Kampf der vier Elemente - Michelle Krabinz - E-Book

Kampf der vier Elemente E-Book

Michelle Krabinz

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Beschreibung

"Kampf der vier Elemente - Feuer & Wasser" ist der erste von zwei Teilen einer Buchreihe, in welcher es um eine fiktionale Variante unserer eigenen Welt geht. Johanna Faystone, die jugendliche Hauptfigur, entdeckt bei einer Ausgrabung unter mysteriösen Umständen ein altes Tagebuch, welches ihr Leben grundlegend verändert. Sie erfährt, dass sie zu einer Gruppe von Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten gehört, die sich die Elementaren nennen. Mit diesem Wissen am Anfang ziemlich überfordert, findet sich Johanna bald schon in einer komplexen Welt aus geheimnisvollen Verbündeten, unerwarteten Freundschaften und gefährlichen Auseinandersetzungen wieder. Dabei muss sie feststellen, dass es gar nicht so einfach ist, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Somit steht plötzlich nicht nur die geheime Existenz der Elementaren auf dem Spiel, sondern sogar ihr eigenes Leben.

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Seitenzahl: 533

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Michelle Krabinz wurde 1994 in Köln geboren und fühlte sich schon seit ihrer Jugend zur Kunst des Schreibens hingezogen. Obwohl sie viele Kurzgeschichten und Märchen schrieb, dachte sie bis zu ihren frühen zwanziger Jahren nie darüber nach, eine professionelle Schriftstellerin zu werden.

Seitdem hat sie sowohl eine große Begeisterung für verschiedene Arten von Kunst entdeckt, als auch den Wunsch, ihre diversen Geschichten und fantastischen Welten mit anderen Leuten zu teilen.

„Kampf der vier Elemente – Feuer & Wasser“ ist eines ihrer Werke, welches sie bereits in der frühen Pubertät zu schreiben begann. Als sie die Notizen zu den ersten Kapiteln nach einem ihrer Umzüge wiederfand, entschied sie, sich dieser Geschichte mit gereifter Lebenserfahrung zu widmen.

Das Buch hat sich seitdem sehr verändert und weiterentwickelt. Die Figuren sind gemeinsam mit ihr erwachsener geworden und nun bereit, einer Welt aus neugierigen Lesern zu begegnen.

Dabei möchte Michelle Krabinz anmerken, dass dies ein Werk der Fiktion ist. Namen, Charaktere, Orte und Begebenheiten sind entweder der Fantasie des Autors entsprungen oder in fiktionaler Weise verwendet worden. Jegliche Ähnlichkeiten mit wirklichen Personen, tot oder lebendig, sind unbeabsichtigt und Produkte des Zufalls.

Für meine Mutter,

welche immer an mich geglaubt hat,

obwohl das Manuskript jahrelang in einer Kiste

verschwunden war

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 34

Kapitel 35

Epilog

Prolog

Um sie herum herrschte Chaos. Vor Kurzem hatte sie noch nichtsahnend in ihrem Bett gelegen. Nun rannte Rose barfuß in die Nacht hinein. Vorbei an brennenden Häusern, schreienden Menschen – und das immer noch im Nachtgewand. Dieses war für eine Flucht nicht unbedingt geeignet. Es verfing sich viel zu oft in ihren voraneilenden Beinen und lief ständig Gefahr in Brand zu geraten.

Ohne stehen zu bleiben griff sie sich den rüschenbesetzten Saum und riss ihn mit einer kräftigen Bewegung ab. Jetzt bedeckte der dünne Stoff zwar kaum noch ihre kalten Knie, doch immerhin riskierte sie nicht bei jedem Schritt hinzufallen.

Sie steigerte ihre Geschwindigkeit, schrak jedoch zur Seite, als neben ihr eines der in Flammen stehenden Gebäude in sich zusammenstürzte. Mit einem Aufschrei wich sie vor der Welle aus heißer Asche zurück. Dabei stolperte sie über einen Stein und landete im nächsten Moment auf dem rußgeschwärzten Boden. Schneller, Rose! Sonst kriegen sie dich, befahl sie sich selbst. Sie wusste zwar noch nicht genau, vor wem sie floh, aber das war ihr in diesem Moment egal. Sie hatte dringlichere Sorgen.

Beim hastigen Aufstehen bemerkte sie zuerst nichts. Doch als sie weitereilte, verspürte sie am Rand ihres Bewusstseins einen ziehenden Schmerz. Verdammt! Ich habe mir den Knöchel verstaucht. Aber ich darf jetzt nicht langsamer werden!

Den Schmerz ignorierend warf sie einen flüchtigen Blick über ihre Schulter. Hinter ihr war die nächtliche Schwärze von zuckenden Schatten und Lichtern erfüllt. Schreie hallten durch die Nacht und sie musste hilflos mit ansehen, wie ihr Heimatdorf zu Asche zerfiel. Nicht ablenken lassen!

Sie wandte ihr Gesicht wieder nach vorne, zum Ausgang des Dorfes. Neben ihr rannten schemenhafte Gestalten durch den beißenden Rauch. Die ängstlichen Gesichter wurden durch den rötlichen Schein der Feuersbrunst in ein teuflisches Licht getaucht. Sie erkannte die meisten von ihnen, doch keiner würdigte sie eines Blickes. Alle rannten um ihr eigenes Leben.

Leben! Rennen! Schneller! Sie versuchte, aufkeimende Gefühle zu unterdrücken und konzentrierte sich ausschließlich darauf, in der Finsternis vor ihr einen Fluchtweg zu erahnen.

Plötzlich tauchte aus dem Dunkel eine fremde Person auf. Rose schrie entsetzt auf, als sie zusammenstießen und zu Boden fielen. Hastig rappelte sie sich wieder auf. Dabei sah sie in die schreckgeweiteten Augen vor ihr. Es war ein kleiner Junge, vielleicht zehn Jahre alt. Er war starr vor Angst und schien zu befürchten, dass sie ihn umbringen würde.

„Schnell, wir müssen hier weg!“

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Zuerst zuckte er zurück, doch dann ergriff er sie dankbar und ließ sich von ihr hochziehen. Gemeinsam rannten sie in die Nacht hinein, wobei Rose einen schnellen Blick über ihre Schulter warf. Erschrocken stellte sie fest, dass ihre Verfolger ihnen dicht auf den Fersen waren.

Sie konnte einen Mann im schwarzen Gewand zwischen den brennenden Ruinen ihres Dorfes stehen sehen. Er hatte die Arme weit ausgebreitet und rief unverständliche Worte in die Nacht hinein. Dabei schien die Luft um ihn herum sich immer schneller um seine Gestalt zu drehen.

Gerade, als sie die Augen wieder nach vorne wandte, sah sie, wie sich kleine Wirbelstürme um den Fremden bildeten. Sie versuchte, noch schneller zu rennen und wappnete sich innerlich gegen den Angriff. Dennoch wurde sie beinahe von den Füßen gerissen, als die Luftmassen an ihnen vorübertobten.

Der kleine Junge neben ihr kam ebenfalls ins Stolpern. Schnell ergriff sie seine Hand, während sie versuchte, in der Dunkelheit weiterhin die Straße zu erkennen.

Je weiter sie sich von dem brennenden Dorf entfernten, desto düsterer wurde die Nacht. Bald schon konnte sie kaum noch die Hand vor Augen sehen. Somit bemerkte sie nur in letzter Sekunde, dass vor ihnen plötzlich der Boden aufriss. Wie durch die Hand des Teufels tat sich die Erde auf, so dass ein riesiger Spalt vor ihnen aufklaffte. Hätte sie nicht die Schreie der Anderen gehört, wäre sie wohl ebenfalls von dem tiefen Schlund verschlungen worden.

Im letzten Moment konnte sie jedoch zur Seite springen und den Jungen mit sich reißen. Sie machten einen großen Bogen um die Schreie herum, bis sie wieder zurück zur Straße gelangten.

Diese führte nun zu einer hölzernen Brücke, unter welcher das eisige Wasser des Flusses entlangströmte. Die Überquerung war schon völlig überfüllt. Einige der Flüchtenden sprangen aus Verzweiflung in den Fluss und versuchten, durch das brusthohe Wasser ans andere Ufer zu gelangen.

Gerade, als Rose die Brücke beinahe erreicht hatte, wurde sie auf einmal von einem vorbeieilenden Mann zur Seite gestoßen. Es war einer der Dorfräte, welcher sich ohne Rücksicht durch die Menschenmenge schob, um seine eigene Haut zu retten.

Rose wurde von dem Stoß von den Füßen gerissen und stolperte seitwärts die Böschung hinunter. Ihr verletzter Knöchel gab unter der unerwarteten Belastung nach, so dass sie schreiend in den Fluss hineinstürzte.

Eiskaltes Wasser umspülte ihren müden Körper und trieb ihr die Luft aus der Lunge. Der kräftige Strom riss sie mit sich und drohte sie zu verschlingen. Werde ich nun doch sterben? Sie fand kaum Kraft, sich gegen die reißenden Fluten zu wehren. Ausgerechnet von einem meiner eigenen Leute getötet. Die Dorfräte sollten uns doch eigentlich beschützen …

In diesem Moment wurde sie an der Schulter gepackt und festgehalten. Starke Kinderhände schlangen sich um ihrem Oberkörper und zerrten sie zurück an die Oberfläche. Hektisch schnappte sie nach Luft, wobei sie sich in ihrer Hast an fliegenden Wassertropfen verschluckte. Beinahe wäre sie in die Wogen zurückgefallen, doch der kleine Junge ließ sie nicht wieder los. Eben noch habe ich ihm das Leben gerettet und nun … Er sieht nicht mehr aus wie ein Kind. Wie schnell der Krieg sie doch erwachsen werden lässt.

Dankbar klammerte sie sich an seine dünnen Arme, während sie gemeinsam dem rettenden Ufer entgegenstrebten. Die Strömung war immer noch stark, doch mit jedem Schritt spürte sie, wie sie den Klauen des Wassers weiter entglitten.

Sie hatten die Mitte des Flusses bereits hinter sich gelassen, als sie flussaufwärts eine andere Gestalt bemerkte. Ein Mann im schwarzen Umhang, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Er kniete am Ufer und hielt seine Hände in den eisigen Fluss hinein. Sie konnte nur seinen Mund erkennen, welcher sich sehr schnell bewegte. Auch er schien in einer fremden Sprache zu sprechen. Obwohl sie ihn nicht verstand, stellten sich die Haare auf ihren Armen auf. Sie konnte die herannahende Gefahr förmlich auf ihrer Haut spüren.

„Schnell! Zum Ufer!“

Gemeinsam stemmten sie sich gegen die reißenden Fluten. Das Wasser schien jedoch Widerstand zu leisten. In schäumenden Wogen jagte der Fluss an ihnen vorbei. Der kleine Junge, dessen Kopf ohnehin kaum aus dem Wasser hinausragte, wurde beinahe von den Beinen gerissen. Im letzten Moment konnte Rose ihn an den Armen packen und zog ihn zurück an ihre Seite.

Zusammen kämpften sie sich dem Ufer entgegen, welches bereits zum Greifen nah war. Das Wasser zerrte an ihrem Nachtgewand und drohte bei jedem Schritt, ihr den steinigen Grund unter den Füßen wegzureißen.

Endlich erreichten sie in quälender Langsamkeit die Böschung. Ihre Hände hatten gerade den feuchten Erdboden ertastet, als ein besonders kräftiger Wasserstrom sie erfasste und mit sich riss. Mit einem verzweifelten Aufschrei klammerte sich Rose an den Gräsern fest. Diese waren jedoch zu aufgeweicht, um ihren panischen Fingern Halt zu geben. Die herausgerissenen Wurzeln noch in der Hand, wurde sie in die eisi gen Wogen zurückgeworfen.

Fieberhaft umklammerte sie den kleinen Jungen mit einem Arm und versuchte ihn über Wasser zu halten. Dabei wurde sie selbst von dem aufgewühlten Fluss verschluckt, so dass nur noch ihre nach Hilfe suchenden Finger aus den Wellen hervorragten.

Kurz bevor sie völlig die Orientierung verlor, spürte sie, wie ihre Hand von der eines Anderen umfasst wurde. Ohne nachzudenken klammerte sie sich daran fest. Kräftige Arme zogen sie und den kleinen Jungen aus dem eisigen Griff der Fluten.

„Danke“, keuchte sie, als sie schließlich auf festem Grund lagen.

Ihr Retter nickte nur stumm und half ihnen zurück auf die zitternden Beine. Dann zog er sie mit sich in Richtung Straße. Rose wollte erneut zum Dank ansetzen, doch der Fremde brachte sie eilig zum Schweigen.

„Laufen, nicht sprechen. Sonst nützt es dir und deinem Sohn nichts, dass ich euch geholfen habe.“

Sie hätte beinahe entgegnet, dass dies nicht ihr Sohn war, ließ es jedoch bleiben und rannte stumm neben den beiden in die Nacht hinein.

Die Straße ließ sich in der Finsternis kaum noch ausmachen. Nur ihre Füße spürten die Veränderung, als sie den weichen Erdboden verließen und auf hartem Stein weiterliefen.

Mit einem flüchtigen Blick über die Schulter stellte Rose fest, dass ihre Verfolger ihnen nun schon sehr nahe gekommen waren.

„Wir müssen schneller laufen!“, presste sie zwischen keuchenden Atemzügen hervor. Der Junge an ihrer Seite gab sein Bestes, ihrem Befehl zu folgen. Seine kurzen Beine konnten ihn allerdings noch nicht so schnell tragen, obwohl die kleinen Füße unermüdlich auf das harte Pflaster trommelten. Wir dürfen nicht zurückfallen!

Neben sich sah sie die einzelnen Schatten der Flüchtenden an ihnen vorbeihasten. Verzweifelt hielt sie nach jemandem Ausschau, der den Kleinen hätte tragen können. Da entdeckte sie erneut den Mann, der sie aus dem Fluss gezogen hatte. Schnell steuerte sie auf ihn zu und glaubte, dabei sogar sein Gesicht zu erkennen. Ist das nicht Georg, der Bäcker? Die Stimme würde passen …

Ihre aufkeimende Hoffnung verflüchtigte sich jedoch, als sie beim Näherkommen den kleinen Jungen auf seinem Rücken entdeckte. Ich dachte, er hat keine Familie. Vielleicht hat er ihn auch gerettet … Neben den beiden rannte ein junges Mädchen, vermutlich die Schwester des Kleinen. Als die Drei an ihnen vorüberhasteten, stellte Rose entsetzt fest, dass sie bereits im hintersten Teil der Flüchtlingsgruppe gelandet waren. Wir dürfen nicht noch weiter zurückfallen!

„Schnell, komm her. Ich trage dich“, rief sie dem Jungen an ihrer Seite zu, während sie ungebremst weiterliefen.

Der Kleine schüttelte zuerst den Kopf, überlegte es sich dann aber anders und sprang aus dem Lauf heraus auf ihren Rücken. Rose spannte ihre Muskeln an und versuchte, so schnell wie möglich weiter zu rennen. Der Junge war allerdings schwerer als sie erwartet hatte. Jetzt nicht aufgeben – sonst sterben wir beide!

Mit aller Willenskraft zwang sie sich zum Weiterlaufen. Dabei stellte sie mit einem kurzen Blick über die Schulter fest, dass ihre Verfolger ihnen bereits gefährlich nah waren. Sie konnte den Mann mit dem Kapuzen-Umhang erkennen, welcher sie zuvor beinahe im Fluss ertränkt hätte. Was sind das für Menschen? Sind es überhaupt Menschen? Vielleicht sind es Hexenmeister … Komplizen des Teufels … Dämonen …

Hinter den unheimlichen Fremden waren einige normale Leute zu erkennen, welche sich mit menschlichen Waffen ausgerüstet hatten. Als plötzlich ein Pfeil knapp an ihrem Kopf vorbeisauste, wandte sie ihren Blick schnell wieder nach vorne.

Die dunkle Straße konnte sie nun nicht mehr erkennen. Allein das Gespür ihrer blutigen Füße wies ihr den Weg, sowie das Geräusch der anderen Flüchtenden vor ihr. Wir sind die Letzten. Ich muss schneller werden!

Gerade, als sie diesen Beschluss in die Tat umsetzen wollte, bohrte sich ein brennender Schmerz in ihren linken Arm. Vor Schreck wäre sie beinahe gestürzt. Der kleine Junge schrie genauso erschrocken auf wie sie und sprang schnell von ihrem Rücken.

Ihre Augen suchten vergebens in der Düsternis nach einem Grund für den Schmerz. Ihre Finger hingegen ertasteten die eiserne Spitze eines Pfeils an der Außenseite ihres Unterarms. Der hölzerne Schaft durchbohrte ihren Muskel und lähmte ihren Arm.

Kurzzeitig vergaß sie, wo sie war und wäre beinahe in eine Schockstarre verfallen. Der Junge ergriff jedoch ihre rechte Hand und zog sie eilig weiter.

Der stechende Schmerz hing leblos an ihrer Seite, während sie mit langen Schritten um ihr Leben rannte. Ich muss weiter! Wir müssen die Burg erreichen!

Es war ihre einzige Hoffnung auf Rettung. Die Burg gehörte einem reichen Adeligen, der sich nur selten in teuren Gewändern in ihrem Dorf hatte blicken lassen. Doch nun hofften alle darauf, dass er ihnen hinter seinen starken Mauern Schutz gewähren würde. Die Frage ist nur, ob wir es überhaupt bis dahin schaffen werden … Mein Arm …

Ein weiterer Pfeil pfiff an ihnen vorbei und bohrte sich knapp neben dem kleinen Jungen in die Erde.

„Du musst ohne mich weiterlaufen“, rief sie ihm verzweifelt zu. „Ich halte dich nur auf!“

Sie versuchte, seine Hand loszulassen, doch er umklammerte sie umso fester und zog sie mit sich. Ich muss zügiger laufen. Für ihn. Er soll nicht meinetwegen umkommen!

Mit letzter Kraft zwang sie sich noch einmal schneller zu rennen. Langsam kamen sie den hastigen Schritten vor sich näher, bis sie erneut von keuchenden Gestalten umgeben waren.

Am Horizont tauchte langsam der lodernde Feuerball der aufgehenden Sonne auf. Im trüben Licht des Morgens konnte sie endlich die Umrisse der Wälder erkennen, an denen sie vorübereilten. Es ist nicht mehr weit! Wie müssen durchhalten …

Neben ihnen tauchten immer mehr schattenhafte Gestalten auf, denen die Hoffnung die Schritte beflügelte. Rose wollte ebenfalls schneller werden, stieß jedoch beinahe mit einem alten Mann zusammen, welcher am Straßenrand stehengeblieben war.

„Nicht aufgeben“, rief sie ihm zu und wollte ihn mit sich ziehen. Dabei erinnerte der stechende Schmerz sie wieder daran, dass sie ihren freien Arm kaum noch bewegen konnte. Der federnbesetzte Schaft war mittlerweile abgebrochen, ohne dass sie es bemerkt hatte.

„Schnell, sie sind direkt hinter uns …“

„Renn du nur, Kind. Für mich endet der Weg hier.“

„Aber …“

„Rette dich und deinen Sohn. Geh!“

Sie wollte nicht nachgeben, doch die herannahende Gefahr trieb sie fort von der gebeugten Gestalt. Sie ließ sich von der drängenden Hand des kleinen Jungen mitziehen, während sich das faltige Gesicht in ihr Gedächtnis einbrannte. Was wird nun aus ihm werden?

Mit Tränen in den Augen wandte sie den Blick dem Horizont zu und lief weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen. Vielleicht kann er sich im Wald verstecken …

Ihre Gedanken wurden schnell wieder zurück in die Realität gerissen, als aufgeregte Rufe durch die Dämmerung drangen. Die Silhouetten vor ihnen eilten mit langen Schritten um die nächste Baumgruppe herum und die aufkeimende Hoffnung gab ihr neue Kraft. Die Burg!

Sie bemerkte nicht mehr, wie ihr Leben in kleinen Blutstropfen aus ihrem Arm herausfloss und ihr Gewand rot färbte. Auch die kalte Luft, welche anfing, ihre Glieder zu lähmen, störte sie nicht mehr. Ihre aufgeschürften Füße rannten mit neuer Kraft ihrer Rettung entgegen, während ihre rechte Hand den kleinen Jungen mit sich zog.

Endlich erreichten sie ebenfalls die Biegung und schauten den steinernen Mauern entgegen, welche in abweisender Schwärze aus dem Morgen ragten. Die ersten Flüchtlinge waren bereits am Tor angelangt und riefen zu den Schatten der Wachen hinauf.

„Öffnet das Tor“

„Lasstuns rein!“

Das schwere Eichenholz rührte sich jedoch nicht. Selbst als Rose und der Junge am Eingang der ersehnten Rettung eintrafen, war ihnen der Weg nach Innen weiterhin versperrt.

Die Wachsoldaten zeigten keine Regung, bis eine weitere Gestalt zwischen den Zinnen auftauchte. Rose erkannte ihn sofort als den Burgherren. Er war in ein fürstliches Nachtgewand gekleidet und sah herablassend auf die Menge hinab. Als seine kleinen Augen jedoch den hektischen Handzeichen der aufgebrachten Leuchte folgten, wurde sein Gesicht bleich. Er machte auf dem Absatz kehrt und verschwand eilig im Schatten der Burgmauer.

Angstvolle Schreie machten sich breit. Rose blickte mit zusammengekniffenen Lippen der herannahenden Masse ihrer Verfolger entgegen. Ihren pochenden Arm hatte sie dabei schützend an ihre Seite gepresst, um die Blutung ein wenig zu stillen.

Ihr Kopf schnellte herum, als hinter ihnen ein Knarren und das Rasseln schwerer Ketten ertönte. In quälender Langsamkeit hob sich das dicke Holztor und die panischen Menschen strömten in blinder Hast dem Innenhof entgegen. Rose wurde gewaltvoll mitgerissen und umklammerte mit ihrem gesunden Arm den kleinen Jungen. Ein unachtsamer Ellenbogen rammte ihr den Pfeil tiefer ins Fleisch, so dass ihr schwarz vor Augen wurde. Nicht ohnmächtig werden!

Mit großer Mühe zwang sie den blendenden Schmerz zurück und blickte sich keuchend um. Die verschwommenen Umrisse des Burghofes gaben ihr ein kurzes Gefühl der Sicherheit, welches allerdings schnell von der Qual überschattet wurde.

Erst jetzt, wo ihr Körper nicht mehr vollständig auf die Flucht fixiert war, bemerkte sie, wie viele Verletzungen sie erlitten hatte. Nicht nur ihr linker Arm quälte sie mit brennenden Stichen, auch ihre geschundenen Füße pulsierten in blutiger Pein.

Sie hatte aber keine Zeit, sich über ihre Gesundheit Gedanken zu machen. Schon wieder ertönten aufgeregte Schreie um sie herum und sie wandte ihren Blick den Zinnen zu. Die Wachsoldaten ragten nun nicht mehr düster und bedrohlich in den morgenroten Himmel hinein. Stattdessen liefen sie eilig durcheinander und riefen sich hastig Befehle zu. Zwei schwere Kessel wurden über großen Lagerfeuern erhitzt, während sich die Soldaten mit Armbrüsten hinter der schützenden Mauer aufstellten.

Der Anblick der gut bewaffneten Männer wirkte kaum beruhigend. In den Gesichtern um sich herum konnte Rose die gleiche Frage sehen, welche ihr die Angst durch die Glieder fahren ließ. Können menschliche Waffen wirklich gegen die Macht der Hexer standhalten? Alle schienen gebannt die Luft anzuhalten. Eine unheilvolle Stille legte sich über den Burghof. Dann spürte Rose erneut, wie sich die Haare auf ihrer Haut aufstellten und schaute angsterfüllt gen Himmel.

Der Anblick, der sich ihr bot, ließ jegliche Hoffnung aus ihrem Körper entweichen. Ihre Augen schauten schreckensstarr den wirbelnden Böen entgegen, welche sich vor der Burg zusammenbrauten. Ihr Blick folgte den tosenden Luftmassen und sah gerade noch, wie die Wachsoldaten hinter den Zinnen Schutz suchten. Dann traf der Sturm auf die Burgmauer.

Die Wucht riss die Flaggen samt den Stangen von den Zinnen. Einer der Soldaten wurde von einer Windböe in den Burghof geschleudert. Er schlug zwischen den zurückweichenden Menschen auf dem Steinboden auf und blieb reglos liegen.

Einen kurzen Moment lang war es wieder totenstill, bis die Panik ausbrach. Schreiend drängten die Flüchtlinge dem hinteren Teil des Hofes entgegen und zerdrückten sich beinahe untereinander. Rose wurde die Luft aus den Lungen gepresst und der kleine Junge an ihrer Hand von den Füßen gerissen. Wäre er nicht von mehreren schiebenden Körper eingeklemmt gewesen, hätte ihn die Meute überrannt.

„Hört mich an, ihr Ungläubigen“, erscholl eine donnernde Stimme über die angstvollen Rufe hinweg. Sofort wurde es wieder ruhiger. Sogar der Wirbelsturm versiegte, als wolle er gebannt lauschen.

„Ihr habt euch selbst verdammt, indem ihr euch geweigert habt, uns Gefolgschaft zu leisten. Wir kamen in euer Dorf, um euch zu erlösen. Denn wir sind die Auserwählten Gottes. Er hat uns mit den Gaben der Elemente gesegnet und uns seine göttliche Macht offenbart. Wir Elementaren sind die einzig wahren Abgesandten Gottes. Doch ihr habt uns abgewiesen. Nun fordern wir euch ein letztes Mal auf, euch uns zu unterwerfen!“

Das gebannte Schweigen hing wie eine schwere Wolke über der wartenden Menge. Hilflose Blicke machten sich in den ratlosen Gesichtern breit.

„Niemals!“, erklang da die hohe Stimme des Burgherrn hinter ihnen.

Alle Köpfe wandten sich erschrocken zu ihm um. Er stand nun in prächtige Gewänder gehüllt in einem der Burgtürme. In einer Hand hielt er ein diamantbesetztes Schwert, welches er in einer heroischen Pose gen Himmel reckte. Die Klinge blitzte im aufgehenden Licht der Sonne.

„Wir werden uns nicht von euch Heiden verführen lassen. Nieder mit den Hexern!“

Die Menschenmenge sah ihn für den Bruchteil einer Sekunde in geschlossener Fassungslosigkeit an. Dann rannten die Ersten in panischer Verzweiflung zum Burgtor und begannen, mit ihren Fäusten dagegen zu hämmern.

„Wir ergeben uns.“

„Lasstuns raus!“

„Wir wollen nicht abgeschlachtet werden!“

„Wir unterwerfen uns!“

Die Wachsoldaten hingegen nahmen die Worte ihres Herren etwas ernster und begannen, mit ihren Armbrüsten auf die Belagerer zu schießen. Sofort wurde das Brausen des Windes wieder laut. Mit schreckensstarren Gesichtern beobachteten die Menschen, wie die Pfeile vom Sturm zurückgeschleudert wurden. Im nächsten Augenblick stürzten die ersten getroffenen Soldaten zu Boden, durchbohrt von ihren eigenen Pfeilen.

„Verschont uns!“, schrien die Leute, während sie versuchten, den wirbelnden Geschossen auszuweichen.

„Wenn ihr euch nicht ergebt, werden wir euch auslöschen“, antwortete die Donnerstimme von hinter der Mauer. „Hört auf, Widerstand zu leisten und öffnet das Tor. Wir sind dazu auserkoren die Welt zu regieren.“

„Wir glauben euch“, riefen einige sogleich aufgebracht und wiesen die Wachsoldaten erneut an, das Tor zu öffnen. Diese hingegen folgten weiterhin den Befehlen ihres Herren, welcher nun aus dem sicheren Schutz seines Turmes herausrief.

„Wir werden nicht nachgeben. Wir lassen nicht zu, dass ihr Teufelswesen den Namen des Herren weiterhin missbraucht. Nieder mit den Hexern!“

Während die ängstliche Menge nur hilflos zusehen konnte, gingen die Wachsoldaten erneut zum Angriff über. Dieses Mal gossen sie das erhitzte Öl über die Burgmauer. Allerdings wurden dabei mehrere von ihnen von dem tosenden Wind erfasst und durch die Luft geschleudert.

Rose versuchte, in all dem Chaos einen rettenden Ausweg zu erkennen. Ihre Augen blieben erschrocken an dem hölzernen Burgtor hängen. Rote Flammen züngelten zwischen den Ritzen hervor und trieben die Menschen in den Innenhof zurück.

Im nächsten Moment wurden sie von einer donnernden Erschütterung beinahe von den Beinen gerissen. Direkt vor dem Burgturm riss ein Spalt im Boden auf und einige Nahestehende stürzten mit panischen Rufen in die Tiefe hinab.

Hastig wichen die Leute von den Mauern zurück, wurden jedoch auf der anderen Seite von dem Tor bedroht, welches mittlerweile lichterloh in Flammen stand. Gefangen zwischen den Naturgewalten sahen sie mit an, wie der Burgturm in sich zusammenstürzte und den Adeligen sowie einige Umstehende unter sich begrub.

Rose wandte sich von den Schreien der Herabstürzenden ab und stellte fest, dass das Burgtor ebenfalls in sich zusammenfiel. Durch die letzten Flammen waren die schemenhaften Umrisse der Elementaren zu erkennen, welche draußen vor der Mauer warteten.

Einige Leute sprangen durch das Feuer hindurch und rannten zu den dunklen Gestalten, während Andere sich weiterhin im Burghof drängten. Rose war sich nicht sicher, in welcher Richtung sie am ehesten dem sicheren Tod entgehen konnte. Hektisch schaute sie sich um, als sie das vertraute Gesicht ihres Retters an ihr vorübereilen sah. Es war tatsächlich der ehemalige Bäcker, Georg, immer noch mit den beiden Kindern in seiner Obhut. Ohne weiter darüber nachzudenken folgte Rose ihnen zu den brennenden Überresten des Tores, den kleinen Jungen weiterhin fest an ihrer rechten Hand.

Als sie durch die Rauchwolke ins Freie stürmten, sah sie sich den düsteren Gestalten ihrer ehemaligen Verfolger gegenüber. Sind sie nun unsere neuen Herren? Mit unsicheren Schritten gesellte sie sich in die Reihen der Anhänger und wandte ihren Blick der einstürzenden Burg zu. Hinter den düsteren Schwaden konnte sie die Silhouetten der Soldaten ausmachen. Die kühle Morgenluft war erfüllt von den Schreien der Sterbenden. Von nun an werden wir wohl in Gefangenschaft leben müssen. Wer auch immer diese Elementaren sind, wir können ihnen nicht entkommen …

Kapitel 1

„Und als Hausaufgabe lest ihr auf Seite 162 die ersten beiden Abschnitte. Eine kurze Zusammenfassung genügt wohl.“

Endlich! Mit den abschließenden Worten unseres Geschichtslehrers und dem Schellen der Schulglocke wurden wir in das heiß ersehnte Wochenende entlassen. Eilig packte ich meine Schulbücher zusammen und lief in Richtung Tür. Kurz vor der Schwelle zur Freiheit wurde ich allerdings von der wohlbekannten, ermüdenden Stimme von Herrn Mälter zurückgerufen.

„Johanna. Würdest du bitte noch einmal kurz zu mir kommen? Ich möchte gerne etwas mit dir besprechen.“

Nein! Wieso jetzt? Die Sonne scheint!

Mit einem möglichst wenig genervten Gesichtsausdruck drehte ich mich langsam wieder zum Lehrerpult um.

„Ja bitte, Herr Mälter? Ich hoffe, es ist nichts Langes. Ich treffe mich nämlich gleich noch mit meiner Lerngruppe.“

Das war zwar nicht völlig wahrheitsgetreu, denn ich würde – wenn überhaupt – Zuhause alleine lernen, aber ich musste schließlich mein Wochenende retten.

„Oh, davon möchte ich dich keineswegs abhalten. Ich wollte dich nur fragen, wie es dir momentan so geht?“

Ganz gut, bis Sie mich zurückgerufen haben …

„Ich verstehe nicht,was Sie meinen, Herr Mälter.“

„Tja, ich mache mir nur ein wenig Sorgen um dich. Du siehst in letzter Zeit so blass aus …“ Wie ungewöhnlich für Rothaarige, die von ihren Lehrern aus der Sonne gehalten werden! „… und du scheinst manchmal geistig etwas abwesend zu sein. Träumst vor dich hin …“ Kaum verwunderlich, bei dem langweiligen Unterricht.

„Ja, Herr Mälter. Das könnte wohl an all dem Stress liegen, den ich momentan habe. Sie müssen wissen, dass die plötzliche Umstellung von 13 auf 12 Schuljahre eine gewisse Überforderung mit sich bringt. Die Lehrer haben ja noch keinen neuen Lehrplan und … Nun, es gibt einfach gewisse Defizite, zum Beispiel bei der Erstellung neuer Schulbücher. Deshalb leidet unsere ganze Klasse unter großen Lernproblemen …“ Klingt schon, als wäre ich Klassensprecherin! „… und viele Lehrer sowie Schüler sind von der Gesamtsituation überlastet.“

Herr Mälter schien mit meiner ausführlichen Antwort ebenfalls ein wenig überfordert zu sein und runzelte nur die Stirn.

„So habe ich das noch gar nicht betrachtet. Das werde ich wohl mal überdenken.“ Von mir aus, aber bitte ohne mich! „Dennoch muss ich dir leider mitteilen, dass deine mündliche Beteiligung in letzter Zeit zu sehr nachgelassen hat.“

„Das tut mir leid, Herr Mälter. Ich werde sehen, dass ich mich in nächster Zeit wieder mehr in den Unterricht einbringe.“ Auch, wenn die derzeitigen Themen zum Kotzen sind. Wen interessieren schon die verstaubten Verträge gefallener Nationen? Können wir nicht wieder über das alte Ägypten sprechen?

„Das freut mich zu hören, Johanna. Deine Note hat sich im Vergleich zum vorigen Jahr nämlich erheblich verschlechtert. Du liegst mittlerweile gerade mal bei einer 3+ und wir wissen ja wohl beide, dass du zu Besserem in der Lage bist. Nicht wahr, meine Liebe?“

Igitt! Hat er gerade wirklich ‚meine Liebe‘ gesagt?!

„Ich werde mein Bestes geben, Herr Mälter“, brachte ich in möglichst freundlichem Tonfall heraus. Sah sein Lächeln schon immer so pädophil aus? Ich habe wohl in letzter Zeit zu oft Nachrichten geguckt …

„Schön. Dann wünsche ich dir ein lehrreiches Wochenende.“

„Vielen Dank, Herr Mälter.“ Schleim, kotz, würg! „Auf Wiedersehen.“

Mit schnellen Schritten verließ ich den Klassenraum, bevor ihm noch ein weiterer Vorwand einfallen konnte, mir meinen Freitagnachmittag zu rauben.

Endlich draußen angekommen, wurde ich von einer sommerlichen Brise begrüßt. Frische Luft! Eine Wohltat. Nach dem stundenlangen Aufenthalt in stickigen Klassenräumen sogen meine Lungenflügel begierig den unverbrauchten Sauerstoff ein. Ich hielt mein Gesicht der warmen Sonne entgegen und streckte meine Glieder, die durch das viele Sitzen schon ganz steif geworden waren. Schule ist in vielerlei Hinsichten ungesund … Zum Glück sind bald Sommerferien!

Fröhlich summend schwang ich mich auf mein Fahrrad und radelte durch die Straßen unseres kleinen Dorfes. Bald schon hatte ich den äußeren Bezirk erreicht und fuhr durch die nach Sommer duftende Natur, vorbei an sorglosen Schafen und Kühen.

Als ich auf den Feldweg einbog, welcher kurz vor unserem Haus in eine holprige Straße mündete, lief mir bereits eine unserer Katzen über den Weg. Sie blieb kurz stehen, um mich mit einem neugierigen Blick zu begrüßen, bevor ihr schwarz-weißes Fell im dichten Grün neben der Straße verschwand. Typisch Lily! Immer unterwegs auf Erkundungsgang … Unsere anderen fünf Katzen waren bei weitem nicht so abenteuerlustig und blieben meistens deutlich näher beim Grundstück. Dieses hatte ich nun erreicht und wurde sogleich vom Rest der Haustier-Band begrüßt. Zuerst kamen mir unsere zwei getigerten Kater entgegen und machten das Einbiegen zum Fahrradschuppen zu einer Slalom-Fahrt. Direkt vor dem Haus wurde ich dann von unserem freudig wedelnden Hütehund Charly in Empfang genommen. Er kam mir mit unseren zwei kleinsten Kätzchen entgegengelaufen, welche sich mutig auf seinem flauschigen Rücken hielten.

Das Weiterlaufen war somit vorerst unmöglich und ich beugte mich lachend hinunter, um die übermütige Bande zu begrüßen. Dabei registrierte ich, dass der dunkelrote Wagen meiner Mutter bereits in der Garage stand. Heute wohl mal kein Groß-Einkauf …

Das Auto meines Vaters glänzte durch Abwesenheit, was für einen Freitagnachmittag allerdings nicht verwunderlich war. Er schloss seine Praxis immer erst um 18 Uhr, um den Leuten vor dem Wochenende noch eine Chance zu geben, ihre Problemchen loszuwerden. Ganz der nette Mitbürger. Er hätte auch Polizist werden können. Jetzt ist er Freund und Helfer der Kranken …

Charly und die Katzen hatten irgendwann genug Streicheleinheiten genossen, um mich ins Haus zu lassen. Kaum hatte ich die Tür aufgeschlossen, rasten sie an mir vorbei und jagten sich durch das Wohnzimmer in den Garten. Unglaublich! Würden wir die Terrassentür im Sommer nicht immer offen haben, gäbe es jedes Mal eine Massenkarambolage.

„Johanna? Bist du das?“

Die fröhliche Stimme meiner Mutter drang zusammen mit dem Duft von bratenden Gewürzen zu mir in den Hausflur und verriet, dass das Mittagessen bald fertig sein würde.

„Ja, ich bin’s. Komme gleich.“

Schnell verstaute ich meine Römersandalen im Schuhschrank und gesellte mich zu ihr in die offene Küche.

„Da bist du ja, mein Engel.“ Ich bin kein Engelchen mehr Mutter! Wir hatten uns doch geeinigt, die Liebkosungen ab dem dreizehnten Geburtstag auf ein Minimum zu reduzieren … „Wie war die Schule?“

Diese Frage stellte sie schon seit ich mit fünf in die Grundschule gekommen war. Damals war ich noch begeistert und lerneifrig gewesen, doch mittlerweile hatte mich das chaotische Schulsystem eher zur Resignation gebracht. Deshalb war die Antwort schon seit Jahren immer die gleiche geblieben.

„So wie immer.“

Mutters braune Augen verrieten mir, dass dies ihrer Meinung nach keine zufriedenstellende Antwort war.

„Herr Mälter hat mir gesagt, dass meine mündliche Note sich verschlechtert hat.“ Und wie bei jeder normalen Fünfzehnjährigen ist mir das vollkommen egal!

„Das wird schon wieder. Du bist ja sonst immer eine der Besten in Geschichte gewesen.“

„Bestimmt“, antwortete ich schulterzuckend und wandte mich zum Treppenaufgang. „Ich mach noch schnell Hausaufgaben.“

„In Ordnung. Das Essen ist in ungefähr zwanzig Minuten fertig.“

Ich nickte und nahm zwei der hölzernen Stufen auf einmal, um weiteren Schulfragen zu entgehen. Im ersten Stock angekommen, betrat ich seufzend mein sonnendurchflutetes Zimmer und blickte sehnsüchtig zum Balkon. Ich könnte vor dem Essen noch schnell in den Pool gehen … Aber dann müsste ich später Hausaufgaben machen. Der bunt blühende Garten wirkte durchaus verlockend, doch ich entschied, dass ich ihn lieber nachher in Ruhe genießen würde, sobald alle schulischen Pflichten abgearbeitet waren. Also schnappte ich mir mein Geschichtsbuch und ließ mich in meinen Sitzsack fallen. Die Hausaufgaben waren deutlich einfacher als an anderen Wochenende, an denen ich stundenlang über schwierigen Mathematikaufgaben oder physikalischen Formeln herumgebrütet hatte. Somit war ich bereits mit allem fertig, als meine Mutter zum Essen rief und konnte entspannt in ein freies Wochenende starten.

Das funkelnde Nass umfing mich mit angenehm kühler Sanftheit. Für einen kurzen Moment tauchte ich in die unendliche Stille ein, welche nur von den Bewegungen meines Körpers durchbrochen wurde. Ruhe und Frieden … Wie sehr ich das in der Schule vermisst habe!

Die idyllische Atmosphäre war einer der Hauptgründe gewesen, weshalb meine Eltern sich nach meinem Grundschulabschluss entschlossen hatten, aus der Großstadt fortzuziehen. Das friedliche Leben auf dem Lande hatte mir am Anfang nicht besonders zugesagt, aber nachdem ich neue Freunde gefunden hatte, war mir die Natur sehr ans Herz gewachsen. Fahrradfahren gehörte seitdem zu meinen neuen Leidenschaften, ebenso wie stundenlange Ausritte in den angrenzenden Wäldern, fernab der sogenannten Zivilisation. Was auch immer Menschen daran zivilisiert finden, ihre Umgebung zu verschmutzen oder den Planeten mit Betonbauten und Plastikmüll zu überhäufen …

Meine Lunge hatte mittlerweile ihre Luftreserven aufgebraucht und so tauchte ich wieder an die Oberfläche zurück. Die angenehme Brise des frühen Sommers strich mir über die Haut, als ich aus dem Pool stieg und mich im Sonnenlicht betrachtete. Meine Haut sieht nicht blasser aus als sonst. Nun gut, der weiße Bikini lässt sie etwas dunkler wirken … Aber dennoch ist es für Rothaarige ja wohl völlig normal, blass zu sein. Und dank der hawaiianischen Gene meiner Mutter werde ich im Sommer sogar ein bisschen Braun! Herr Mälter sollte sich vielleicht mal eine neue Brille anschaffen …

Als ich mich kopfschüttelnd umdrehte, bemerkte ich erstaunt, dass auf der hölzernen Terrasse eine Sonnenliege aufgestellt worden war. Ist Vater womöglich früher nach Hause gekommen? Oder ist es schon so spät? Die Sonne stand bereits tief am Himmel und tauchte alles in ein weiches Rot. Könnte durchaus 18 Uhr sein …

Ohne mich umzublicken legte ich mich scheinbar völlig gelassen auf das weiche Holz und schloss die Augen. Dabei lauschte ich jedoch auf jedes Geräusch und hörte somit die leisen Schritte meines Vaters, als er sich von hinten heranschlich.

Es war eine Art stillschweigende Herausforderung zwischen uns, dass wir versuchten, uns gegenseitig zu erschrecken – also war ich vorbereitet.

„Buh!“

Seine tiefe Stimme sprang mich von der Seite her an und ein dunkler Schatten überragte mich. Mit einem spitzen Schrei schoss ich von der Liege hoch und stand im nächsten Moment neben ihm, geduckt wie eine Raubkatze beim Angriff. Dabei registrierte ich mit Genugtuung sein verblüfftes Gesicht. Ha! Wer hat jetzt wen erschreckt?!

Mit noch größerer Begeisterung stellte ich fest, dass er seine Badehose trug. Vermutlich hatte er vorgehabt, sich nach der Arbeit ein bisschen im Pool zu entspannen. Na, dann sollte ich ihm doch mal ins kühle Nass helfen! Er stand seitlich zum Pool, also griff ich ihn von der anderen Seite an und trieb ihn somit in Richtung Wasser. Während wir uns einen kleinen Martial Arts Kampf lieferten, behielt ich die ganze Zeit das Ende der Terrasse im Auge. Im passenden Moment duckte ich mich unter seiner Deckung hindurch, umfasste seine Hüfte und schleuderte uns beide mit voller Wucht in den Pool hinein.

Mit einem lauten Platschen durchbrachen wir gemeinsam die Wasseroberfläche, nur um im nächsten Moment prustend und lachend wieder nach oben zu schnellen.

„Das war mal originell“, meinte er zwinkernd, während er sich die nassen Locken aus dem Gesicht strich.

„Danke! Hast dich aber auch ganz gut geschlagen.“

Er lachte laut auf und spritzte mir eine Ladung Wasser ins Gesicht.

„Gegen unsere kleine Kämpferin habe ich dennoch keine Chance …“

„Klein?“

Ich richtete mich zu meiner vollen Größe auf, musste mich aber dennoch am Rand des Pools abstützen. Mein Vater konnte mit seinen 1,85 gerade so auf dem Boden stehen ohne unterzutauchen und grinste mir schelmisch zu.

„Entschuldige bitte. Da ist zwar noch Wachstumspotenzial, aber du bist natürlich meine Große.“

„Johanna die Große. Ja, daran könnte ich mich gewöhnen“, erwiderte ich mit gespielter Überheblichkeit und reckte mein Kinn gen Sonnenuntergang.

„Darf ich Eure Majestät zu einem Wettschwimmen herausfordern?“

Wir grinsten uns beide an und stießen uns im nächsten Moment kräftig vom Beckenrand ab. Mit wenigen Zügen durchquerten wir das rundliche Becken und lieferten uns dann ein Kopf-an-Kopf-Rennen zur Terrasse zurück. Dabei war er mit seinen langen Armen und Beinen eindeutig im Vorteil, auch wenn ich die bessere Schwimmerin war.

„Ein eindeutiges Unentschieden“, begrüßte uns die amüsierte Stimme meiner Mutter, als wir beinahe gleichzeitig den Beckenrand erreichten. „Als Belohnung für die tapferen Helden wird jetzt das Abendessen serviert.“

„Ausgezeichnet!“, riefen mein Vater und ich im Chor und kletterten lachend aus dem Pool.

Kapitel 2

„Johanna? Darling?“

„Hm?“

Ich war beim Essen wohl etwas zu sehr in meinen Planungen für das Wochenende versunken und blickte nun in die erwartungsvollen Gesichter meiner Eltern.

„Hattet ihr etwas gesagt?“

Mutters schwarze Haare umrahmten ihr fragendes Gesicht in sanften Wellen und wehten in der kühlen Brise des Abends. Ich habe gar nicht mitbekommen, wie dunkel es bereits geworden ist. Das gelbliche Licht der Kerzen um uns herum beleuchtete Vaters wasserblaue Augen, die mich besorgt musterten. Habe ich etwas Wichtiges verpasst?

„Wir haben gerade erwähnt, dass wir etwas mit dir besprechen müssen.“

Seine ernste Stimme ließ nichts Gutes erahnen.

„Aha. Was denn?“

„Es geht um meinen Bruder und seine Frau.“

Immerhin hat es nichts mit der Schule zu tun!

„Onkel Freddie? Wieso? Ist etwas passiert?“

Blöde Frage! Sonst würden sie’s ja nicht ansprechen.

„Ja, leider schon. Claudia ist die Treppe hinuntergestürzt und liegt nun im Krankenhaus. Sie hat ein gebrochenes Bein und eine starke Gehirnerschütterung. Deshalb wird sie in nächster Zeit nicht Zuhause sein können.“

„Du meine Güte. Klingt ja echt mies. Sie wird sich aber wieder erholen, oder?“

„Ja, das schon. Nur ist Julia jetzt ganz alleine.“ Ach herrje, mein armes Cousinchen. Die blöde Zicke ist doch sowieso immer nur Shoppen. „Onkel Freddie ist bei einer wichtigen Ausgrabung und kann momentan nicht dort weg – zumindest nicht länger als einen Tag.“ Oh nein! Er will doch nicht etwa andeuten, dass …? „Also haben wir angeboten, Julia für die letzten Schulwochen bei uns aufzunehmen. Die Klausurenphase ist bei ihr schon durch, also hat die Direktorin zugestimmt. Es sind ja nur noch zwei Wochen.“

Eine gebannte Stille breitete sich aus, während meine Eltern jede meiner Regungen beobachteten. Seit ich letzten Sommer fünfzehn geworden war, schienen sie in unangenehmen Situationen immer mit einem Wutausbruch meinerseits zu rechnen. Meistens konnte ich mich zurückhalten und meine Gefühle in Bewegung umwandeln, doch nun stand Flucht nicht zur Debatte. Sport nützt mir nichts. Julia kommt. Davor kann ich nicht davonsprinten. Das ist eine Katastrophe!

Mein Körper entschied sich vorerst für eine Schockstarre und mein Vater deutete das Schweigen als ein gutes Zeichen.

„Unser Direktor hat auch nichts dagegen. Julia wird natürlich eure Klausuren nicht mitschreiben, sondern Arbeitsblätter bearbeiten, die sie von ihren Lehrern mitbekommt. Onkel Freddie bringt sie morgen hier vorbei und sie soll dann auf dem Dachboden im Gästezimmer wohnen – nur für diese zwei Wochen versteht sich.“

Mein Gehirn hatte sich endlich entschieden, die kurzfristige Eiszeit in meinen Synapsen zu beenden und legte dafür nun einen besonders großen Schub an Emotionen bei, als sich mein Mund zu einer Erwiderung bereit machte.

„Ihr wollt also sagen, dass Julia hier einzieht? Morgen?! Und für zwei Wochen?!!“

Die Fragen klangen laut ausgesprochen irgendwie sehr banal, doch in meinem Kopf lösten sie das reinste Chaos aus. Das kann nicht sein! Ausgerechnet am Wochenende. Und für so lange!??

„Sozusagen. Falls es ihrer Mutter spontan wieder deutlich besser geht, könnte sie natürlich schon früher nach Hause. Aber für jetzt …“

„Und ich soll mit ihr zusammen zur Schule gehen?“

„Ja. Sie kennt sich hier schließlich nicht aus, also wäre es schön, wenn ihr gemeinsam hinfahrt.“

Mein Vater schien das sich zusammenbrauende Gewitter zu spüren und schaute hilfesuchend zu meiner Mutter hinüber.

„Genau. Sie kann sich mein Fahrrad ausleihen und vielleicht könntest du sie in den Pausen mit zu deinen Freunden nehmen, damit sie nicht so allein ist…“

„Moment mal! Ich soll Miss Ober Diva meinen Freunden vorstellen? Wollt ihr mich vor der ganzen Schule blamieren? Und überhaupt: Mit dem Fahrrad wird sie bestimmt nicht fahren, dafür sind ihr ihre Outfits und Beton-Frisuren zu schade.“

„Johanna, du musst verstehen, dass es für Julia sicherlich nicht einfach ist…“

„Nicht einfach? Ich sage euch was nicht einfach wird: Mit ihr zwei Wochen lang in einem Haus leben!“

„Ihr müsst ja nicht gleich beste Freundinnen werden. Es wäre nur schön,wenn du sie am Anfang …“

„Am Anfang? Was soll das denn wieder heißen? Eine Sekunde in der Nähe dieser Modetussi ist schon zu viel!“

„Johanna, nun komm mal wieder auf den Teppich“, ergriff mein Vater wieder das Wort. „Freddie ist mein Bruder und ich habe ihm versprochen, dass wir ihnen helfen. Julia wird morgen hier ankommen und dabei bleibt es. Sie ist immerhin deine Cousine! Also versuch bitte wenigstens nett zu ihr zu sein.“

„Aber das ist doch …“

„Im Gegenzug hat Onkel Freddie sogar zugesagt, dich in den Sommerferien mit zu seiner Ausgrabung zu nehmen.“

Mein Mund blieb offen stehen, während mein Gehirn einen kleinen Kurzschluss erlitt. Zwei Fronten prallten in meinem Kopf aufeinander und legten jeglichen Gedankenfluss lahm. Ich muss Julia ertragen! Ich darf mit zur Ausgrabung? Aber ich muss Julia … Darf ich wirklich bei der Ausgrabung mit dabei sein?

„Wie lange?“

„Auch für zwei Wochen. Am Anfang der Sommerferien. Wir bringen dich und Julia gemeinsamhin.“

„Was? Julia will auch mit?“

„Nicht zur Ausgrabung natürlich. Wir bringen sie nach Hause und dort holt Freddie dich dann ab.“

„Ach so. Okay. Das wäre … wirklich cool. Danke. Aber … Julia …Sie kommt allen Ernstes schon morgen?“

„Ja, so gegen 15 Uhr.“

Na toll! Wochenende Ade … Kann ich für die Zeit ausziehen? Ich könnte meine Freundinnen fragen …

„Ich muss ihr aber nicht die Zeit vertreiben?“

„Nein, natürlich nicht.Wir begrüßen sie gemeinsam und dann kannst du deinen Tag in Ruhe für dich ges talten.“

„Na dann.Wenn’s sein muss …“

Der nächste Morgen weckte mich mit strahlendem Sonnenschein und ich sprang freudig aus dem Bett, bis mir einfiel, dass dies kein normaler Samstag werden würde. Aber diesen schönen Frühsommer werde ich mir bestimmt nicht von Julia kaputt machen lassen. Ich tue einfach so, als gäbe es sie gar nicht!

Zufrieden nickend trat ich auf meinen kleinen Balkon hinaus und sog die frische Morgenluft ein. Der blaue Himmel zog mich geradezu nach draußen und ich beeilte mich, in meine Joggingsachen zu schlüpfen. Unten am Treppenabsatz traf ich Charly, welcher wild wedelnd zustimmte, mich bei meinem Lauf zu begleiten.

Ich zog ihm nur schnell ein Halsband an und sparte mir die Leine. Es war momentan keine Pflichtzeit – mal abgesehen davon, dass es hier auf den Feldwegen sowieso kaum jemanden störte.

Somit stürmte das aufgeregte Fellknäuel sofort an mir vorbei, als ich die Haustür öffnete und war bereits am Ende der Einfahrt angekommen, während ich mir noch die roten Locken zusammenband. Zum Glück erinnerte er sich rechtzeitig an seine gute Erziehung und wartete artig auf mich, bevor wir gemeinsam die Straße betraten.

Schon allein aus Prinzip wandte ich mich nicht wie in der Woche in Richtung Dorfmitte, sondern joggte geradewegs in die Natur hinein. Charly war mit dieser Wegstrecke sehr zufrieden und sprang begeistert über die Gräben und blühenden Wiesen.

Ich lief mich erst ein wenig warm und dehnte zwischendurch meine Glieder, was ihn sehr nervös machte. Er beschnüffelte ausgiebig jeden Baum in der Nähe, um mir ein wenig Zeit zu geben. Als ich dann endlich mein Tempo dem seinen anpasste, stürmte er ausgelassen bellend drauf los und schien den morgendlichen Auslauf genauso zu genießen wie ich.

Auf dem Rückweg lieferten wir uns noch ein kleines Wettrennen – welches er natürlich gewann – und waren dementsprechend beide ziemlich außer Atem, als wir wieder bei der von Rhododendren gesäumten Einfahrt ankamen.

„Herzlichen Glückwunsch, Charly. Du bist immer noch unschlagbar!“

Er wedelte freudig, ließ dabei aber erschöpft die Zunge heraushängen.

„Zur Belohnung haben wir uns jetzt beide erst Mal etwas zu trinken verdient.“

Als hätte er mich verstanden, verduftete er sofort in Richtung Trinkschüssel, sobald ich die Haustür aufgeschlossen hatte. Meine Eltern waren noch nicht zu sehen, also verschwand ich unter der Dusche, um meine beanspruchten Muskeln ein wenig zu entspannen.

Nach einem ausgiebigen Frühstück, bei dem sich Mutter und Vater zu mir gesellten, legte ich mich auf die Sonnenliege und las den Fantasy-Roman zu Ende, welchen ich in der Woche zuvor begonnen hatte.

Den Kopf voller fantastischer Wesen und Abenteuer, wollte ich am liebsten gleich einen Ausritt unternehmen. Ein Blick auf die Uhr verriet mir jedoch, dass Julia bald eintreffen würde. Das Ende ist nah. Die Apokalypse kommt. Rette sich wer kann!

Charly schien meine Gedanken erhört zu haben und sprang mit vollem Übermut in seinen kleinen Schwimmteich in der Mitte des Gartens hinein. Tja, du hast’s gut. Dich wird keiner mit seinen Beauty-Tipps nerven.

Genau in diesem Moment hörte ich einen Wagen auf den Hof fahren. Wenn man vom Teufel spricht! In diesem Fall eher eine Teufelin. Und sie würde sicherlich gerne Prada tragen! Den Film könnte ich mal wieder …

„Johanna?“

„Ich komme schon!“

Mit einem letzten sehnsüchtigen Blick auf Charly in seinem Element erhob ich mich von der Liege und schlurfte zur Haustür. Meine Eltern waren gerade noch damit beschäftigt, die Katzenbande in Schach zu halten, so dass wir uns gemeinsam zur Begrüßung wappnen konnten.

„Vergiss nicht: du darfst Onkel Freddie bald besuchen. Also zeig ihm, dass du dankbar bist und lass dich von Julia nicht anstacheln.“

Die beruhigende Stimme meiner Mutter konnte die aufkeimende Ablehnung keineswegs zügeln. Ich nickte trotzdem, bevor wir gemeinsam vor die Tür traten, um unsere Gäste willkommen zu heißen.

„Freddie, wie schön dich wiederzusehen.“

„Wie war die Fahrt? Wollt ihr etwas trinken?“

Meine Eltern waren in ihrer Nervosität ein bisschen zu übereifrig unsere guten Absichten zu demonstrieren, aber der Angesprochene nahm es zum Glück gelassen.

„Ebenfalls ein herzliches Hallo. Die Fahrt war okay. Und da ist ja meine Lieblings-Nichte!“

Grinsend lief ich auf ihn zu und ließ mich in eine kräftige Umarmung schließen. Was den gut gebauten Muskeltonus anging, stand Onkel Freddie meinem Vater in nichts nach. Ansonsten waren die beiden Brüder eher verschieden. Onkel Freddie hatte blonde Haare statt brauner Locken und seine Haut war ledrig von der vielen Sonne, welcher er bei seinen Reisen ausgesetzt war. Mein Vater pflegte eher eine ‚gesunde‘ Blässe, da er sich meistens in seiner Praxis aufhielt. Und kranken Patienten dann Vorträge über Vitamin-D3-Mangel hält …

„Freut mich ebenfalls dich wiederzusehen, Onkel Freddie. Wollt ihr reinkommen und etwas trinken?“

Er nickte dankbar und wandte sich wieder zu meinen Eltern um. Ich konnte ihre Erleichterung spüren, dass ich meine Manieren nicht vergessen hatte. Freddie gegenüber ist das ja auch nicht schwierig …

Das freundliche Lächeln gefror mir allerdings auf den Lippen, als die Beifahrertür aufging. Oh … mein … Gott! Mehr fiel mir zur Beschreibung von Julia nicht ein. Meine Augen wanderten einfach nur fassungslos an ihrem aufgetakelten Körper entlang, von ihren glitzernden High Heels über den engen Rock zur modisch flatternden Bluse. Dabei blieben meine Augen an einem unpraktisch klein aussehenden Accessoire hängen. Wofür braucht sie während der Autofahrt denn so eine alberne Handtasche? Als mein Blick auf ihr Gesicht fiel, wurde das puppenhafte Bild durch eine Maske aus Puder, Lidschatten, Wimperntusche und Lippenstift komplettiert.

„Julia, wie schön dich bei uns begrüßen zu dürfen.“

Die freundliche Stimme meiner Mutter erinnerte mich an meine guten Vorsätze und ich zwang mir erneut ein Lächeln auf die Lippen.

„Hallo Julia.“

Ich streckte ihr zur Begrüßung die Hand entgegen, welche sie jedoch nur abschätzig musterte.

„Sorry, hab mir gerade die Hände eingecremt. Solltest du mal ausprobieren. Hilft gegen Falten und hält die Haut schön weich.“

Das künstliche Lächeln rutschte mir von den Lippen.

„Dann kommt doch mal rein“, mischte sich mein Vater schnell dazwischen und geleitete unseren Besuch in den Schatten des Hauses. Ich folgte ihnen kopfschüttelnd und versuchte, mich dabei wieder zu beruhigen. Ich darf mit zur Ausgrabung. Nur zwei Wochen. Bald kann ich nach draußen verschwinden. Ganz ruhig.

„Seid ihr denn gut durchgekommen? Schönes Wetter habt ihr ja mitgebracht.“

„Die Fahrt war eigentlich ganz in Ordnung“, setzte Onkel Freddie an, während er sich mit einem Seufzer auf dem Sofa niederließ.

„Es war aber viel zu heiß. Und als Papa das Fenster aufgemacht hat, ist meine Frisur völlig zerstört worden. Außerdem ist meine Bluse ganz zerknautscht.“

Wir alle starrten einen kurzen Augenblick sprachlos zu Julia hinüber, welche sich in Model -Pose in meinem Lieblingssessel niedergelassen hatte. Ich setzte mich neben Onkel Freddie und versuchte, meine guten Manieren zu reanimieren.

„Wenn du möchtest, können wir ja gleich gemeinsam in den Pool gehen. Nach der Hitze tut eine kleine Abkühlung sicherlich ganz gut.“

„Das geht nicht. Ich habe heute Morgen erst geduscht. Wenn man das zu häufig macht, wird die Haut trocken und altert schneller.“

„Wie bitte?“

Mir fehlten mal wieder die Worte, doch zum Glück übernahm mein Vater es, ausführlicher zu antworten.

„Es stimmt zwar, dass zu viel Duschen für die Haut ungesund ist, aber in deinem Alter solltest du dir noch nicht solche Gedanken über deine Gesundheit machen müssen.“

Julia sah ihn skeptisch an, traute sich aber wohl nicht, einem studierten Arzt zu widersprechen. Die Erwachsenen widmeten sich wieder ihrer eigenen Konversation, während Julia und ich in die Luft starrten.

„Tja, dann werde ich mich mal wieder auf den Rückweg machen. Lange Fahrt“, meinte Onkel Freddie irgendwann mit einem bedauernden Blick auf die Uhr. „War schön, mal wieder hier vorbeizuschauen. Natürlich freuen wir uns auch schon auf dich, Johanna. Die Ausgrabungen werden dir bestimmt gefallen.“

Ich stimmte ihm lächelnd zu und unterhielt mich noch mit ihm, bis wir gemeinsam Julias Gepäck aus dem Wagen geladen hatten. Sieht aus, als würde eine ganze Großfamilie bei uns einziehen wollen! Nachdem wir Onkel Freddie zum Abschied zugewunken hatten, machten wir uns gemeinsam daran, die beiden Koffer und Reisetaschen auf den Dachboden zu transportieren.

Julia war dabei keine große Hilfe. Sie stand einfach nur in der Gegend herum und sah uns dabei zu, wie wir ihr Gepäck zur Treppe wuchteten. Mein Vater nahm den einen Koffer, ich den Anderen und meine Mutter schnappte sich eine der Reisetaschen. Als Julia dann immer noch bewegungslos zuschaute, platzt mir beinahe der Kragen.

„Wie wäre es, wenn du die letzte Reisetasche nimmst? Kannst uns einfach hinterherlaufen.“

Sie starrte mich ungläubig an, traute sich jedoch in der Gegenwart meiner Eltern nicht, etwas zu erwidern. Es dauerte eine ganze Weile, bis wir die schwere Ladung im Gästezimmer verstaut hatten und letztendlich half meine Mutter Julia sogar noch mit der letzten Reisetasche.

„Hier oben kannst du dich erst einmal in Ruhe einrichten“, meinte mein Vater, als Julia als Letzte in das geräumige Zimmer trat.

„Wenn du irgendetwas brauchst, sag Bescheid“, ergänzte meine Mutter.

Die beiden verließen gemeinsam das Zimmer, während ich noch nach Worten suchte. Dabei bemerkte ich zu spät, dass ich den Anschluss verpasst hatte und stand schließlich allein mit Julia im Raum.

„Gibt es nur einen Kleiderschrank?“

Ein Seitenblick auf ihre Koffer ließ die Frage durchaus sinnvoll erscheinen, auch wenn ich genau wusste, dass sie Zuhause ebenfalls nur einen Schrank hatte. Was sie wohl sagen würde, wenn sie meinen begehbaren Kleiderschrank sähe …?

„Falls der ein enicht ausreicht, kannst du im anderen Gästezimmer ebenfalls den Schrank benutzen. Du bist ja momentan der einzige Gast.“

Sie wirkte wenig begeistert, nickte aber.

„Habe ich mein eigenes Badezimmer?“

„Ja. Es ist hier direkt nebenan, zwischen den beiden Gästezimmern. Handtücher sind schon da.“

„Was ist mit dem Rest des Dachbodens? Gibt es nicht noch einen Raum?“

„Doch. Der gehört mir.“

„Ach so. Ziemlich dekadent – zwei Kinderzimmer. Dabei ist der Reichtum deiner Eltern an dir eigentlich verschwendet. Kein Sinn für Mode. Was machst du überhaupt mit all deinem Taschengeld? Zur Maniküre gehst du ja offensichtlich nicht und Make-up scheint für dich ein Fremdwort zu sein.“

Mir blieb beinahe die Spucke im Hals stecken. Alle guten Vorsätze lösten sich in einer Rauchwolke auf, während meine Gefühle anfingen zu schwelen.

„Es gibt durchaus sinnvollere Investitionen als Schminke und Klamotten. Einen Teil meines Taschengeldes spende ich zum Beispiel an wohltätige Organisationen, die daran arbeiten, diesen Planeten und seine Artenvielfalt zu schützen – während Leute wie du die Industrie dabei unterstützen, wie sie bedrohte Tiere zu Schuhen und Handtaschen zu verarbeiten!“

„Ach, ein heiliger Samariter bist du also. Herrje. Soll ich jetzt vor Rührung losheulen?“

Sie drehte sich augenrollend zu einem ihrer Koffer um und begann, ganze Berge an Kleidungsstücken in ordentliche Stapel zu sortieren.

„Immerhin habe ich es nicht nötig, mit meinem kompletten Kleiderschrank durch die Gegend zu reisen, nur um irgendeinem Modetrend hinterherzueilen. Ich habe eben lieber meinen eigenen Stil.“

Sie blickte nicht einmal von ihren Hotpants auf und schüttelte bloß missbilligend den Kopf.

„Das nennst du Stil? Die Hose sieht aus, als hättest du sie aus einer Altkleidersammlung. Gehst du überhaupt jemals shoppen? Wenn meine Eltern so viel Geld hätten, würde ich immer die neueste Mode tragen.“

„Dann kannst du ja Arzt werden und dir selber deine knappen Höschen zusammensparen.“

„Ne, ich will lieber Model werden. Hat deine Mutter da eigentlich noch Kontakte?“

Wie unverschämt kann man denn sein? Erst beleidigt sie mich am laufenden Band und jetzt soll ich ihr noch helfen?

„Sie arbeitet schon lange nicht mehr als Model.“

„Zu schade. Hat sie bestimmt wegen dir aufgeben müssen. Und sie hat keinen Agenten mehr?“

„Sie hat es freiwillig aufgegeben!“

„Also kein Agent. Tja … Vielleicht kann sie mich dennoch einer Agentur empfehlen.“

Ich glaub’ s einfach nicht!

„Ihr Agent suchte eher nach natürlicher Schönheit.“

„Was soll das denn heißen?“

„Dass du komplett überschminkt bist. Zeugt alles nur von zu wenig Selbstbewusstsein. Sowas kommt in der Modelbranche nicht weit.“

Nun drehte sie sich doch noch einmal zu mir um und funkelte mich böse an.

„Was weißt du denn schon? Du hättest nicht einmal das Zeug dazu es zu versuchen. Wer würde dich schon fotografieren wollen? Du siehst aus wie ein Landei!“

„Und du wie eine Plastikpuppe!“

„Immerhin weiß ich, wie man sich schminkt. Hast du überhaupt schon mal Lippenstift in der Hand gehabt?“

„Ja und ich kann sehr gut darauf verzichten. Diese ganzen künstlichen Schönheitsprodukte sind der wahre Killer für die Haut. Immer diese kleinen Plastikteilchen, die den Körper verschmutzen. Ich komme dafür sehr gut ohne Anti-Falten-Creme zurecht und werde nicht so schnell alt aussehen wie du!“

„Ich sehe nicht alt aus!Nur erwachsen, aber das ist für dich wohl noch ein Fremdwort.“

„Du? Erwachsen? Wer’s glaubt! Du bist viel zu oberflächlich und tussig. So kann dich doch keiner ernst nehmen. Du siehst aus wie eine naive Barby.“

„Und du wie eine … verbitterte, reiche Göre. So wie du aussiehst, wirst du bestimmt nie einen Freund finden. Du siehst selber aus wie ein Junge!“

„Sagt die Richtige. Ich habe die ganzen Push-Up-BHs gesehen! Hast du überhaupt eigene Brüste?“

„Du … das ist … Wenigstens habe ich überhaupt Kurven. Deine Figur sieht total unweiblich aus. Viel zu muskulös und …“

„Das nennt sich sportlich. Aber Bewegung ist ja für dich wohl ein Fremdwort. Kannst du überhaupt Fahrradfahren?“

„Klar kann ich das. Und reiten auch!“

„Ach wirklich? Das will ich sehen.“

„Ich hatte jahrelang Reitunterricht.“

„Ha! Bestimmt nur so ein verkniffener, englischer Stil. Meine Stute steht mehr auf Westernreiten. Ist aber nur etwas für die Mutigen.“

„Ich würde mich jederzeit auf deine blöde Stute trauen. Aber kannst du auch mit Stil reiten?“

Ich wollte gerade den Mund zu einer Erwiderung öffnen, als von unten die Stimme meiner Mutter heraufdrang.

„Abendessen ist fertig.“

Wir funkelten uns noch für ein paar Sekunden angriffslustig an, dann drehten wir uns beleidigt den Rücken zu.

„Ich komme gleich.“

Mit großen Schritten eilte ich die Treppe hinunter und warf dabei einen kurzen Blick in den Spiegel im Flur. Mein Körper sah aus wie immer: sportlich, durchtrainiert und mit figurbetonten Klamotten bestückt. Meine Brüste sind nicht zu flach! Und ich habe durchaus weibliche Kurven. Es gibt in meiner Klasse deutlich dünnere Mädchen. Ich bin eben einfach nur schlank. Aber meine Taille …

„Selbstzweifel?“

Julia stand höhnisch grinsend am Treppenabsatz und musterte mich, als hätte sie gerade einen großen Sieg errungen. Hochnäsige Tussi!

Ohne ihr zu antworten wandte ich mich um und lief nach unten, um meine Eltern nicht weiter warten zu lassen.

Kapitel 3

Die zwei Wochen konnten gar nicht schnell genug rumgehen. Nach unserem wenig freundlichen Start vermieden Julia und ich jegliche Konversation. Wenn meine Eltern in der Nähe waren, schwiegen wir uns meistens an und gingen uns ansonsten aus dem Weg.

Das war in der Schule allerdings schwierig, da ich jeden Morgen mit ihr hinfahren und ihr den Weg zum Klassenzimmer zeigen musste. Meine Freundinnen hielten zum Glück zu mir und ignorierten Julia ebenso gekonnt wie ich. Diese sprach sowieso lieber mit der tussigen Fraktion unserer Klasse und ließ sich in voller Länge über ihren Make-up-Channel aus, welchen sie wohl seit einiger Zeit im Internet betrieb. Ansonsten flirtete sie mit jedem oberflächlichen Typen aus unserem Jahrgang, als wolle sie mir beweisen, wie sehr die Jungs auf sie standen.

Mir war das alles aber herzlich egal. Nachdem endlich die letzten Klausuren geschrieben waren, dümpelte der Unterricht nur noch so dahin und bot uns viel Zeit, über die Planungen für die Ferien zu philosophieren. Meine Freundinnen waren zwar nicht angetan davon, dass ich die ersten zwei Wochen in irgendwelchen Ruinen verbringen würde, statt mit ihnen am Strand zu chillen, aber dafür stand endlich eine Erlösung von Julias nervigen Kommentaren bevor.

Kurz vor der Zeugnisvergabe war ich dementsprechend Julia gegenüber relativ entspannt, da die Vorfreude auf die Ferien mein feuriges Temperament meist überschattete.

Allerdings ergab es sich ausgerechnet einen Abend vor den Zeugnissen, dass meine Eltern beide unterwegs waren und Julia und mir aufgetragen hatten, uns selber etwas zu kochen. Von der elterlichen Aufsicht befreit, entfaltete sich sogleich ihre vollständige Boshaftigkeit.

„Du bist die Gastgeberin. Du solltest kochen.“

Sie grinste mich herausfordernd an und setzte sich auf einen der Barhocker an der Theke. Ich stand bereits am Herd, wich jedoch demonstrativ einen Schritt zurück und begab mich somit beiläufig in die Nähe der Küchenmesser.

„Von mir aus. Dann gibt es aber keine kalorienarme Kost. Und auch keine fettreduzierten Produkte.“

„Typisch. Du bist die Tochter eines Arztes! Da solltest du wirklich mehr auf deine Figur achten.“

„Meiner Figur geht es prima! Und gerade, weil ich die Tochter eines Arztes bin, achte ich lieber auf meine Gesundheit statt nur auf reine Äußerlichkeiten! Fettarme Produkte sind nämlich völliger Blödsinn. Die guten Fette, welche der Körper benötigt, werden rausgefiltert und man nimmt nur noch unnötige Reste zu sich.“

„Wo hast du das denn gelesen? Welche Art von Arzt ist dein Vater noch mal genau?“

„Kein normaler Schulmediziner, falls du das meinst. Er hat sich eher auf Homöopathie spezialisiert und beschäftigt sich viel mit Ayurveda, TCM …“

„TC… was?“

„Traditionelle chinesische Medizin.“

„Aha. Von mir aus. Klingt ziemlich freaky.“

„Das ist aber alles deutlich effektiver, als sich einfach mit Medikamenten vollzupumpen und ausschließlich Symptome zu bekämpfen!“

„Schon klar. Ich wollte keinen Vortrag hören. Machen wir nun Essen oder nicht?“

„Ach … wir?“

Sie rollte die Augen und schwang ihren dürren Hintern vom Hocker.

„Schon gut. Ich suche die Zutaten aus, du kochst.“

„Wie wär’s mit Salat?“

„Sehe ich aus wie ein Kaninchen?“

„Ein bisschen. Die Hasenzähne passen ganz gut …“

„Meine Zähne sind perfekt! Ich hatte eine Zahnspange und mache regelmäßig eine professionelle Zahnreinigung. Solltest du auch mal probieren. Dann sehen deine Zähne nicht mehr so gelb aus.“

„Meine Zähne sind nicht gelb!“

„Guck doch mal in den Spiegel – falls du einen hast. Auf Fotos würdest du aussehen wie ein Pferd, dass sein Leben lang Tee getrunken hat.“

„Und du wie eine abgemagerte Porzellanpuppe.“

Wütend machte Julia die Kühlschranktür wieder zu und stiefelte auf den Dachboden. Ich streckte ihrem Rücken die Zunge heraus, stellte laut Musik an und begann dann, mir eine Gemüsepfanne zuzubereiten.

Zwischendurch kam Julia noch einmal nach unten, um sich einen fettarmen Joghurt und ein bisschen Obst zu holen, würdigte mich dabei jedoch keines Blickes. Ich hörte sie lediglich vor sich hinmurmeln, als sie wieder in Richtung Treppe verschwand.

„Wie uncool muss man sein, um beim Kochen Mozart zu hören?! Total spießig!“

„Gar nicht! Meine Mutter hat mir schon Mozart vorgespielt, als ich noch ein Baby in ihrem Bauch war.“

„Snobs.“

„Wenigstens habe ich einen Sinn für Kultur und Kunst“, rief ich ihr hinterher, doch sie ignorierte mich.

Als meine Eltern nach Hause kamen, hatte ich die Küche bereits wieder sauber gemacht und mich auf mein Zimmer verzogen, um möglichen Fragen zur Essenssituation auszuweichen.