Karlas Umweg - Hera Lind - E-Book

Karlas Umweg E-Book

Hera Lind

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Beschreibung

Charmant, humorvoll und ein bisschen chaotisch: Der Bestseller von Hera Lind! Manche Frauen schreiben begeistert Tagebuch, andere ärgern sich darüber, dass in ihrem Leben eigentlich nichts Aufregendes passiert. So geht es auch der braven Musikstudentin Karla, die davon träumt, eines Tages als Pianistin Karriere zu machen. Doch dann macht sie die Bekanntschaft der ebenso berühmten wie exzentrischen Sängerin Marie - und findet sich kurze Zeit später als Kindermädchen und Putzfrau in deren Luxusvilla wieder. Noch dazu lernt sie den attraktiven Willem kennen, der allerdings einen entscheidenden Fehler hat: Er ist mit Marie verheiratet ...»Hera Lind schreibt Romane, deren Lästerton die Herzen der stolzesten Frauen trifft. « Die Zeit

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Seitenzahl: 522

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Hera Lind

Karlas Umweg

Roman

Verlagsgruppe Droemer Knaur GmbH & Co. KG.

Über dieses Buch

Charmant, humorvoll und ein bisschen chaotisch: Der Bestseller von Hera Lind!Manche Frauen schreiben begeistert Tagebuch, andere ärgern sich darüber, dass in ihrem Leben eigentlich nichts Aufregendes passiert. So geht es auch der braven Musikstudentin Karla, die davon träumt, eines Tages als Pianistin Karriere zu machen. Doch dann macht sie die Bekanntschaft der ebenso berühmten wie exzentrischen Sängerin Marie- und findet sich kurze Zeit später als Kindermädchen und Putzfrau in deren Luxusvilla wieder. Noch dazu lernt sie den attraktiven Willem kennen, der allerdings einen entscheidenden Fehler hat: Er ist mit Marie verheiratet ...

»Hera Lind schreibt Romane, deren Lästerton die Herzen der stolzesten Frauen trifft.« Die Zeit

Inhaltsübersicht

Hauptteil

Nebenan klimpert der unmusikalische Kevin. Seit Wochen quält er sich und den Rest der Welt mit der Jäger-Polka in F-Dur. Also, ich finde sowieso, dass jemand, der Kevin heißt, gar nicht Klavier spielen sollte. In die städtische Musikschule zur Klavierstunde geht man als Johannes, Bernhard oder Elisabeth oder Eva-Maria. Saschas, Nadines und Natalies trifft man bei uns eher selten. Kevin ist in gewisser Weise unser Quoten-Prolet. Ich habe schon mehrmals mit dem Ellbogen gegen die Wand gedonnert, und dass Kevin ungerührt weiter in die Tasten haut, beweist zwei Dinge: Erstens ist er es offenbar gewöhnt, dass sein Klavierspiel solchermaßen honoriert wird. Und zweitens: seine Lehrerin ist nicht im Raum. Regina, meine nicht wirklich geliebte Kollegin. Sie steht wie üblich auf dem Flur und quatscht. Über ihre Probleme mit Gernot. Regina hat mir auch dieses Tagebuch hier geschenkt, zum vierundzwanzigsten Geburtstag. Na ja, ein Tagebuch ist es nicht wirklich. Eher eine blöde Kladde, in die ich, laut Regina, nun mein Leben reinschreiben soll. Sie sagt, das Leben fängt jetzt erst an. Sie muss es ja wissen. Regina ist immerhin schon fünfundzwanzig. Es stimmt, ich habe bis jetzt überhaupt noch nichts erlebt, jedenfalls nichts, das sich zu erwähnen lohnte: Gymnasium und Abitur in dieser hessischen Kleinstadt (ich bin immer versucht, »hässliche« Kleinstadt zu sagen, aber Mama meint, ich soll mich nicht versündigen, es gibt noch viel hässlichere Kleinstädte) – nebenher Musikschule mit Klavierstunden, montags katholischer Kirchenchor, mittwochs evangelischer Kirchenchor, samstags Jugendchor und sonntags Bad Orkser Singkreis. Tja. Das war bisher mein Leben. Seit Sommer jobbe ich hier an der Musikschule. So weit, so langweilig. Ich frage mich wirklich, wie ich dieses dicke, goldene Buch füllen soll. Regina dagegen hat viel mehr über sich zu berichten. Das tut sie ja auch. Pausenlos. Unfreiwillige Zuhörer findet sie immer. Reginas Lebensinhalt: Gernot.

Gernot passt total gut. Zu Regina, und überhaupt. In dieses freudlose Musikschul- und Kleinstadt-Dasein. Regina hat nämlich gern Not mit ihrem Gernot. Sie leidet gerne, das füllt ihr jämmerliches Leben mit Inhalt. Sie ist seit Jahren Klavierlehrerin an diesem kleinstädtischen Institut – und da braucht man schon einen Gernot als Dreingabe.

Ausgerechnet Regina hat mir also die goldene Kladde geschenkt, auf der in geschwungenen Lettern steht: Mein Tagebuch. Wenigstens kann ich meinen Ärger über sie da hinein schreiben. Sie ist der spießigste und engstirnigste Mensch, der mir je begegnet ist, und leider begegnet sie mir täglich. Stündlich. In schlimmen Phasen sogar alle zehn Minuten. Auf dem Flur der Musikschule. Oder sie stürmt einfach nach kurzem herrischem Anklopfen in meinen Unterrichtsraum. Egal, wer da erwartungsvoll an meinem Klavier sitzt: ihr Auftritt ist immer wichtiger. Sie platzt vor Mitteilungsdrang.

Und ich weiß doch schon alles! Obwohl ich Gernot noch nie gesehen habe, kenne ich den Mann besser als er sich selbst. Ich weiß sogar von dem nässenden Ekzem hinter seinen Ohren. Na danke, Leute.

 

Heute hat mich Regina gefragt, ob ich das Tagebuch schon fleißig benutzt habe, und mich dabei am Ärmel festgehalten. Ich hasse es, wenn sie mich so am Weitergehen hindert, aber so ist sie nun mal. Besitzergreifend und rechthaberisch. Als ich ihr sagte, ich hätte schon drei Seiten geschrieben, hat sie höhnisch gelacht: »Drei Seiten?! Ich habe schon drei dicke Bände in sieben Jahren voll geschrieben! Das musst du mir erst mal nachmachen!« Ich habe ärgerlich auf den Boden geguckt, der vom Bohnerwachs glänzte. Typisch Regina! In allem ist sie ungleich besser, ausführlicher, erfolgreicher. In allem!!

»Was hast du denn da so alles reingeschrieben?«, habe ich höflichkeitshalber gefragt, und sie hat spöttisch gelächelt und gesagt: »Das möchtest du wohl gerne wissen, was?« Aber dann hat sie mir doch bereitwillig Auskunft erteilt. Ihre drei Kladden sind voll gekritzelt mit ihren Problemen mit Gernot. Währenddessen spielte drinnen ihre Schülerin eine der Moll-Etüden von Czerni. Pausenlos und sehr abgehackt. Es war eine großartige Geräuschkulisse. Zum Glück kam dann die Mutter von dem kleinen Neuen mit den roten Haaren und schleifte ihr unwilliges Kind hinter sich her – ich hatte den berechtigten Eindruck, es will überhaupt nicht Klavier spielen lernen –, sodass ich Regina mit ihren Gernot-Problemen auf dem Flur stehen lassen konnte. Es ist doch erstaunlich, wie ausgesprochen wenig ich Regina leiden kann.

 

Wochenende. Draußen regnet es, wie es sich für einen Novembersonntag gehört. Ich habe mich etwas an der Kunst der Fuge vergangen und anschließend das Klo geputzt, mit meinem neuen praktischen Hausfrauenset, das mir die Mütter von der vierten Klavierschulklasse zum Geburtstag geschenkt haben. Eigentlich ist damit mein Schaffensdrang erschöpft. Ich gerate ins Nachdenken. Früher war Nachdenken nicht so zeitaufwendig, als ich noch nicht die goldene Kladde ins Vertrauen ziehen musste. Da konnte ich Tonleitern dreschen, Etüden klimpern oder sogar Choräle singen, und immer habe ich dabei nachgedacht, mehr oder weniger. Aber jetzt? Die Kladde fesselt mich, fordert meine ungeteilte Aufmerksamkeit, hält mich am Ärmel fest. Sie ist wie Regina. Ich kann sie nicht leiden. So, jetzt reicht es.

Ich schmeiße das Ding in den Ofen.

Nein, das wäre doch Papierverschwendung. Papa in seiner nicht mehr zu steigernden Sparsamkeit würde die Seiten des Buches wenigstens noch zum Ausstopfen seiner nassen Wanderschuhe verwenden. Papa ist so genügsam, dass er sogar die Tropfen, die beim Schälen einer Apfelsine entstehen, noch mit einem Blatt Papier auffängt. Gestern hat er mir gestanden, dass er nicht mal zur Kategorie der Geschenkpapier-exakt-Zusammenfalter gehört, sondern viel radikaler ist: Er lehnt Geschenkpapier generell ab! Es sei absolute Papierverschwendung, ein Geschenk erst ein- und dann wieder auszuwickeln, sinnlos und überflüssig! Letztens hat er Tante Käthe zum Fünfzigsten eine Flasche Piccolo und eine Schachtel Weinbrand-Pralinen in einem Aldi-Karton überreicht. Und zwar mit erhobenem Kopf.

Und zu Mama hat er am Silberhochzeitstag gesagt, den ganzen überflüssigen Firlefanz mit dem Juwelen-Geschenke wolle er ihr nicht zumuten, aber da drüben am Garderobenhaken hinge sein Jackett, und in der linken Innentasche müssten noch zwölf Mark sein, davon könne sie sich gerne einen großzügigen Blumenstrauß kaufen. Wobei er sie darauf hinweise, dass es bei Eduscho jetzt die Thermoskannen gäbe, die den Kaffee so wünschenswert lange warm hielten. Da müsste sie nicht das ganze Geld ausgeben für Blumen, die nach einer Woche schon wieder hin wären. Die Thermoskanne wäre eine Investition für ihre zweiten fünfundzwanzig Ehejahre.

Auch wenn ich Papas Sparsamkeit – man könnte sie auch als manischen Geiz bezeichnen – nicht ganz übernommen habe, so bringe ich es doch nicht übers Herz, so eine dicke, goldene Kladde einfach zu verbrennen.

Ich gebe zu, dass ich wahrscheinlich nicht viel Interessantes in diese Kladde schreiben kann, zum gegenwärtigen Zeitpunkt der Entwicklung meines höchst durchschnittlichen Lebens. Wir schreiben das Jahr 1985. Seit meiner Geburt hocke ich nun in dieser hessischen Kleinstadt, unterrichte die mehr oder weniger musikalische Brut anderer Leute im Klavierspielen, Notenschreiben und Rhythmusklopfen, spiele auch dann und wann im örtlichen Musikschulkonzert eine Mozart-Sonate, singe nach wie vor treu in allen Chören der Umgebung (Mama sagte vor Jahren, vielleicht lernst du dort mal einen Mann kennen) und lebe ansonsten so vor mich hin. Papa und Mama wohnen in einem grauen Reihenhaus in der Nähe, und wenn ich Hunger oder Wäsche zum Waschen habe, dann schaue ich immer gern bei ihnen vorbei. Mama sagt, auf diese Weise lerne ich nie einen Mann kennen! Papa meint, ich solle viel mehr an mein berufliches Weiterkommen denken als daran, einen Mann kennenzulernen. Ich selber bin der Meinung: Theoretisch geht beides. Aber eben nur theoretisch.

Regina erlebt natürlich ungleich mehr: Sie hat eine Beziehung! Und was für eine! Eine komplizierte dazu! Ja, wenn sie darum nicht zu beneiden ist! Erst mal hat sie jeden Tag neuen Stoff zum Quatschen. Gernot hier. Gernot dort. Gernot gestern, heute, morgen. Gernots schwieriges Elternhaus. Gernots gestörte Beziehung zu Katzenhaaren. Gernots Allergien gegen Fertiggerichte. Gernots fanatische Leidenschaft für diesen aufreibenden Sport, der sich Minigolf nennt. Gernot ist nämlich ein Perfektionist. Und von krankhaftem Ehrgeiz getrieben. Gernot kann nicht verlieren, und wenn doch, dann kriegt er Ausschlag in den Armbeugen. Er ist von dem manischen Zwang getrieben, seinen Minigolfball ohne Umwege in das Minigolfloch zu schlagen. Selbst Fehlschläge, die nur ein oder zwei Zentimeter am Hindernis vorbei zielen, treiben Gernot in Depressionen. Gernot trainiert deshalb dreimal in der Woche mit seinem Minigolfverein im Kurpark! Er besitzt zwei Dutzend verschiedene Schläger, von der Anzahl der Minigolfbälle erst ganz zu schweigen! Und wer muss die alle sauber halten und darf sie trotzdem nicht anfassen? Regina. Wenn das nicht Stoff für ganze verregnete Nachmittage auf dem Flur der Musikschule ist.

Und erst die Vereinskollegen! Alle so komplizierte, eigenwillige Naturen! Und natürlich muss Regina ihnen nach dem nervenaufreibenden Training, wenn die Jungs durchgeschwitzt und mit vor Konzentration hervorquellenden Augen nach Hause kommen, Schnittchen schmieren! Aber mit fettarmer Leberwurst, wegen der Kalorien. Und ohne Konservierungsstoffe, damit sie keine Allergien bekommen. Und wie sie dann fachsimpeln! Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen, sagt Regina. Nicht im Entferntesten. Und was das alles für interessante Menschen sind. Kein einziger Durchschnittstyp ist dabei. Alles ausgesucht komplizierte, schwierige Naturen, feingliedrig, hochsensibel und jeder auf seine Art eigen. Aber Gernot ist am eigensten von allen. Schon sein Elternhaus, so schwierig und kompliziert. Diese körperfeindliche Erziehung. Na ja. Daran arbeiten sie, aber das geht nicht alles von heute auf morgen. Dazu gehört Einfühlungsvermögen, und viel Geduld! Wenn Gernot seine Klammer-Phase hat, sagt Regina, dann kann er schon sehr anstrengend sein. Aber noch schlimmer ist die Loslass-Phase. Da kann er dann keine körperliche Nähe ertragen, hat sein Analytiker gesagt. Er soll das zulassen, hat er gesagt. Und Regina hat gesagt, Gernot hat gesagt, sein Analytiker habe gesagt, sie, Regina, müsse damit fertig werden, dass Gernot jetzt lernt, zu seinen Loslass-Gefühlen zu stehen. Wo er doch gerade gelernt hat, seine Mutter loszulassen. Und seine schwierige Psyche mit Hilfe des Minigolf-Sportes umleitet in so genannte Übersprungshandlungen nach dem Motto: Der Weg ist das Ziel. Der Minigolfball ist sozusagen sein Blitzableiter, sagt Regina. Allerdings teilt Gernot seine Geheimnisse weder mit Regina noch mit seinen Minigolffreunden, sondern ausschließlich mit seinem Psychoanalytiker. Und der hat echt den Durchblick, sagt Regina. Aber das kostet! Nicht nur das ganze Geld, das Gernot und Regina so mühsam an der Musikschule verdienen – Gernot unterrichtet Klarinette und Tenorhorn – und natürlich auch Saxophon, in frivolen Phasen sogar Jazz!! –, sondern auch Energie, das kann sie mir sagen.

Gerade wieder. Eine Stunde, auf dem Flur. Kevin klimperte das Klavier zu Kleinholz. Aber das stört Regina nicht. Gestern gab’s wieder Spannungen in ihrer Beziehung, zog sie mich weinend ins Vertrauen. Wie sehr doch Gernot unter ihren Etüden leidet. Er hat auch eine Allergie gegen Tonleitern, Dreiklänge und schwarze Tasten. Aber er bemüht sich sehr. Schon mehrmals ist es ihm gelungen, minutenlang im Raum zu bleiben, wenn sie gespielt hat. Echt feinsinnig, der Mann, und so tolerant. Jedenfalls ist Regina um ihre Beziehung echt zu beneiden. Sie wollen ja auch ganz bald heiraten. Vielleicht kriegt sie dann viele Allergie-befallene Kinder und kann hier nicht mehr unterrichten. Das wäre schön.

 

Der Direktor, dessen Geburtstags-Buschwindröschen inzwischen in meinem Unterrichtszimmer vor sich hin welken, hat mich in sein Büro gebeten. »Fräulein Umweg!«, hat er mich begrüßt, »ich hätte da vielleicht etwas Interessantes für Sie!«

Nun mag ich es nicht besonders, wenn mich einer »Fräulein« nennt, und möchte immer mit Goethe antworten, »bin weder Fräulein, weder schön«, aber er hat ja nicht behauptet, dass ich schön sei, und so wollte ich ihn nicht unnötig verbal in die Irre führen. Mama und Papa wissen schon, was sich ziemt, und derlei Dreistigkeiten wären mir nie über die Lippen gekommen, schon gar nicht einem Kleinstadtmusikschulleiter gegenüber, der mich Fräulein nennt, weil er es eben nicht besser weiß. Kurz und ungut, der Direktor hieß mich mit großzügiger Geste neben seinem angestaubten Gummibaum Platz nehmen und schob mir eine Broschüre zu:

»Hochschule der Künste nimmt noch begabte Studenten auf« stand da zu lesen. »Aufnahmeprüfungen für Kurzentschlossene finden Ende November statt. Schriftliche Bewerbungen mit allen erforderlichen Unterlagen richten Sie bitte an … usw.« Ich fragte den Direktor stirnrunzelnd, ob ich etwa meinen hochmusikalischen Bernhard oder sonst jemanden aus meiner Klasse an die Hochschule der Künste schicken sollte, damit er den letzten Rest des guten Rufes unserer Musikanstalt im Hessischen ruinieren möge, aber der Direktor hatte gemeint, ich, Karla Umweg, sollte mich selbst dort bewerben.

Ich guckte ein bisschen auf den aschgrauen, staubigen Direktor und den aschgrauen, staubigen Gummibaum. »Wieso denn ich?«, fragte ich dann bescheiden.

»Nun ja, weil Sie hier im Lehrerteam die Jüngste und, wenn ich sagen darf, auch mit Abstand die Begabteste …«, äußerte der Direktor und putzte sich mit seinem aschgrauen Taschentuch die Brille. »Es wäre schade, wenn Sie hier auf Dauer versauern!«

»Aha«, sagte ich und betrachtete die soeben entstandenen Schlieren auf der Brille. »Und was ist mit Fräulein Kanisius?« Ich betonte das »Fräulein« etwas, obwohl Regina ja wahrscheinlich rein biologisch-sportmedizinisch kein eigentliches Fräulein mehr ist.

»An Fräulein Kanisius habe ich auch schon gedacht«, sagte der Direktor und hob seine Aktentasche an, die wahrscheinlich nichts als Leberwurststullen enthielt. Er entnahm ihr mit förmlicher Miene ein weiteres Flugblatt. »Sie ist zwar nicht ganz so begabt wie Sie und will, soviel man sich hier erzählt, bald in den Stand der Ehe treten, aber selbstverständlich möchte ich sie nicht übergehen. Wenn Sie ihr das bitte bei passender Gelegenheit überreichen möchten!«

Man merkte dem armen Direktor förmlich an, wie froh er wäre, wenn er Regina auf diese Weise loswerden könnte.

»Klar«, sagte ich und faltete das Blatt klitzeklein zusammen. »Mache ich. Bei passender Gelegenheit.«

Damit war die Sitzung beendet, der Direktor reichte mir seine schlaffe Hand, die noch feucht von dem aschgrauen Taschentuch war, und wünschte mir einen »segensreichen Entschluss«. Mein Entschluss ist dahingehend segensreich, als dass ich meiner ungeliebten Kollegin Regina niemals dieses Blatt von der Hochschule aushändigen werde, damit sie in dieser hessischen Anstalt des Staubes für immer verschimmelt. Der Direktor sagte, ich möge ihn bitte auf dem Laufenden halten, denn im Falle meines Dahinscheidens müsse er einen anderen Klavierlakaien einarbeiten.

»Ist klar«, sagte ich. »Ich denke drüber nach.«

 

Nun habe ich was zum Grübeln, kaum, dass ich ein Tagebuch besitze. Wenn das kein Zufall ist.

Regina grübelt weiterhin über Gernot nach und neuerdings darüber, dass sie ihm niemals eine ebenbürtige Partnerin sein könne, wo sie doch der hohen Kunst des Minigolfes nicht mächtig ist. Sie hat lange auf dem Flur mit unserer Flötenlehrerin darüber gesprochen. Ich kam nur zufällig vorbei und schnappte einige Wortfetzen auf.

»Sie sollten eben auch einen Sport treiben«, sagte die Flöte. »Ja, aber welchen?«, presste Regina in höchster Not hervor.

»Es wäre wahrscheinlich unklug, wenn Sie auch Minigolf spielen würden«, analysierte die Kollegin nachdenklich. Ich musste dann unterrichten, aber als ich nach einer Stunde wieder aus meinem Zimmer kam, überlegten sie gerade, dass das Tennisspielen ein gesellschaftlich und auch rein vom finanziellen Aspekt her sehr überschätzter Sport sei. Regina heizte die Diskussion noch dahingehend an, dass sie sich in ihrem Beruf als Pianistin keinen Tennisarm oder auch nur etwaige Muskelverzerrungen leisten könne. Sie waren also am Punkt Null angekommen. Ich hatte keine Lust, mich beratend oder auch nur sorgenvoll nickend an dem Gespräch zu beteiligen, und eilte vorbei. Der zusammengeknüllte Zettel von der Hochschule für Schnellentschlossene steckt immer noch in der Gesäßtasche meiner Jeans. Wahrscheinlich wird er noch ein, zwei Vierzig-Grad-Wäschen bei Mama im grauen Reihenhaus überleben, tja, und dann, gute Nacht, Hochschulzettel. An Regina ist ja kein Rankommen.

 

In all meiner Teilnahme an Reginas düsterem Schicksal sollte ich mal darüber nachdenken, ob ich Lust habe, selber ein Pianistenschicksal zu durchleiden. Ich stelle mir vor, dass man da täglich viele Stunden in einer kahlen, fensterlosen, übel riechenden Zelle sitzt und die schweren und freudlosen Etüden spielt, die Mozart, Chopin, Beethoven, Schubert und Brahms sich im Wahn, Liebeskummer, Alterstaubheit oder kurz vor dem Selbstmord ausgedacht haben, während die Klavierprofessoren auf dem Flur stehen und rauchen und die Probleme mit ihren Gernots besprechen. Ich weiß ja nicht, ob ich zum Spielball solcher Willkür werden will. Und dann, nach mühevollen Jahren der Fingertechnik, des Schweißes und Vorspielstresses, wer oder was bin ich dann? Karla Umweg, Klavierspielerin aus Bad Orks. Eintritt frei, um angemessene Beiträge beim Verlassen des Saales wird gebeten.

Ach nein, ich denke, das Selbstverwirklichen überlasse ich anderen. Mir geht es doch hier gut, in Bad Orks. Papa und Mama wohnen in der Nähe, so kann ich ab und zu mal einen guten, würzigen Gemüse-Hackfleisch-Eintopf essen, ich verdiene meine Kröten mit schöner Regelmäßigkeit, sonntags spiele ich manchmal im Kurhaus Mozart, und alltags kann ich ausschlafen, bis die ersten Musikschulkinder aus der Schule kommen. Ich wüsste nicht, warum ich mein Leben ändern sollte.

 

Zugegeben, es passiert nicht viel. Zugegeben, ich bin jetzt über zwanzig. Zugegeben, einen zweiten Gernot hat Bad Orks mir nicht zu bieten. Die Jungs aus dem Kurorchester kommen altersmäßig nicht in Frage, die Mitglieder des Minigolfclubs sind mir zu vergeistigt, und die Kollegen von der Musikschule sind entweder verheiratet oder gehören zur Kategorie der Feinrippträger, die man im Kirchenchor trifft. Die ihrem Hund vor dem Betreten der Wohnung mit einer Bürste, die vor der Haustür an einer Schnur befestigt ist, die Pfoten reinigen. Und Mutti für die beste Köchin halten. Sonst gibt es hier keine Männer. Mama sagt, damals nach dem Krieg gab es auch keine, und man könne sich gut an solche Zustände gewöhnen.

Aber ich brauche ja auch keinen. Wozu denn. Damit ich mich in seelische und körperliche Abhängigkeit begebe, wie Regina? Kommt ja nicht in Frage.

Nein, nein. Ich gehe nicht in die Großstadt, nur um etwas Fragwürdiges zu erleben. Ich bleibe, was ich bin. Eine geachtete, durchaus bei Kindern und Müttern nicht unbeliebte Klavierlehrerin mit einem sehr durchschnittlichen Durchschnittseinkommen, Weihnachtsgeld und immerhin fünfzehn Wochen Ferien im Jahr. Mehr Ferien kann man in Bad Orks sowieso nicht brauchen, weil man dann vor Langeweile stirbt.

 

Der Direktor hat mich auf dem Parkplatz angesprochen und mich gefragt, wie es mit meinen Zukunftsplänen aussähe. Unglücklicherweise stand Regina dabei, die mir gerade seit anderthalb Stunden Begebenheiten aus der freudlosen Kindheit von Gernot schilderte. Sie fragte verblüfft, ob ich etwa heiraten wolle. Der Direktor lachte herzlich und sagte, dass es sich im Leben einer Frau nicht immer um Heirat handeln müsse, wenn sie über ihre Zukunft nachdächte. Nicht wahr, Frau Kanisius? Das war ausgesprochen klug und druckreif formuliert. Regina war sprachlos. Was ich denn dann um alles in der Welt vorhätte? Daraufhin erwiderte der Direktor, ich trüge mich mit dem Gedanken, die Pianistenlaufbahn einzuschlagen und ein Hochbegabten-Stipendium in Berlin anzustreben. Dazu müsse ich mich nur in Berlin zu einem Vorspiel durchringen, und er sei sicher, dass ich dieser Aufnahmeprüfung sehr wohl gewachsen sei. Mein letztes Klavierkonzert im Kurhaus sei doch schließlich Beweis genug, dass es sich bei mir um ein verborgenes Kleinod handele. Er meine das rein musikalisch, eine Beurteilung meiner Persönlichkeit stehe ihm nicht zu, leider. Dann nickte er mir in inniger Vertrautheit zu, rückte seine Baskenmütze über den widerborstigen Vorderhauptsträhnen zurecht und befestigte im Weggehen zwei Metallklammern an den Hosenbeinen, um kurz darauf vorschriftsmäßig ausgerüstet vom Schulhof zu radeln. Ich verborgenes Kleinod stand ganz schön bescheuert da mit meinen Zukunftsplänen und blickte ihm ratlos nach.

Regina war, wie sie sagte, sehr betroffen. Warum ich ihr denn nichts gesagt hätte von meinen Plänen, wo wir doch ein so vertrautes Verhältnis hätten? Sie sei wirklich schwer gekränkt. Womit sie das verdient hätte, wo sie doch schon seit vielen Jahren so um Offenheit bemüht war, und selbst kein Geheimnis aus ihrer Mördergrube machte oder so ähnlich. Dabei drehte sie sich um und wischte sich die Augenwinkel, im Weggehen natürlich. Regina geht immer weg, wenn sie weinen muss. Das macht sie ungern vor Kollegen, da ist sie diskret, alles was recht ist. Jedenfalls bot sich mir keine Gelegenheit, ihr meine äußerst vagen und eigentlich schon wieder verworfenen Zukunftspläne zu erörtern, und der Direktor ist ein saublöder Trottel, der überhaupt kein Taktgefühl hat.

 

Heute ist der nervende kleine Detlef mit der frühkindlichen Notenlesestörung nicht gekommen, da hatte ich eine Stunde Zeit, in meinem Musikzimmer zu sitzen und mal wieder eine Beethoven-Sonate zu spielen. Es ist doch ein außerordentlich befreiendes Gefühl, so in die Tasten zu hauen und selbstvergessen den scheppernden Klängen eines morschen Musikschulflügels nachzulauschen. Ich weiß nicht, ob mich die Sehnsucht ereilt hat, meine Fingerfertigkeit weiter auszubauen, oder ob es nur die aufkeimende Hoffnung ist, Regina nie wieder sehen zu müssen: Der Gedanke, an die Hochschule der Künste nach Berlin zu gehen, erscheint mir auf einmal nicht mehr so abwegig wie gestern oder vorgestern noch.

Sich vorzustellen, morgens aufzustehen, sich ans Klavier zu setzen und stundenlang zu spielen! Einfach so, für mich selber! Große weite Welt schnuppern! Auf den Brettern, die in jenen Glücksrausch versetzen, der süchtig macht! In der Zeitung zu stehen, mit Bild. Und Lebenslauf. »Die aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Karla Umweg erlernte schon früh den Umgang mit den schwarzen und weißen Tasten. Nachdem sie zunächst in einer hessischen Kleinstadt als einfühlsame Musikpädagogin tätig war, gelang ihr der sensationelle Sprung ins internationale Konzertleben. Heute Abend debütiert die junge begabte Pianistin in der Kölner Philharmonie. Restkarten für Stehplätze erhalten Sie beim Kartenbüro.« Und neben mir, auf einem schwarzen Hocker, sitzt Regina Kanisius, zum Umblättern meiner Noten …

 

Am Wochenende war ich mal wieder bei Papa und Mama. Beide Eltern freuten sich sehr, dass aus mir nun doch noch was Besonderes wird, und Papa war sofort bereit, mich in der ersten Zeit finanziell ein wenig zu unterstützen, falls meine Konzertgagen mich nicht sofort über Wasser halten könnten. Mama sagte gerührt, ich sei zu Hause immer willkommen und für mich gäbe es immer Gemüseeintöpfe der würzigsten Sorte, wenn ich zwischen zwei Konzerten mal Zeit hätte, meine armen, alten, kleinbürgerlichen, aber stolzen Eltern im hessischen Bad Orks zu besuchen. Dann konnte sie sich aber nicht verkneifen, noch zu bemerken, dass es mir vermutlich ganz gut tun würde, nicht mehr ständig warme Mahlzeiten zu bekommen, denn durch das viele Sitzen auf dem Klavierhocker sei ich doch ganz schön in die Breite gegangen in letzter Zeit. Für meine Konzertkarriere wäre es wahrscheinlich von Vorteil, wenn ich etwas figurbewusster leben würde. Vielleicht könnte ich sogar etwas Sport treiben, wenn ich in gesellschaftlich höhere Kreise käme? Ich sollte doch auf jeden Fall meine Tennisausrüstung mitnehmen. Auf diese Weise würde ich vielleicht sogar mal einen Mann kennenlernen …? Papa schüttelte nur den Kopf und schaufelte stirnrunzelnd den Eintopf in sich rein. Er fand es offensichtlich unnötig, mich mit so etwas zu belasten, schließlich sollte ich doch jetzt an mein berufliches Fortkommen denken und nicht daran, auf welchem Sportplatz ich einen Mann kennenlernen könnte.

Papa kratzte missbilligend seinen Teller leer und wischte ihn mit Brot trocken. Wenn es nach Papa ginge, müsste nie wieder ein Teller gespült werden. Papa ist ein Resteverwerter, darauf ist er stolz. In seinen 58 Lebensjahren hat er noch nie auch nur ein Fitzelchen Lebensmittel weggeschmissen. Mama sagt, manchmal wirft sie heimlich einen Teebeutel weg, der erst in drei Tassen gehangen hat, aber das darf Papa nie erfahren. Papa ist in der Lage und bewahrt ein angebissenes Gummibärchen in Stanniolpapier im Kühlschrank auf. Wobei er das Stanniolpapier selbstverständlich für das Aufbewahren von zwei Ohren-Wattebäuschchen für windige Kurparkspaziergänge wiederverwertet. Papa wirft nichts weg. Nichts.

Mama resümierte noch weiter vor sich hin, dass sie es schon immer für unklug gehalten habe, das Kind, nämlich mich, ein Tasteninstrument lernen zu lassen, weil das Tasteninstrument zur Einsamkeit verdamme und damit weit und breit kein Mann kennenzulernen sei. Indirekt machte sie auch die Beschaffenheit eines Klavierhockers dafür verantwortlich, dass mein Hintern so in die Breite gegangen sei. Sie sei ja dafür gewesen, dass ich ein »weibliches Blasinstrument« lernen sollte, nämlich Oboe. Das übe man oft genug im Stehen aus, und außerdem sei es ein geselliges Instrument. Papa guckte irritiert über seine randlose Brille. Woher sie denn den Unfug mit dem weiblichen Blasinstrument habe, ob sie das etwa auch auf dem Wochenmarkt aufgeschnappt hätte. Ich habe ziemlich laut und unweiblich gelacht, aber Mama hat ihren eigenen Witz sowieso nicht verstanden. Mama verteidigte sich, sie habe schon alle ihre Gedanken wohl durchdacht, nicht nur Papa sei das Denken vorbehalten, auch wenn er den Deutsch-Leistungskurs am städtischen Gymnasium leite, dass das mal klar ist! Wenn Karla Oboe spielen könnte, säße sie jetzt in einem Orchester und wäre von männlichen Kollegen nur so umgeben, im wahrsten Sinne des Wortes! Da böte sich viel leichter die Chance, einen anständigen Mann fürs Leben kennenzulernen, es brauche ja kein Schönling zu sein. Schönlinge taugten sowieso nichts, die seien nur eitel und selbstverliebt und nicht gediegen. Für Mama ist es wichtig, dass ein Mann gediegen ist, und sonst nichts.

Ich stelle mir unter »gediegen« eigentlich nur »langweilig« vor, aber Mama funkelte mich böse an und sagte, ich solle sie nicht provozieren.

Am Schluss sagte sie noch, dass mein Weggehen aus Bad Orks ja sicherlich den Johannes recht traurig stimmen würde.

»Wer ist Johannes«, fragte Papa zwischen zwei Pflaumensteinen, und Mama meinte so leichthin, das sei der nette junge Mann, der in der Kirche immer die Nümmerchen an die Wand schmeißt.

Papa erstarrte schon wieder, und ein Pflaumenkern blieb völlig ungeordnet auf seinem Teller liegen, ohne in die militärisch anmutende Batterie der bereits in Reih und Glied stramm liegenden Steine eingeordnet zu werden. »Wer schmeißt in der Kirche Nümmerchen an die Wand?«, fragte er streng.

»Na, der Johannes, der nette junge Mann, der sich in der Kirche nützlich macht. Wenn der nicht die Nümmerchen an die Wand schmeißen würde, dann würde in der Gemeinde erst recht keiner mehr mitsingen. Er ist ein sehr engagierter junger Mann.«

Ich lachte schon wieder aus vollem Hals. »Ich wusste gar nicht, wie turbulent es neben der Orgel zugeht«, schrie ich begeistert.

Aber Papa fand das überhaupt nicht komisch. Während er mit dem Löffel den verwahrlosten Obstkern in die Reihe seiner Genossen schubste, sagte er: »Mama meint den Zahlenanzeiger für die Lieder aus dem Gesangbuch. Dass der junge Kirchenhelfer Johannes heißt, war mir bislang nicht bekannt.« Damit stand er auf und faltete seine Serviette.

Papa ist ein Serviettenfalter und Serviettenring-Benutzer. Das Wegschmeißen von nur einmal verwendeten Papierservietten ist mit seiner Lebensauffassung nicht vereinbar.

 

Meine letzte Woche in Bad Orks ist gekommen. Alle bedauern mein Weggehen, finden aber, dass mein Entschluss der einzig Richtige ist, und dass ich bei meiner Jugend und bei meinem Talent hier nicht länger versauern darf. – Ach, ich habe übrigens ganz vergessen zu erwähnen, dass ich die Aufnahmeprüfung bestanden habe. Letzte Woche war ich in Berlin zum Vorspiel und in der ganzen Aufregung habe ich die goldene Kladde vergessen. So ist diese Nebensächlichkeit fast meiner Vergesslichkeit zum Opfer gefallen! Der Professor sagte, eine »Null« sei leider nicht zu vergeben, so müsse ich mich mit einer »Eins plus« begnügen. Das habe ich allerdings Regina nicht erzählt. Es würde sie unnötig verstimmen.

»Ich wünsche dir jedenfalls ein erfolgreiches Leben«, hat sie zerknirscht gesagt. »Mir selbst ist der Erfolg ja nun nicht mehr vergönnt.«

Sie hat die Aufnahmeprüfung nicht bestanden, sie meint, das lag an ihrem Stress mit Gernot. Übrigens haben Papa durch seine guten Beziehungen zum Kirchenvorstand und Mama durch ihre langjährige Mitgliedschaft beim »Christlichen Verein junger Mädchen« ein halbes Doppelzimmer in einem katholischen Mädchenheim für mich ergattert. Weil Berlin so eine schlimme Großstadt ist, mit Drogen und so, sagt Mama, ist das für mich ein wahrer Segen. Da kann ich mich geborgen fühlen, sagt Mama, da bin ich unter meinesgleichen. Schade eigentlich.

 

Der Sprung ins kalte Wasser ist getan. Ich hocke auf einer kalten schmierigen Fensterbank in einer Schlange von etwa fünfzig jungen Menschen, die alle für zwei Stunden ein Klavier haben wollen. »Übeschlange« nennt sich diese Ansammlung nasser Mäntel. Keiner der Kommilitonen hier nimmt Notiz von mir, niemand hat mich mit ausgebreiteten Armen begrüßt und mich als junge Begabung zu würdigen gewusst. Weder im Sekretariat, wo eine graue Maus vor ihrer Schreibmaschine saß, noch im Studentenheim für ledige katholische Klavierlehrerinnen hat irgendjemand mir mehr als eine hochgezogene Augenbraue gegönnt. Das Studentenheim liegt passenderweise sehr weit weg von der Hochschule der Künste, und dem U-Bahn-Fahren in Berlin fühle ich mich noch nicht gewachsen. In Bad Orks haben wir keine, also wo hätte ich es jemals trainieren können? Ich bin froh, dass mich noch kein Auto überfahren hat! Man könnte zusammenfassend feststellen: alles ist reichlich deprimierend, besonders, wenn ich an meine warme, gemütliche Wohnung im hessischen Bad Orks denke oder an die heimeligen Linoleum-Fußböden der städtischen Musikschule. Mein Zimmer hier teile ich mit einer stummen, griechisch-orthodoxen Haare-Rauferin, die ebenfalls wie ich eine ledige Pianistin ist und unter dem zusätzlichen Handicap leidet, kein Wort Deutsch zu verstehen. Ich schätze, sie würde ihre Beine gern hergeben, wenn sie dafür noch zwei Arme hätte, denn mit zwei Händen spielt sie Klavier, die anderen beiden braucht sie zum gleichzeitigen Haareraufen. Es wird sich wohl keine innige Freundschaft zwischen uns anbahnen, aber eine stumme Griechin, die tagsüber im Bett sitzt und auf ihre Notenbände Fingerübungen trommelt, ist mir noch wesentlich lieber als so eine Art Regina, die nie schweigt. Diese hier schweigt allerdings immer.

Draußen regnet es in Strömen und das Abgasgemisch der Großstadt dampft aus allen Auspuffen. Das stundenlange Wandern durch die Autoschlangen werde ich mir abgewöhnen müssen, wenn ich es hier in der Übeschlange mal zu was bringen will. Man munkelt, dass morgens um halb acht die ersten Bösendorfer und Steinways vergeben werden. Wusste ich es doch, dass meine internationale Künstlerkarriere deprimierend beginnen würde! Die Kladde Regina ist mein einziger Freund. Wer hätte das gedacht.

 

Die Übezelle war fensterlos und muffig, dafür lag sie auch im fünften Stock ohne Aufzug. Ich musste erst einen röhrenden Tenor vertreiben, der anscheinend seinen Flatulenzen freien Lauf gelassen hatte, um sein Zwerchfell zu lockern oder so. Er war ganz erstaunt, dass seine zwei Stunden schon rum waren, und wollte mit mir handeln. Ein Mensamärkchen Essen zwei gegen eine weitere halbe Stunde Entspannungsfurzen. Ich habe mich aber nicht drauf eingelassen. Schließlich will ich es hier zu was bringen, und das in kürzester Zeit! Die Zähne der alten Mähre, die sich einst Klavier genannt haben mag, waren denen eines Kettenrauchers nicht unähnlich. Eigentlich eine Unverschämtheit, dass der Kultusminister sich diese unzumutbaren Übezellen nicht mal vorführen lässt! An den Wänden prangten allerlei Verzweiflungssprüche von Studenten, die hier stundenlang eingesperrt im eigenen Mief verharrt hatten, ähnlich wie Knastbrüder, die der Nachwelt eine Botschaft zukommen lassen wollen. Am besten gefielen mir die Sprüche der emanzipierten Übeschwestern: »Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad!« Das ist ein prima Spruch für Regina, den sollte ihr mal jemand in eine ihrer drei voll gekritzelten Kladden schreiben. Ansonsten stand da: »Wer übt, kann nichts!« Eine Logik, der ich allzu gern Folge leisten würde.

Trotz allem will ich mich nicht demotivieren lassen. Meine Karriere ist vorbestimmt. Ich bin ein Ausbund an Begabung und Musikalität. Mama sagt, was mir fehlt, sind Fleiß und Ehrgeiz. Bitte, kann sie haben. Ich werde erfolgreich sein.

 

Meine erste erwähnenswerte Begegnung mit dem Besitzer einer dieser nassen Mäntel fand in der Mensa statt. Ich hatte gerade etwa vierzig Minuten in der Essen-eins-Schlange gestanden und mit Erfolg einen lauwarmen Klecks graugrüner Kartoffel-Bohnen-Pampe mit Speck erstanden, als ich einen Stuhl erspähte, auf dem nichts weiter lag als ein nasser Mantel mit Zigaretten darauf. Diese einmalige Chance, den lauwarmen Klecks im Sitzen zu verspeisen, wollte ich mir nicht entgehen lassen, und deshalb setzte ich mich knapp neben den nassen Mantel auf die Stuhlkante. Um mich herum dampften Menschenschlangen ihre kalten Schweiß- und Regendünste aus. Neben meinem Essen lagen zwei ausgekaute rosa Kaugummis in einem Aschenbecher, und zwei Zigarettenkippen steckten in einem halb vollen Joghurtbecher, der als Dessert zu Essen drei gehörte. Zu Essen eins gehörte als Nachspeise eine ledrige runzelige Mandarine, die ich im Eifer des Gefechtes jedoch an mich zu reißen versäumt hatte. Jedenfalls genoss ich still und verträumt den Gemüseeintopf, der in mir fast ein bisschen Heimweh nach Mama entfachte, als ein langer, spindeldünner blonder Typ mit viel Gel im Haar auf einmal den Mantel unter meinem Hintern wegzerrte, ihn auf den Boden warf und etwas Unverständliches murmelte, bevor er sich zu mir auf den wackeligen Mensastuhl quetschte. Sein Hintern war entschieden zierlicher als meiner, sodass es relativ unproblematisch zu arrangieren war. Der Blonde mampfte dann mit Appetit Essen zwei, eine aufdringlich duftende Currywurst mit lappigen blassen Pommes frites und zum Nachtisch eine bräunliche Banane, die er praktischerweise gleich als Aschenbecher für seine Verdauungszigarette benutzte. Nachdem er so genüsslich gespeist hatte, richtete er seine wasserblauen Augen auf mich und fragte: »Neu hier?« Ich antwortete höflich, dass ich im ersten Semester Klavier studiere und erst seit drei Tagen hier an der Hochschule der Künste sei. »Feist«, sagte der Kommilitone.

»Wie?«, fragte ich irritiert.

»Feist, dass du Klavier spielen kannst«, sagte er und spuckte einen Tabakkrümel von der Zunge.

»Wie, feist?«, fragte ich dümmlich zurück. »Feist verstehe ich doch im Sinne von fett, überernährt, unschön aus dem Leim gegangen?« Papa kann es nicht leiden, wenn jemand die deutsche Sprache vergewaltigt. Man soll die Wörter so benutzen, wie sie gemeint sind, und nicht sinn-entstellend.

»Na, fühl dir man nicht aufn Schlips jetretn«, sagte der Blonde. »Feist heißt geil, dat dat klaa is.«

»Wie, geil?«, fragte ich. »Geil ist doch im herkömmlichen Sprachgebrauch ein unschöner Ausdruck für lüstern, triebhaft, unkontrolliert seinen sexuellen Gelüsten nachgebend?« Ganz Papas Tochter, ich nun wieder, dachte ich stolz. »Außerdem tragen Frauen keinen Schlips, jedenfalls keine, die normaler Gesinnung sind.« Papa ist ein Schöngeist, und umgangssprachliche Floskeln kommen ihm nicht ins Haus. Mit diesem ungebildeten Lümmel, der »Deodorant« wahrscheinlich für eine Cocotte von Chopin hält, nehme ich es doch allemal noch auf.

Der Lümmel guckte mich unbegeistert an. »Wat bist du denn für’ne Wortklaubertussi? Spinnste oder studierste Klavier, ey?«

»Klavier, ey!«, sagte ich und grinste. Der Kommilitone mit dem einfachen Wortschatz grinste auch. Er bot mir seinen krümeligen Zigarettenvorrat an und schob mir auch noch freundschaftlich die matschige Bananenschale vor die Brust. »Kannze mir ’n Gefalln tun?«, sagte er versöhnlich. »Rauch ma eine. Ick wollt dir wat fragen.« »Wat willste mir denn fragen?«, sagte ich und lehnte die Zigarette dankend ab. Ich rauche nicht. Kein Nachkomme meines Vaters raucht. Und den Dativ missbrauchen wir auch nicht.

»Kannzte heute Ahmt im Konzert blättan? Ick hab dat zwaa versprochen, aba hab janz fajessen, det ick schon wat anderes vorhab heute Ahmt.«

Ich stellte fest, dass der Mensch einerseits aus dem Ruhrgebiet zu stammen scheint, andererseits jedoch auch die Berliner Mundart schon in sein Repertoire aufgenommen hat. Ein sprachbegabter, flexibler Bursche, und vor allen Dingen ungeheuer locker drauf. Er erklärte dann noch etwas ausführlicher, was sein Gesuch war: Er hatte fest zugesagt, in einem Liederabend im Auditorium die Noten umzublättern, für Herrn Professor Echtwein, seinen Klavierlehrer, aber andererseits habe er eine nicht mehr rückgängig zu machende Verabredung am Billardtisch seiner Stammkneipe, und bevor er nun irgendeine billige Vertretung zum Billardspielen schicke, würde er sicherlich viel eher eine billige Vertretung für das Umblättern des Liederabends organisieren können. Und da ich doch neu sei und vielleicht für heute Abend noch keine Verabredung getroffen habe, wende er sich nun mit der kollegialen Bitte an mich, ihn würdig zu vertreten. Das Umblättern in einem Gesangs-Konzertexamen sei eine höchst verantwortungsvolle Aufgabe, die könne nicht jeder x-beliebige Student bewältigen, wohl aber eine Pianistin, die in der Aufnahmeprüfung eine Eins plus gemacht hätte.

Ich lächelte geschmeichelt. Aber klar würde ich das übernehmen, sagte ich.

»Feist, echt feist von dir, ey«, sagte er und stand endlich von unserem gemeinsamen Stuhl auf. »Da kannste jede Menge Gummipunkte für kriegen, echt, ey.«

Ich wagte nicht zu fragen, ob Gummipunkte an dieser Hochschule vielleicht das Gleiche seien wie die Fleißkärtchen, die Reginas Klavierschüler im hessischen Bad Orks für fehlerfrei gehämmerte Brech-moll-Etüden bekommen, und stand auch auf. Sofort wurde der Stuhl von hungrigen Studenten gestürmt.

»Matthäus heiß ich, nebenbei erwähnt«, sagte der blonde Billardspieler beim Rausgehen. »Ick verlass mir drauf, dass du heute Ahmt bei der Show die Seiten knickst, woll? Geh ma sicherheitshalber um siehm hin und sach, dat ick dir schick und det mir janz übel im Maagn is vom vielen Klavier-ühm. Det macht n juten Eindruck. Und grüß die Marie und sach se, se soll so geil trällern wie imma. Tschauli!«

Damit war er weg, der erste Kommilitone, der mit mir gesprochen hat. Matthäus. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich jetzt kalauern, dass er seine eigene Passion komponieren könnte, aber Papa und Mama würden das für einen geschmacklosen Scherz halten. Papa würde unwillig Kirschkerne spucken, und Mama würde spitzzüngig bemerken, dass dieser Matthäus sicher nicht der geeignete Mann für mich sei. Aber – Schwamm drüber. Ich lebe jetzt mein eigenes Leben und muss solche Dinge mit Papa und Mama gar nicht mehr diskutieren.

Das führt ja zu nichts.

 

Mein erster öffentlicher Auftritt! Wer hätte gedacht, dass ich bereits nach wenigen Tagen darüber berichten könnte! Ich war leider nicht mehr ins Studentenheim gekommen, um mich in Schale zu schmeißen, weil ich den ganzen Nachmittag in verschiedenen fensterlosen Schweiß- und Pups-Speichern verbracht hatte, um meine Fingerfertigkeit auf internationales Niveau zu bringen. Gegen sieben ging ich mit knurrendem Magen und etwas nebelig im Kopf runter ins Auditorium, um mich zum Dienst am Notenband zu melden. Der Saal war schon recht gut gefüllt, und das Publikum bestand hauptsächlich aus jener merkwürdigen Gattung Mensch, die sich »Sänger« nennt: überkandidelt, aufgemotzt, ununterbrochen hustend und Dropse lutschend, mit einem schwulen Tüchlein im Hemdkragen die Jungs. Die Mädels waren wie Papageien geschminkt und gekleidet, hockten aufgeregt gackernd und zwitschernd auf der Stange und falteten in hektischer Vorfreude auf den Genuss, eine Kollegin verreißen zu dürfen, die Programmblätter. Ein Konzertexamen! Das ist hier so was wie »Brot und Spiele« im alten Rom. Da unten auf der Bühne stirbt entweder jemand, oder er verlässt nach zwei Stunden lebend den Saal. Und die Professoren machen Daumen rauf oder Daumen runter.

Dann waren da noch so einige Alternativis und Spontis, die lümmelten weiter hinten und hatten die Beine auf den Vordersitzen geparkt. Das waren natürlich keine Sänger, sondern vermutlich Obdachlose, die den Abend lieber kostenlos in einem geheizten Raum verbrachten als in trüben U-Bahn-Stationen auf ihren Wolldecken, wo sowieso das Radio kaputt war. Einer von den Spontis verzehrte recht geräuschvoll knisternd ein paar mitgebrachte Stullen mit Leberwurst, deren Aroma sich auf interessante Weise mit dem seiner feuchten Kunstlederstiefel mischte.

Ich drängelte mich wichtig und geschäftig an allen Müßiggängern vorbei auf die Bühne, die nur schwach beleuchtet war und auf der ein glänzender schwarzer Flügel stand, mit zwei Stühlen davor, einer davon war mein Arbeitsplatz! Zuerst erwog ich, mich einfach darauf zu setzen und den Auftritt dieser Sängerin samt ihrem Pianisten abzuwarten, aber dann fürchtete ich, die Überraschung könnte die arme Dame, die nervlich sowieso am Ende sein dürfte, am Singen hindern, und so drang ich klopfenden Herzens hinter den Vorhang in die Welt der wahren Künstler ein. Es kostete schon etwas Mut, einfach so über die Bühne zu latschen und hinter die Kulissen zu gehen, zumal mich niemand erwartete.

Hier war grelles Neonlicht, und dicke Staub flocken schwirrten umher, als hätten sie selber Lampenfieber. Ein magerer Mensch mit schütterem Haar im trübe wirkenden Frack stand rastlos an seiner gelblichen Fliege zupfend vor einem zersprungenen Spiegel, während hinter einer Tür glockenhelle Tonleitern hervorquollen. Ich ging zu dem nervösen Mann, der offensichtlich der Pianist war, und sagte, dass ich in Vertretung für den Matthäus hier sei, der leider wegen einer Magen-Darm-Verstimmung verhindert sei.

»Das fängt ja gut an«, sagte der nervöse Mensch gereizt. Er ließ mich stehen und pochte an die Tür, hinter der das Angstgeschrei abrupt verebbte.

»Marie? Der Blätter-Fritze ist nicht gekommen!«, rief er erregt. Die Tür flog auf. Im Türrahmen stand eine wunderschöne rassige Frau im langen schwarzen Samtkleid, deren Wangen vor Aufregung glühten. Sie mochte Anfang dreißig sein. Ihre langen schwarzen Haare hatten einen Stich ins Kupferrötliche und waren kunstvoll hochgesteckt, wobei einige Locken sich wie zufällig um ihren Hals herum ringelten. Auf dem Samtkleid war nur eine schmale Goldnadel befestigt, deren Saphir im Licht glänzte. Ihr weißer Schwanenhals war geschmückt mit einer mehrreihigen Perlenkette, die im Licht funkelte, sooft die makellose Dame sich bewegte.

»Ich bin heute Abend der Blätterfritze, wenn’s genehm ist«, sagte ich, den lockeren Umgangston von Matthäus nachahmend. »Karla Umweg mein Name.«

»Ach, das ist die Kleine mit der Hochbegabtenprüfung«, sagte der Professor, der auch im Prüfungskomitee gesessen hatte. »Marie, die hat 180 Punkte von 180 erreicht. Die kann deinen Liederabend umblättern, mach dir keine Sorgen.«

»Ich mache mir überhaupt keine Sorgen«, sagte Marie, die umwerfend aussehende Sängerin. Sie lächelte mich flüchtig an. Die ganze Frau blendete vor Eleganz, und ich kam mir in meinem verwaschenen Sweatshirt und den unkleidsamen Cordhosen neben ihr so plump vor wie ein Kartoffelsack neben einer Champagnerflasche.

»Sie hat anscheinend nichts anzuziehen«, sagte der Pianist zu der rassigen Sängerin in Samt. Er schien nicht willens zu sein, anders als in der dritten Person von mir zu reden. Ich fand seine Bemerkung übertrieben, denn immerhin war ich ja nicht ganz unbekleidet, aber Cordhosen und Sweatshirt sind auf der Bühne gleichbedeutend mit Nacktsein. Auch in der Hochschule der Künste, egal, wer da im Publikum rumlümmelt, hörte ich Mama sagen. Der Ton macht die Musik. Und wir sind keine Proleten. Von wegen Ellbogen auf dem Tisch und so. Wir nicht.

»Kommen Sie rein, schnell«, sagte die wunderschöne Marie in dem fantastischen Abendkleid. Mit kühler, gepflegter Hand zog sie mich in ihre Garderobe.

»Edwin, deine Fliege ist auch kein Ausbund an Ästhetik«, sagte sie noch zu dem miesepetrigen Begleiter, bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuschlug.

»Ziehen Sie das hier an«, sagte sie so glockenrein, wie nur Sänger sprechen können, mit vorderem gestütztem Nasen-Stirnhöhlensitz. Ich verstehe ein bisschen was davon, weil Fräulein Kniffke bei uns in Bad Orks mich manchmal ihre Gesangstunden begleiten lässt. Marie warf mir einen schwarzen Fummel zu, dessen französische Inschrift davon zeugte, dass es sich nicht um ein runtergesetztes Kleid von Karstadt handeln konnte. Ich zog den Bauch ein und schämte mich etwas, als ich mich in das sündhaft teure Leberwurstkleid zwängte.

»Schuhe habe ich auch für Sie«, sagte Marie und trällerte dann wieder nervös vor sich hin. »Nur keine Strümpfe, tralla, trallera!«

Ich sah sie eingeschüchtert an und versicherte, dass ich auch ohne Strümpfe umblättern könnte, natürlich nur, wenn ihr das nichts ausmache, ausnahmsweise.

»Kamm, Kamm mie mie mie ch«, sang Marie und reichte mir ihr krokodilledernes Kosmetik-Köfferchen.

»Und vielleicht etwas Rri Rra Rrouge!«

»Ganz wie Ihre Überkandidelt wünschen«, murmelte ich und malte mir noch etwas Farbe auf die Wangen. Wenn man bedenkt, dass solcherlei Hoffart, Reichtum, Augenlust noch nie in meinem Leben stattgefunden hat – außer damals beim Kinderkarneval im Kurhaus, als ich als Gretel vom Kasperl ging. Jetzt fühlte ich mich so ähnlich.

Edwin pochte ungeduldig an die Tür, aber das war unnötig, denn wir waren sowieso fertig zum Auftritt. Marie sagte noch im Gehen über die nackte Schulter, dass die meisten Lieder sehr einfach zu blättern seien, denn es stünde ja auch der Text drunter, und selbst wenn ich keine Noten lesen könnte, würde ich ja sicher die Worte lesen können. Ich überhörte das, weil es sowieso nichts brachte, in dieser Situation jetzt noch auf diesen Unsinn einzugehen. Schließlich hatte Edwin ihr eben noch erklärt, dass ich ein Ausbund an Hochbegabung sei, jedenfalls was das Notenlesen von Klavierliteratur anbetreffe.

Ich stakste hinter Echtwein her auf die zugige Bühne, auf der die Staubflocken, die es sich zwischenzeitlich gemütlich gemacht hatten, in der Zugluft und dem plötzlichen Neonlicht umeinander wirbelten, als gelte es, noch einen guten Platz zu ergattern. Im Publikum ließ man sich zu einem temperamentlosen Beifall herab. Ich setzte mich auf den Nebenstuhl und fühlte die Nähte des Kleides über meinen nackten Beinen spannen. Lieber Gott, mach, dass es nicht platzt, betete ich, als die ersten Klänge des Schubert-Lieds durch den Saal drangen. Marie war unbeschreiblich gut. Ich verstehe ja ein bisschen was vom Singen, weil Fräulein Kniffke mich ab und zu mal ihre Sänger begleiten lässt, und aus Spaß hab ich auch schon mal eine Tonleiter gesungen, nur so, als Fräulein Kniffke gerade keine Schülerin unterrichtete und sie keine Lust auf Regina und ihre Gernot-Geschichten hatte, und so konnte ich feststellen, dass Marie nicht so ein schriller Sopran mit viel schneidendem Tremolo im Timbre ist wie die Soubretten im Kurhaus von Bad Orks, sondern über eine aufregend schöne und warme Mezzosopran-Stimme verfügt. Das erlaube ich mir zu sagen, weil Papa manchmal bei uns in Bad Orks die Konzertkritiken schreibt, wenn in der Kurhalle mal ein Gastspiel war.

Der Echtwein ließ seine langen, gepflegten Finger, mit denen er vermutlich niemals im Garten gräbt oder Holz hackt, über die Tasten perlen, und ich starrte gebannt auf die Noten und blätterte mit schweißfeuchten Händen die Seiten um. Wir waren ein großartiges Team. Der Auftritt gipfelte in den drei Carmen-Szenen, die Marie als Zugabe absolut hinreißend inszenierte, und endete auf dem hohen H. Stehender Beifall und schrille Pfiffe kamen zusammen mit den zu Schwalben gefalteten Programmheften auf die Bühne geflogen. Marie bekam ungelogen zwölf Blumengebinde überreicht und musste sich dauernd bücken, um sich von Begeisterung heuchelnden Kolleginnen auf die hektisch geröteten Wangen küssen zu lassen. Eine ältere Dame war auch unter den Gratulanten. Sie hatte trotz der Hitze im Saal die ganze Zeit ihren Pelzmantel anbehalten und zog Marie nun ziemlich tief zu sich herunter, um ihr einen violetten Lippenstiftabdruck auf die Stirn zu drücken. Wie eindrucksvoll. Das war sicher ihre Lehrerin, dachte ich hingerissen. Nach vier weiteren Zugaben erst durften wir durch die Staubflocken von der Bühne knicken. Was für ein Einstieg ins Bühnenleben! Das muss ich unbedingt Mama und Papa erzählen. Nun kennt mich die ganze Hochschule. Ich bin berühmt.

 

Bleibt noch von der sensationellen Nachfeier zu berichten, auf der ich selbstverständlich nicht fehlen durfte. In Herrn Echtweins Kastenwagen – er transportiert darin häufig Cembalos und Gamben und Kontrabässe, und andere leicht brennbare Ware, wie er mir erklärte – durfte ich mitfahren zum Europazentrum, diesem eindrucksvollen Gebäude mit dem Mercedes-Stern darauf. Oben befindet sich ein Dachrestaurant, das sich auch noch dreht, was ich für überflüssig und unzweckmäßig halte, da man ja beim gleichzeitigen Essen und Drehen häufig unter Übelkeit leidet. Auf der Fahrt dorthin war Echtwein ziemlich einsilbig, aber ich als Pianistin und zukünftige konzertierende Künstlerin wusste das als Überreste einer schier unmenschlichen Konzentration zu deuten und störte ihn nicht beim Schweigen. Nur einmal sagte ich sanft zu ihm, dass er ein hervorragender Begleiter sei, um eine höfliche Konversation nicht von vorneherein auszuschließen, aber seine Mundwinkel hingen parallel zu seiner Fliege düster erdenwärts, und so ließ ich die überflüssige Lobhudelei. Es ist ja anerkanntermaßen das Schicksal eines jeden Pianisten, im Schatten des Sängers oder der Sängerin zu verblassen, und wenn es sich um eine so außergewöhnliche Frau wie Marie handelt, schon mal erst recht. Armer Echtwein. Irgendwie ein Nachtschattengewächs. Schon von Berufs wegen. Eine Frau schien er nicht zu haben, jedenfalls keine, die ihm sofort seinen durchgeschwitzten Frack vom Leibe reißt, um ihn zu reinigen. So eine Art Regina scheint er also nicht sein Eigen zu nennen. Wir kamen im hell erleuchteten Prunksaal im fünfundvierzigsten Stock über den Dächern der Großstadt an, als bereits erste Reden gehalten wurden. Es wimmelte von Intendanten und deren gefräßigen Verwandten, die alle auf Maries Rechnung ein feines Abendessen in schwindelnder Höhe zu sich nehmen wollten. Es war wie auf einer Hochzeit: an langen Tischen hockten die Gäste und kauten unverhohlen hinter damastenen Servietten, während immer irgendein Freiwilliger das Kauen für die Dauer seiner eigenen Rede kurzfristig unterbrach. Ich hielt gleich einen Kellner an, der Champagner auf einem Tablett durch die Menge balancierte, und prostete Marie zu. Was für eine Frau! Sie saß in ihrem hinreißenden schwarzen Samtkleid inmitten ihrer Fans, und ihre grünen Augen funkelten wie die Saphirnadel und wie der Wein in ihrem kristallenen Glas. Die alte Dame im Nerz machte eine Szene, als man sie von dem überflüssigen Kleidungsstück befreien wollte. Nein, ihr sei erst letztens ein Seehund weggekommen, in einem ähnlichen Etablissement, sagte sie mit akzentuierter Stimme und begab sich in Mantel und Hut zu Tisch. Leider kam ich neben ihr zu sitzen, denn sie hatte anscheinend keinen Tischherren und ich natürlich auch nicht. Vielleicht hätte sonst Matthäus neben ihr gesessen, und das hätte ich ihr und ihm ehrlich gesagt von Herzen gegönnt. Jedenfalls durften wir doch die Nähe von Marie genießen, die zwischen ihrem Begleiter Echtwein und ihrem Gesangsprofessor Heyko Zurlinde saß, wie eine Braut mit zwei Bräutigamen. Der eine Bräutigam sog schmallippig und hängeschultrig an seiner Pfeife, der andere Bräutigam klopfte an sein Glas und hielt schwungvolle Reden, die er den anwesenden Presseleuten am liebsten im Mitschreibetempo diktiert hätte.

Die für diesen Anlass wie schon erwähnt etwas zu warm angezogene Dame im Nerz ließ mich bald wissen, dass sie Maries Mutter sei, was mich mit tiefem Mitgefühl für Marie erfüllte. Sie hob an, während sie die Schildkrötensuppe schräg zum Munde führte, dem gestressten und mürrisch blickenden Herrn Echtwein schräg über den Tisch hinweg ein Gespräch aufzudrängen. Dieser sog grämlich an seiner Pfeife, was Papa sicherlich als arge Unverschämtheit gewertet hätte, wagte aber nicht, ihr seine Aufmerksamkeit zu verweigern. Sinngemäß sagte die Mutter etwa, dass sie damals im Krieg leider keinen Begleiter von Echtweins Qualität zur Verfügung gehabt habe, sich also mehr aus Not als aus Tugend bei ihren Liederabenden selbst am Klavier begleitet habe. Aha, dachte ich in meine lauwarme Krötensuppe hinein, die Mutter ist also auch Sängerin gewesen. Marie ist erblich vorbelastet, das ist ja interessant. Ich versuchte, die Mutter zu überhören, genoss ich doch edelste Leibesfreuden in meinem ausgehungerten Studentinnenbauch! Zumal ich heute Mittag die schrumpelige Mandarine zum Nachtisch nicht ergattert hatte! Das Dessert dieses Abends hingegen war eine wahre Vorgartenpracht unter Zuckerguss: eine Viertel-Mango-Spalte, liebevoll gelagert neben einer halben Erdbeere mit vollständig erhaltenem, jedoch nicht essbarem Strunk, daneben eine farblich nicht ganz vorteilhaft aussehende Feige an Zimt, halb versteckt unter einem Minzeblatt, rechts darüber ein winziger Klecks Schokoladenmousse, darüber ein Bällchen Vanilleeis mit gevierteilter heißer Kirsche und als Krönung sozusagen eine Schokoraspel. Ich genoss, besonders optisch, dieses Dessert innerhalb von dreißig Sekunden und dachte voll Wonne an Matthäus, der jetzt in irgendeiner verrauchten Kneipe am Billardtisch stehen und lauwarmes Bier aus der Flasche trinken musste.

»Sind Sie eine neue Freundin meiner Tochter?«, unterbrach die Mutter meine Gedanken, weil niemand sonst ihr Aufmerksamkeit zu schenken bereit war.

Ich erwiderte höflich und bescheiden, wie ich nun mal erzogen wurde, dass ich mich nicht als Freundin von Marie bezeichnen würde, da wir uns heute Abend erst kennengelernt hätten.

»Jedenfalls machen Sie einen besseren Eindruck als dieser ungepflegte Lümmel mit den fettigen Haaren«, sagte sie und klaubte sich aus einer güldenen Zigarettendose eine langhalsige, extraschlanke Zigarette mit Mundstück in Lila.

»Das haben Sie nett gesagt«, sagte ich herzlich und verkniff mir, den Puderzucker mit dem Finger vom Dessertteller zu lecken. Papa in seiner Manie, keinerlei Reste auf Tellern zu lassen, hätte den Puderzucker vermutlich mit einem Stück Brot aufgesogen und den Kellner um eine Papierserviette gebeten, um das Ganze in seine Manteltasche zu stecken. Das macht Papa immer. Das kann schon manchmal peinlich werden.

»Mutter, lass die junge Studentin bitte in Ruhe«, sagte Marie, die gerade mit Professor Zurlinde, dem Hochschuldirektor, gelacht hatte, mit warnendem Unterton. »Sie hat nur umgeblättert, sonst nichts!« Das klang so, als wollte sie sagen: »Sie gehört nicht zu unserem Clan, also weihe sie auch nicht ein!«

»Aber ich werde doch wohl mal fragen dürfen!«, erzürnte sich die Mutter. »Du könntest sie vielleicht ganz gut gebrauchen!« Und dann zu mir: »Aus was für einem Hause stammen Sie denn, mein Kind?«

»Aus einem grauen Reihenhaus«, sagte ich und bedauerte, dass sie ihre Asche auf ihren köstlichen Nachtisch schnippte, weil ich schon die ganze Zeit geplant hatte, heimlich ihren gegen meinen Dessertteller auszutauschen.

»Mutter«, rief Marie aufgebracht und Herr Echtwein legte seine saubere Palmolive-Hand beruhigend auf die ihre.

Ich begann zu ahnen, dass das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter durchaus einer gewissen Herzlichkeit entbehrte. Das wiederum registrierte die Mutter schneller als eine Schlange wahrnimmt, dass ein Frosch ihr den Rücken zudreht. Sie setzte zum Zubeißen an.

»Edwin«, sagte sie vanilleweich, »wenn ich so was Fantastisches, Musikalisches und Feinfühliges wie Sie damals gehabt hätte, wäre meine Karriere anders verlaufen! Marie hat alles! Einen wundervollen Ehemann, der sie auf Händen trägt, einen Pianisten, der sie einfühlsam begleitet, die Unterstützung und Förderung einer erstklassigen Hochschule, Agenten und Intendanten, die in ihre Konzerte strömen, und sogar ein Mädchen zum Umblättern. Ich aber, nach dem Krieg, ich hatte niemanden. Ich musste mich und mein kleines Kind ganz allein durchbringen!«

Und das alles mir, Karla Umweg aus dem grauen Reihenhaus in Bad Orks, die erst seit drei Tagen in der Großstadt war und noch keinen kannte!

Wenn Mama und Papa wüssten, mit was für hochgradigen Künstlernaturen ich bereits zu Beginn meines Studiums zusammengetroffen bin!

Später, als ich mich verabschiedete, tätschelte mir die Mutter zufrieden die Hand. Außer mir hatte ihr im weiteren Verlauf des Abends niemand wirklich Beachtung geschenkt. Ich ging noch um den Tisch herum zu Marie, um mich bei ihr für die Einladung zum Essen zu bedanken, da sah ich aus überraschtem Augenwinkel, dass nicht nur der Edwin Echtwein seine Hand auf ihr linkes, sondern auch der Herr Professor Zurlinde seine Hand auf ihr rechtes Knie gelegt hatte! Ich vermute jedoch, dass die beiden Hände voneinander nichts wussten, die beiden Knie verschwiegene Kameraden waren und die beiden Augen von Marie nicht zu Unrecht mit der Saphirnadel um die Wette glänzten. Als ich nämlich Marie die Hand reichen wollte, rückten beide Tischherren wie ertappt von ihr ab und legten sofort alle vier Hände artig und verlegen auf den Tisch, wo sie sofort zum Glas griffen; reine Übersprungshandlung natürlich! Marie war charmant und wünschte mir einen guten Heimweg und viel Erfolg im Studium. Und das Kleid dürfe ich ruhig behalten. Sozusagen als Dankesgeschenk. Fürs spontane und selbstlose Einspringen. Ich lehnte dankend ab, da das Kleid und ich nicht dieselbe Konfektionsgröße haben, leider.

Dann ging ich.

 

Ich habe Matthäus wieder getroffen. Er saß in der Mensa und stopfte sich eine Currywurst hinein, Essen zwei, und der Stuhl neben ihm war frei. Bis auf eine aufgerissene kleine Tüte Ketchup und den Zigarettenstummel, der darin ersoffen war, lag nichts darauf! Ich stürzte mit meinem Eintopf zu ihm und strahlte ihn an. Dass ich das heute erleben durfte! Einen Bekannten zu treffen! Er erinnerte sich jedoch nicht an mich.

»Neu hier oder wat«, sagte er, während er seine welken Pommes durch die Currybrühe zog.

Ich sagte fröhlich erregt, dass ich doch Karla sei, die letzte Woche für ihn in Maries Konzertexamen geblättert habe! Er blickte mich aus seinen wässrigen blauen Augen an, zog die Nase hoch und wischte sich eine Bremsspur aus Ketchup auf die Backe.

»Ey son Zufall, ey«, sagte er verblüfft. »Total feist, ey! Kommz ja wie jerufen, wa!«

»Ja, nicht wahr?«, freute ich mich und vergaß ganz das Verzehren meines graugrünen Eintopfes.

»Die wussten ja nich, wiese dir erreichen können!«, sagte Matthäus und strich sich mit seiner Plastikgabel über die Augenbraue, die nun so aussah, als wäre sie nach einem Boxkampf aufgeplatzt.

»Wer wusste nicht, wie er mir erreichen kann?«, fragte ich aufgeregt. Man gewöhnt sich an allem, auch am Dativ.

»Na der Echtwein, ey, und die feiste Sängerin, diese Marie von Otten. Die wollten dir dringend sprechen, von wegen weitere geile Auftritte mit Umblättan im In- und Ausland!« Er schob seinen halb leeren Teller von sich und rülpste profund.

Ick freute mir unbändig. »Du meinst, die wollen mich wieder engagieren, zum Umblättern?« Vor lauter Freude wischte ich seinen halb leer gegessenen Teller vom Tisch. Er fiel auf seinen Parka, was mir vorübergehend leid tat. Aber das fiel nicht weiter auf, bei dem Lärm und dem Dreck in der Mensa.

»Ja, mir wollen se nich!« Das kam mit treuem Augenaufschlag, und ich muss gestehen, ich mag den Matthäus. Man muss ihn einfach gern haben, auch wenn er Manieren hat wie ein Schwein. Meine Mama würde sagen, er hätte keine Kinderstube und wäre wahrscheinlich ein uneheliches Kind oder Schlimmeres, und Papa würde schweigend eine Augenbraue hochziehen.

Ich stürzte zum abgenutzten Telefonhäuschen, das geruchsmäßig jede Übezelle aussticht, und wählte die Nummer, die Matthäus mir in mein Notenheft gekritzelt hatte.

»Hier bei von Otten, Pfefferkorn am Apparat«, sagte eine Frauenstimme unfreundlich. Im Hintergrund brabbelte ein Baby.

Ich sagte meinen Namen und dass ich Frau von Otten zu sprechen wünsche.

»Es ist Mittagszeit, worum geht es bitte!«, kam es schneidend aus dem Hörer, und ich dachte, dass diese Haushälterin ja ganz offensichtlich die Hosen anhätte und dass ich mich jetzt auch in die Übeschlange setzen könnte, das würde jedenfalls keinen Ärger bringen. Vorsichtshalber sagte ich noch mal meinen Namen und dass ich letztens bei einem Liederabend umgeblättert hätte.

»Ach SIE sind das«, sagte die Haushälterin eine Spur zu herrisch für ihren Job und befahl mir dann, sofort zu kommen. »Marie kann sie dringend brauchen«, sagte sie in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Seien Sie pünktlich um vier hier, wenn Sie sich beeilen, schaffen Sie es noch mit der U-Bahn. Die letzten fünf Stationen fahren Sie mit dem Bus.« Dann erklärte sie mir den Weg. Ich war zugegebenermaßen etwas eingeschüchtert von der herrischen Haushälterin, und ebenfalls von der Idee, jetzt mit der U-Bahn durch halb Berlin zu fahren. Eigentlich wollte ich ja üben und anschließend den Kurs für Gehörbildung besuchen, aber selbstverständlich zog ich es vor, Marie wiederzusehen und ihr meine Blätterdienste anheim zu stellen.

Ich verließ also eiligst das Konservatorium und fuhr mit der U-Bahn, ein Vorgehen, das sich als gar nicht mal so gefährlich erwies wie gefürchtet. Nach einer halben Stunde kletterte ich aus dem U-Bahn-Schacht und befand mich in einem Villenviertel im Grunewald. Der Bus fuhr dann auch beruhigend pünktlich, ähnlich wie in Bad Orks. Ich schaute aus dem Fenster. Sehr vereinzelt nur standen die efeuumrankten Häuser hinter undurchsichtigen Hecken, und draußen an den Mauern waren außer den Namensschildern auch noch Hinweise angebracht, dass die Villa mit Alarmanlage, Videokamera und mindestens einer reißenden Bestie ausgestattet sei. Am Grunewaldsee stieg ich aus. Maries Haus hatte überhaupt kein Namensschild, dafür war es immerhin freundlich und hellgelb und von Rosenhecken umrankt. Das war also das Schloss, in dem Schneewittchen ihren Winterschlaf hielt! Ich gebe zu, noch nie so ein schönes, prunkvolles Haus gesehen zu haben, und hob zitternd die Hand, um auf die goldene Schelle zu drücken. Eine riesige schwarze Dogge äugte mir durch den Zaun entgegen. Als ich sie anblickte, grollte sie leise und heiser mit hochgezogener Oberlippe. Ein ziemlich großer Spuckefaden hing ihr am Maul und baumelte bedrohlich hin und her.