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Voller Idealismus nimmt Vera, eine junge Ärztin, ihre Tätigkeit in einer Landpraxis auf. Überzeugt, dass sie hier ihren Bestimmungsort gefunden hat, begreift sie ihren Beruf als Mission. Schon im zweiten Praxisjahr taucht ein unbekanntes Virus auf, das Verunsicherung, Krankheit und Tod mit sich bringt. Tag und Nacht ist Vera im Einsatz und unwillkürlich zieht sie Parallelen zu den Geschehnissen in Albert Camus Roman Die Pest. Sie wird, nach anfänglicher Verstörung, zur obsessiven Kämpferin für die Rettung von Menschen, gegen den Zerfall der Solidarität, für die richtigen Antworten in einer Zeit, wo es nur offene Fragen gibt. Die Angriffe auf ihre Person machen sie einsam. Und radikal, obwohl sie das nie gewollt hat – nur noch richtig oder falsch gibt es für sie, das gilt auch für ihre Gegner. Zerbricht sie an sich selbst oder an der Wucht der Feindschaft? Basierend auf einer wahren Begebenheit zeigt Peter Weibel präzise und einfühlsam die Zerrissenheit der Ärztin in der Krisensituation und zeichnet das Bild einer Gesellschaft, die es verlernt hat, Ungewissheiten auszuhalten, und die durch Verunsicherung und kollektive Bedrohung auseinanderzubrechen droht.
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Seitenzahl: 97
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Peter Weibel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Dank
Eine Geschichte ist immer wahr, auch wenn es nicht die ganzeGeschichte ist. Die ganze Geschichte lässt sich nicht erzählen, aber sie lässt sich herauslesen aus Veras Geschichte: Sie erzählt eineMöglichkeit, eine von vielen, und erinnert daran, dass das, wasman für unmöglich hält, auch wahr werden kann.
Hier will ich nie mehr weg, sagt Vera, als sie weiß, dass sie für die nächsten Jahre im Dorf einziehen wird. Sie sagt es mit einer Bestimmtheit zu Luca, die keine Zweifel zulässt, keine Infragestellung. Sie kann noch nicht wissen, dass sie diese Gewissheit früh einholen wird. Dass sie auf unvorhersehbare Art wahr werden wird.
Sie hat gewusst, dass sie einen Ort wie diesen finden wird. Irgendwie hat sie es immer gewusst. Noch bevor sie mit den Leuten geredet hat, geht sie mehr als einmal langsam durchs Dorf, mit weit offenen Augen. Begeistert, wissbegierig. Schaut den Menschen zu, schaut in die Häuser. Bleibt vor den alten Fachwerkhäusern und auf dem Kirchplatz stehen, am Dorfbach, geht durch die Außenquartiere mit den neuen Wohnsiedlungen, den Industriebauten. Folgt den Wegen zu den umliegenden Wäldern, zur Anhöhe über dem Dorf, wo sie lange sitzen bleibt und über die Dächer ins offene Land hinausschaut. Vera hat das Gefühl, dass Wolfach genau der Ort ist, den sie gesucht hat. Gleichzeitig misstraut sie der Vorstellung, dass alles einfach nur gut kommen kann.
Sie hat andere Dörfer gesehen, die eine Landärztin haben wollen, aber nie war es der richtige Ort. Glauben die denn, dass ich alles allein aus dem Boden stampfen kann, ohne dass sie etwas dazutun? Nur in Wolfach ist es anders, die Leute haben ihr die Wünsche aus den Augen gelesen, die Begeisterung hat sie gewärmt. Eine junge Ärztin kommt ins Dorf!
Es sieht aus, als wäre die Zukunft eine große Verheißung. Vera glaubt es lange nicht. Geht ihr alles auf einmal zu leicht und zu schnell, weiß sie, dass kein Glück vor Unheil sicher ist? Aber dann denkt sie: Einmal im Leben muss man daran glauben, dass einem das Glück zufallen kann. Warum nicht jetzt? Sie stürzt sich enthusiastisch in die neue Zukunft als Dorfärztin. Die Praxisräume im Dorfzentrum sind schon da, eine Altbauwohnung gleich nebenan findet sie bald.
Hier will ich nie mehr weg.
Vera geht durch die leeren Räume und entwirft in Gedanken aus dem Rohmaterial ein festes Gefüge: Begegnungszimmer, Behandlungsräume. Kaffeeküche. Sie kann lange ausgestreckt am Boden liegen, wie ein Kind auf Entdeckungsreisen, und nur auf die weiß gestrichenen Wände schauen, auf die Geräusche des Dorfes horchen. Auf die Stimmen, die von draußen hereinkommen – verborgene Melodien, die sie entschlüsseln möchte. Es kommt ihr vor wie ein rätselhafter Traum. Es kann sein, dass sie ihn schon einmal geträumt hat; wann war es? Sie möchte wissen, ob nur die leichten oder auch die schweren Träume wahr werden. Aber sie will glauben, dass ein Glück Bestand haben kann, wenn man sich nur genug dafür einsetzt.
Sie will sich drei Monate Zeit geben, dann werden die ersten Patienten kommen.
Dass Vera Ärztin werden will, hat sie schon früh gewusst, früher als alle Kommilitoninnen, mit denen sie später zusammenkommt. Vorstellungen fügen sich zusammen, Bilder und Einblicke, Punkte werden zu Linien, zum reißenden Sog. Schon als junges Mädchen lernt sie, die Augen der Mutter zu lesen, die früh an Krebs erkrankt ist, manchmal legt sie ihre Hände auf die schmerzhaften Körperstellen, tastet sorgsam ab und merkt, dass etwas geschieht, dass die Schmerzen nachlassen. Sie bewundert den Hausarzt der Mutter, seine sorgsame, aber bestimmte Art, die Vertrauen schafft, die auch in schwierigsten Stunden Vertrauen schafft. Jahre später die Faszination bei einer Sendung über waghalsige Chirurgie am offenen Herzen, es ist wie Zauberei an einem rätselhaften Heiligtum. Als Schülerin liest Vera den Bericht einer Ärztin, die aus Gaza zurückgekehrt ist, der Bericht wühlt sie auf, sie liest ihn immer wieder. Liest, wie die junge Frau um jedes Leben gekämpft hat, auch wenn es aussichtslos schien, wenn sie ohne Medikamente und ohne Instrumentarium kämpfen musste. Wie sie nie aufgab, auch wenn man tote Kinder brachte, manchmal kleine zerrissene Körper, wenn sie nur noch die Mütter, die Väter in die Arme nehmen konnte. Vera hat das Bild dieser Ärztin immer mitgetragen, hat sich von ihm leiten lassen – auch wenn später Zweifel kommen, Anfechtungen. Aber das Richtmaß bleibt, lässt sich nicht mehr löschen: Auch in einer verwundeten Welt, in einer verwundeten Zeit, in der die Sinnfrage aus dem Blickfeld fällt, kann es nicht sinnlos sein, für den Menschen zu kämpfen, für jedes einzelne Leben.
In der Welt der Medizin kommt Vera als Fremde an, ist dort immer fremd geblieben. Aber sie weiß, dass sie da durchmuss, sie tut sich schwer mit der Macht der Medizin: Macht über Menschen, besonders über Frauen. Macht über Tiere. Im zweiten Studienjahr weigert sie sich, einem lebendigen Frosch den Kopf abzusägen, nur um dann zu sehen, dass ein Froschherz auch in einer Nährlösung einfach weiterpumpt. Das mache ich nicht! Später legt sie sich als Praktikantin mit bärbeißigen Chirurgen an, die patriarchalische Hierarchie zersetzt sie mit hintergründiger Ironie. Vera ist nicht beliebt, man respektiert sie widerwillig. Die junge Rebellin. Sie verweigert die Gefolgschaft, wenn die Kollegen stehend am Krankenbett über die Patienten hinweg debattieren, sie zelebriert kniend das Gebot der Augenhöhe. Sie wehrt sich gegen die Ausbeutung junger Ärztinnen, setzt Dienstzeiten durch, die weniger gnadenlos sind. Sie kämpft oft auf verlorenem Posten, aber das hält sie nicht auf. Sie bleibt eine Fremde in der seelenlosen Gerätemedizin. In den Dienstnächten setzt sie sich an ein Krankenbett und hört einfach zu, was die Menschen bedrängt, was sie nie jemandem anvertrauen konnten. Sie horcht in Lebensgeschichten hinein, hört von Schicksalsschlägen, auf die sie keine Antwort findet. Auf die es keine gültigen Antworten gibt. Aber sie lernt, wie wichtig Zuhören ist, und sie nimmt sich vor, das nie aufzugeben, das Zuhören-Können.
Am ersten Praxistag steht Vera mit Rahel vor der Tür und wartet auf die Ankunft der Patienten. Dass Rahel mitarbeitet, ist eine glückliche Fügung, sie kennt die Leute im Dorf, weiß über vieles Bescheid, sie geht Vera als Assistentin in allem zur Hand. Auch für Rahel ist es ein verheißungsvoller Tag, ein aufregender Neubeginn. Die beiden müssen nicht lange warten. Die Praxis füllt sich bald. Einige kommen einfach, um die neue Ärztin zu sehen, aber die meisten haben auf diese Praxis gewartet, um nicht nach dem Besuch der nächsten Notfallstation gleich wieder nach Hause geschickt zu werden. Um endlich mit jemandem reden zu können. Ein paar Leute bringen Blumen mit, eine weißhaarige Frau trägt einen wilden Rosenstock im Arm und einen Pappkarton mit dicker Aufschrift: Wir haben lange gewartet. Willkommen im Paradies Wolfach.
Im ersten Praxistag ist schon alles angelegt, was uns durch die nächsten Jahre trägt, sagt Rahel am Abend, sie sagt es mit glänzendem, mit bedeutungsvollem Blick und packt eine Champagnerflasche aus. Trinken wir auf die nächsten zehn Jahre!
Es werden nicht zehn Jahre sein. Aber es scheint, es ist der Anfang von etwas, das lange dauern kann. Das sehr lange dauern müsste. Die Praxistage werden länger, es geht nicht mehr mit offener Sprechstunde, Rahel muss für alle Patienten Termine festlegen. Dazwischen offene Notfallstunden. Am Abend, wenn die letzten Patienten gegangen sind, nimmt Vera den Koffer und fährt zu den bettlägerigen Kranken. Sie liebt diese Fahrten allein, manchmal steigt sie unterwegs aus, setzt sich auf einen Stein, eine Bank, und schreibt ein paar Gedanken auf, die sie gerade beschäftigen. Tagesfragmente. Gedankenstützen für den nächsten Tag. Unbeantwortete Fragen, die sie nicht loslassen. In den Häusern wird sie mit offenen Armen empfangen. Dass endlich jemand vorbeikommt! In den Wohnungen schaut sie sich um, kontrolliert die Medikamente, wägt den Hilfsbedarf ab. Prüft, was gut besorgt ist, was nicht. Redet mit den Familien, mit den Kranken. Will wissen, was sie erwarten, oder auch, was es bedeutet, wenn sie gar nichts mehr erwarten. Vera weiß, dass sie auch dann ihre Hilfe brauchen. Gerade dann. Wenn ein Krankheitsverlauf nicht mehr aufzuhalten ist. Wenn die alten Menschen es ablehnen, ins Krankenhaus zu gehen und sich der medizinischen Hochleistung zu übergeben, fährt sie jeden Tag hin. Nimmt Beruhigungsspritzen und auch immer wieder Morphium mit. Vera denkt, dass sie das auch so möchte. Dass auch sie nicht in einem leeren, weißen Spitalzimmer sterben möchte. Manchmal besteht Rahel darauf, mitzukommen. Sie möchte in den Grenzzonen des Praxislebens nicht außerhalb stehen. Es kann auch sein, dass sie Vera schützen möchte. Dass sie daran denkt, dass man der Gewalt von Leiden und Tod besser standhalten kann, wenn man zu zweit ist.
Bist du glücklich? Vera hat sich das nie so gefragt. Nicht so, wie Luca sie jetzt fragt, er ist wieder für ein paar Tage nach Wolfach gekommen. Er ist gerne da, er liebt das Landleben hier; er ist begeistert von den hellen Praxisräumen, von der verwinkelten Wohnung mit den knarrenden Dielen, dem Geruch von Holz und Vergangenheit. Eigentlich ist er stolz auf Vera, auf das, was sie hier leistet, er hat ihr das nie gesagt. Die Energie, mit der sie das Ganze angepackt hat, mit der sie rastlos unterwegs ist, beeindruckt ihn. Als Grafiker ist Luca in einer virtuellen Welt zu Hause, er kann sich Veras Welt nur schwer vorstellen. Wenn sie von ihrer Arbeit erzählt, hört er staunend zu, vieles kommt ihm unwirklich vor, kaum zu begreifen. Irgendwie am Rand des Lebens, das ihm vertraut ist. Die Versehrtheit der Menschen, die Vera beherzt umsorgt, ist für ihn unbekanntes Terrain. Hin und wieder will er sie begleiten, wenn sie zu einem Krankenbesuch fährt. Er wartet dann vor dem Haus, entwirft eine flüchtige Skizze, oder er geht mit Vera hinein, sieht die beruhigende Kraft, die von ihr als Ärztin ausgeht, die etwas sehr Helles in den Raum wirft. Er sieht, wie sich die Atmosphäre verändert.
Auf dem Rückweg von einem abgelegenen Hof, wo die ganze Familie erkrankt ist, haben sie in einer Waldlichtung angehalten. Sie werfen sich auf den dichtbewachsenen Moosboden, liegen lange beieinander. Vera liebt das wortlose Zusammensein mit Luca, in dem die Zeit stehen bleibt. In dem sie durch die Zeit hindurchschaut wie auf eine Täuschung. Sie weiß, dass sie das nur mit Luca kann, sie liebt ihn dafür. Sie kann mit ihm Räume erkunden, die ohne ihn verschlossen blieben.
Sie liegen eng umschlungen, jeder ganz bei sich und im Pulsschlag des anderen. Nichts, was die Ruhe des Augenblicks stört, nur das leise Summen von Insekten, manchmal das rhythmische Knarren von Ästen im Wind. Sie schauen zu den Baumwipfeln hinauf, zu den ziehenden Wolken, weit oben gleitet ein Milan durch den Himmel. Bist du glücklich?
Ich mag die Menschen hier, ich glaube, dass sie mich auch mögen. Das reicht doch, um glücklich zu sein?
Die Ärztekammer hatte die Zahlen minutiös dokumentiert. In zweieinhalb Jahren hatte Dr. Vera T. eintausendachthundertzwanzig Haus-besuche durchgeführt. Neunundsechzig Mal hatte sie einen Totenschein ausgefüllt. Die Zahlen übertrafen die Vergleichswerte anderer Landpraxen um das Fünffache. Die Ärztekammer gab dazu keinen Kommentar ab. Die Zahlen, die ein Engagement weit über die Praxisroutine hinaus dokumentierten, waren Kommentar genug.
Vera beginnt mit ihren Aufzeichnungen am Tag, an dem die ersten Nachrichten aus einem fernen Land auftauchen. Vergewisserungen.