Keine Spur von Samuel Walthers - Michael Laß - E-Book

Keine Spur von Samuel Walthers E-Book

Michael Laß

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Beschreibung

In Burbanks, einer Klainstadt im Nordwesten Kanadas, erstattet Mrs. Ethel Puttington bei der Royal Canadian Mounted Police eine Vermisstenanzeige. Sie hat ihren Nachbarn seit Wochen nicht mehr gesehen. Die Kriminalbeamtin Sandra Vane und ihr Assistent Ronny Sunderland nehmen die Ermittlungen auf. Alle Nachforschungen der Polizisten führen ins Leere. Wer ist Samuel Walthers? Woher kommt er? Was will er im abgelegenen Burbanks? Feststeht, dass er zuletzt am örtlichen Flughafen gesehen worden ist. Dort verliert sich seine Spur. Der Charterpilot, Harry WInston, weiß etwas. Warum streitet er ab, Walthers an jenem Tag gesehen zu haben? Bevor Sandra Vane und Ronny Sunderland ihn eingehend vernehmen können, wird Harry Winston ermordet. Im Laufe der Ermittlungen spielen ungeklärte Flugzeugabstürze und ein schwarzer Trans Am eine wichtige Rolle. Solide Polizeiarbeit, Insiderwissen und Sandra Vanes Talent, Wespennester aufzuspüren, führen dazu, dass sich die Ereignisse in Burbanks überschlagen.

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Die Handlung und deren Orte sowie die handelnden Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 1

Dicke, dunkelgraue Regenwolken hingen über dem Nordwesten der kanadischen Provinz Alberta. Sie verhüllten die bewaldeten Hügel, die Burbanks umgaben. Detective Inspector Sandra Vane stand am Fenster ihres Büros in der Polizeistation Burbanks und blickte hinaus. Auf den Bürgersteigen der Main Street der malerischen Kleinstadt sah sie nur wenige Passanten. Das wunderte sie nicht.

Das Schrillen des Telefons schreckte Sandra auf. Sie nahm den Hörer ab und meldete sich. Aufmerksam hörte sie der gedämpft klingenden Stimme zu. Bevor sie die erste Frage stellen konnte, wurde die Verbindung getrennt. Sandra legte den Hörer sehr langsam auf den schwarzen Apparat zurück. Sekunden lang starrte sie das Telefon an. Hatte sie das Gespräch soeben tatsächlich geführt, oder war es nur ein Tagtraum gewesen? Normalerweise litt die 35 Jahre alte Kriminalinspektorin der CID Burbanks nicht unter Halluzinationen. Das, so stellte sie fest, hatte sich in den vergangenen Minuten auch nicht geändert.

Sandra Vane gehörte nicht zu den Frauen, die dem Idealbild der Werbespots entsprachen. Sie war mittelgroß und trug ihre blonden Haare kurzgeschnitten. Jeans und Poloshirts waren ihre bevorzugte Kleidung, unter der sie die kleinen Polster für schlechte Zeiten verbarg. Dazu trug sie Lederjacken und Sportschuhe. Die weichen Linien ihres Gesichts und die blauen Augen verrieten nichts über ihren Scharfsinn und ihre kriminalistischen Fähigkeiten. Der Leiter des Morddezernats Toronto, Chief Superintendent Dave Harper, attestierte ihr eine ausgeprägte Neigung zum Aufspüren von kriminellen Wespennestern.

Ronny Sunderland, ein junger Streifenpolizist der Royal Canadian Mounted Police, hatte an die gläserne Tür ihres Büros geklopft. Sandra blickte auf. Sie winkte ihn herein. Die dunkle Uniform stand dem schlanken Mann gut. Seine kurzen, dunklen Haare trug er sauber gescheitelt. Ronny wirkte auf seine Mitmenschen verschlossen. Die blauen Augen verrieten seine Gedanken ebenso wenig wie sein glatt rasiertes Gesicht.

„Was gibt’s, Ronny?”, fragte sie.

„Sorry, ich wollte nicht stören, während du telefonierst.” Er blieb an der geöffneten Tür stehen. „Wir haben gerade einen Anruf von Mrs. Puttington aus 26 Park Lane erhalten. Sie sagte, ihr Nachbar, Samuel Walthers, wäre seit über zwei Wochen nicht in seinem Haus gewesen. Am 2. Juni hat sie ihn zuletzt gesehen. Wenn er längere Zeit verreise, sage er ihr sonst immer Bescheid. Sie macht sich Sorgen, dass ihm etwas passiert ist.”

Sandra schaute auf ihr Handy. Das Display zeigte den 21. Juni an. Dieser Walthers war also 19 Tage nicht mehr gesehen worden. Eigentlich nichts Besonderes. Sandra dachte jedoch an den merkwürdigen Anruf.

„Walthers? Der Name sagt mir etwas”, antwortete Sandra, „hatte sich nicht mal jemand über ihn beschwert?”

„Das war Doktor Short.“ Ronny schloss hinter sich die Tür. „Walthers wollte Informationen über den Gesundheitszustand von Harry Winston, einem der hiesigen Charterpiloten. Der Doktor weigerte sich mit Hinweis auf die ärztliche Schweigepflicht. Zwei Nächte später wurde Short zu einem Notfall ans andere Ende der Stadt gerufen. Aber dort gab es keinen Patienten, der seiner Hilfe bedurfte. Zurück in der Praxis stellte er fest, dass man bei ihm eingebrochen hatte. Es fehlte nichts und es war auch nichts durcheinander. Short beschuldigte Walthers den Einbruch verübt zu haben, um an die Krankenakte von Winston zu kommen. Der war jedoch zum fraglichen Zeitpunkt in Yellowknife zu einer Besprechung mit einem Kunden.”

„Sicher?”

„Wir haben das nachgeprüft. Der Kunde hat es bestätigt.”

„Das war bevor ich versetzt wurde oder?”

„Genau. Wir hatten keinen Kriminalbeamten. Superintendent Green und ich haben die Sache bearbeitet. Wir haben alles dokumentiert. Soll ich die Akte holen?”

„Tu das, Ronny. Danach fahren wir zu Mrs. Puttington. Hat sie einen Schlüssel zum Haus von Walthers?”

„Sie sagte, er habe ihn ihr vor einiger Zeit gegeben.”

„Okay, also zuerst die Akte.” Sandra kam hinter ihrem abgewetzten Behördenschreibtisch hervor.

„Ich hole mir einen Kaffee, falls es welchen gibt.”

Sandra nahm ihren Becher vom Sideboard und ging zur Teeküche. Die blonde Inspektorin liebte Kaffee über alles und führte mit großem Abstand die Strichliste neben der Maschine an. Sie trank kaum etwas anderes. Diese Eigenheit hatte sie von ihrem Vater übernommen.

Die mittelgroße Frau war in Burbanks zur Welt gekommen. Nach ihrer Schulzeit hatte sie sich bei der RCMP beworben und war genommen worden. Die Auswahlkommission hatte ihre Stärken erkannt. Ihre außergewöhnliche Beobachtungsgabe, ihre Kombinationsfähigkeit und ihr sehr gutes Gedächtnis waren ideale Voraussetzungen für eine Kriminalbeamtin. So wurde Sandra nach dem Grundstudium an der Polizeihochschule zur CID, der Criminal Investigation Division, versetzt. Ihre Ausbildung wurde um den Zweig Kriminalistik erweitert. Nach der Ausbildung war sie in Edmonton, Winnipeg und Toronto beim jeweiligen Morddezernat eingesetzt worden. Vor drei Monaten war sie auf eigenen Wunsch in ihre Heimatstadt zurückgekehrt.

Eigentlich, so gestand sie sich in manch stiller Stunde ein, war sie nie wirklich aus Burbanks weggegangen. Ihren Urlaub und die freien Wochenenden hatte sie bei ihrem Vater im geliebten Norden verbracht.

Sandra hatte ein ziemliches Päckchen zu tragen. Ihre Eltern hatten sich getrennt, als sie ein Schulkind gewesen war. Während ihre Mutter mit ihrem neuen Partner in ihre Heimatstadt Quebec gezogen war, hatte ihr Vater seine Anwaltskanzlei in Burbanks behalten. Vor einigen Monaten hatte man bei ihm Demenz diagnostiziert, woraufhin er die Kanzlei aufgegeben und sich in sein Haus am See zurückgezogen hatte. Das Personalbüro der RCMP war auf ihr Gesuch um Versetzung nach Burbanks mit dem Angebot, den verwaisten Posten des CID-Inspectors zu übernehmen, eingegangen. Sie hatte sofort zugesagt. Seither lebte sie mit ihrem Vater in ihrem Elternhaus.

Sandra kehrte in ihr Büro zurück und ließ sich wieder auf ihrem Schreibtischstuhl nieder. Ihre Hände umklammerten den Kaffeebecher, während sie auf die Rückkehr von Ronny Sunderland wartete. Sie mochte den Jungen, der seine Ausbildung vor einigen Monaten beendet hatte. Sie kannte ihn und seine Eltern, die in der Main Street einen Supermarkt betrieben, seit ihrer Schulzeit.

Sandra blicken auf, als Ronny ins Büro zurückkehrte. Er legte ihr einen Aktendeckel auf den Tisch.

„Das ist die Akte, Sandra. Mehr haben wir nicht.” Er blieb vor dem Schreibtisch stehen. „Ich könnte versuchen, mehr über diesen Walthers herauszukriegen. Vielleicht hilft ja die Datenbank in der Zentrale weiter.”

„Warte mal bitte und setz dich!” Sandra studierte die Akte aufmerksam. Ronny hatte alles vollständig und korrekt zusammengefasst. „Hat Walthers bei anderen Ärzten versucht Informationen über Winston zu erhalten?”

„Nein, das haben wir geprüft. Komischerweise war er nur bei Dr. Short. Vielleicht war der ganz oben auf seiner Liste.”

„Glaubst du das?”

„Wenn ich ehrlich bin, nein. Hat mich damals auch gewundert. Da kein Hinweis auf einen Diebstahl vorlag, haben wir die Sache nicht weiter verfolgt.”

„Wir fahren erstmal zu Mrs. Puttington.” Sandra schloss die Akte in ihrem Schreibtisch ein. „Ist sie immer noch so furchtbar neugierig?”

„Und ob! Sie trägt den Spitznamen Burbanks News. Ich wundere mich, dass dieser Walthers gerade ihr den Schlüssel zu seinem Haus gegeben hat. Er wohnte zwar erst neun Monate hier, aber von Mrs. Puttington muss selbst er gehört haben.” „Eigentlich schon”, stimmte Sandra zu, „Mrs. Puttington war früher schon berüchtigt. Wenn wir zurück sind, setzt du dich an den Computer. Vielleicht erfahren wir über die Auskunfts-Datenbank etwas über diesen Herren.”

Sandra stand auf und schlüpfte in ihre hellbraune Lederjacke. Aus der Schublade nahm sie ihre Dienstwaffe, eine 9mm Browning, und schob sie ins Holster.

„Wahrscheinlich brauche ich sie nicht“, erklärte sie dem erstaunt dreinschauenden Kollegen, „aber seit meiner Zeit in Winnipeg habe ich es mir so angewöhnt.”

„Braucht man eine Waffe in Winnipeg?”

„Manchmal schon. Wenn Rauschgift im Spiel ist, muss man auf alles gefasst sein. Manche Junkies flippen bei der Festnahme total aus.”

„habe ich schon mal im Fernsehen gesehen. Sah krass aus.”

„Das war nur gestellt, Ronny.” Sandra schloss die Bürotür hinter sich. „Wir nehmen meinen Dienstwagen. Du fährst.”

*

Die Park Lane lag im Nordosten von Burbanks. Das ruhige Wohngebiet gehörte zu den älteren Ortsteilen. Die Eigentümer der Einzelhäuser waren überwiegend Leute, die hier seit vielen Jahren lebten. Sorgfältig angelegte und gepflegte Vorgärten bestimmten die Gegend.

Ronny ließ den zivilen Dienstwagen im Schritttempo über den Asphalt rollen. Vor dem Haus Nummer 26 hielt er am Bordstein an.

„Da sind wir“, sagte er und öffnete die Tür, „Mr. Walthers wohnt ein Haus weiter.“

Sandra stieg aus dem Wagen und schaute zum Nachbargrundstück. Der gepflegte Rasen und die mit Blumenbeeten eingefassten Betonplattenwege fielen ihr auf. Mr. Walthers legte Wert auf ein gepflegtes Grundstück.

Mrs. Ethel Puttington öffnete mit dem ersten Klingeln die grau gestrichene Haustür. Sie musste auf die Ankunft der beiden Polizisten gewartet haben.

„Ah, du hast gleich die Kriminalpolizei mitgebracht, Ronny”, sagte sie in ihrer aufdringlich hohen Stimme zu Sandras Begleiter. „Wird meine Meldung also mal ernst genommen.”

„Jede Anzeige wird von uns ernst genommen, Mrs. Puttington”, antwortete Sandra gezwungen freundlich. „Ich bin Detective Inspector Vane.”

„Ich weiß, dass Sie den Posten gekriegt haben”, erwiderte Mrs. Puttington, „es wundert mich, dass sie eine Frau hergeschickt haben.”

Mrs. Puttington bat die beiden ins Haus. Durch einen dunklen Flur führte sie die Besucher in ein kleines Wohnzimmer. Die Möbel stammten eindeutig aus vergangenen Tagen. Die heimelige Atmosphäre schufen eine Schrankwand in Eiche rustikal, eine grüne Polstergarnitur im Plüschlook, ein dicker, dezent gemusterter Teppich und ein auf Hochglanz polierter Tisch. Die Spitzengardinen und die schweren, gemusterten Vorhänge vervollständigten den angestaubten Charme der Vergangenheit.

Mrs. Puttington stand ihrer Einrichtung in nichts nach. Sandra schätzte sie auf etwa 70 Jahre. Sie war hager und ihre gelockten, grauen Haare rührten sich bei keiner Bewegung. Sie trug zu ihrem Tweedrock ein schlichtes, grünes Twinset.

Eine Perlenkette ergänzte ihr Outfit. Sandra roch Lavendel Parfüm, offenbar Mrs. Puttingtons bevorzugte Duftnote.

„Darf ich ihnen einen Kaffee anbieten?”, fragte Mrs. Puttington, als sie die Gäste auf die Polstergarnitur gebeten hatte. „Ich habe immer handgefilterten Kaffee vorrätig.”

Sandra hatte Bedenken, dass der Kaffee auch nach Lavendel schmecken würde. Sie wollte höflich sein und nahm das Angebot dankend an. Ronny folgte ihrem Beispiel. Sandra wusste, er war kein Kaffeetrinker. Daher rechnete sie ihm sein Verhalten hoch an.

Mrs. Puttington verließ das Zimmer. Dezentes Geschirrklappern war aus der Küche zu hören..

„Jetzt holt sie bestimmt das gute Sonntagsgeschirr aus dem Schrank”, murmelte Ronny grinsend. „Mein Vater sagt, dass der von ihr bestellte Kaffee mit dem Getränk nur den Namen teilt. Muss irgendein besonders milder Schonkaffee sein.”

Nachdem ihre Gastgeberin den Kaffee in kleinen Tassen mit Untertassen serviert hatte, eröffnete Sandra das Gespräch.: „Mrs Puttington, Sie haben auf der Polizeistation das Verschwinden Ihres Nachbarn, Samuel Walthers, gemeldet Sie gaben an, Mr. Walthers würde Ihnen eine Nachricht zukommen lassen, wenn er für mehrere Tage abwesend sei. Kümmern Sie sich dann um sein Haus? Sie nehmen die Post entgegen, pflegen die Blumen und achten im allgemeinen auf das Haus?”

„Genau, Mr. Walthers kommt immer zu mir, wenn er mehrere Tage weg will.” Mrs. Puttington prüfe den Sitz der Frisur. „Er hat ja sonst niemanden in Burbanks, dem er vertrauen kann.”

„Wie darf ich das verstehen?”, hakte Sandra nach. „Wissen Sie, Mr. Walthers lebt erst ein gutes dreiviertel Jahr in Burbanks. Er hat das Haus von den Erben des armen Jeremias Miller erworben.

Eine Schande ist es, dass die Kinder von Jeremias Miller so kurz nach seinem Tod das Haus bereits verkauft haben. Sie hatten Benny Smithers mit dem Verkauf beauftragt.”

„Den Makler?”

„Hubert und seine Schwester Doreen haben mit Smithers das Haus kurz nach dem Ableben des armen Jeremias besichtigt und sind erst zur Übergabe an Mr. Walthers wieder gekommen. Sie haben sicher das Haus nach Wertsachen durchsucht. Aber der alte Jeremias hatte ja so gut wie nichts. Ich konnte ihnen gerade noch das kleine, entzückende Telefonschränkchen, das hier neben der Tür steht, abkaufen. Hat mich übrigens 20 Dollar gekostet. Das ist mir das Andenken an Jeremias wert gewesen.”

„Wissen Sie zufällig, wie Mr. Walthers vom Hausverkauf Kenntnis erhalten hat? Er ist, wenn ich es richtig verstanden habe, erst mit dem Hauskauf hergezogen.”

„Rein zufällig habe ich von Mr. Walthers erfahren, dass er bereits Benny Smithers als Makler mit der Suche nach einem Haus beauftragt hatte, Frau Inspektor. Wir unterhielten uns über das Haus bei einer Tasse Kaffee kurz nach seinem Einzug.”

Sandra nahm einen Schluck Kaffee und stellte erleichtert fest, dass von Lavendel nichts zu schmecken war. Das Heißgetränk schmeckte nach gar nichts.

„Mr. Smithers kannte folglich Mr. Walthers.” Sandra zückte ihr Notizbuch und trug die Feststellung ein. „Gab es weitere Personen, die Walthers kannte? Vielleicht haben Sie Mr. Walthers gelegentlich mit anderen Personen gesehen? Beim Einkaufen oder der Gartenarbeit hält man die Augen schließlich nicht geschlossen. Zwangsweise nimmt man Dinge wahr, die in der eigenen Umgebung stattfinden.”

Auf diesen Zug sprang Mrs. Puttington sofort auf. „Natürlich nimmt man seine Umwelt wahr. Mr. Walthers hatte nur selten Besuch. Mrs. Largo, sie betreibt die Cafeteria am Flughafen, war mal da. Melissa Thornton aus der Bibliothek habe ich auch gesehen. Einmal sah ich zufällig Doktor Short bei ihm. Da muss er krank gewesen sein.”

„Warum?”

„Es gab dieses Gerücht, dass Mr. Walthers beim Doktor eingebrochen haben soll. Ich glaube das nicht. Mr. Walthers war kein Dieb.”

„Das ist leider nie auszuschließen, Mrs. Puttington”, erklärte Sandra, „wir haben da ganz andere Erfahrungen.”

„Aber nicht Mr. Walthers! Er war ein so netter Mensch, stets hilfsbereit und hatte Zeit für ein kleines Schwätzchen, falls Sie wissen, was ich meine.”

„Natürlich weiß ich das, Mrs. Puttington. Mr. Walthers war ein Mensch, der seine Mitmenschen ernst nahm.”

„Und er war grundehrlich und sehr hilfsbereit.”

„Trotzdem ist er spurlos verschwunden. Hat er Ihnen wirklich keine Andeutungen gemacht, dass er verreisen wollte? Hatte er vielleicht einen Ausflug geplant?”

„Davon hat er mir nichts gesagt. Das macht mir ja so Sorgen, Frau Inspektor. Ich verstehe das nicht.”

„Ist Ihnen außerdem etwas aufgefallen? War jemand am Haus, nachdem Mr. Walthers verschwunden ist?”

„Nein, nur Jake Holburn, der jeden Tag die Zeitung bringt. Es hat sich sonst niemand bei mir nach ihm erkundigt.”

„Jake Holburn hat nachgefragt?”

„Nur weil die Zeitungen nach drei Tagen noch vor der Tür lagen. Er wollte wissen, ob er sie weiterhin bringen sollte.”

„Und?”

„Ich habe gesagt, er soll sie mir geben, wenn drüben niemand ist. Ich hätte sie Mr. Walthers schon bei seiner Rückkehr gegeben!”

Sandra machte sich einige Notizen, ehe sie fortfuhr. „Die anderen Besucher haben sich nicht nach ihm erkundigt?”

„Nein, Frau Inspektor. Melissa hat zwar mal nach ihm gefragt, aber mehr nicht.”

„Aha, bei welcher Gelegenheit?”

„Sie können Fragen stellen.” Mrs. Puttington richtete sich in ihrem Sessel auf und schaute aus dem Fenster. „Nanu, da ist ja Mr. Roberts!”

Sandra drehte sich zum Fenster. Sie sah den breitschultrigen Besitzer der örtlichen Handelsgesellschaft und des Baumarktes zum Haus nebenan gehen.

„Ronny, geh mal bitte zu Mr. Roberts”, sagte sie zu ihrem Begleiter, „bitte stell fest, was er von Walthers will! Ich komme gleich nach.”

Ronny verabschiedete sich von Mrs. Puttington und verließ das Haus. Sandra sah ihn über den Gartenweg auf Roberts zugehen.

„Ich darf noch einmal auf meine Frage zurückkommen. Bei welcher Gelegenheit hat Miss Thornton sich nach Mr. Walthers erkundigt”, sagte Sandra, nachdem sie sich der Gastgeberin wieder zugewandt hatte.

„Warten Sie, ich glaube, sie fragte mich nach dem Gottesdienst am vergangenen Sonntag. Jeden Sonntag gehe ich in die Kirche. Pfarrer Montserrat kann wunderbar predigen. Er spricht so lebendig über die ausgesuchten Themen.”

„Und was wollte Miss Thornton von Mr. Walthers?”

„Melissa? Ach, eine Lappalie, wenn sie mich fragen. Er hatte sich ein Buch ausgeliehen und die Verleihdauer war abgelaufen.”

„Sagte sie, welches Buch das war?”

„Nein, ich habe auch nicht danach gefragt.”

„Kam es öfter vor, dass Mr. Walthers ein Buch länger behielt?”

„Das weiß ich nun wirklich nicht.”

Sandra machte sich eine weitere Notiz. „Erinnern Sie sich an weitere Besucher?”

„Ich kann mich an einen Kunden von Mr. Walthers erinnern. Er heißt Carrigan oder so ähnlich. Mr. Walthers sagte, er wäre ein Kunde aus Yellowknife.”

„Was wissen Sie von Mr. Walthers? Als Nachbarin, die sein Vertrauen genießt, haben Sie sicher mit ihm öfter gesprochen. Da kommt man automatisch auf verschiedene Themen.”

Mrs. Puttington schaute Sandra misstrauisch an. „Meinen Sie, ich habe ihn ausgefragt?”

„Natürlich nicht”, beschwichtigte Sandra, „mir geht es mit unseren Nachbarn ähnlich. Man sitzt bei einem Kaffee zusammen und unterhält sich. Dabei kommt man von alleine auf persönliche Themen.”

„Ach so, das meinen Sie.” Mrs. Puttington entspannte sich. „Er hat über sich selbst nicht gesprochen. Ich weiß nur, dass er sich von einer Abfindung das Haus gekauft hat. Er muss irgendwas mit medizinischen Geräten zu tun haben. Er erzählte einmal davon, dass er deshalb Krankenhäuser besuchen müsse.”

„Genaueres, etwa, welche Firma er vertritt, wissen Sie aber nicht.”

„Nein, das hat er nie erwähnt. Er sprach kaum über sich selbst.”

Sandra wechselte das Thema. „Hat er Familie?”

„Davon weiß ich nichts.”

„Meinen Sie, er wollte darüber nicht sprechen?”

„Das kann ich nicht sagen, Frau Inspektor. So gut kannte ich Mr. Walthers nun wieder nicht.”

Sandra zögerte einen Moment, dann erhob sie sich. „Vielen Dank für den Kaffee, Mrs. Puttington. Wir werden sehen, ob wir Mr. Walthers finden. Sollte ich Fragen haben, komme ich noch einmal vorbei.”

„Tun Sie das, ich bin fast immer zu Hause.”

Mrs. Puttington brachte sie zur Tür. „Sie können mich ja anrufen. Ich stehe im Telefonbuch.”

„Danke, das werde ich tun.” Sandra reichte der alten Dame die Hand. „Vielen Dank für Ihre Hilfe. Da fällt mir eine letzte Frage ein. War Mr. Walthers in einem Verein engagiert oder hatte er eine besondere Vorliebe? Ich denke da an ein Hobby oder eine Sportart.”

„Einmal erzählte er mir, er wäre Fallschirmspringer beim Militär gewesen. Aber, ob er das hier auch gemacht hat, weiß ich nicht.”

„Hatte er ein Auto?”

„Ja, einen schwarzen Trans Am. Auf den war er besonders stolz. Er hat ihn immer selbst geputzt. Der Wagen ist aber nicht da. Die Garage ist leer.”

Ohne sich etwas anmerken zu lassen, registrierte Sandra dieses Detail. „Den finden wir schon. Danke, Mrs. Puttington.”

Sandra verabschiedete sich und ging zum Nachbarhaus, vor dem Ronny mit Mr. Roberts stand. Sie benutzte dafür den Plattenweg zur Straße. Den kurzen Weg durch die Gärten verkniff sie sich aus gutem Grund. Mrs. Puttington beobachtete sie von der Haustür aus. Erst als Sandra winkte, verschwand sie im Haus.

*

Steward Roberts, das wusste Sandra aus ihrer Schulzeit, gehörte zu den Honoratioren der Stadt. Er engagierte sich in Politik und Sport. Natürlich behielt er dabei seine eigenen Geschäftsinteressen stets im Blick. Das war legitim und wurde von den Bürgern akzeptiert. Vielen blieb nichts anderes übrig, denn Roberts war einer der größten Arbeitgeber in Burbanks.

Roberts stand neben Ronny an der Gartentür zu Mr. Walthers Grundstück. Er war mittelgroß und rundlich. Bis auf einen silbernen Kranz hatten seine Haare den Kopf bereits verlassen. Im runden Gesicht ruhten zwei kleine, flink umherblickende Augen. Roberts trug Jeans und ein Sporthemd.

„Hallo Sandra”, begrüßte er sie und reichte ihr die fleischige Hand, „ich habe dich lange nicht mehr gesehen. Was macht dein Vater?”

„Danke, es geht ihm den Umständen entsprechend gut, Steward. Wie geht es deiner Frau?”

„Ist gerade bei ihrer Schwester in Edmonton. Wird wohl ein paar Wochen weg bleiben. Meine Schwägerin ist im Krankenhaus.”

„Das tut mir leid. Etwas Ernstes?”

„Sie wurde am Knie operiert. Mehr weiß ich nicht.”

„Dann hoffen wir mal, dass alles gut verlaufen ist.”

„Ronny hat mir gesagt, dass Walthers vermisst wird. Wart ihr deshalb bei der Puttington?”

„Mrs. Puttington hat uns verständigt”, bestätigte Sandra, „er sagt ihr sonst, wenn er längere Zeit weg ist.”

„Hat mich schon gewundert, dass er nicht da ist.” Roberts warf einen Blick zum Haus. „Er wollte bereits Ende letzter Woche wegen seines Rasenmähers vorbeikommen. Das Ding soll den Geist aufgegeben haben. Er wollte ihn mir zur Reparatur bringen, ist aber nicht aufgetaucht.”

„Deshalb bist du heute hergekommen?”

„Ich habe versucht anzurufen, aber es ging niemand ran.” Roberts schob die Hände in die Hosentaschen. „Der Mäher soll von Jeremias Miller stammen. Ich hoffe, Walthers kauft mir einen neuen ab. Da lohnt sich der Weg schon.”

„Sicher.” Sandra schaute in den gepflegten Garten. „Kennst du Walthers näher?”

„Nein, warum willst du das wissen?”

„Ich versuche mir ein Bild von ihm zu machen.

Da ist jede Kleinigkeit wichtig. Ich brauche alle Informationen, die ich kriegen kann. Zum Beispiel, was er beruflich machte.”

„Ach so. Er scheint auf jeden Fall Geld zu haben. Bei mir hat er erst vor wenigen Wochen eine automatische Bewässerungsanlage für den Garten gekauft und installieren lassen. Er hat das Spitzenmodell genommen.”

„Hat er bar bezahlt?”

„Nein, mit Kreditkarte. Wer zahlt heute noch bar?”

„Nachher schicke ich Ronny Sunderland zu dir. Gib ihm bitte die Kreditkartendaten, damit wir wenigstens etwas von diesem Herren wissen.”

„Darf ich das überhaupt? Ich meine, das sind sicher geschützte Daten.”

Sandra konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Soll ich mir von Richter Hobbs einen Beschluss holen, Steward?”

„Nein, so meine ich das nicht. Aber ich bin Geschäftsmann, Sandra, der an das Vertrauen seiner Kunden denken muss.“ Roberts zögerte kurz. „Okay, ich lasse die Daten für euch heraussuchen.”

„Kannst du mir sonst noch etwas über Walthers erzählen? Hatte er Feinde?”

„Das weiß ich nun wirklich nicht.” Roberts warf einen Blick auf die Uhr. „Tut mir leid, Sandra, aber ich habe um 11 Uhr einen Termin.”

„Alles gut. Wenn ich weitere Fragen habe, komme ich bei dir vorbei.”

„Okay und grüße deinen Vater.”

„Ach, Steward, eine Frage noch“, sagte Sandra, „hast du Walthers einmal gefragt, warum er sich in unserem schönen, abgelegenen Burbanks niedergelassen hat?”

„Nein, warum sollte ich das tun?“

„Tja, warum auch“, murmelte Sie.

Roberts starrte sie verwirrt an. Er verabschiedete sich mit Handschlag und stieg in seinen Pickup.

*

„Was machen wir jetzt?”, fragte Ronny, als der Pickup um die Straßenecke fuhr.

„Ich will sicher sein, dass Walthers nicht tot im Haus liegt”, antwortete Sandra. Sie dachte bei ihren Worten an einen Fall in Toronto. „Wir rufen Richter Hobbs an. Mir ist der offizielle Weg lieber. Außerdem ist dann Mrs. Puttington beruhigt.”

„Verstehe.” Ronny wandte sich Walthers Garten zu. „Übrigens, Jeremias Miller hatte keinen Rasenmäher. Er ließ den Garten von Jonny Longfoot pflegen. Ob Mr. Roberts gelogen hat?”

„Kann schon sein. Oder Walthers hat ihn angeschwindelt. Das werden wir herausfinden.” Sandra zog ihr Handy aus der Jacke und wählte die Nummer des Richters.

Richter Hobbs gab ihr die Einwilligung, das Haus des Vermissten zu durchsuchen. Er wies sie an, ihm nach erfolgter Durchsuchung umgehend Bericht zu erstatten.

Sandra ging zu Mrs. Puttington und bat sie mit einem Hinweis auf die richterliche Anordnung das Haus zu öffnen. Sichtlich aufgeregt stimmte die alte Dame zu. Ihre Anwesenheit war Sandra nicht unrecht, denn so hatte sie eine annähernd neutrale Zeugin.

„Ich muss Sie allerdings darauf aufmerksam machen, dass alles, was Sie anlässlich der Durchsuchung sehen oder hören, niemand erfahren darf”, forderte Sandra noch vor der Haustür.

„Ich erzähle doch nichts herum, Frau Inspektor”, entrüstete sich Mrs. Puttington, „das dürfen Sie nicht von mir denken.”

„Tue ich auch nicht”, besänftigte sie Sandra. „Die Vorschriften verlangen, dass ich es sage.”

Zu Sandras Erleichterung fanden sie keine Leiche. Im Haus herrschte perfekte Ordnung und penible Sauberkeit. Die Möbel entsprachen der aktuellen Mode und gehörten zum gehobenen Preissegment. Die farbliche Abstimmung zwischen Möbeln, Tapeten und Bodenbelägen war perfekt. Sandra vermutete einen Innenarchitekten als Berater.

„Ja, da war eine junge Frau aus Hay River, die Mr. Walthers dafür engagiert hatte”, beantwortete Mrs. Puttington Sandras entsprechende Frage. „Ihr Name war, glaube ich, Miss Hoppner. Sie kam häufiger her, selbst nachdem Mr. Walthers bereits eingezogen war. Ich glaube, zwischen den beiden entwickelte sich etwas. Sie wissen, was ich meine.”

„Das weiß ich tatsächlich.”

„Sie sieht aber auch wirklich gut aus, diese Miss Hoppner. Sehr schlank, groß und nach der neuesten Mode gekleidet. Mich würde nicht wundern, wenn wir ein Foto von ihr hier finden würden. Das würde Ihnen doch helfen, oder?”

„Sicher.”

Nach der Küche, die einem Werbeprospekt entsprungen sein konnte, schaute sich Sandra im Wohnzimmer um. Erstaunt stellte sie fest, dass es nicht einmal eine herumliegende Zeitschrift gab. Es gab keine Magazine und die wenigen Bücher im Regal erwiesen sich als Neukäufe. Sie waren nicht einmal gelesen worden. Bücher aus der Bücherei waren nicht zu finden. Sandra zückte ihr Notizbuch und notierte es. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass jemand sich hier wohl fühlen konnte. Das sagte sie allerdings nicht laut.

„Im Keller gibt’s rein gar nichts”, berichtete Ronny, den sie ins Untergeschoss geschickt hatte. „Im Eisschrank sind ein paar Fertiggerichte aus Vaters Geschäft.”

„Mr. Walthers hat sie für Notfälle gekauft”, kommentierte Mrs. Puttington die Meldung, „er kochte lieber frisch. Eine seltene Vorliebe bei einem Mann.”

„Wo hat er denn eingekauft?”, hakte Sandra sofort nach.

„Ach, das weiß ich nicht so genau. Ich meine, er war bei Ronnies Vater Kunde. Oft brachte er aber etwas von seinen Reisen mit.”

„Mr. Walthers war also häufig nicht zu Hause. Wissen Sie zufällig, wohin er seine Geschäftsreisen unternahm?”

„Mir hat er ja nie viel erzählt, aber so viel ich weiß, war er in den Northwest Territories unterwegs. In Yellowknife hielt er sich häufiger auf.”

Sandra fragte noch einmal nach, aber Mrs. Puttington konnte sich beim besten Willen nicht an weitere Reiseziele ihres Nachbarn erinnern.

Im Obergeschoss gab es neben dem penibel aufgeräumten Schlafzimmer ein größeres Arbeitszimmer. Auf dem Schreibtisch neben dem Fenster stand ein Laptop und das gerahmte Foto einer jungen Frau.

„Das ist Miss Hoppner”, bemerkte Mrs. Puttington, „sie sieht wirklich sehr gut aus.”

Dem konnte Sandra nicht widersprechen. Das Foto zeigte ein schmales, fein geschnittenes Gesicht mit blauen Augen. Die dunklen, lockigen Haare reichten bis auf die Schultern.

Sandra öffnete die Schreibtischschublade. Sie hoffte, Genaueres über den Beruf des Vermissten zu erfahren, sah sich allerdings schnell enttäuscht. Sie fand einige Kontoauszüge der Canadian National Bank, bei denen Mr. Samuel Walthers ein Konto unterhielt. Der letzte Auszug belegte ein Guthaben von mehr als 30.000 Dollar. Außerdem fanden sie eine Kreditkarten-Abrechnung. Mr. Walthers besaß danach die Goldene Kreditkarte. Damit hatte er die Rechnung von Steward Roberts für die automatische Gartenbewässerung bezahlt. Vielversprechender waren die Zahlungen einiger Flugkosten. Sandra notierte sich die Rechnungsdaten.

„Sie sind aber sehr genau”, kommentierte Mrs. Puttington ihre Notizen.

„Wenn wir nach einem Vermissten suchen, brauchen wir alle Informationen. Wissen Sie zufällig, ob Mr. Walthers bei der hiesigen Bank ein Konto hatte?”

„Ich glaube schon, denn Sean Appledorn, der Filialleiter der Bank, kam öfter mal vorbei. Er blieb meist nicht lange. Vielleicht mal eine halbe Stunde. Mehr bestimmt nicht. Einmal haben sie gemeinsam bei Julian Hopkins mit den Damen zu Abend gegessen. Da war Miss Hoppner hier.”

„Sie haben sie dort gesehen? Wann war das?“

„Ich kam zufällig vorbei und schaute durchs Fenster. Eine alte Frau wie ich, die auf jeden Cent achten muss, kann sich ein Abendessen im Restaurant nicht leisten, Frau Inspektor.“ Mrs. Puttington lächelte Sandra an. „Das muss im Frühjahr gewesen sein. Im Winter gehe ich kaum aus dem Haus.“

„Erinnern Sie sich vielleicht, ob Sie Mr. Walthers mit anderen Personen dort gesehen haben?”

„Leider nicht, Frau Inspektor. Ich komme nicht viel aus dem Haus.”

Sandra verbiss sich einen Kommentar und sagte statt dessen: „Es hätte ja zufällig der Fall sein können. Haben Sie ihn anderswo mit jemandem gesehen?”

„Nein, das wüsste ich ganz bestimmt.”

Sandra strich über den Laptop. Sie dachte daran ihn mitzunehmen, damit die Spezialisten der Kriminaltechnik ihn unter die Lupe nahmen. Da es für sie nicht feststand, dass ein Verbrechen dem Verschwinden von Walthers zu Grunde lag, unterließ sie es. Stattdessen versiegelte sie ihn.

10 Minuten später verließen Sandra und Ronny in Begleitung von Mrs. Puttington das Haus. Weitere Erkenntnisse hatten sie nicht gewinnen können. Die Haustür versah sie ebenfalls mit einem Polizeisiegel. Abschließend schauten Sandra und Ronny in die Garage. Sie war leer.

„Der Wagen von Walthers ist ein schwarzer Trans Am?”, fragte Sandra nochmals nach.

„Ja, genauso einen Wagen wie im Film mit Burt Reynolds. Wie hieß der Film noch gleich?”

Sandra ging über die Fragen lächelnd hinweg. Sie bedankte sich bei Mrs. Puttington und bat sie nochmals um Verschwiegenheit. Neben der Beifahrertür des Dienstwagens blieb sie stehen.

„Eine Frage habe ich noch, Mrs Puttington“, sagte sie freundlich, „haben Sie Mr. Walthers einmal gefragt, warum er sich in unserem schönen, abgelegenen Burbanks niedergelassen hat?”

„Nein, Frau Inspektor.“ Mrs. Puttington riss erstaunt die Augen auf.

„Tja, warum auch.“ Sandra stieg in den Dienstwagen, an dessen Steuer Ronny bereits saß. Langsam setzte sich der Wagen in Richtung Ortsmitte in Bewegung.

*

Richter Hobbs, der große, schlanke, weißhaarige Bezirksrichter, empfing Sandra in seinem Büro. Sie konnte sich nicht daran erinnern, den Richter nicht im Anzug mit passendem Hemd und Krawatte gesehen zu haben. Hobbs und ihr Vater waren Freunde solange sie denken konnte. Er hatte Sandra ermutigt, sich bei der Polizei zu bewerben.

Sie war alleine zum Gericht gefahren. Ronny Sunderland hatte sie an der Dienststelle abgesetzt. Er sollte in öffentlichen und regierungseigenen Netzwerken nach Informationen über Walthers, Miss Hoppner und Mr. Carrigan aus Yellowknife suchen.

Richter Hobbs empfing Sandra in seinem Büro. Nach der Begrüßung nahm er an seinem großen, schwarzen Schreibtisch Platz. Dahinter befand sich ein hohes Bücherregal. Bei dem Anblick erinnerte sich Sandra an die Bibliothek der Polizeischule.

„Schau nicht so ehrfurchtsvoll die Bücher an, Sandra”, meinte Hobbs, der ihren Blick bemerkt hatte, „ich habe nicht alle Bücher auch gelesen. Einige sind von meinem Vorgänger übernommen. Ich bin kein großer Leser. Ich bevorzuge mündliche Berichte.”

Kurz und knapp informierte sie ihn über den Stand der Ermittlungen. Sie betonte dabei mehrfach, es stünde nicht fest, dass ein Verbrechen Grund für das Verschwinden von Mr. Walthers wäre.

„Auf jeden Fall ist er länger als gewöhnlich weg und wir haben eine offizielle Vermisstenanzeige. Das rechtfertigt eine Untersuchung”, sagte Hobbs nachdem sie geendet hatte. Er lehnte sich in seinen Sessel zurück. „Was sind deine nächsten Schritte?”

„Wir werden uns Informationen über Walthers beschaffen. Danach läuft die übliche Routine. Zunächst werden wir bei den Airlines anfragen, ob er auf einer Passagierliste steht. Dann geht es weiter mit Charterpiloten und dem Krankenhaus. Vielleicht kriegen wir etwas über die Kreditkarte heraus, deren Abrechnung ich gefunden habe.”

„Welche hatte er denn?”

„Die Goldene.”

„Dazu brauchst du einen Beschluss von mir. Ich möchte aber, dass du erst alle anderen Quellen ausschöpfst. Wir wissen nicht, ob der Mann nur verreist ist und der lieben Mrs. Puttington, warum auch immer, nichts gesagt hat. Vielleicht hilft diese Miss Hoppner weiter.”

„Hoffentlich! Ich habe übrigens den Laptop im Haus versiegelt. Solange wir kein Verbrechen unterstellen können, dürfen wir den nicht auslesen.”

Hobbs nickte „Was denkst du über das Verschwinden von Walthers?”

Sandra dachte einen Augenblick lang nach. Ihr fiel das Telefonat vom Vormittag ein. Doch sie entschied dagegen, es zu erwähnen.

„Ich weiß es nicht. Walthers ist ja erst einige Monate hier ansässig. Dieses Gerücht mit dem Einbruch bei Dr. Short und sein Versuch, etwas über Harry Winston zu erfahren, haben mich stutzig werden lassen.”

„Der Einbruch ist immer noch ungeklärt. Walthers hat damit ja nichts zu tun.”

„So sieht es aus. Ich werde Short jedoch nochmal wegen des Einbruchs aufsuchen.”

„Tu das!”

„Außerdem werde ich Sean Appledorn einen Besuch abstatten und zu Walthers befragen. Sie scheinen sich zu kennen, wenn ich den Worten von Mrs. Puttington trauen kann. Vielleicht kann er mir etwas über Walthers sagen.”

„Ein guter Ansatz, Sandra.” Hobbs erhob sich und reichte ihr die Hand. „Wenn Appledorn Probleme macht, ruf mich an. Ich werde deine Ermittlungen vor Ort unterstützen. Halte mich bitte auf dem Laufenden.”

„Selbstverständlich.”

„Grüße Simon von mir, Sandra. Ich werde ihn demnächst mal besuchen.”

„Darüber freut er sich bestimmt.”

Kapitel 2

Zurück im Büro vereinbarte Sandra Vane zuerst einen Termin mit Sean Appledorn für den frühen Nachmittag. Anschließend suchte sie Ronny Sunderland auf.

„Hast du schon was herausgefunden?”, fragte sie.

„Nicht viel. Die Anfragen im internen Netz brauchen einige Zeit”, sagte er, „ich habe aber im Internet nach dieser Miss Hoppner und Walthers gesucht.” Er grinste.

„Und?”

„Miss Hoppner gibt es in Hay River tatsächlich. Sie ist eine selbstständige Innenarchitektin und scheint mit einem Online-Möbelhaus zusammenzuarbeiten. Ich sah Bilder von ihr im Internet. Sie ist die Frau auf dem Foto bei Walthers, kein Zweifel. Ich lasse sie im Zentralregister durchlaufen. Wenn wir schon mal dabei sind!”

„Auf jeden Fall! Welches Möbelhaus ist es?”

„Clinton & Sons in Toronto.”

„Habe ich noch nie gehört. Du hast sicher bereits im Internet die Website dieses Möbelhaus aufgerufen.“

„Außer schönen Bildern und einer Telefonnummer kam nichts dabei heraus.“

„Denke ich mir. Aber die Kollegen in Toronto sind bestimmt gewillt, uns zu helfen. Da muss ich allerdings selbst anrufen.”

„Du willst in Toronto anrufen?” Ronny schaute Sandra bewundernd an. „Meinst du, die haben Zeit für unsere Anfrage?”

„Ronny, der kleine Dienstweg ist oft viel effektiver als alles andere. Ich rufe einen meiner ehemaligen Kollegen beim Morddezernat an.” Sandra bedeutete ihm zu folgen. „Was hast du über Walthers herausbekommen?”

„Ich habe komischerweise nur im Melderegister von Burbanks einen Eintrag gefunden. Ansonsten existiert der Herr in den einschlägigen Systemen nicht.”

„Na gut! Vielleicht bringen uns die Befragungen seiner Bekannten weiter. Lass bitte nach dem Trans Am suchen! Beziehe bitte die Highway-Patrol mit ein. Das schwarze Teil sollte zu finden sein.”

„Ist bereits erledigt.”

„Hast du über diesen Kunden aus Yellowknife, Mr. Carrigan, etwas erfahren?”

„Nein, einen Mann solchen Namens gibt es in Yellowknife nicht. Ich habe dann bei der Krankenhausverwaltung nachgefragt. Bei denen kennt niemand einen Walthers aus Burbanks. Sie beziehen ihre Geräte über einen Händler aus Edmonton.” Ronny fischte aus seiner Hemdtasche einen Zettel heraus und las vor: „Catwalker & Sons. Ich habe das überprüft.

Samuel Walthers und Mr. Carrigan sind weder der Krankenhausverwaltung in Yellowknife noch bei Catwalker & Sons bekannt. Vielleicht hat Mrs. Puttington den Namen falsch verstanden.”

Wenige Minuten später sah Ronny Sunderland Sandra ehrfürchtig an, als sie das Gespräch mit Toronto beendet hatte. Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nur zu gut erinnerte sie sich an ihre ersten Tage bei der Kriminalpolizei. Damals hatte sie die Kollegen ebenso bewundert, wenn sie ohne Zögern die Dinge auf eigene Art in die Hand nahmen. Sie hatte ihre Scheu davor erst ablegen müssen, bevor sie den unbürokratischen Weg selbst benutzte.

„Das war der kleine Dienstweg, Ronny”, erläuterte sie. Bevor sie fortfuhr, trank sie einen Schluck Kaffee. „Die Kollegen werden sich nach Miss Hoppner erkundigen und uns anrufen. Ich werde übrigens gleich mit Superintendent Green sprechen. Ich brauch dich für die Ermittlungen.”

„Mich?”

„Ja, dich. Oder willst du nicht?”

„Natürlich will ich.”

„Dachte ich mir”, sagte Sandra und schlug ihm auf die Schulter. „Morgen kommst du in Zivil. Fahr bitte nachher zu Roberts und lass dir die Unterlagen über den Kauf der Bewässerungsanlage zeigen. Schreib die wichtigen Daten auf. Sag ihm aber nicht, dass wir die Kreditkartenabrechnung gefunden haben. Er muss das nicht wissen, okay?”

Sandra fand Superintendent Green, den Stationsleiter, in seinem Büro am Ende des Ganges. Er war Anfang 50, mittelgroß und brachte fast 100 kg auf die Waage. James Green war durch seine ruhige Art ein „Fels in der Brandung”, der seine Untergebenen gut kannte und schätzte. Es war für ihn selbstverständlich, Zeit für jeden einzelnen Mitarbeiter zu haben. Das machte ihn in Sandras Augen zu einem guten Vorgesetzten.

„Setzen Sie sich, Sandra. Was kann ich für Sie tun?”, fragte er.

Sandra berichtete von der Vermisstenanzeige und ihren ersten Ermittlungen.

„Ich hätte gern Ronny Sunderland als Assistenten für den Fall”, fuhr sie fort, „er ist hier aufgewachsen.“

„Er ist gerade erst mit der Ausbildung fertig”, wandte Green ein, „andererseits habe ich mit ihm bereits den Einbruch bei Doktor Short bearbeitet. Er ist an der Arbeit der CID sehr interessiert. Er hört aufmerksam zu, ist ein guter Beobachter und zieht daraus logische Schlussfolgerungen.”

„Den Eindruck habe ich auch”, bestätigte Sandra, „und er ist ein Insider, der die Leute kennt.“

„Okay, dann nehmen Sie ihn unter Ihre Fittiche. Ich kann mir vorstellen, dass er sich bei der CID wohler fühlt als im Streifendienst.”

„Kommt er da nicht zurecht?”

„Wenn er sich bei Ihnen gut einarbeitet, ist es mir mehr als recht. Ronny ist ein guter Junge. Er hat die Polizeischule gut abgeschlossen. In Kriminalistik und IT war er sehr gut.”

„Dann kann ich ihn gut gebrauchen”, meinte Sandra nachdenklich, „wenn er sich gut macht, sollten wir über eine Umsetzung zur CID nachdenken.”

„Jetzt nehmen Sie ihn für diesen Fall in Ihren Bereich”, bremste Green lächelnd.

*

„Ronny, ich habe von Green die Einwilligung, dass du mit mir den Fall Walthers bearbeitest”, verkündete Sandra ihrem neuen Assistenten, den sie an seinem Schreibtisch im Großraumbüro antraf. „Du bist mir vorerst unterstellt.”

Der Junge strahlte sie begeistert an. Seine Wangen erröteten und die Augen glänzten vor Freude. „Danke, Sandra, ich werde mich ins Zeug legen.”

„Schon gut.” Sie trank einen Schluck Kaffee. „Wie sieht´s mit dem zentralen Register aus?”

„Bezüglich Walthers bekam ich keine Treffer”, berichtete er, „Miss Jennifer Hoppner ist im Zentralregister mit einem Verkehrsverstoß verzeichnet. Das ist aber schon einige Jahre her. Sonst gibt es keine Erkenntnisse.”

„Okay. Versuche es auch mit Carrigan! Ich kann dir nicht sagen, was mich an diesem Kunden interessiert. Vielleicht kann er uns weiterhelfen. Ich fahre zum Bankdirektor. Da die Bücherei auf dem Weg liegt, spreche ich gleich mal mit Miss Thornton. Du kümmerst dich um Roberts. Versuche, ein wenig mehr über Walthers aus Roberts herauszubringen. Ich ruf dich später an. Vielleicht treffen wir uns am Flughafen. Laut Mrs. Puttington hatte Mrs. Largo, die Besitzerin der Cafeteria, mit Walthers Kontakt. Bin mal gespannt, was sie sagt.”

„Ich fahre sofort zu Roberts”, sagte Ronny.

Sandra verließ das Büro. Das Wetter hatte sich inzwischen gewandelt. Die dicken Regenwolken vom Vormittag waren einem stahlblauen Himmel gewichen. Die warme Junisonne schuf ein komplett anderes Bild von Burbanks. Die Bürgersteige waren von dahin schlendernden, freundlich dreinschauenden Menschen gefüllt. Bunte Markisen über Schaufenstern gaben den Straßen dieses sommerliche Flair. Das Café am Rathaus hatte den Außenbereich geöffnet.

Sandra stellte ihren Dienstwagen vor dem Rathaus ab. Bis zu ihrem Termin bei Mr. Appledorn blieb ihr genug Zeit für einen kurzen Spaziergang in der Sonne. Sie fühlte, wie die Sonnenstrahlen durch ihre Lederjacke hindurch wärmten. Kurz vor ihrem Termin betrat sie das Bankgebäude.

Sean Appledorn entsprach dem landläufigen Vorstellungen eines erfolgreichen Bankers. Der schlanke 45 Jährige war dunkelhaarig und trug einen hellen Markenanzug. Sein gepflegter Dreitagebart passte ebenso zum Image wie die blank geputzten Schuhe.

Er bat Sandra umgehend in sein Büro über dem Schalterraum. Die Einrichtung bestand aus hellen Ahornmöbeln. Auf seinem Schreibtisch stand nur der übliche Computer. Appledorn bat Sandra Platz zu nehmen und setzte ein smartes Lächeln auf.

„Was kann ich für die Polizei tun?”, fragte er und legte die Hände gefaltet auf die Schreibtischplatte.

„Ich hoffe, Sie können mir helfen”, sagte Sandra, die ihr Unbehagen zu verstecken suchte. „Es geht um Samuel Walthers aus 28 Parklane? Uns liegt eine Vermisstenanzeige vor. Mr. Walthers ist seit mehr als zwei Woche verschwunden.”

„Wer hat ihn denn als vermisst gemeldet?”

„Eine Nachbarin hat die Anzeige erstattet.”

„Was kann ich dabei für Sie tun?”

„Für eine erfolgreiche Suche benötigen wir Informationen über den Vermissten. Bei Mr. Walthers gestaltet sich das etwas schwierig. Sie kennen ihn?”

„Ich kenne Walthers seit einigen Monaten. Er hat bei uns ein Konto eröffnet und benötigte Hilfe bei finanziellen Transaktionen. Daher kam er zu mir persönlich. Wir trafen uns mehrfach zu geschäftlichen Besprechungen.”

„Was macht Mr. Walthers beruflich?”

„Er verfügt über ein ansehnliches Vermögen, von dem er einen Teil auf sein hiesiges Konto transferiert hat. Er erwähnte, er habe mit der Ausstattung von Kliniken zu tun.”

„Erhielt er Zahlungseingänge, beispielsweise von einer Firma?”

Appledorn zögerte, ehe er antwortete: „Ich nehme an, Sie sind befugt diese Frage zu stellen.”

„Rufen Sie Richter Hobbs an”, antwortete sie lächelnd. „Er wird es Ihnen bestätigen.”