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Eine junge Frau liegt nach einem Selbstmordversuch im künstlichen Tiefschlaf. Ihr Mann, ein erfolgloser Maler, glaubt den Grund für diese Verzweiflungstat zu kennen: eine viele Jahre zurückliegende Vergewaltigung. Jetzt bedrängt er seinen Bruder, ihm zu helfen, den unbekannten Täter zu finden, um sich an ihm zu rächen. Es ist nicht die erste Verschwörungstheorie, in der er sich verheddert ... Doch der Bruder weigert sich. Er hat genug andere Probleme am Hals: In der Ehe mit seiner Frau läuft einiges ebenso schief wie in der Kunstgalerie, die er mit ihr gemeinsam (und vom Geld ihres Vaters) betreibt. Eine frühere, totgeglaubte Freundin taucht auf rätselhafte Weise wieder auf, ein seltsamer Mann mischt sich in sein Leben ein. Doch sein Bruder lässt nicht locker, allmählich verflechten sich die dramatischen Handlungen und ein Plan wird sichtbar. Aber wer ist der Mastermind? Ein Drama um Liebe, Obsessionen, Gier, Schuld, Hass, Vergeltung, Intrigen, Lügen und Tod, das vor der Kulisse einer österreichischen Stadt mit ihrer sogenannten besseren Gesellschaft, der Kunst- und Festspielschickeria spielt und direkt in die eiskalten Abgründe der menschlichen Seele führt.
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Seitenzahl: 461
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Für Marianne
IMPRESSUM
ISBN 9783990401941
© 2013 by Molden Verlag
in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG Wien · Graz · Klagenfurt
Bücher aus der Verlagsgruppe Styria gibt es in jeder Buchhandlung und im Online-Shop
Lektorat: Rainer Lendl
Buchgestaltung: Bruno Wegscheider
Covermontage: Manfred Kostal/Pixelstorm, Wien unter Verwendung eines Photos von iStockphoto/wwing
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2013
Alle Rechte vorbehalten
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Obwohl diese Geschichte von tatsächlichen Ereignissen inspiriert wurde, ist sie ein reines Produkt der Phantasie.
Aber lässt sich das nicht über den größten Teil der Wirklichkeit sagen?
M.K.
Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht.
Georg Büchner „Woyzeck“
Nichts hält die Seele so gefangen, wie die Aussicht auf den Tod.
Samuel Johnson
Ich hätte weiterschlafen sollen, mir die Decke über den Kopf ziehen und einfach weiterschlafen, nachdem mich mein Bruder kurz vor drei Uhr früh mit seinem Anruf geweckt hatte, um mir mitzuteilen, dass Tanja nach einem Selbstmordversuch in die Notfallambulanz gebracht worden sei, wo die Ärzte um ihr Leben kämpften.
Fast zwei Jahre lang hatte ich nichts mehr von Thomas und seiner Frau gehört, wenige Wochen nach ihrer Hochzeit hatten sie den Kontakt zu mir abgebrochen, wollten nichts mehr mit mir zu tun haben, obwohl wir in derselben Stadt lebten. Ich hatte ihre Entscheidung akzeptiert, mich aus ihrem Leben auszuschließen. Warum sollte ich mich also ausgerechnet jetzt dafür interessieren?
Keine Ahnung, was mich davon abhielt, Thomas zu erklären, er solle mich mit seinen Problemen gefälligst in Ruhe lassen und dass ich nicht einmal im Traum daran dächte, mitten in der Nacht zu ihm in die Unfallchirurgie zu kommen, sondern jetzt sofort wieder genau das machen würde, was jeder vernünftige Mensch um diese Zeit tut, nämlich schlafen.
Es wäre besser gewesen, wirklich besser für uns alle, wenn ich ihm gesagt hätte, dass er sich zum Teufel scheren solle und dass sie mir völlig egal seien, er und Tanja, und dass er mich nie wieder anrufen solle, nie wieder. Wenn ich das Gespräch wenigstens abgebrochen und wortlos aufgelegt hätte, auch das wäre besser gewesen. Ich weiß nicht, warum ich es nicht getan habe, ich weiß nur, dass meine Entscheidung falsch war.
Ich bin sicher, wenn ich mich anders entschieden hätte, gäbe es einen Toten weniger. Wenigstens ein Mensch wäre nicht Opfer des Irrsinns geworden, der mich mehr als mein halbes Leben lang begleitet hat. Ein Toter weniger. Einer, der verschont geblieben wäre. Gleichgültig, ob er es verdient hätte oder nicht.
Aber damals konnte ich einfach nicht anders. Vielleicht lag es daran, dass Thomas in meinen Augen eben immer noch der kleine Bruder war, fast zehn Jahre jünger als ich, und dass sich seine Stimme am Telefon angehört hatte, als würde ihm jemand den Hals zudrücken oder als wäre er völlig besoffen, während er mir irgendwas über einen Medikamentencocktail, haufenweise leere Pillenpackungen, aufgeschnittene Pulsadern und blutgetränkte Bettwäsche erzählte. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass ich den Fehler beging, sofort aufzustehen, mich anzuziehen, ins Auto zu setzen und loszufahren, statt mein Handy auszuschalten und weiterzuschlafen, notfalls mit einer Schlaftablette und einem Schluck Weinbrand.
Am Abend zuvor war in der Wettervorhersage von einer arktischen Kaltfront die Rede gewesen, von nächtlichen Regenschauern und einem unmittelbar darauf folgenden Temperatursturz. Doch als ich mich daran erinnerte, war es bereits zu spät. Jetzt waren die Straßen spiegelglatt, und schon in der ersten, leicht abschüssigen Kurve ein paar hundert Meter nach unserer Garagenausfahrt machte mein Wagen nicht mehr, was ich von ihm wollte. Er reagierte auf nichts, alle meine Lenkmanöver, Brems- und Beschleunigungsversuche waren vergeblich. Andere Kräfte hatten das Kommando übernommen und bestimmten, was geschah.
Ich hatte immer gedacht, in so einer Situation würde mich Angst überfallen, Entsetzen oder Panik. Aber es war ein ganz anderes Gefühl, das sich wie in einer lautlosen Explosion in mir ausbreitete. Eine Mischung aus Fremdheit und Neugier, die mich in einen Zustand hellster Wachheit katapultierte und zum ungerührten Beobachter werden ließ. Als hätte ich alles, was in einem Zeitraum von wenigen Sekunden geschah, präzise protokollieren und auf einer Checklist Punkt für Punkt abhaken müssen:
Das Blockieren der Räder. Das immer schneller werdende Seitwärtsgleiten über das Eis. Das Ausbrechen des Hecks, zuerst nach rechts, dann nach links, dann wieder nach rechts. Das ruckartige Anschlagen an der Gehsteigkante, den Rückstoß und die halbe Drehung um die eigene Achse. Das kurze Aufjaulen des Motors. Die rasende Rückwärtsbewegung, als säße ich verkehrt herum in einer Hochschaubahn. Den dumpfen Aufprall an der Reihe von Mülltonnen am Straßenrand. Den Schlag auf meinen Hinterkopf, der meinen Oberkörper nach vorn schleuderte. Den Rückspiegel, der immer größer und größer wurde. Die schneidende Kälte von Glas und Metall auf meiner Stirn. Und dann die Stille.
Möglich, dass ich für kurze Zeit das Bewusstsein verlor. Ich weiß es nicht. Dafür erinnere ich mich umso genauer an den ersten Gedanken, der mir durch den Kopf schoss: Gut, dass ich nicht den Lexus genommen habe.
Es klingt verrückt, aber genau so war es. Ich saß da und war erleichtert, dass mein wunderbarer, mitternachtsblauer Lexus unversehrt in der Garage stand. Nicht darüber, dass ich offenbar unverletzt geblieben war, weil ich keine Schmerzen spürte, empfand ich Erleichterung. Auch nicht darüber, dass ich kein anderes Fahrzeug gerammt hatte und von den Mülltonnen davor bewahrt worden war, ungebremst und mit voller Wucht gegen eine Betonmauer zu prallen. Und schon gar nicht über das Glück, dass um diese Zeit kein Fußgänger unterwegs gewesen war, den ich über den Haufen hätte fahren können, oder sogar töten. All diese Gedanken stellten sich erst viel später ein. Jetzt drehte sich alles nur um meinen Lexus, meine geliebte, nagelneue Limousine, die ich mir vor ein paar Wochen selber zu Weihnachten geschenkt hatte.
Wie klug es doch von mir gewesen war, den alten VW-Käfer zu nehmen, dachte ich. Wie unglaublich überlegt ich gehandelt hatte, als ich mich für den Käfer entschied, das weiße Cabrio mit dem Stoffdach und den chromglänzenden Stoßstangen, das mir mein Vater hinterlassen hatte und mit dem ich sonst nur an heißen Sommertagen zu irgendeinem See fuhr. Das Spaßauto aus den Sechzigerjahren, in dem es noch keine Airbags gab und keine Warnanlage, die einen mit nervtötenden Signalen zwang, Sicherheitsgurte anzulegen. Und bei dem ich ein paar Blechbeulen oder Kratzer im Lack problemlos selber reparieren konnte. Beim Lexus hingegen hätte mich das ein Vermögen gekostet. Wirklich gut, dass ich nicht den Lexus genommen habe.
Ich war richtiggehend stolz auf mich. Als hätte ich bereits beim Einsteigen gewusst, dass es zu diesem Unfall kommen würde. Als hätte ich einen Plan gehabt, der exakt so aufgegangen war, wie ich es mir vorgenommen hatte. Und auf einmal fühlte ich mich unglaublich stark. Mir konnte nichts passieren. Ich war überlegen, hatte alles im Griff. Ich war unverwundbar.
Der Motor tuckerte immer noch vor sich hin. Ich legte den Rückwärtsgang ein und manövrierte den Wagen vorsichtig retour auf die Straße. Zwei Mülltonen waren umgekippt, ihr Inhalt war über die halbe Fahrbahn verstreut, und die aufgeplatzten Plastiksäcke, halbleeren Verpackungen und verfaulenden Speisereste waren jetzt eine ideale, griffige Unterlage für die Reifen und verhinderten, dass die Räder auf dem Eis durchdrehten. Es knirschte und schmatzte und rumpelte, während ich langsam zurücksetzte. Vom linken Vorderrad kam ein schleifendes, kreischendes Geräusch, vermutlich war der Kotflügel eingedrückt, auch der Kofferraumdeckel war irgendwie verzogen, aber davon abgesehen war der Käfer offensichtlich fahrtüchtig. Ein Grund mehr für meinen Adrenalinspiegel, noch ein bisschen höher zu steigen.
Jetzt wäre die beste Gelegenheit gewesen, doch noch umzukehren und den Wagen zurück in die Garage zu stellen. Niemand hätte mir einen Vorwurf machen können, wenn ich mich wieder ins Bett gelegt hätte. Aber das kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Es fiel mir ja nicht einmal ein, auszusteigen und nachzuschauen, wie groß der Schaden tatsächlich war, den ich angerichtet hatte. In meinem Gefühl von Allmacht scherte ich mich um nichts, verließ einfach die Unfallstelle und setzte meine Fahrt fort.
Ich fuhr im Schritttempo. Nicht, weil mich eine plötzliche Anwandlung von Vernunft und Vorsicht übermannt hätte, sondern weil irgendwas mit der Gangschaltung nicht stimmte. Außer dem Rückwärtsgang konnte ich nur noch den ersten Gang einlegen. Und so schlich ich durch die Stadt, mit einem jammernden Vorderrad, das ans eingebeulte Blech schlug, mit nur einem Scheinwerfer, in dessen Lichtkegel die Eisschicht auf dem schwarzen Asphalt aufblitzte, beide Hände ums Lenkrad geklammert, weil der Wagen beharrlich nach links zog, aber mit einer beinahe festlichen Hochstimmung im Kopf, leicht und perlend wie Champagner.
Im Gegensatz zu den meisten Menschen, mit denen ich damals zu tun hatte, war ich nie an irgendwelchen Drogen interessiert. Abgesehen von ein paar Joints, die ich in meiner Jugend geraucht hatte und von denen mir nur übel geworden war. Dabei hätte ich oft genug Gelegenheit gehabt, problemlos an die wirklich harten Sachen heranzukommen. Im Hinterzimmer der Galerie, die meine Frau und ich im Kaiviertel betrieben, wurde manchmal gekokst, dass es nur so eine Freude war. Das scheint in der Kunstszene so üblich zu sein, bei den Künstlern und noch viel mehr bei der reichen Kulturschickeria, für die das offenbar zum Lifestyle gehört. Mir war schon immer ein guter, alter Rotwein lieber. Oder ein edler Calvados. Aber ich vermute, so, wie ich mich fühlte, während ich im Schneckentempo durch die Stadt fuhr, genau so muss es sein, wenn man high ist.
Ich fand alles großartig. Die weiße Festung vor dem tiefschwarzen Nachthimmel und zu ihren Füßen die Altstadthäuser und Kirchtürme und Kuppeln, die sich an den Mönchsberg drängen wie die Ferkel an die Muttersau, diese weltberühmte Kulisse, deren Anblick mich sonst schon seit Jahrzehnten nur noch langweilte, entlockte mir plötzlich Begeisterungsschreie. Wow! Oh, wow! Ein alter Mann, der sich an einer Hauswand abstützte, ängstlich einen Fuß vor den anderen setzte und schließlich doch ausglitt und rücklings hart auf dem Eis aufschlug, war einfach nur zum Brüllen komisch. Die zwei ineinander verkeilten Taxis und die aufgeregt gestikulierenden Fahrer waren der Witz des Jahrhunderts. Und als das Folgetonhorngeplärr der Rettungsfahrzeuge immer öfter zu hören war, plärrte und jaulte ich jedes Mal voll Vergnügen mit.
Alles war wunderbar. Ich war wunderbar. Das ganze Leben war wunderbar. Völlig unverständlich, dass irgendwer irgendwelche Probleme haben konnte. Kein Problem, dass die letzte Ausstellung in unserer Galerie ein Flop war, es war doch nicht der erste. Kein Problem, dass Claudia und ich uns deswegen vor zwei Tagen heftig gestritten hatten und sie es vorzog, im Gästezimmer zu schlafen, das kommt schließlich in den besten Ehen vor. Probleme existieren nicht, und wenn jemand meint, sich trotzdem unbedingt umbringen zu müssen, bitte schön, nur zu.
Es war, als befände ich mich in einer riesigen, bunt schillernden Blase. Wohlbehagen, nichts als Wohlbehagen. Daran änderte sich auch nichts, als ich irgendwann bemerkte, dass mir etwas Warmes von der Stirn über die Nase rann. Es fühlte sich klebrig an und schmeckte nach Blut.
Und da musste ich erst recht lachen, weil mir einfiel, wie ich meinen Bruder einmal fast zu Tode erschreckt hatte. Er muss damals vier gewesen sein, höchstens fünf, und ich hatte mir im Garten ein paar Himbeeren auf meiner Stirn zerquetscht, so dass es ausgesehen hatte wie eine große, klaffende Wunde, und dann hatte ich mich auf die Wiese gelegt und gestöhnt und geflüstert, ich würde verbluten, und Thomas war prompt darauf hereingefallen, hatte mich zuerst entsetzt angesehen und war dann erbärmlich heulend zu unserer Mutter gerannt. Mammi! Mammi! Mammiiii!
Und jetzt würde ich ihn wieder erschrecken, weil er mich aus dem Schlaf gerissen hatte, Strafe muss sein. Und hinterher auf ein Bier, ein Bier unter Brüdern, oder zwei oder drei, und dann würde alles prima sein zwischen uns, alles wieder bestens, alles paletti, und keine Probleme, weit und breit keine Probleme, und scheiß auf Tanja. Shit happens.
Heute weiß ich, in einem Punkt, aber auch nur einem einzigen, war es sogar die Realität, die mir von der bunten Blase vorgegaukelt wurde: Meine wirklichen Probleme hatten noch gar nicht begonnen.
Unter normalen Umständen benötigt man für die Fahrt zum Krankenhaus nicht mehr als zwanzig Minuten, ich musste mindestens zwei Stunden unterwegs gewesen sein. Jedenfalls begann der Himmel schon hell zu werden, als ich meinen Wagen einfach vor dem Schranken an der Einfahrt ins Krankenhausgelände abstellte und ausstieg. Der Mann, der mich durch die Scheibe der Portierloge giftig anstarrte und brüllte, mein Wagen würde die Zufahrt behindern und ich solle mit diesem Schrotthaufen gefälligst woandershin fahren, und zwar augenblicklich, sonst würde er die Polizei rufen, kümmerte mich nicht im Geringsten. Ich fand ihn sogar amüsant und wollte noch zu ihm sagen: „Ein bisschen viel Stress heute, wie? Jede Menge Kundschaft!“ Ich wollte ihn freundlich anlächeln, ihm aufmunternd zuwinken, wollte ihm –
In dieser Sekunde fiel die Blase in sich zusammen. Platzte nicht, zerriss nicht mit einem Knall in tausend Teilchen, sondern fiel einfach in sich zusammen. Kraftlos und mit einem leisen, klagenden Ton, einem erstickten, kaum hörbaren Seufzen. Schrumpfte, presste sich an meinen Körper, klebte wie feuchter Latex auf meiner Haut, verlor ihre bunt schillernden Farben und wurde hart, schwarz und eiskalt.
Wie ich mich fühlte, als ich wieder zu mir kam, dafür gibt es eigentlich nur ein Wort: wie ausgekotzt.
Ich lag flach ausgestreckt auf dem Rücken und bewegte mich trotzdem vorwärts, mit den Beinen voraus. Auf meiner Stirn türmte sich etwas Weißes, Weiches, Wattiges, das auch meine Augen fast zur Gänze bedeckte, so dass ich die Lichtflecken, die weit über mir wie eine endlose Kette kleiner Sonnen dahinzogen, nur durch einen milchig trüben Schleier wahrnehmen konnte. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff: Ich wurde auf einer Transportliege durch einen Krankenhausgang geschoben und schließlich irgendwo abgestellt. Und dann sagte jemand, dass alles in Ordnung sei und dass sich gleich ein Arzt um mich kümmern werde, aber dass ich mich ein wenig gedulden müsse.
Es brannte und pochte ein bisschen unter dem weißen, flauschigen Berg auf meiner Stirn, doch es war auszuhalten. Wenn ich meinen Kopf bewegte, wurden die Schmerzen stärker, also blieb ich lieber ganz ruhig liegen, hielt die Augen geschlossen und versuchte, mich auf die Geräusche rund um mich herum zu konzentrieren.
Aus dem gedämpft auf- und abschwellenden Stimmengewirr schloss ich, dass ich mich mit ziemlich vielen Menschen gemeinsam in einem Raum befinden musste. Türen wurden aufgestoßen, Schritte kamen näher und entfernten sich wieder, immer häufiger hörte ich die leise quietschenden Räder von Liegen, die an mir vorbeigeschoben wurden, jemand hüstelte und stöhnte, ein Kind weinte und rief nach seiner Mama.
All das hörte ich und hörte es gleichzeitig auch nicht. Alles war ganz weit weg. Unwirklich. Als hätte ich einen Radiosender falsch eingestellt gehabt, so dass nur noch verzerrte Tonfetzen und verstümmelte Sätze zu vernehmen waren, überlagert von lautem Rauschen.
Vielleicht war es mein Kreislauf, oder man hatte mir irgendeine Spritze gegeben zur Beruhigung oder gegen die Schmerzen, was weiß ich, jedenfalls war da dauernd dieses Rauschen in meinen Ohren, wie ein akustisches Sperrfeuer. Außerdem war mir kalt, eiskalt, obwohl man eine Decke über mich gebreitet hatte. Aber vor allem war ich müde. Unendlich müde.
Wenn bloß das Kind aufhören würde zu weinen und nach seiner Mama zu rufen, dann könnte ich schlafen, dachte ich. Bitte sagt diesem Kind doch, dass es endlich still sein soll.
Jemand hob kurz den Berg von meiner Stirn und sagte: „Muss genäht werden.“ Jemand anderer sagte: „Eispatient. Unter Schock selber hierher gefahren.“ Jemand berührte mich an der Schulter und sagte: „Dauert nicht mehr lang.“ Das Kind weinte. Mama Mama Mama.
Ich wusste jetzt, wo ich mich befand. Ich wusste, dass ich verletzt war. Aber wie es dazu gekommen war, wusste ich nicht. Ich versuchte, mich durch das Rauschen rückwärts zu bewegen, irgendeine Spur zu finden. Woher kam diese Kälte? Warum wollte ich nur schlafen, einfach nichts als schlafen? Und wieso lag ich nicht zuhause in meinem Bett?
Mama Mama Mama. Am liebsten hätte ich dieses Kind umgebracht. Immer heulten Kinder. Immer riefen sie nach Mama, wenn sie nicht mehr weiterwussten. Oder nach Papa. Oder nach dem großen Bruder.
Nicht einmal hier ließen sie einen in Ruhe. Nicht einmal, wenn man halb tot war, nahmen sie Rücksicht. Es reichte gerade einmal für ein: „Scheiße, Markus, was ist denn mit dir passiert?“
Die Stimme meines Bruders. Ganz nah an meinem Ohr. Diese hohe, schrille Stimme, die immer viel zu laut war.
Verzieh dich, Thomas, dachte ich. Lass mich in Frieden.
Aber wenn ich meinte, die Stimme meines Bruders würde ebenso plötzlich wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht war, irrte ich mich gewaltig.
„Tanja liegt jetzt im ersten Stock in der Intensiv“, sagte er, und das Rauschen wurde lauter und lauter, aber nicht laut genug, um die Worte zu übertönen.
„Man weiß nicht, ob sie durchkommt.“
Mama Mama Mama.
„Vielleicht stirbt sie.“
Mama Mama Mama.
„Alles nur wegen diesem Scheißtyp, der ihr das angetan hat.“
Mama Mama Mama.
„Ich finde ihn, hörst du, ich finde dieses Dreckschwein, das sie damals vergewaltigt hat. Und dann muss er dafür bezahlen. Aber du musst mir dabei helfen, Markus. Du hilfst mir, ja? Bitte hilf mir, Markus.“
Mama Mama Mama.
Haltet endlich das Maul, dachte ich. Haltet endlich ein für alle Mal eure verdammten Fressen, alle beide. Ich will das alles nicht hören, versteht ihr? Lasst mich in Ruhe, lasst mich endlich schlafen.
Und in diesem Moment erinnerte ich mich, dass mich mein Bruder doch erst kürzlich schon einmal am Schlafen gehindert hatte mit seiner Tanjageschichte, die mich nicht im Geringsten interessierte: Mitten in der Nacht hatte er mich wegen ihr geweckt, und ich war beinahe sicher, dass ich nur deshalb hier gelandet war, und ich war stinksauer auf ihn.
Doch dann kam Gott sei Dank jemand und sagte, jetzt sei gleich alles überstanden, und ich wurde in einen anderen Raum geschoben und spürte einen Stich in den Unterarm, und dann wurde mir endlich ein bisschen warm und das Rauschen hörte auf, und jemand sagte, ich solle von zehn rückwärts zählen, aber ich glaube, bei acht war ich schon eingeschlafen.
Eines will ich gleich einmal klarstellen: Ich erzähle diese Geschichte nicht, um mein Gewissen zu erleichtern oder damit man mir vergibt. Wer könnte mir schon vergeben, wer hätte das Recht, über Schuld oder Unschuld ein Urteil zu fällen? Ganz bestimmt nicht die junge Psychotherapeutin, die jeden Tag eine Stunde lang an meinem Bett sitzt, mir aufmerksam zuhört und sich gewissenhaft in ein kleines Buch Notizen macht, während ich rede und rede und rede.
Frau Doktor Freud – so nenne ich sie für mich, weil ich mir ihren richtigen Namen einfach nicht merken kann – wird vom Krankenhaus bezahlt, sie gehört sozusagen zum All-inclusive-Angebot für Krebspatienten, die in der Sonderklasse liegen. Aber was ich zu sagen habe, scheint sie wirklich zu interessieren, denn seit einiger Zeit besucht sie mich öfter, als sie müsste, manchmal am Wochenende, manchmal spätabends nach ihrem Dienstschluss. Ich finde das gut, weil es mir einfach leichterfällt, über all das nachzudenken, was vor ein paar Jahren geschehen ist, wenn ich es jemandem erzählen kann.
Es ist dann jedes Mal so, als würde ich das Ende des Fadens in die Finger bekommen, der mich aus meinem Labyrinth herausführt. Und hinterher, wenn sie wieder gegangen ist, tippe ich alles in meinen Laptop. Alles, was ich erzählt habe, alles, was mir noch dazu einfällt, und manches, was ich vielleicht lieber nicht erzählen möchte und deshalb vermutlich irgendwann wieder löschen werde. Spule den Gedankenfaden weiter auf, immer weiter, ohne zu wissen, wohin er mich bringen wird. Es ist schließlich das Einzige, was ich noch tun kann.
So denke und rede und schreibe ich, um nicht ständig die Infusionsflaschen und Plastikbeutel anstarren zu müssen, aus denen beinahe rund um die Uhr dieser Giftcocktail durch dünne Schläuche in meine Venen rinnt, diese wohldosierte Chemiemixtur, die endlich meine Krebszellen umbringen soll. Denke, rede und schreibe gegen die Übelkeit an, die mich in regelmäßig wiederkehrenden Wellen überfällt, gegen den Gestank, den ich auszudünsten vermeine, gegen den Drang, ständig erbrechen zu müssen, und vor allem gegen die unerklärliche Kälte, die durch meine Adern strömt, als hätten sich meine Blutkörperchen in Eiskristalle verwandelt. Sogar die Ärzte wissen nicht, was diese Kälte verursacht. Mein Blutdruck sei völlig in Ordnung, sagen sie, und die Anzahl meiner Leukozyten ebenso. Doch ich bilde mir das nicht bloß ein, ich friere wirklich.
Statistisch betrachtet ist mein Krebs nicht lebensgefährlich. Ein typisches, häufig vorkommendes Leiden von Männern im fortgeschrittenen Alter, mit einer Heilungschance von fünfundneunzig Prozent. Ich habe mir deshalb auch keine allzu großen Sorgen gemacht. Bis ich vor einer Woche aus dem Zimmer neben dem meinen die halbe Nacht hindurch leises Jammern und Stöhnen vernahm. Aber nachdem ich meine Schlaftablette genommen hatte, schlief ich schließlich doch ein, und am nächsten Morgen war von nebenan nichts mehr zu hören. Ich wusste, dass mein Zimmernachbar den gleichen Krebs hatte wie ich und sich auch im selben Behandlungsstadium befand, und dachte, es ginge ihm wieder besser. Doch als ich mich bei der Nachtschwester nach ihm erkundigte, erklärte sie mir – gleich darauf verlegen und erschrocken, denn sie hätte es mir eigentlich gar nicht sagen dürfen –, dass er in den Morgenstunden gestorben sei. Seither weiß ich, niemand kann mir garantieren, dass nicht auch ich zu den restlichen fünf Prozent gehöre, die es trifft.
Ich hatte übrigens die Wahl: entweder die Psychotante oder einen Pfarrer. Gott kann warten, dachte ich damals, bis dahin habe ich noch jede Menge Zeit. Heute bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Trotzdem, Frau Doktor Freud ist jetzt genau richtig für mich. Vielleicht, weil sie vom Alter her meine Tochter sein könnte, das Kind, das ich nie hatte, und dem ich jetzt erzählen kann, woraus das Leben in Wirklichkeit besteht. Nämlich aus viel mehr Fragen, als es Antworten gibt. Shit happens. So einfach, so banal.
Ein paar Antworten möchte ich allerdings schon noch bekommen. Nur Antworten, keine großen Wahrheiten oder Erklärungen, was richtig ist und was falsch, oder gar, was gut und was böse. Einfach Antworten. Also vermutlich das, was ich ohnehin weiß, aber bloß nicht zu denken wage, geschweige denn auszusprechen. Noch nicht.
Ich denke, im Grunde mache ich das Gegenteil dessen, was der Krebs in meinem Körper macht: Ich fange bei den Metastasen an und versuche dorthin zu gelangen, wo sie zu wuchern begonnen haben. Eigentlich völliger Unsinn, denn das, was geschehen ist, ändert sich dadurch auch nicht mehr. Leben lässt sich nicht rückgängig machen, und selbst wenn ich es könnte, würde ich es gar nicht wollen. Aber vielleicht ist es ja genau das, was mich frösteln lässt.
Die Nacht, in der sich ein dünner Eispanzer über die ganze Stadt gelegt hatte, war tagelang das alles beherrschende Gesprächsthema. Die Krankenschwestern, die Pfleger und die Ärzte in der Unfallchirurgie redeten über nichts anderes und nannten sie nur „Eisnacht“ und Patienten wie mich „Eispatienten“. Später erfuhr ich, dass sie es als kälteste Nacht seit Beginn der regionalen Wetteraufzeichnungen sogar auf die Titelseiten der Zeitungen geschafft hatte. Wobei weniger der Kälterekord für Aufregung sorgte, sondern die fast ebenso rekordverdächtige Zahl von Verkehrsunfällen und Verletzten. Die Stadtregierung wurde mit Vorwürfen überhäuft, Bürgerinnen und Bürger, die genau Buch geführt hatten, wann und wo die Streufahrzeuge und Streutrupps des Magistrats im Einsatz waren, empörten sich darüber, dass ausgerechnet ihr Stadtteil, ihr Straßenzug, ihr Gehsteig viel zu spät oder sogar überhaupt nicht an die Reihe gekommen waren, Unfallopfer und Versicherungen drohten mit Schadensersatzklagen, dem zuständigen Stadtrat und dem Bürgermeister wurde völlige Unfähigkeit attestiert, und alles mündete schließlich in eine heftige politische Diskussion über die offenbar katastrophalen Zustände, die sich hinter der schönen Fassade unserer Stadt verbergen würden.
Mag ja sein, dass wir einem Haufen Unfähiger ausgeliefert sind. Ich habe mir darüber nie Gedanken gemacht, aber im Grunde glaube ich es nicht. Und Leute, die so tun, als hätten sie den großen Durchblick, kann ich einfach nicht ernst nehmen. Leute, die hinter allem und jedem eine Verschwörung von Idioten oder finsteren Mächten wittern. Leute, die davon überzeugt sind, dass die ganze Menschheit nur eines im Sinn hat, nämlich ihnen ganz persönlich Schaden zuzufügen. Leute wie meinen Bruder.
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