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Anti-Karl-May-Diskussionen überfallen den Menschen periodisch wie die Grippe. Obwohl der »herrliche sächsische Lügenbold« (Hermann Kant) schon vor über 100 Jahren in die »ewigen Jagdgründe« einging, bringt er nach wie vor Gemüter zum Kochen und Tastaturen zum Glühen. Im Sommer 2022 ging der Streit um den Schöpfer von Winnetou und Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef in eine neue Runde. Auslöser war die Verlagsrücknahme von Begleitpublikationen zum Kinderfilm »Der junge Häuptling Winnetou«. Auch wenn der Film bis auf den Titel mit Karl May so viel zu tun hat wie eine Mozartkugel mit »Don Giovanni«, brauchte es nur wenige Mausclicks, bis auch der Autor ins Kreuzfeuer geriet. Über Nacht schossen Karl-May-Spezialisten wie Pilze aus dem Boden. Sie fanden Überraschendes heraus: Rassist, gar Antisemit, ja sogar Inspirator und Ideenlieferant der SS, von Hitler und Himmler, sei der 1912 Verstorbene gewesen. Karl-May-Biograf Thomas Kramer, der seit Jahrzehnten zu May forscht und arbeitet, ist diesen Vorwürfen sachlich und unaufgeregt, dafür mit viel Humor nachgegangen. Sein Urteil fällt eindeutig aus.
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Seitenzahl: 184
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Thomas Kramer
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek
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© 2023 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig
Printed in Germany
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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.
Cover: Vogelsang Design, Aachen
Coverbilder: © Karl May-Gesellschaft e. V., Radebeul
Satz: ARW-Satz, Leipzig
Druck und Binden: CPI books GmbH
ISBN 978-3-374-07422-8
eISBN (PDF) 978-3-374-07423-5 // eISBN (E-Pub) 978-3-374-07424-2
www.eva-leipzig.de
Advent 2022. Wie alljährlich seit 2010, dem Erscheinungsjahr der DVD, plante ich, mir mit meiner Familie zwischen Weihnachten und Neujahr im traditionell schneefreien Berlin „Das Buschgespenst“ anzusehen. Der TV-Zweiteiler des DDR-Fernsehens von 1986 ist nicht nur für mich eine der werkgetreusten Interpretationen eines Karl-May-Stoffes. Im Jahr 2022 schlugen dann aber die Wellen der Diskussion für und wider Karl May hoch. Ich verfolgte das nur am Rande. Mir schien ohnehin schon alles gesagt. Nur eben noch nicht von allen. Zudem steckte ich als Kurator gerade mitten in den Vorbereitungen zu der großen Berliner Ausstellung „Das Herz des Orients gewinnen. Armenier, Esiden und Kurden bei Karl May und wie sie sich selbst sehen“.
Nach einem Arbeitstreffen mit dem kurdischen Ausstellungsteam nahm ich mir dann doch einmal Zeit, die „gesammelten Werke“ der Befürworter und Kritiker Mays zwischen Januar und September 2022 in Ruhe durchzugehen. Sie widmen sich fast ausschließlich Karl Mays Winnetou-Märchenland. Nun tausche ich mich seit vielen Jahren mit Menschen aus dem Nahen Osten oder mit familiärer Zuwanderungsgeschichte aus der Region immer wieder über Karl Mays Orientromane, ihre Faktentreue, Romantisierungen oder auch Vorurteile aus. In der aktuellen Diskussion fanden „Durchs wilde Kurdistan“ oder „Von Bagdad nach Stambul“ bis auf wenige Ausnahme jedoch nur am Rande Beachtung. Pauschalisierungen ersetzten zumeist auch hier eine gründliche Analyse. Klischees und Aktivismus stehen anstelle belastbarer Tatsachen.
In einer Schlüsselszene des „Buschgespenst“-Films wischt Förster Wunderlich alias Kurt Böwe den fingerdicken Staub von einem Karl-May-Porträt und kommentiert „Das hat er nicht verdient!“. Da ich der gleichen Meinung bin, entschloss ich mich, dieses Buch zu schreiben.
Thomas Kramer
Berlin im März 2023
Antisemit! Antisemit?
Mays Vorgänger, ein Märchenorient und der Antisemitismus
„Die schönste Tochter Israels“
„… mit der zähen Gier seiner Rasse“. Der „verlorene Sohn“ und seine Bearbeiter
Judith Silberstein. Die schöne Jüdin im Wilden Westen
Karl Marx und Friedrich Engels. Zwei Zeitgenossen als antisemitische Verschwörungstheoretiker
Sir John Retcliffe. „Die Protokolle der Weisen von Zion“
Himmler, Shatterhand und der „Generalplan Ost“
Der US-Western und Karl Mays Winnetou-Welt
Reichsprotektor Shatterhand?
Himmlers Germanenfantasien – out of Winnetou
Expertenauswahl aktuell
„Kein ideales Jugendbuch“. Nscho-tschis toxische Beziehung
Hat Karl May den Völkermord normalisiert?
Ist Kara Ben Nemsi ein „kolonialer Superheld“?
Unkoloniale Superhelden von Shatterhand bis BATMAN
Kara Ben Nemsi. Der Sachse als Korankenner
Rudyard Kipling und Karl May. Mit Kim „Durch die Wüste“
Das ND, der Experte und Karl Mays Wilder Westen
Der „rote Preuße“ des Experten
„… im Grunde deutsch“. Integrationserfolg Winnetou?
Die orientalische Frage. Das Osmanische Reich und das wilhelminische Deutschland
Babel und Bibel. „… die Lösung der orientalischen Frage, wie der Christ sie sich denkt“
Alles nur geklaut?
Das „Armenierproblem“. Karl Mays tatsächlicher Rassismus
„Masser Bob“. Die Sache mit dem N-Wort
„Old Surehand I“. Ein Plädoyer gegen den Rassismus
Karl May und der Sklavenhandel im Islam
Und da ist noch das I-Wort
Koloniale Fortschrittsideologie als Normalzustand?
Statt eines Nachworts. Ein kurzer Exkurs zu Karl Mays Leben und Werk
Quellen
We can’t return, we can only look
Behind, from where we came
And go round and round and round, in the circle game.
Joni Mitchell, The Circle Game 1966
Hier ein kurzer Thread, warum ich diese Romane für zutiefst kolonial halte, vom enthaltenen #Rassismus und #Antisemitismus ganz zu schweigen.
Jürgen Zimmerer via twitter 2022
Aber als Kinder haben wir von diesen Büchern gelebt, und ich kannte sie und las sie, und lassen Sie mich eines sagen, dass das Lesen dieser Bücher mir einige Male geholfen hat zu überleben.
Emanuel Tanay, Interview U.S. Holocaust MemorialMuseum Washington DC
Cowboy-Mentor of the Führer.
Klaus Mann 1940
Karl May paßt zum Nationalsozialismus wie die Faust aufs Auge!
Wilhelm Fronemann 1934
Und Israel, das Volk Gottes! Was haben wir von ihm überkommen und geerbt! Nie können wir genug dankbar sein!
Karl May, Wiener Rede 1912
Ich bin etwas weiter in der Welt herumgekommen als Ihr und habe unter den schwarzen, braunen, roten und gelben Völkern wenigstens ebenso viel gute Menschen gefunden wie bei den weißen, wenigstens, sage ich, wenigstens!
Karl May, Old Surehand I 1894
Karl May im Jahr 1907
War er, oder war er nicht? Die Frage, ob Karl May Antisemit war, beschäftigt seit Langem Freunde, Bewunderer und – neuerdings natürlich wieder – seine Kritiker und Feinde. Und da ist noch die Sache mit dem „Führer“. Angeblich war Karl May doch der Lieblingsautor Adolf Hitlers. Das genügt noch Jahrzehnte nach dessen allzu später Höllenfahrt als Autoritätsbeweis. Hat er doch bei uns und anderswo längst wieder eine zunehmende Anhängerschaft. Und als Totschlagargument ist er allemal von Nutzen. Doch was kann ein Künstler oder Autor für seine Bewunderer? John Lennon wurde von einem seiner größten Fans auf offener Straße erschossen – sollte man „Give Peace a Chance“ oder „Imagine“ nicht besser auf den Index setzen, da die Titel augenscheinlich unterschwellig Mörderinstinkte wecken? Und was wird aus „Rheingold“ und „Parsifal“? Woody Allen meinte einmal: „Immer, wenn ich Wagner höre, habe ich das Bedürfnis, in Polen einzumarschieren.“ Da liegt der Fall einfacher: Spätestens mit der Lektüre von „Das Judentum in der Musik“ des Komponisten mit Welterlösungswahn muss auch dem größten Bayreuth-Aficionado klar werden, warum gerade Mays sächsischer Landsmann zum Lieblingskomponisten Hitlers avancierte. Ähnlich liegt der Fall bei drei anderen Zeitgenossen des laut DDR-Autor Hermann Kant „herrlichen sächsischen Lügenbolds“: Karl Marx, Friedrich Engels und Sir John Retcliffe. Im Unterschied zu May entwarfen alle drei bis heute nachwirkende Weltverschwörungstheorien mit Völkermordpotential. Doch davon später.
Im Jahr 1919 erschien unter dem damit zu meinem Leidwesen bereits vergebenen Titel „Eine Lanze für Karl May“ eine Streitschrift des Verlegers Euchar A. Schmid. Darin verteidigt der Herausgeber von „Karl Mays gesammelten Werken“ den 1912 verstorbenen Autor gegen einen diskreditierenden Nachruf. Einleitend bemerkt Schmid: „Durch die Presse gingen während des letzten Halbjahrs zahlreiche mehr oder weniger ausführliche Mitteilungen über eine neue Hetze gegen Karl May, und zwar wurden darin die Angreifer fast einstimmig verurteilt, obwohl der Öffentlichkeit bisher noch nicht das gesamte Material zugänglich war.“
103 Jahre später, 2022, ging wieder einmal vieles für und noch mehr wider Karl May und seine Romane durch die Presse. Zum Geleit der zweiten Auflage bemerkte Schmid Ende 1925: „Vieles hat sich seither geändert. Die Zeit, in der Karl Mays Name schutzlos jeder Verunglimpfung ausgesetzt war, ist vorüber.“ Da hatte er sich aber gründlich geirrt. Der 1951 Verstorbene kannte die sozialen Medien noch nicht. Nun überfallen Anti-Karl-May-Diskussionen den deutschen Menschen jeglicher politischer Couleur periodisch wie die Grippe. Die erste Welle überrollte den bis dahin erfolgsverwöhnten Autor bereits zu Lebzeiten und gefror zu einem eisigen Sargnagel. Damals ging es vor allem um seine angeblich moralisch fragwürdigen Kolportageromane und die „Old Shatterhand-Legende“, also die Behauptung des Autors, er wäre mit seinen Superhelden identisch. Mit dem Aufkommen des Nationalsozialismus verlagerte sich die Kritik in die politische Sphäre. Rechte kritisieren seine Texte als christlich-humanitätsduselnd, bigott, pazifistisch, kosmopolitisch und rassenverbrüdernd. Linke wiederum halten ihm die Vermittlung von kolonialistischem, nationalistischem, imperialistischem, rassistischem und – eher neuerdings – explizit antisemitischem Gedankengut vor. Thomas Manns Sohn Klaus prägte den gängigen Slogan vom „Cowboy-Mentor of the Führer.“ Spätestens seit dem Skandal um die Hitler-Tagebücher des STERN – inzwischen schon wieder selbst zweimal erfolgreich verfilmt – ist offensichtlich, wie öffentlichkeitswirksam alles ist, was in Zusammenhang mit dem bekanntesten Sohn Braunaus in Verbindung gebracht wird. FÜHRER SELLS! Stets brodelt dieser Aspekt auch in der Auseinandersetzung mit Karl Mays Werk braunsoßig mit. Selbst ansonsten Literaturbegeisterte, die eigentlich postmoderne Vexierspiele mögen, zeigen sich Karl May gegenüber häufig irritierend spießig: „Der war doch gar nicht selbst in Amerika“ (was noch nicht mal stimmt), „der hat Identitäten frei erfunden“ (na und?), „alles nur geklaut und abgeschrieben“ (er war ja auch Erzähler und kein Wissenschaftler).
Auslöser der gesamten Debatte von 2022 war nicht einmal ein Werk des Autors. Der Verlag RAVENSBURGER hatte aufgrund von Protesten einer Reihe von Indigenen drei Begleitpublikationen zu dem Kinderfilm „Der junge Häuptling Winnetou“ zurückgezogen. Aber es bedurfte nur weniger Klicks, um bei Karl May, mit dem der Film lediglich die Namen des Titelhelden und einiger Protagonisten gemein hat, zu landen. Unter der Flagge der Karl-May-Befürworter sammelten sich schnell falsche Freunde. Karl May konnte sich ja nicht mehr wehren, hätte sich aber bestimmt nicht gerne von ihnen vereinnahmen lassen. Populisten riefen wieder einmal den Untergang des Abendlandes aus, verursacht von einer Bande woker „grünrotversiffter“ Chaoten, die sich anschickten, urdeutsches Kulturgut auf dem Altar der „political correctness“ zu opfern. Durch die sozialen Netzwerke ging das Geraune von einem bevorstehenden „Winnetou“-Verbot. Dass es dafür keinerlei Anhaltspunkte gab, spielte keine Rolle. Wahrscheinlich hatte sogar Bill Gates seine Hand im Spiel, der dem deutschen Menschen unter dem Vorwand der COVID-Impfung das Karl-May-Gen entfernt, um es durch von der CIA (und/oder Mossad) in unterirdischen Wall-Street-Laboren gezüchtete amerikanische Verblödungsviren zu ersetzen. Wie bei ähnlichen Vorgängerdebatten bis in die Weimarer Republik ging es natürlich nur vordergründig um den kulturellen Gegenstand; man prügelte den Sack und meinte den Esel. Rechtsaußen nutzte die Debatte für einen Rundumschlag auf das verhasste politische System. An einer sachlichen, gar kritischen, Auseinandersetzung mit Karl Mays Texten ist man in diesem Spektrum nicht interessiert. Doch auch jenseits dieser Klientel kochte man durchsichtige politische Süppchen. Unvergesslich bleibt in diesem Zusammenhang der Auftritt Hubert Aiwangers, zum Zeitpunkt der Diskussion immerhin stellvertretender Ministerpräsident von Bayern. Bei einem Volksfest posierte er im Bierzelt neben dem kostümierten Winnetou-Darsteller der Westernstadt Pullmann City. Der Freie Wähler-Chef schloss seine Philippika mit dem Ruf „Es lebe Bayern, Deutschland, Winnetou und die Meinungsfreiheit“. Nun machte ich mir tatsächlich Sorgen um die Zukunft des Abenlandes …
Und schon war auch – in Anlehnung an den Titel eines Bestsellers – ER „wieder da“. O-Ton aus einem Interview: „Es ist kein Zufall, dass Adolf Hitler und SS-Chef Himmler große Karl-May-Fans waren. Teile ihrer Ostbesatzungspolitik, die Vorstellung wie dort deutsche Kolonialist*innen angesiedelt werden, orientiert sich an Vorstellungen von der ‚Eroberung des Wilden Westens‘, wie sie sie aus den Büchern Karl Mays entnommen haben. Das ist eingeschrieben in das Werk von Karl May. Das ändert nichts an seiner Person.“ Das meint der Hamburger Historiker, Professor für die Geschichte Afrikas, Jürgen Zimmerer. Nachdem er einst jugendlicher Karl-May-Begeisterung frönte, schaute er nun kürzlich wieder in diese Objekte adoleszenter Lektüre: „Es war eine deutliche Enttäuschung, nach dem Motto, wie konnte ich in meiner Jugend begeistert sein und das nicht merken, den Antisemitismus, den Rassismus in den Werken.“
Jürgen Zimmerer stieg am 23. August 2022 via Twitter in die Debatte um Karl May ein: „Da #Winnetou und #KarlMay trendet. Hier ein kurzer Thread, warum ich diese Romane für zutiefst kolonial halte, vom enthaltenen #Rassismus und #Antisemitismus ganz zu schweigen. Das Setting ist die genozidale Eroberung der nordamerikanischen Frontier.“
Am 12. September 2022 legte er in einem Interview mit der Zeitung NEUES DEUTSCHLAND nach: „Dabei ist Karl May nicht nur voller rassistischer Beschreibungen, sondern auch mit antisemitischen Klischees durchsetzt.“
Jürgen Zimmerer, Jahrgang 1965, hat Karl May also Mitte der Siebzigerjahre gelesen. Es handelte sich dabei zweifellos um die allerdings stark bearbeiteten „grünen Bände“ des Karl May-Verlages. Karl Mays Originaltexte, auf die ich mich beziehe, werden seit 1987 in Gestalt einer historisch-kritischen Ausgabe als Grundlage jeder ernsthaften wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Werk editiert. In erwähntem Interview mit dem NEUEN DEUTSCHLAND behauptet er beispielsweise: „In ‚Winnetou III‘ wird er [Winnetou] erschossen. Er schützt seinen Blutsbruder und in seinen letzten Worten konvertiert er zum Christentum.“ Allerdings: Nur im Film „Winnetou III“ von 1965, der mit der literarischen Vorlage kaum noch etwas gemein hat, rettet der Häuptling seinen Blutsbruder, indem er sich in die Schussbahn der für Old Shatterhand bestimmten Kugel wirft. Im Buch registriert der lediglich entsetzt Winnetous tödliche Verwundung.
Auf Jürgen Zimmerers überraschende Erkenntnis, dass die bei May geschilderte Besiedlung des amerikanischen Westens die Nazis bei ihrer Besatzungspolitik inspiriert habe, werde ich später eingehen.
Zunächst zurück zum Führer und seinem Paladin Himmler. Dass beide Karl-May-Leser waren, ist tatsächlich „kein Zufall“. Schließlich war er der Lieblingsautor ihrer Generation. Die Geschichte mit den „großen Fans“ ist aufgrund von Hitlers Lektürepräferenz noch halbrichtig. Aber selbst wenn der Reichsführer SS Karl May zur Kenntnis genommen haben muss – ein Fan des Autors, geschweige denn ein „großer“, wurde er dadurch nicht. In der breiten Literatur über Heinrich Himmler taucht der Radebeuler Fantast nur einmal namentlich in Bezug auf einen anderen Schriftsteller auf. Anders bei Himmlers Führer. Die literarische Passion für Winnetou & Co. teilte der übrigens mit dem von Freikorpskollegen 1919 ermordeten Karl Liebknecht oder dem von seinen Bestien 1934 gefolterten und erhängten Erich Mühsam. Im Holocaust-Memorial in Washington finden sich protokollierte Aussagen von Überlebenden der Shoa, die davon berichten, wie auch und gerade Karl-May-Lektüre ihre literarische Sozialisation prägte. Kinder jüdischer Familien nahmen den „Schatz im Silbersee“ als ihren wertvollsten Besitz mit in die amerikanische Emigration und wunderten sich nicht schlecht, dass ihre neuen Klassenkameraden in Brooklyn oder San Francisco nie etwas von Winnetou oder Shatterhand gehört hatten. Auf der anderen Seite stehen prominente Nazis wie Sachsens sadistischer Gauleiter Mutschmann oder der Reichsleiter des nationalsozialistischen Lehrerbundes Hans Schemm. Besuchte der eine mit „alten Kämpfern“ das Karl-May-Museum in Radebeul und die Karl-May-Spiele der Felsenbühne Rathen, so forderte der andere von der deutschen Jugend „Karl-May-Gesinnung“. In einem Bildband zu den Karl-May-Spielen 1940 in Rathen heißt es im Vorwort im Sinne der beliebten Gleichsetzung von Germanen und Indianern bei nationalkonservativen Indianerbuch-Autoren wie alten und neuen Rechten: „Vielleicht liegt unsere Anteilnahme am tragischen Untergang der roten Rasse […] auch in der eigenen völkischen Notwendigkeit begründet, die uns Deutsche seit Jahrtausenden zwang, sich gegen das Eindringen einer artfremden Kultur zu wehren.“ In einem dem Text- und Fototeil vorangestellten Gedicht zu „Das Vermächtnis des alten Indianers“ im Stil Uhlands wird der Schatz im Silbersee in die Nähe des Nibelungenhortes gerückt: „Im Silbersee vergessen ruht ein verborgner Hort / Von Golde unermessen, ein Zauber bannt ihn dort / Geheimnisvolles Klingen raunt auf aus tiefem Schacht, Wer ihn ans Licht will bringen, den zieht’s in ew’ge Nacht.“ In diesen Dramatisierungen der NS-Zeit war Gelegenheit, Mays deutsche Helden blond und heroisch agieren zu lassen. Bei den Karl-May-Spielen in Werder a. d. Havel 1940 hatte Hans Adalbert von Schlettow, der – allerdings dunkelhaarige – Hagen der „Nibelungen“-Filme Fritz Langs, den Part des Schurken Santer inne. Aus Karl May kann seit jeher jeder herauslesen, was ihm behagt – Romantik, exotische Schauplätze und Helden mit Vorbildwirkung faszinieren das jugendliche Lesepublikum stets. Entstammen die Helden dazu noch wie bei Karl May dem vertrauten eigenen deutschsprachigen Kulturkreis, ist man bereit, alles Irritierende auszublenden – von links wie rechts. Nicht zuletzt sichert gerade dieser Aspekt dem Werk des Sachsen seit über hundert Jahren seine systemübergreifende Beliebtheit. Ein Meister moderner Vermittlungsformen, schafft er es problemlos, solch unterschiedliche Charaktere wie Reichskanzler Adolf Hitler und Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki zu beschäftigen. Und dem nicht genug: Gezielt bedient Karl May gleichzeitig Lesebedürfnisse ganz spezifischer Zielgruppen. So schreibt er eine Reihe von Jugenderzählungen, in denen Heranwachsende eine wichtige Rolle spielen. Zurück zu den Lektürepräferenzen des noch immer so populären „Führers“: Es existieren zahlreiche Aussagen Dritter zu dessen Karl May-Begeisterung; der Amerikaner Timothy W. Ryback hat sie in seiner Monographie „Hitlers Bücher. Seine Bibliothek. Sein Denken“ akribisch zusammengetragen. Eine populäre und für die negative Rezeption folgenreiche Aussage stammt von dem Journalisten Robert Achenbach, der 1933 Hitler für eine Art Homestory auf dem Obersalzberg besuchte: „Auf einem Bücherbord stehen politische und staatswissenschaftliche Werke, einige Broschüren und Bücher über die Pflege und Zucht des Schäferhundes, und dann – deutsche Jungens, hört her! Dann kommt eine ganze Reihe Bände von – Karl May! Der Winnetou, Old Surehand, der Schut, alles liebe Bekannte.“ Der Karl-May-Verlag in Radebeul warb umgehend mit diesem Zitat; ein noch beliebterer Leser seines Hausautors war wohl schwerlich aufzutreiben! Nach 1945 dienten diese und ähnliche Äußerungen dazu, das jahrzehntelange DDR-Verdikt gegen Karl May zu begründen. 2022 – 40 Jahre nach der Rehabilitierung Mays im „Arbeiter- und Bauern-Staat“ – gelangt Jürgen Zimmerer zu der Schlussfolgerung, dass der Autor ebenso wie sein brauner Fan Antisemitismus verbreitete, ja, Rassismus die eigentliche „DNA seines Werkes“ sei.
Eine Woche vor seinem Tod, am 22. März 1912, hält Karl May vor 2000 Hörern in den Wiener Sophiensälen einen vielbejubelten Vortrag unter dem Titel „Empor ins Reich der Edelmenschen“. Angeblich ist Adolf Hitler anwesend. Beweise dafür gibt es nicht. Aber natürlich ist ein angeblicher Besuch des späteren Führers weitaus spektakulärer als die tatsächliche Präsenz des genialen Expressionisten Robert Müller, dessen Einladung May gefolgt war, oder der Friedensnobelpreisträgerin Berta von Suttner, mit der Karl May schon seit Jahren freundschaftlich korrespondierte. Und neben Mays Aufrufen zum Pazifismus, religiösem Dialog und Völkerfrieden, die so gar nicht zu „Mein Kampf“ passen, hätte sich Adolf Hitler ganz besonders über Mays Einstellung zum Judentum gewundert.
Gewundert hatte sich auch der Korrespondent des „Deutschen Volksblatt“, der am nächsten Tag moniert: „Leider machte May dem Judentum, das sehr stark vertreten war, ein Kompliment, indem er darauf hinwies, dass dem Judentum die größte Sehnsucht nach Erlösung innewohnte.“ Zudem hatte May geäußert: „Und Israel, das Volk Gottes! Was haben wir von ihm überkommen und geerbt! Nie können wir genug dankbar sein! Was ist sein Gott für den Poeten! Welche Regeln der Menschlichkeit!“
Sechs Jahre früher informierte den Winnetou-Autor ein Leser mosaischen Bekenntnisses, dass Karl May ihn inspiriert hätte, zum Christentum zu konvertieren und bittet den Autor, ihn mit diesem Anliegen gegenüber seinem Vater zu unterstützen. Am 13. April 1906 antwortet ihm der Schriftsteller:
„Mein lieber, guter Junge! Du bist durch meine Bücher bewegt worden, zum Christentum überzutreten? Es freut mich sehr, daß diese Bücher Dein Herz bewegt haben, aber Du kennst noch nicht einmal den Glauben Deiner Väter und den Christenglauben noch viel weniger. Wie kannst Du da reif genug sein, zwischen ihnen wählen zu dürfen? Ich sage Dir als aufrichtiger und gewissenhafter Christ: der Glaube Deiner Väter ist heilig, ist groß, edel und erhaben. Man muß ihn nur kennen und verstehen. Einen solchen Glauben wechselt man nicht einiger Bücher wegen und noch viel weniger des Geldes oder des Geschäftes wegen. Du bist noch viel zu jung und zu unerfahren. Nur im reiferen Alter und nach langen Kämpfen und Erfahrungen gewinnt der Mensch die Einsicht, die dazu gehört, einen solchen Wechsel vorzunehmen. Aber lies meine Bücher in Gottes Namen weiter! Sie sind nicht etwa nur für Christen, sondern überhaupt für alle geschrieben, die das Ziel der edlen Menschlichkeit vor Augen haben. Denn glaube mir, mein lieber Junge: es kann keiner ein guter Christ oder ein guter Israelit sein, der nicht vorher ein guter Mensch geworden ist. Werde brav und gut, und glaube an Gott! Du bist zu aller Zeit sein Eigentum, sein Kind. Sei stets aufrichtig gegen Deinen Vater und grüße ihn von mir! Schreib auch mal wieder! Dein Karl May.“
Mays engster Freund war der Radebeuler Fabrikant Richard Plöhn, ein Jude. Ein Jahr nach dessen Tod heiratete May 1903 in zweiter Ehe dessen Witwe Klara. Die mutierte übrigens später zur begeisterten Nationalsozialistin. 1934 drückte ihr in Bayreuth Hitler die Hand. Merkwürdigerweise sah sie in ihm den Vollender der Ideen ihres zweiten Mannes. So bedrängte sie den glücklicherweise standhaften Karl-May-Verlag, das Symbol des Christentums auf dem Titel von Mays pazifistischem Alterswerk „Friede auf Erden“ durch ein Hakenkreuz zu ersetzen und dem eigentlichen Romanende eine Danksagung an den deutschen „Friedenskanzler“ anzufügen. 1942 ließ sie ihren ersten Mann und ihre Mutter, die dort an der Seite Mays ruhten, aus der gemeinsamen Familiengruft exhumieren. Ein Jude hätte die anlässlich des 100. Geburtstags Mays sehnlichst erwartete NS-Prominenz abgeschreckt. Die erschien dann zu ihrer großen Enttäuschung trotzdem nicht.
Karl Mays große Romane entstanden in den Achtziger- und Neunzigerjahren des 19. Jahrhunderts im Kontext eines aufkommenden Antisemitismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen des Wilhelminismus. Der antisemitische Zeitgeist ging auch an seinen Romanen nicht spurlos vorbei. Nun umfasst das Gesamtwerk mehr als 40.000 Seiten mit über 3.000 handelnden Personen. Darunter finden sich ein Dutzend jüdische Menschen. Als Abenteuerschriftsteller hatte er sein Handwerk von der Pike auf gelernt. Mit den Klassikern des Genres wie James F. Cooper, Eugene Sue oder Alexandre Dumas, bei denen er sich häufig in Motivwahl und Charakterschilderung bediente, war er ebenso vertraut wie mit den Erwartungen eines Massenpublikums an bestimmte wiedererkennbare Stereotype. Der Typ des „schachernden Juden“ und der „schönen Jüdin“ schlagen insbesondere in der deutschen Kulturgeschichte die Brücke zwischen Orientbegeisterung und aufkommender Judenfeindlichkeit.
Kein anderer deutschsprachiger Autor hat so stark zur Begeisterung für den islamischen Kulturraum beigetragen wie Karl May. Griff er für seine so detailliert anmutenden Landschaftsbeschreibungen und die ethnologischen Details auf Reiseberichte und Lexika zurück, so orientierte er sich bei der Schilderung des exotischen Märchenorients an bewährten Vorbildern. Neben den „Märchen aus tausendundeiner Nacht“ waren es vor allem die Erzählungen des schwäbischen Dichters Wilhelm Hauff (1802–1827). Schon früh waren Karl May-Forschern die Parallelen zwischen Hauffs Märchen „Die Errettung Fatmes“ und der Episode um die Befreiung der schönen Senitza aus den Fängen ihres Entführers in Mays „Durch die Wüste“ aufgefallen. Über diese Anleihen hinaus finden wir in Hauffs Schaffen auch den Transmissionsriemen zwischen Mays orientalisierenden und teilweise judenfeindlichen Stereotypen. Schließlich kommt „der Jude“ ursprünglich aus dem Orient, woraus man ihn, den „Mörder Jesu“, vertrieb. Zudem ist der Jude, der den Heiland einst auf seinem Kreuzweg verlachte, zu ewiger Wanderschaft verdammt. Es ist ein schleichendes antisemitisches Verhängnis, das sich da anbahnt. Im Zuge der industriellen Revolution entstehen riesige Metropolen, nie gekannte Ansammlungen von Menschen werden auf engstem Raum unter unsagbaren sozialen Bedingungen zusammengepfercht, zyklisch wiederkehrende Krisen erzeugen ein Heer von Arbeitssuchenden und stürzen das Kleinbürgertum ins proletarische Elend.