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Dramatisch und aufwühlend: Als Beates Mutter bei einem Autounfall ums Leben kommt, bricht für die junge Abiturientin eine Welt zusammen. Trost findet Beate bei ihrem Verlobten Artur. Doch dann erfährt Beate, dass ihre Mutter ein Doppelleben führte und statt als Putzfrau als Animierdame in einer zwielichtigen Bar arbeitete. Eine Erkenntnis, die Beates Liebe zu Artur auf eine harte Probe stellt...-
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Seitenzahl: 394
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Marie Louise Fischer
Saga
Kein Vogel singt um Mitternacht – LiebesromanCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1986, 2020 Marie Louise Fischer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444841
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk
– a part of Egmont www.egmont.com
Es war ein Samstagmorgen im April. Trotzdem hatte Beate sich den Wecker gestellt. Sie stand kurz vor dem Abitur, und sie konnte es sich nicht erlauben, auch nur einen einzigen Tag auf ihre Studien zu verzichten. Jedenfalls glaubte sie das.
Punkt acht betrat sie frisch geduscht und mit Jeans und T-Shirt bekleidet die Küche. Sie war überrascht, als sie ihren Bruder Udo am geöffneten Eisschrank stehen sah.
»Nanu? Schon auf?«
»Wie du siehst«, gab er auf seine gewohnt unfreundliche Art zurück.
»Guten Morgen!« sagte sie fröhlich.
Zur Antwort bekam sie nur ein Brummen.
Sie bemerkte, daß er gerade dabei war, den eigentlich fürs Abendbrot bestimmten Aufschnitt herauszunehmen. Ihr Erscheinen hatte ihn offensichtlich gestört. Er zögerte kurz, machte eine Bewegung, als wollte er die Tüte, die er schon in der Hand hatte, wieder zurücklegen, warf sie dann aber doch auf die Ablage neben der Spüle. Dabei nahm sein noch sehr unfertiges, rundes Gesicht einen Ausdruck an, den er selber wohl für hochmütig oder arrogant halten mochte, der in Wahrheit aber nur trotzig war. Obwohl mehr als einen Kopf größer als seine Schwester, wirkte er mit seinen sechzehn Jahren wesentlich jünger.
Jetzt erwartete er offensichtlich, daß sie Einspruch erheben würde.
Aber sie tat ihm nicht den Gefallen, denn sie wußte aus Erfahrung, daß es sinnlos war, mit ihm zu streiten. Sie war für ihn keine Autoritätsperson, und das konnte sie, da sie nur knapp zwei Jahre älter war, auch kaum verlangen. Statt dessen fragte sie: »Soll ich dir einen Kaffee machen? Willst du dich nicht setzen?«
Die Küche war ein sehr großer Raum mit einer gemütlichen Eßecke, in der sie als Kinder mit den Eltern manchmal »Mensch-ärgere-dich-nicht«, »Malefiz« und später »Monopoly« gespielt hatten. Aber er zog es vor, an der Theke stehen zu bleiben, zerrte Wurst- und Schinkenscheiben zwischen den dünnen Papieren heraus und stopfte sie sich in den Mund.
Sie stellte die Brotmaschine an.
Er nahm die Schnitte ohne Dank entgegen, biß aber wenigstens hinein. »Hab’s eilig«, verkündete er mit vollem Mund.
»Was hast du vor?«
»Wirst du dir schon denken können.«
»Du willst Fußball spielen?«
»Was denn sonst?«
Zwar fiel jetzt ein heller Strahl der Morgensonne in die Küche und ließ die kupfernen Model an der Wand aufleuchten, doch am Abend zuvor hatte es noch geregnet.
»Der Platz wird naß sein«, erklärte Beate.
»Mir doch egal.« Udo hatte seine improvisierte Mahlzeit beendet, drehte den Wasserhahn auf und hing den Kopf darunter. Nachdem er getrunken hatte, wischte er sich mit dem Handrücken über den Mund und erklärte beiläufig:
»Bin zum Mittagessen nicht da.«
»Wozu haben wir dann vier Steaks aufgetaut?«
»Meins kann ich immer noch essen.«
»Heute abend?«
»Weiß noch nicht.« Udo wandte sich zur Tür.
»Komm bloß nicht zu spät! Vater . . .«
Er ließ sie nicht aussprechen. »Der kann mich mal.«
Seufzend räumte Beate den Rest des Aufschnitts in den Kühlschrank zurück und wischte die Theke ab. Es war ein Kreuz, daß Udo und der Vater sich so gar nicht verstanden. Woran es lag, war klar. Er, ein hochintelligenter Mann, fast ein Genie – im geheimen hielt sie ihn dafür, und er selber sich wohl auch–, stellte zu hohe Ansprüche an seinen Sohn. Udo hätte sie wohl auch mit bestem Willen nicht erfüllen können. Längst versuchte er es schon gar nicht mehr. Der Vater hatte ihm die Lust zum Lernen gründlich ausgetrieben. Für Udo gab es jetzt nur noch seinen geliebten Fußball, und er war überzeugt, das Zeug zu einem Profi zu haben. Aber der Vater erlaubte ihm nicht einmal, in einen Club einzutreten. Für Thomas Kronberger war Fußball »proletarisch«. Artur, Beates Verlobter, dachte übrigens genauso. Sonderbar, schoß es ihr durch den Kopf, wo doch die gesamte übrige Männerwelt für Fußball zu schwärmen schien.
Beim Gedanken an Artur erhellte sich ihr Gesicht. Heute abend würden sie sich treffen. Natürlich hätte er lieber das ganze Wochenende mit ihr verbracht. Aber er sah ein, daß sie lernen mußte. Er hielt es für ganz richtig, daß sie erst das Abitur machte, bevor sie heirateten. Ganz anders als die grünen Knaben, mit denen sich ihre Freundinnen abgaben, war er so verständnisvoll. Immerhin war er ja auch schon achtundzwanzig Jahre und Ingenieur bei Siemens.
Beate legte bunte Baumwollsets auf den Küchentisch und begann damit, ihn für sich und ihren Vater zu decken. Mutter würde wie immer erst gegen elf herunterkommen. Das hatte sie so eingeführt, seit sie zu arbeiten begonnen hatte. Sie hatten sich daran gewöhnen müssen, und es war gar nicht so schlimm, obwohl sie alle anfangs dagegen gemeutert hatten.
So würde sie heute morgen also eine gemütliche Stunde mit ihrem Vater allein haben. Eigentlich war es ein Glück, daß Udo aus dem Haus war und nicht dazwischenplatzen konnte. Natürlich würde Vater das nicht passen. Aber sie würde ihn schon auf andere Gedanken bringen.
Beate überlegte, ob sie die Kaffeemaschine anstellen oder noch warten sollte, als es an der Haustür klingelte.
Einen Augenblick blieb sie ganz still mitten in der Küche stehen; sie war so überrascht, daß sie nicht sofort reagieren konnte. Sollte der Vater die Schlüssel vergessen haben? Aber das war ihm noch nie passiert.
Es klingelte wieder, und sie lief hinaus, um zu öffnen. Zwei Männer in der grünen Uniform der bayerischen Polizei standen vor ihr. Unwillkürlich wich Beate einen Schritt zurück. Beide grüßten höflich.
»Entschuldigen Sie, daß wir Sie schon so früh am Morgen stören«, sagte der Jüngere – er wirkte auf Beate sehr jung, fast jungenhaft, jünger jedenfalls als ihr Verlobter.
»Ja, was gibt es denn?«« fragte sie und erschrak plötzlich. Sie wurde blaß, und ihre klaren grünen Augen weiteten sich. »Hat Vater etwa . . . einen Unfall?«
»Nein, nein, wir kommen nicht wegen Ihres Vaters«, sagte der ältere Beamte rasch.
»Dürfen wir, bitte, eintreten?«
Beate blieb nichts anderes übrig, als die Beamten eintreten zu lassen. Sie führte sie ins Wohnzimmer, einen eleganten Raum, ebenso groß wie die Küche, mit Gruppen niedriger Sitzmöbel und Tischen ausgestattet und in warmen Farben gehalten.
Die Polizisten hatten ihre Mützen abgenommen; der jüngere hatte blondes, strubbeliges Haar, der ältere eine Halbglatze.
»Warum«, fragte der junge Beamte, »warum machen Sie sich Sorgen um Ihren Vater?« Er sah Beate aus grauen, intelligenten Augen forschend an.
»Weil«, begann sie verunsichert, »er ist beim Joggen. Er macht das jeden Morgen, wenn das Wetter einigermaßen ist.« Sie war einen Blick auf ihre schmale, sportliche Armbanduhr. »Er sollte eigentlich schon zurück sein.«
»Dann werden wir auf ihn warten«, entschied der Ältere.
»Warum? Wer sind Sie überhaupt? Was wollen Sie?«
»Wir kommen von der Polizeiinspektion München-Riem«, erklärte der junge Polizist und stellte sich mit einer leichten Verbeugung vor, »Polizeiobermeister Peter Hertling.«
»Polizeihauptmeister Steiner«, sagte der andere.
»Ja . . . und?«
»Wir möchten mit Ihrem Vater sprechen.«
»Mein Vater hat bestimmt nichts getan.«
»Darum geht es ja gar nicht.«
»Um was dann?«
»Das werden wir Ihrem Vater sagen«, erklärte Polizeiobermeister Hertling sehr ruhig.
»Wenn unsere Anwesenheit Sie stört, können wir auch draußen warten«, fügte sein älterer Kollege hinzu.
»Handelt es sich um etwas Persönliches? Etwas, das ich nicht wissen darf? Sie können sonst ruhig offen mit mir sprechen. Ich bin erwachsen.«
Die beiden Männer wechselten einen Blick.
Hertling zog ein Notizbuch aus der Brusttasche seiner Uniformjacke. »Ihre Mutter ist doch Frau Sibylle Kronberger?«
»Ja.«
»Und sie fährt einen Renault fünf?« Hertling las ein Münchner Kennzeichen ab.
»Stimmt.« Beate hatte sich von ihrem Schreck erholt.
»Soll das heißen, daß Sie hierhergekommen sind und Theater machen, weil sie bei Rot über die Kreuzung gefahren ist? Sie hat es bestimmt nicht mit Absicht getan.«
»Fräulein Kronberger«, sagte der Polizeihauptmeister Steiner sehr freundlich, »Sie sind doch ein intelligentes Mädchen . . .«
»Was soll das denn nun wieder?«
»Glauben Sie wirklich, daß wir zu zwei Mann hoch hier aufkreuzen würden, wenn es sich um eine Verkehrsübertretung handeln würde?«
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich glauben soll. Als nächstes werden Sie wohl verlangen, daß ich Mutter wecke. Aber das werde ich nicht tun.«
Wieder sahen sich die beiden Männer kurz an.
»Ihre Mutter schläft?« fragte Hertling dann. »Sind Sie da ganz sicher?«
»Ja.«
»Wissen Sie, wann sie nach Hause gekommen ist?«
»Nein. Darauf achte ich nicht.«
»Fräulein Kronberger«, sagte Hertling, »ich denke, Sie sollten sich setzen.«
»Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen keinen Platz angeboten habeaber ich dachte nicht . . .« Wieder sah sie nervös auf ihre Armbanduhr.
Polizeihauptmeister Steiner drückte sie sanft in einen der Sessel.
Die beiden Männer nahmen ihr gegenüber Platz und legten ihre Mützen auf ein neben ihnen stehendes Tischchen.
Hertling hatte bei der niedrigen Sitzgelegenheit Schwierigkeiten mit seinen langen Beinen. »Es handelt sich um folgendes«, begann er behutsam, »das Auto Ihrer Mutter ist heute nacht an der Erdinger Landstraße aufgefunden worden.«
»Verstehe ich nicht. Wie ist es denn dort hingekommen?«
»Man hat es gefahren.«
»Wer?«
»Vermutlich eine Frau.«
»Was soll das heißen . . . vermutlich?«
»Die Fahrerin hatte einen Unfall. Das Auto ist in einer leichten Rechtskurve von der Fahrbahn abgekommen und hat einen Baum gerammt. Der Wagen ist völlig ausgebrannt.«
Endlich begriff Beate, worauf die beiden Männer hinauswollten. »Aber das kann nie und nimmer meine Mutter gewesen sein!« behauptete sie spontan.
»Sind Sie da so sicher?«
»Ja! Auf der Erdinger Landstraße . . .« Sie unterbrach sich. »Wo liegt die denn überhaupt?«
»In Daglfing.«
»Da hatte meine Mutter bestimmt nichts zu tun. Außerdem ist sie eine gute, eine eher zu vorsichtige Fahrerin! Sie würde nie mit überhöhter Geschwindigkeit . . .«
Jetzt fiel Hertling ihr ins Wort. »Davon spricht ja niemand. Die Unfallursache werden wir erst nach der kriminaltechnischen Untersuchung wissen. Hoffentlich. Das Wrack ist zum Landeskriminalamt gebracht worden.«
»Trotzdem. Ich glaube es einfach nicht.«
Die beiden Männer schwiegen.
Beate sah von einem zum anderen und las aus Hertlings Augen ein Mitleid, das sie schmerzte.
Sie sprang auf. »Könnte sie ihr Auto nicht ausgeliehen haben?«
»Das wäre eine Möglichkeit«, bestätigte der junge Mann ruhig.
»Ob Sie unter diesen Umständen nicht doch nach Ihrer Mutter sehen sollten?« schlug Steiner vor.
»Das werde ich nicht! Zeigen Sie mir doch einfach ein Bild von der Leiche! Sie werden doch Fotos gemacht haben. Ich denke, das ist so üblich.«
»Fräulein Kronberger, verstehen Sie nicht: Das Auto ist gänzlich ausgebrannt.« »Die Person ist völlig unkenntlich«, fügte Steiner härter hinzu.
»Völlig?« wiederholte Beate entsetzt.
»Ja. Sogar die Papillaren sind vernichtet.«
»Die . . . was?«
»Mein Kollege meint die Haut der Fingerkuppen. Sie wissen sicher, daß diese feinen Riffelüngen, die man Papillarlinien nennt, bei jedem Menschen verschieden sind«, erklärte Hertling.
»Jetzt gehe ich doch nach oben!« Beate drehte sich auf dem Absatz um, lief hinaus in die kleine Diele gegenüber der Haustür und die Treppe zum ersten Stock hinauf.
Polizeihauptmeister Hertling folgte ihr, ohne daß sie es bemerkte.
Trotz ihrer Erregung öffnete sie die Tür zum Schlafzimmer ihrer Mutter sehr leise, noch darauf bedacht, sie nicht zu wecken. Das Bett war leer. Es war abgedeckt und für die Nacht aufgeschlagen. Aber es war offensichtlich nicht benutzt worden.
Obwohl sie darauf hätte gefaßt sein müssen, war Beate es nicht. Der Anblick dieses freundlichen, hellen, aber leeren Zimmers, in dem jedes Ding an seinem Platz stand und an ihre Mutter erinnerte, war für sie wie ein Schock. Es wurde ihr schwarz vor Augen, und die Knie gaben unter ihr nach. Wenn Hertling sie nicht aufgefangen hätte, wäre sie gestürzt.
Er legte sie behutsam auf das Bett, zog ihr die Schuhe von den Füßen und stopfte ihr Kissen unter die Beine, so daß sie höher lagen als ihr Kopf. Dann sah er sich um, entdeckte die Tür zum Bad – einem großen Bad, das Sibylle Kronberger offensichtlich gemeinsam mit ihrem Mann benutzt hatte –, ließ kaltes Wasser in ein Zahnputzglas laufen und ging damit zu Beate zurück.
Sie hatte schon wieder die Augen geöffnet und machte Anstalten aufzustehen. »So was ist mir noch nie passiert«, sagte sie, als müßte sie sich entschuldigen. Ihr langes, aschblondes Haar, das sie zuvor streng zurückgebunden getragen hatte, breitete sich jetzt auf dem rosa Laken aus. »Lassen Sie sich Zeit! Ein paar Minuten. Sonst klappen Sie gleich wieder zusammen.« Da stand dieser junge Mann in Uniform neben dem Bett und schien so ganz und gar nicht in das sehr feminine Schlafzimmer von Sibylle Kronberger hineinzugehören.
Jetzt erst fiel ihr auf, wie groß und wie breitschultrig er tatsächlich war. Er wirkte ein wenig ungelenk, wie er dastand, einen Schritt von ihr entfernt, das Zahnputzglas in der Hand. Aber wahrscheinlich lag das nur an der merkwürdigen Situation, in die er geraten war.
Obwohl sie keinen Durst verspürte, streckte sie den Arm aus, um ihm das Glas abzunehmen. Aber als sie erst einmal zu trinken begonnen hatte, leerte sie es bis auf den Grund. »Danke«, sagte sie und stellte es auf dem Nachttisch ab, »ich habe heute morgen noch nicht gefrühstückt.«
»Wir hätten später kommen sollen.«
»Glauben Sie, daß es wirklich meine Mutter war, die auf der Erdinger Landstraße verunglückt ist?«
»Wir werden es feststellen, Fräulein Kronberger.«
»Aber wie, wenn die Tote doch . . .« Sie brachte es nicht über sich, den Satz zu Ende zu sprechen.
»Am Gebiß. Jedes Gebiß ist einmalig.«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.«
Unten im Haus wurden Stimmen laut.
»Mein Vater! Ich muß . . .« Beate sprang auf, ohne an die Warnung des jungen Polizeibeamten zu denken.
Es wurde ihr schwindelig, und sie schwankte ein wenig.
Er packte sie bei den Oberarmen, hielt sie dabei vorsichtig auf Distanz, als wäre sie etwas Zerbrechliches, und mahnte: »Langsam, immer langsam!«
»Danke. Ich bin schon in Ordnung.«
»Ich werde vor Ihnen die Treppe hinuntergehen. Bleiben Sie dicht hinter mir und halten Sie sich am Geländer fest!« Er wartete besorgt, bis sie die letzte Stufe genommen hatte, und sagte dann: »Am besten kochen Sie sich jetzt eine Tasse Kaffee!«
»Aber mein Vater . . .«
». . . kann bestimmt auch einen Kaffee vertragen. Ich übrigens auch. Wenn es möglich ist, kochen Sie eine ganze Kanne. Wir hatten Nachtdienst.«
Beate zögerte. Aber dann verstand sie, daß die Polizeibeamten wohl zuerst allein mit ihrem Vater sprechen wollten, und sie wandte sich zur Küche.
»Ich werde Ihnen helfen«, erbot sich Hertling.
»Werden Sie«, fragte sie mit einer Kopfbewegung zum Wohnzimmer hin, »da drinnen denn nicht gebraucht?«
»Sie brauchen mich mehr«, behauptete er ernsthaft.
Beate widerspach ihm nicht. Sie fühlte sich sehr schwach, war immer noch verwirrt und empfand es als beruhigend, ihn in ihrer Nähe zu wissen.
Thomas Kronberger war ein stattlicher Mann und besaß unter normalen Umständen ein sehr sicheres Auftreten. Jetzt aber hockte er zusammengebrochen in seinem Sessel und hätte, dachte der Polizeihauptmeister, eher ein Stadtstreicher sein können als der Besitzer dieses schönen Hauses in der Odinstraße. Sein Haar, insgesamt dunkel, war an den Schläfen schon weiß, war vom Laufen verschwitzt, und er hatte es sich, ohne es selber zu merken, vor Verzweiflung zerrauft. Die dunklen Augen waren tief in die Höhlen gesunken, und seine Lippen hingen schlaff. Verstärkt wurde der heruntergekommene Eindruck noch dadurch, daß er sich vor dem Sport nicht die Mühe gemacht hatte, sich zu rasieren; Kinn und Wangen waren stoppelig. Er murmelte unverständliche Sätze vor sich hin wie ein Betrunkener.
Steiner ließ ihm Zeit, sich zu fassen. »Sie haben mich doch richtig verstanden, Herr Kronberger? Noch wissen wir nicht mit Bestimmtheit, ob es sich bei der Toten tatsächlich um Ihre Frau handelt.«
Kronberger machte den Versuch, sich zusammenzureißen, richtete sich auf und reckte die Schultern, Er öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.
Steiner wartete.
»Doch«, sagte Kronberger endlich, »machen Sie mir nichts vor! Es ist Sibylle.«
»Wie können Sie da so sicher sein?« Kronberger rappelte sich hoch, schwankte zu einem gläsernen Bartisch, schenkte sich einen Cognac ein und leerte das Glas mit einem Zug. Erst dann fragte er: »Sie auch?«
Steiner lehnte ab.
Kronberger goß sich noch einmal ein und ging mit dem Glas in der Hand zu seinem Sessel zurück; er schien sich besser zu fühlen. Seine Stimme war rauh, als er sagte:
»Ich hätte das nie zulassen dürfen.«
»Was?« fragte der Polizeibeamte. »Wovon sprechen Sie?«
»Aber ich konnte nichts dagegen tun!« Kronberger spreizte die freie Hand mit einer resignierenden Gebärde. »Einfach nichts dagegen tun. Sie wollte auf mich nicht hören.«
»Sie wissen also, wo Ihre Frau gestern nacht war?«
»In Daglfing. Das haben Sie mir doch selber gerade erklärt.«
»Aber Sie haben es schon vorher gewußt?«
»Woher sollte ich?« Er nahm noch einen Schluck.
»Wann hat Ihre Frau gestern das Haus verlassen?«
»Wie jeden Abend. Um neun Uhr.«
»Jeden Abend?«
»Außer an den Wochenenden.« Kronberger öffnete eine silberne Dose, nahm eine Zigarette heraus und wollte sie mit einem Tischfeuerzeug anzünden. Aber seine Hände zitterten zu stark.
»Warten Sie! Ich mach’ das für Sie.« Steiner nahm ihm das Feuerzeug ab.
Kronberger nahm einen tiefen Zug. »Sie hat es für nötig gefunden zu arbeiten«, erklärte er mit Verbitterung.
»Waren Sie in finanziellen Schwierigkeiten?«
»Vorübergehend. Ja.«
»Und Ihre Frau hat nachts gearbeitet?«
»Ja. Als Putzfrau.«
»Wo?«
»Ich weiß es nicht. Ich wollte nichts darüber hören. Sie hatte eine Stelle bei einer Gebäudereinigungsfirma angenommen.«
»Name?«
»Ich weiß es nicht.«
»Dann darf ich Sie mal etwas ganz anderes fragen, Herr Kronberger: Wo arbeiten Sie?«
»Hier. In diesem Haus. Ich habe im Keller eine komplette Werkstatt, natürlich nicht ganz so ausgestattet, wie sie sein sollte. Ich kann mir nicht das gleiche leisten wie ein großer Betrieb. Aber darauf kommt es nicht an. Das einzige, was zählt, ist das hier.« Er klopfte sich mit der Hand, die die Zigarette hielt, auf die Stirn.
»Ich verstehe nicht ganz«, gestand Steiner.
»Ich bin dabei, einen Katalysator zu entwickeln, der wesentlich wirkungsvoller und dazu einfacher und billiger zu installieren sein wird als die herkömmlichen.«
»Wer zahlt Ihnen das?«
»Ich habe meine Ersparnisse in diese Sache hineingesteckt. Eines Tages, schon bald, wird sie mir das ganz große Geld bringen.«
Steiner war zu verblüfft, um etwas dazu sagen zu können.
Um seine Verwirrung zu kaschieren, strich er sich mit der Hand über den blanken Schädel.
Kronberger schien seine Fassung zurückgewonnen zu haben. »Sie halten mich wohl für einen Spinner?«
»Nein, wie könnte ich! Ich kann doch gar nicht beurteilen . . .«
»Bis vor zwei Jahren habe ich bei den Bayerischen Motorenwerken gearbeitet, in leitender Stellung. Sie dürfen mir also schon glauben, daß ich von Autos etwas verstehe.«
»Daran zweifle ich nicht. Hat man Ihnen gekündigt? Das ist ja heutzutage keine Schande mehr.«
Kronberger drückte die Zigarette in einem gläsernen Aschenbecher aus. »Ich bin aus freien Stücken gegangen«, erklärte er nicht ohne Würde.
»Um Ihren Katalysator zu erfinden?«
»Nein. Ich hatte ein neues Modell entworfen, das Idealmodell eines wirklich modernen Autos. Mit allen nur denkbaren Errungenschaften. Es würde zu weit führen, das einem Laien wie Ihnen zu erklären. Alle, denen ich es vorgeführt habe, waren begeistert, auch die Firmenleitung. Dennoch weigerte man sich, es in Serie herzustellen.« Verächtlich verzog er die Mundwinkel. »Es entspräche nicht dem Geschmack der Verbraucher, hieß es.«
»Pech für Sie«, sagte Steiner und war sich bewußt, daß dies sicher nicht die Reaktion war, die Kronberger erwartet hatte.
»Geschmack des Verbrauchers!« grollte der Hausherr.
»Was für eine lahme Ausrede! Als ob irgendwer den Geschmack des Käufers wirklich kennen würde, bevor eine Ware auf dem Markt ist.«
Steiner versuchte, das Gespräch wieder auf die Realität zurückzuführen. »Sie sind also ausgestiegen«, resümierte er, »und nach einiger Zeit wurde das Geld knapp. War es so?«
»Wenn wir das Haus verkauft hätten, hätten wir noch Jahre sorglos leben können.«
»Aber das wollte Ihre Frau nicht?«
»Nein.«
Der Hauptwachtmeister verbiß sich die Frage, warum Kronberger nicht selber daran gedacht hatte, eine neue Stellung zu suchen. Er wußte, daß das für einen Mann in diesem Alter – Kronberger konnte nicht jünger als Ende Vierzig sein – nicht einfach gewesen wäre, zumal er offensichtlich große Ansprüche stellte. »Aber warum ausgerechnet Gebäudereinigung?« fragte er statt dessen.
»Sibylle hat nichts gelernt. Sie war sehr jung, als wir geheiratet haben. Die Arbeit wurde gut bezahlt, und sie hatte den Vorteil, daß sie tagsüber für die Familie . . . genauer gesagt: für die Kinder dasein konnte.« Kronberger zuckte die Achseln. »So hat sie es mir jedenfalls erklärt. Machen Sie sich selber einen Reim darauf.« Er leerte sein Glas, überlegte, ob er sich noch einmal einschenken sollte, stellte es dann aber beiseite und griff zu den Zigaretten. Diesmal waren seine Hände ruhig genug, daß er sich selber Feuer geben konnte.
Polizeiobermeister Hertling kam herein.
»Du störst nicht«, sagte sein Vorgesetzter, »ich habe den Eindruck, daß Herr Kronberger alles gesagt hat, was er weiß. Oder?«
»Meine Frau hatte sich in letzter Zeit sehr verändert. Ich kann Ihnen das schwer erklären. Sie . . . sie ließ niemanden mehr an sich herankommen.«
»Der Kaffee ist fertig«, meldete Hertling.
Kronberger drückte seine gerade erst angerauchte Zigarette aus. »Gut. Wir kommen.«
Die Polizeibeamten ließen ihn vorangehen, so daß er die Küche als erster betrat. Beate schmiegte sich an ihn. Die Bewegung wirkte wie der rührende Versuch, Trost zu spenden.
Aber der Vater schob sie von sich. »Keine Szenen jetzt.
Wir sind nicht allein.«
»Aber, Vater . . .«
»Die Geschichte ist fatal genug. Es ist nicht nötig, daß wir uns noch zusätzlich bloßstellen.« Er setzte sich und forderte die anderen mit einer fahrigen Bewegung auf, ebenfalls Platz zu nehmen.
Beate goß Kaffee ein. Der Tisch war hübsch gedeckt wie zu einem gemütlichen Familienfrühstück. Aber nur Kronberger aß, er tat es sogar mit Heißhunger. Beate beobachtete es mit Verwunderung. Steiner verstand, daß er versuchte, den allzu schnell auf nüchternen Magen getrunkenen Alkohol auf diese Weise zu neutralisieren.
»Aber, bitte, greifen Sie doch zu!« ermunterte Beate die beiden Beamten. »Sie müssen hungrig sein.«
Sie wären der Aufforderung gern gefolgt, lehnten aber ab, weil es ihnen unpassend schien, es sich in Gegenwart der vom Schicksal getroffenen Familie schmecken zu lassen, und hielten sich an den Kaffee.
»Sie sollten etwas zu sich nehmen, Fräulein Kronberger!« mahnte Hertling.
»Ich weiß.« Sie lächelte schwach. »Aber der Magen ist mir wie zugeschnürt.«
Hertling bestrich eine Scheibe Brot mit Butter, befand, daß Wurst oder Schinken im Augenblick nicht das richtige für Beate sein konnten, bestreute sie mit Salz und schnitt sie in kleine Häppchen. So hatte seine Mutter es gemacht, als er noch klein war. »Bitte!« sagte er und wechselte mit ihr den Teller.
»Aber nur, wenn Sie auch etwas essen.«
»Gut. Das mache ich. Aber nur, wenn Sie mit gutem Beispiel vorangehen.«
Beate schob sich eines der Häppchen in den Mund und begann tapfer zu kauen. Es ging besser, als sie gedacht hatte.
»Wieso gibt es eigentlich Aufschnitt zum Frühstück?« fragte Kronberger plötzlich. »Nur weil die Polizei im Haus ist?«
»Ja, Vater, nur deshalb!« Beate stiegen Tränen in die Augen.
Hertling dachte, daß es ihr sicher guttäte, wenn sie sich ausweinen könnte, hoffte dennoch, daß es nicht passierte. Beate beherrschte sich, hörte aber auf zu essen. Hertling drängte sie nicht weiter, denn er verstand es.
Kronberger klopfte seinen Jogginganzug ab, offensichtlich auf der Suche nach Zigaretten. Hertling stand auf, ging ins Wohnzimmer und brachte ihm die silberne Dose und das Tischfeuerzeug.
»Danke, sehr liebenswürdig.« Er zündete sich eine Zigarette an, seine Hände zitterten nur noch leicht. »Und nun, meine Herren, ist es wohl Zeit, daß Sie uns verlassen. Weitere Auskünfte kann ich Ihnen nicht geben.«
Steiner wandte sich an Beate. »Sie wissen auch nicht, für welche Firma Ihre Mutter gearbeitet hat?«
Das junge Mädchen schüttelte den Kopf.
»Hat sie denn niemals mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Ich weiß nicht. Es tut mir leid. Ich kann mich nicht erinnern. Vielleicht habe ich auch einfach nicht zugehört.«
»Wenn Sie erlauben, Herr Kronberger, würde ich mir gern mal die Papiere Ihrer Frau ansehen«, bat Hertling.
»Was für Papiere?«
»Was man so hat. Kontoauszüge . . .«
»Meine Frau hatte kein eigenes Konto.«
»Vater! Rede doch nicht so, als ob sie tot wäre! Wir wissen ja noch gar nichts Genaues!«
»Natürlich haben wir keinen Hausdurchsuchungsbefehl oder so etwas«, sagte Hertling, »ich verlasse mich auf Ihr Entgegenkommen, Herr Kronberger. Aber wenn Sie uns jetzt Einblick in die Unterlagen geben könnten, brauchten wir Sie nicht wieder zu belästigen.« Bedeutungsvoll fügte er hinzu: »Auch nicht die Kriminalpolizei.«
Kronberger wechselte die Farbe. »So weit ich es bis jetzt verstehe, handelt es sich um einen simplen Unfall.«
»Simpel bestimmt nicht, bevor die . . .« er stockte und verbesserte sich: ». . . das Opfer nicht unzweifelhaft identifiziert und die Todesursache festgestellt worden ist, das müssen Sie doch verstehen. Je schneller wir Klarheit haben, desto besser für alle Beteiligten.«
»Sie glauben, daß Sie die Todesursache aus irgendwelchen ominösen Papieren herausschnüffeln können?« fragte Kronberger mit einem Anflug von Ironie, der geradezu zynisch wirkte.
Hertling blieb gelassen. »Das ist Aufgabe von Professor Spahn vom kriminalmedizinischen Institut. Aber es würde uns ein gutes Stück weiterhelfen, wenn wir die Firma wüßten, bei der Ihre Frau gearbeitet hat . . . und die Adresse ihres Zahnarztes.«
»Die weiß ich!« erklärte Beate rasch.
»Ja?« Hertling zog sein Notizbuch und zückte einen Bleistift.
»Doktor Herbert Wörner, Effnerstraße.«
»Danke.«
»Und wenn Mutter irgendwelche Unterlagen hat, dann sind sie bestimmt in ihrem Schreibtisch.«
»Würden Sie ihn mir bitte zeigen, Herr Kronberger? Ich versichere Ihnen, ich werde nichts anrühren, was nicht unmittelbar mit dem Fall zu tun hat. Sie dürfen mir ruhig auf die Finger schauen.«
»Nein!« sagte Kronberger spontan, aber der unbewegte Blick des jungen Polizeibeamten brachte ihn dann doch dazu, nachzugeben. »Schließlich . . . warum auch nicht?
Nur lassen Sie mich dabei aus dem Spiel. Ich will mich jetzt endlich duschen und umziehen. Meine Tochter ist bestimmt gern bereit, Ihnen alles zu zeigen, was Sie sehen wollen.« Er übersah den Porzellanaschenbecher, den Beate ihm hingeschoben hatte, drückte seine Zigarette auf dem benutzten Teller aus, stand auf und verließ grußlos die Küche.
»Sie müssen das verstehen«, sagte Beate entschuldigend, »mein Vater ist sonst nicht so. Diese Geschichte hat ihn aus dem Gleichgewicht geworfen.«
Der Schreibtisch von Sibylle Kronberger stand in ihrem Schlafzimmer; ein zierliches Möbel mit geschwungenen Beinen aus rötlich schimmerndem, poliertem Holz. Daneben, nicht davor, prunkte ein Backensessel unter einer Stehlampe mit einem Schirm aus plissierter rosa Seide. Die Ecke sah aus, als hätte Sibylle Kronberger sich dorthin zurückgezogen, wenn sie allein sein wollte. Die Platte des Schreibtisches war leer bis auf eine chinesische Vase mit weißen Seidenblumen. Den Polizeibeamten schwand die Hoffnung, hier interessante Entdeckungen zu machen.
Beate zog die Schublade auf und griff hinein. Es kam eine mit grauem Stoff überzogene Mappe zum Vorschein, deren Ränder gelocht und mit roten Lederstreifen umflochten waren. »Die habe ich gemacht, als ich noch klein war«, erklärte Beate und errötete leicht, als sie die Mappe Hertling übergab.
Er schlug sie auf. Es lagen einige Kassenzettel darin von Einkäufen, die Sibylle Kronberger in den letzten Monaten gemacht hatte. Sie stammten hauptsächlich von Modehäusern, zwei von einem Eisenwarengeschäft. Hertling blätterte sie durch und fand die Kopie einer Zahnarztrechnung vom November vergangenen Jahres. Sie lautete über mehrere tausend Mark.
»Ein ansehnlicher Betrag«, sagte er.
»Mutter hat sich Jacketkronen machen lassen«, erklärte Beate, »wir sind in einer privaten Krankenversicherung.« »Aber die Rechnung ist nicht von dem Zahnarzt, den Sie mir angegeben haben. Wie war doch der Name?«
»Herbert Wörner.«
»Effnerstraße, stimmt’s? Ihre Mutter hat sich von einem Doktor Franz Meissner in der Belgradstraße behandeln lassen.«
»In Schwabing? Das habe ich nicht gewußt.«
»Vielleicht haben Sie es einfach vergessen. Es hatte ja keine große Bedeutung.«
»Nein. Ich bin sicher, daß sie nicht darüber gesprochen hat, jedenfalls nicht zu mir.«
»Ihre Mutter scheint . . .« Hertling stockte, er hatte sagen wollen »sehr zurückhaltend gewesen zu sein«, verbesserte sich aber jetzt, um Beate zu schonen: »Ihre Mutter ist sehr zurückhaltend, wie?«
»Vielleicht war es meine Schuld.« Das war ihr herausgerutscht, und sie hätte es am liebsten zurückgenommen, aber sein fragender, durchdringender Blick zwang sie zu einer Erklärung. »Na ja, ich fand diese ganze Geschichte ziemlich albern. Ihre Zähne waren gar nicht schlecht, ein bißchen auseinanderstehend, das stimmt. Sie waren ihr als Kind nicht gerichtet worden. Aber sie jetzt noch abschleifen zu lassen, wozu? Schließlich war sie fast vierzig.«
»Und das haben Sie ihr gesagt?«
»Nicht direkt. Ich habe es nur durchblicken lassen.«
»Kann ich die Rechnung mitnehmen?«
»Natürlich!«
Hertling faltete die Kopie zusammen und steckte sie in die Brusttasche zu seinem Notizbuch. Er fuhr mit der Hand in die Schublade und förderte ein farbiges Paßbild zutage. Es zeigte eine Frau mit einem schmalen, gut gezeichneten Mund, großen grünen Augen und hochgestecktem Haar, dessen Blond einige Nuancen goldener war als das Beates. Er nahm an, daß es getönt war.
»Das ist sie«, erklärte das Mädchen überflüssigerweise.
»Sie sehen ihr sehr ähnlich.«
»Ach, aber ich bin ganz anders.«
»Wieso?«
»Sie ist so gewandt, so selbstsicher und auch so . . . es klingt jetzt sicher falsch, wenn ich das sage, aber ich weiß nicht, wie ich es anders ausdrücken soll . . . sie kann sehr hart sein, verletzend.«
»Vielleicht ist sie selber sehr verletzt worden«, sagte Hertling überraschend.
»Nein. Sie ist eine verwöhnte Frau. Mein Vater war immer anständig zu ihr. In unserem Bekanntenkreis ist sie allgemein beliebt. Sie kann witzig und charmant sein, wissen Sie.«
»Ihre Eltern haben einen großen Bekanntenkreis?«
»Früher, ja. Da gab es oft Parties bis in den frühen Morgen.«
Die Polizeibeamten begriffen, daß sich das Leben der Familie Kronberger in den letzten Jahren grundlegend verändert hatte.
»Mutter ist eine Dame, eine wirkliche Dame! Deshalb paßt dieser Tod, wie Sie ihn geschildert haben, überhaupt nicht zu ihr!«
»Aber doch wohl auch nicht, daß sie nachts putzen gegangen ist«, warf Steiner ein.
»Ich glaube, sie hat nicht eigentlich geputzt.«
»Nein?«
»Das war ja eine große Firma. Viele Ausländer arbeiteten dort, Türken und so. Sie hatte die Leitung eines Trupps.«
»Das hat sie Ihnen also erzählt?«
»Ja. Als ich mich wieder einmal sehr über diese unnötige Putzerei aufgeregt habe.«
»Ganz unnötig war sie ja wohl doch nicht«, sagte Hertling sanft, »immerhin hat sie Geld eingebracht.«
»Wir hätten das Haus verkaufen können«, sagte Beate trotzig.
»Das habe ich heute schon einmal gehört«, bemerkte Steiner.
»Es stimmt ja auch. Wofür brauchen wir das Haus? Als wir klein waren, ja, und als meine Eltern noch Gäste hatten. Aber jetzt? Wozu? Ich heirate bald, und mein Bruder ist sechzehn. Was haben die beiden davon, wenn sie dann allein sind in so einem großen Haus? Ich verstehe nicht, warum Mutter es nicht aufgeben will!« Beate war geradezu heftig geworden, ihre Wangen glühten, und ihre grünen Augen schienen Funken zu sprühen.
Die beiden Männer hätten sich nicht gewundert, wenn sie mit dem Fuß aufgestampft wäre.
Hertling verstand jetzt auch, was der goldene Ring mit dem kleinen Diamanten an ihrer linken Hand bedeutete, der so gar nicht zu ihrer sehr einfachen, schulmädchenhaften Aufmachung passen wollte. Aber aus einem Grund, den er selbst nicht kannte, drängte es ihn, sich zu vergewissern.
»Sie sind verlobt?« fragte er.
»Ja, und wir wollen heiraten, gleich nach dem Abitur.«
»Übrigens . . . besitzt Ihre Mutter Schmuck?«
»Ja, sehr schönen sogar. Mein Vater hat ihr viel geschenkt. Aber das ist auch so ein Punkt.«
Die Polizeibeamten warteten auf eine Erklärung.
»Sie will ihn nicht mehr tragen.«
»Und wo bewahrt sie ihn auf?«
»In einem Safe, glaube ich, in der Bayerischen Vereinsbank. Da hat sie übrigens auch gearbeitet, dort und in verschiedenen Bürohäusern von Siemens, aber bestimmt nicht in Daglfing.«
»Darf ich das Foto mitnehmen?« fragte Hertling.
»Ja, natürlich. Wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, was es Ihnen nutzen sollte.«
»Sie haben uns sehr geholfen, Fräulein Kronberger.«
»Sie werden den Fall aufklären, ja?« bat sie flehend.
»Bestimmt«, versprach Hertling.
»Und Sie lassen von sich hören, sobald Sie mehr wissen?«
»Ja.«
»Wann wird das sein?«
»Frühestens Montag.«
Beate begleitete die beiden Männer zur Haustür.
Polizeiobermeister Hertling schloß das Auto auf, stieg ein und öffnete die Tür des Beifahrersitzes von innen.
»Was denkst du?« fragte er, als er anfuhr.
»Es handelt sich bei der Toten natürlich um Sibylle Kronberger.«
»Aber die Kleine ist sich ihrer Sache so sicher.«
»Sie kann sich nicht vorstellen, daß ihrer Mutter das passiert sein könnte. Ich habe so etwas schon oft genug erlebt. Erst wenn sie dann die Leiche sehen, begreifen sie die Wahrheit.«
»Nein.«
»Selbst wenn wir ihr die Überreste zeigen, würde sie nicht ihre Mutter darin erkennen.«
»Sie tut mir leid.«
»Warum? Sie hat ja ihren Verlobten. Der alte Herr wird sich schwerer tun. Wovon soll er jetzt leben?«
»Eine couragierte Frau war sie, die Frau Mama.«
»Da hast du recht. Ich wette zehn zu eins, daß sich ihr Schmuck in keinem Banksafe befindet.«
»Du meinst, sie hat ihn verkauft?«
»Oder beliehen. Was denn sonst? Sie ist doch nur putzen gegangen, weil ihnen das Wasser bis zum Hals gestanden hat. Die Kleine ist noch zu kindlich, um das zu begreifen, was ja durchaus verzeihlich ist. Aber leider ist der Herr Papa auch noch ein großes Kind. Bastelt an seinem Katalysator, anstatt jede Anstrengung zu unternehmen seine Familie zu ernähren.«
Sie bogen in die Effnerstraße ein.
»Wenn ihm der große Wurf gelänge«, stimmte Hertling seinem älteren Kollegen zu, »müßte er ihn auf alle Fälle patentieren lassen, und auch das würde wieder eine Stange Geld kosten.«
»Und verkauft ist er damit noch lange nicht. Die Industrie tritt schließlich auch nicht auf der Stelle.« Polizeihauptmeister Steiner öffnete sich den obersten Kragenknopf. »Jedenfalls bin ich froh, daß wir es überstanden haben. So eine Benachrichtigung der Anverwandten ist immer eine scheußliche Sache.«
»Sie haben sich ziemlich gut gehalten, alle beide.«
»Der Alte, weil ihn das Leben gelehrt hat, immer aufs Schlimmste gefaßt zu sein, und die Kleine, weil sie es noch nicht richtig kapiert hat. Aber was soll’s? Für uns ist die Sache gelaufen.« Steiner schob sich die Mütze in den Nacken. »Machst du einen kleinen Umweg und setzt mich bei mir zu Hause ab?«
»Gern.«
»Ich hau’ mich dann gleich in die Federn.«
»Ich mache lieber erst den Bericht.«
»Willst du befördert werden? Oder dich bei der Kleinen beliebt machen?«
Hertling grinste. »Beides. Bitte, erzähl mir jetzt doch mal genau, was du aus diesem Kronberger herausbekommen hast.«
»Mit Vergnügen. Ist mir sehr viel lieber, als selber einen Bericht zu tippen.«
Beate hatte sich auf einen Küchenstuhl sinken lassen und saß da, ohne sich zu rühren. Sie befand sich in einem seltsamen Zustand. Es war ihr, als gäbe es tausend Sachen zu tun, aber sie konnte sich zu nichts aufraffen. Sie fühlte sich gelähmt, ihr Körper war bleischwer.
Thomas Kronberger kam die Treppe herunter.
Beate hörte seinen schweren Schritt. Sie wollte ihn rufen, wünschte sich, getröstet zu werden, wie er es früher getan hatte, als sie noch ein kleines Mädchen gewesen war. Aber sie brachte keinen Ton heraus.
Die Schritte näherten sich der Kellertreppe, die Tür wurde aufgestoßen, sie wurden immer leiser und verklangen.
Beate war sehr allein.
Verzweifelt versuchte sie, einen Gedanken zu fassen. Aber ihr Gehirn war blockiert. Sie empfand die Leere des großen Hauses als eisige Kälte.
Später, viel später begann sie nach oben zu lauschen. Jetzt mußte die Mutter doch endlich aus ihrem Zimmer kommen. Gleich würde sie in der Küche sein. Beate glaubte schon, ihre Vorwurfsvolle Stimme zu hören: »Hast du es nicht einmal für nötig gefunden, den Tisch abzudecken?« Aber es war nicht die Stimme der Mutter. Beate begriff, daß sie mit sich selber sprach. Sie schüttelte den Kopf, um den Nebel, der sie umfing, zu vertreiben.
»Mutter ist nicht da«, sagte sie laut, »begreif es doch endlich! Sie ist heute nacht nicht nach Hause gekommen.« Sie wollte hinzusetzen: Sie kommt nie wieder. Aber das konnte sie nicht aussprechen, das konnte sie nicht einmal denken.
Mutter im weißen Kittel stand am Herd, die blaue Baumwollschürze um die schlanke Taille gebunden, das war ein Bild, das sie sich leicht vor Augen zaubern konnte. Aber daß die Mutter nie mehr, nie, nie mehr die Küche, das Wohnzimmer, das Haus betreten sollte, das war für sie unvorstellbar.
Als der Vater hereinkam, sah sie ihn aus leeren Augen an, ohne ihn wirklich wahrzunehmen.
»Was ist los mit dir?« Als sie nicht antwortete, legte er ihr die Hand auf die Schulter und schüttelte sie leicht. »Was ist?«
Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus.
Er ging zum Kühlschrank, nahm eine Flasche Mineralwasser heraus, füllte ein Glas und brachte es ihr. »Da, trink!« Warum gibt mir heute dauernd jemand Wasser zu trinken? schoß es ihr durch den Kopf, und es war, als würde dieser Gedanke eine Sperre lösen.
»Danke«, sagte sie und trank.
»Ich weiß, es ist ein Schock für dich, aber du mußt dich zusammenreißen.«
»Ja, Vater.« Sie stellte das Glas ab.
Er begann den Tisch abzuräumen. Das hatte er sonst nie getan, und es machte die Situation für sie noch unwirklicher. Er machte es geschickt, versorgte die Butter und den Rest des Aufschnitts im Kühlschrank, räumte Teller, Tassen und Besteck in die Geschirrspülmaschine.
»Ich wußte gar nicht, daß du das kannst«, sagte sie benommen.
»Ich war lange genug Junggeselle, bevor . . .« Er brach ab.
»Na ja. Soll ich heute kochen?«
»Ich mag nichts essen.«
»Unsinn. Du mußt. Was soll es denn geben?«
»Steaks.«
»Darin bin ich Meister.« Mit einem Blick auf das versteinerte Gesicht seiner Tochter fügte er hinzu: »Ich brate dir deins ganz durch.« Er machte den Kühlschrank auf, nahm die Steaks heraus und sagte: »Da haben wir ja auch Salat.« Er legte einen Kopfsalat auf das Abflußblech der Spüle. »Putz ihn mir, bitte!«
Sie kam kaum vom Stuhl hoch, so schwer waren ihre Glieder. Aber als sie sich dazu überwand, den Salat auseinanderzuzupfen, begann es ihr besserzugehen. Zuerst tat sie es nur mechanisch, aber dann begriff sie, daß dies eine vernünftige und nützliche Beschäftigung war, etwas Reales, an das man sich halten konnte. »Die äußeren Blätter«, sagte sie, »werfe ich in den Mülleimer«, und sie freute sich, daß sie so etwas Kluges sagen konnte.
»Du machst das sehr gut«, lobte er sie, als wäre sie eine Zweijährige, »kannst du auch eine Zwiebel schneiden?«
»Zwiebelschneiden?« wiederholte sie. »Ja.« Sie nahm eine Zwiebel, ein Brettchen und ein Messer und war froh, eine weitere komplizierte Tätigkeit meistern zu können.
»Wo ist Udo?« fragte er.
»Ich weiß es nicht.« Sie strengte sich an nachzudenken.
»Er ist zum Fußballspielen gegangen. Er kommt nicht zum Mittagessen.«
Der Zornausbruch, der unter normalen Umständen jetzt gekommen wäre, blieb aus. »Treibt er sich also wieder mal herum«, sagte Thomas Kronberger nur, »macht nichts. Wir zwei kommen auch allein miteinander aus.«
Jetzt erst sah sie ihn richtig an. Er trug, wie meist, seit er nicht mehr in der Stadt arbeitete, keine Krawatte, sondern ein am Hals offenes Leinenhemd über der Hose. Er war blasser als gewöhnlich, die Falten zwischen Nase und Mund hatten sich vertieft, aber sonst sah er wie immer aus. Er war sorgfältig rasiert und hatte sich am Kinn geschnitten.
Er bemerkte ihren Blick. »Ja?« fragte er.
»Sie wird doch wiederkommen?« fragte sie. »Das glaubst du doch auch, Vater?«
»Nein«, antwortete er hart.
»Aber die Polizisten haben gesagt . . .«
Er unterbrach sie. »Es hat keinen Sinn, den Kopf in den Sand zu stecken, Beate. Wir müssen uns den Tatsachen stellen. So ein plötzlicher Tod ist eine schlimme Sache. Aber für sie war es wahrscheinlich sogar besser, als im Bett zu sterben, etwa an Krebs, wie ihre Freundin Inge.«
»Aber Inge war doch lange krank, man wußte seit langem, sie selber auch . . .« stammelte Beate.
»Wir hätten auch auf einen Unglücksfall gefaßt sein müssen. Deine Mutter war Nacht für Nacht außer Haus. Nacht für Nacht mit dem Auto unterwegs . . .«
»Sie war die vorsichtigste Fahrerin, die ich kenne!«
»Ja, das war sie wohl«, gab er zu, »aber sie hätte übermüdet sein können.«
Beates Aufmerksamkeit erwachte. »Wann genau ist es eigentlich passiert? Ich glaube, das haben sie mir gar nicht gesagt . . . oder ich habe es vergessen.«
»Gegen Mitternacht. Kurz nach zwölf ist die Polizei alarmiert worden.«
»Aber da kann sie doch gar nicht unterwegs gewesen sein!«
»Sie war es.«
»Nein, Vater, nein!«
»Willst du mir einen Gefallen tun, Beate?«
»Natürlich.«
»Sprich nicht mehr über dieses Thema!«
»Warum nicht?«
»Ich kann es nicht hören. Deine Mutter ist umgekommen. Ich weiß es. Mit Redereien machen wir sie nicht wieder lebendig.«
»Aber die Umstände sind doch völlig ungeklärt!«
»Darauf kommt es nicht an. Wenn ich jetzt plötzlich tot umfallen würde, würdest du auf einer Autopsie bestehen? Sicher nicht. Du würdest wissen, daß ich tot bin, und das würde dir genügen.«
Er hatte die Steaks gewaschen und gewürzt; jetzt stand er da und rührte eine Sauce für den Salat an. Er tat es hingebungsvoll, steckte hin und wieder den Zeigefinger hinein und leckte ihn ab, als ob es wichtig wäre, daß es eine besonders gute Sauce würde.
Beate starrte ihn an und verstand ihn nicht mehr.
Er nahm ihr das Brettchen mit den würflig geschnittenen Zwiebeln ab und strich sie mit dem Küchenmesser in die Sauce. »Wenn du aufhörst, darüber zu reden und zu grübeln, wirst du dich damit abfinden. Das kommt ganz von selber, glaub mir. Es braucht nur seine Zeit.« Er schob die Steaks in den Mikrowellenherd.
»Dieser Tod«, sagte Beate, außerstande, sich zu bremsen, »er paßt nicht zu Mutter. Spürst du das denn nicht? Ein solcher Tod auf einer einsamen Straße, mitten in der Nacht, kann ihr einfach nicht zugestoßen sein. Es ist nicht möglich.«
»Alles ist möglich. Wenn du erst so alt bist wie ich, würdest du es wissen. Also, bitte, hör auf damit.«
»Liegt dir denn gar nichts mehr an ihr?«
»Sie ist tot. Wir werden um sie trauern, wie es sich gehört. Aber das Leben muß weitergehen. Überleg dir lieber, wie du es Artur beibringen willst.«
»Daran«, sagte Beate, »habe ich noch gar nicht gedacht.« Es war ihr, als würden die Beine unter ihr nachgeben, und sie wankte zu einem Stuhl.
»Wie es weitergehen soll«, erklärte er, »nur das ist jetzt Wichtig.«
»Ich habe ihm nie gesagt, daß Mutter nachts außer Haus gearbeitet hat.«
»Das ist auch völlig richtig so. Von einem korrekten Mann wie Artur kannst du kein Verständnis für derlei Eskapaden erwarten.«
»Sie hat es für uns getan.«
»Es war nicht nötig, und du weißt, daß ich absolut dagegen war. Wir hätten das Haus verkaufen können.«
Überraschend begann ihr Verstand wieder zu arbeiten; eine jähe Hellsichtigkeit überfiel sie, die sie selber erschreckte. »Hätten wir das wirklich?« fragte sie. »Ist das Haus nicht mit Hypotheken belastet?«
»Das ist keine Frage, die dir zusteht.«
»Doch. Ich muß es jetzt wissen. Ich will rauskriegen, warum das alles passiert ist. Ich habe viel zu lange die Augen zugemacht und die Dinge treibenlassen. Sag mir die Wahrheit!«
»Nun ja, den vollen Wert hätten wir nicht erzielt, aber immerhin genug, um einige Jahre davon zu leben.«
»Und dann?«
»Inzwischen wäre meine Erfindung fertig geworden und verkauft.«
»Und wenn nicht?«
»Jetzt redest du ganz wie deine Mutter!«
»Mit voller Absicht. Ich versuche, mich in sie hineinzuversetzen und ihre Überlegungen nachzuvollziehen.«
»Das ist kein Kunststück.« Er mengte mit bloßen Händen den Salat und verteilte ihn auf zwei Teller, dann wusch er sich die Hände ab. »Sie war eine Frau, die in Sicherheit leben wollte. Als ich ihr die nicht mehr bieten konnte, hat sie Platzangst bekommen. Sie hätte lieber einen Beamten heiraten sollen.«
»Platzangst? Sie hat doch immerhin die Initiative ergriffen.«
»Und wir wissen jetzt, wohin das geführt hat. Ich habe so etwas übrigens kommen sehen, hatte immer ein ungutes Gefühl.«
»Und du konntest es nicht verhindern?«
»Wie denn? Die Frauen haben längst aufgehört, ihren Männern zu gehorchen.«
Erst jetzt kam ihr der Gedanke, daß er es mit Worten wohl nicht hätte bewenden lassen, sondern sich selber hätte eine Arbeit suchen müssen, irgendeinen Gelderwerb, auch wenn er seinen Ansprüchen nicht genügt hätte. Sie sprach es nicht aus, weil sie ihn nicht verletzen wollte. Aber sie verstand nicht mehr, daß sie früher nie so gedacht und es als selbstverständlich hingenommen hatte, daß die Mutter sie ernährte.
»Arme Mutter«, sagte sie.
Er zuckte die Achseln. »Sie war selber schuld.«
Plötzlich wurde es Beate unerträglich, sich von ihrem Vater bedienen zu lassen. Sie raffte sich auf, stellte die Teller mit dem Salat auf den Tisch, legte Besteck und Servietten auf. Er nahm die Steaks aus dem Mikrowellenherd.
»Jetzt werden wir das Haus also verkaufen?« fragte sie, als sie beide am Tisch saßen.
»Ich halte das für die beste Lösung.« Mit einem schwachen Lächeln fügte er hinzu: »Du wirst ja auch eine Mitgift haben wollen.«
»Ich glaube nicht, daß Artur damit rechnet.«
»Eine Frau hat einen besseren Stand in der Ehe, wenn sie nicht mit leeren Händen kommt.«
»Hatte Mutter eine Mitgift?« forschte Beate, die früher nie an so etwas gedacht hatte.
»Ja.«
»Wie hoch?«
Er wich ihr aus. »Es waren Aktien von Daimler-Benz. Wir haben sie in dieses Haus gesteckt. Aber das sind alte Geschichten. Sag mir lieber, wie es dir schmeckt.«
Obwohl Beate keinen Appetit hatte und das Essen mühsam in kleinen Häppchen herunterbrachte, sagte sie: »Wunderbar!« Das war keine Lüge, denn sie war sicher, daß sie es bei einer anderen Gelegenheit sicher genossen hätte. »Warum hast du eigentlich früher nie gekocht?«
»Bei zwei Frauen im Haus?«
»Ich bin morgens in der Schule.«
»Und deine Mutter ist immer um elf heruntergekommen und hat es sehr gut allein geschafft.«
»Vielleicht wäre es für sie doch eine Erleichterung gewesen.«
»Sie hat mich nie darum gebeten.« Er tätschelte ihre Hand. »Aber unbesorgt, von jetzt an werde ich mich darum kümmern. Das Kartoffelschälen und Gemüseputzen möchte ich allerdings dir überlassen. Das kannst du jeweils am Tag zuvor machen.«
»Sicher. Kein Problem.« – Nein, dachte sie, es ist wirklich kein Problem, wie wir das tägliche Leben ohne Mutter organsieren sollen. Irgendwie wird es schon gehen. Das Problem ist nur, daß ich nicht verstehe, wie ihr das zustoßen konnte, und daß ich es wissen muß, und daß er überhaupt nicht daran interessiert ist.
Später saß Beate in ihrem Zimmer, einem kleinen Raum mit schrägen, holzverkleideten Wänden im Obergeschoß des Hauses, das sie mit ihrem Bruder teilte. Bücher und Hefte stapelten sich vor ihr auf dem Schreibtisch. Aber sie wollte nicht arbeiten. Sie hätte es gekonnt, ihr Schock war überwunden. Vielleicht hätte die Beschäftigung mit dem Lehrstoff ihr sogar gutgetan und sie abgelenkt. Aber das wollte sie nicht. Sie wollte ihre Fassungslosigkeit und Erschütterung bewußt verarbeiten.
Sie fühlte sich nicht frei von Schuld. Schon im Gespräch mit den Polizeibeamten war ihr deutlich geworden, wie wenig sie in den letzten Jahren über ihre Mutter gewußt, wie wenig sie sich noch für sie interessiert hatte. Früher einmal, und die Erinnerung überwältigte sie, waren sie doch so gute Freundinnen gewesen. Aber unmerklich war der Abstand immer größer geworden. Ständig hatte sie die Mutter, wenn auch meist unausgesprochen, kritisiert. Ihre kühle Art dem Vater gegenüber hatte sie gestört und auch ihre Bereitschaft, rasche Entscheidungen zu treffen, ohne lange nachzudenken oder gar darüber zu diskutieren. Beate war überzeugt gewesen, daß die Mutter den Vater nicht richtig behandelte und daß sie allein verantwortlich war für die Spannungen in der Familie.
Aber allmählich sah sie die Mutter in einem anderen Licht. Sie hatte sich in den Kampf für ihr Heim und ihre Familie geworfen, während er sich in der Rolle des Paschas gesonnt und die Verantwortung abgegeben hatte. Jetzt, nachträglich, fand Beate es nur natürlich, daß die Mutter eine gewisse Gereiztheit und Ungeduld nicht hatte unterdrücken können, auch ihr gegenüber nicht. Beate bereute, daß sie die Mutter zu selten und fast nie freiwillig im Haus entlastet und meist einen Vorwand gefunden hatte, sich hinter ihre Bücher zurückzuziehen.