler erklingt, dann steht man in der Steiermark auf und singt mit, oder man schaut wenigstens ergriffen drein. Das Stück ist allerdings wirklich sehr schön und zu Herzen gehend.