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Fünf Studenten, eine Tragödie Fünf Studenten, gefangen in einem Leben voller Widersprüche, treiben durch eine Welt, in der sie keinen Platz finden. Ein tragisches Ereignis katapultiert sie in einen Strudel aus absurden Begegnungen, schmerzhafter Selbsterkenntnis und grotesken Wendungen. Doch was in ihrem Innersten lauert, ist größer als sie selbst - und dunkler als ihre sieben Teufel. Mit dabei: Jesus, ein Übermensch und eine LKW-Ladung Zynismus. Ob die Handlung die Komplexität eines Tolstois oder Shakespeares erreicht? Das bleibt der Frage überlassen, ob man dem Erzähler trauen kann. Ein humorvoll-abgründiger Roman, der zum Nachdenken, Lachen und Staunen einlädt – und dabei nichts und niemanden verschont.
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Seitenzahl: 411
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Für Fabian Scherle
AUFZEICHNUNGEN AUS DEM KRANKENHAUS
DER ERSTE TAG
HEPHAISTOS’ MORGENROUTINE
ZWEI VERLORENE SEELEN, DIE IN EINEM FISCHGLAS SCHWIMMEN, IHRE ALTEN ÄNGSTE FANDEN UND SICH WÜNSCHTEN, DER ANDERE WÄRE NICHT DA
DER GEFANGENE
DREI JAHRE ZUVOR
SCHMIERENKOMÖDIE
DICK UND DOOF HABEN EIN DATE
WOHL DEM, DER JETZT NOCH HEIMAT HAT
DIGITALE FAMILY UNION
WEH DEM, DER KEINE HEIMAT HAT
ARTHUR RETTET SICH SELBST
THE GREAT HEPSY
DAS NEUE TESTAMENT
ZWISCHENSPIEL:
AUS DEM LEBEN EINES TAUGENICHTS ODER: JACQUES’ NOTIZBUCH
AUF DER SUCHE NACH DEM VERLORENEN ICH
DER ZWEITE TAG
LISAS LETZTER AUFTRITT
DAS EWIGE NUN
ESTRAGON UND WLADIMIR KOMMEN VON DER STELLE
HEIMKEHR NACH TIPASA
DER DÄMON UND DIE EINSAMSTE EINSAMKEIT
DER VERLORENE SOHN KEHRT ZURÜCK
KAIN UND ABEL ODER AENEAS UND DIDO VON KATHARGO (NICHT DIE MIT DER WEISSEN FLAGGE), TEIL 1
ARTHUR VERLÄSST SEVILLA IM 16. JAHRHUNDERT
KAIN UND ABEL ODER AENEAS UND DIDO VON KATHARGO (NICHT DIE MIT DER WEISSEN FLAGGE), TEIL 2
DAS EXIL UND KEIN REICH
DANKSAGUNG
Eigentlich wollte ich hier mit einem Dostojewski-Zitat anfangen, aber dann dachte ich mir, ich müsse mich zu Beginn ja nicht als das prätentiöse Arschloch zu erkennen geben, das ich wirklich bin.
Es sollte einleitend darauf hingewiesen werden, dass der alte Fjodor mal fragte, wie man leben könne, ohne eine Geschichte zu erzählen zu haben. Dann wollte ich sagen, dass ich eine Geschichte zu erzählen, aber trotzdem nicht mehr lange zu leben habe. Dann irgendwas über die Ironie des Schicksals. Ziemlich selbsterklärend eigentlich.
Das ist auch der Grund, warum ich es letztendlich gelassen habe. Ich hätte die Geschichte natürlich auch einfach für sich stehen lassen können, ganz ohne sie durch einen radikal subjektiven Prolog zu verfälschen, der starke Ähnlichkeit mit einem Vorwort hat, aber mehrere Gründe sprachen dagegen.
Erstens wollte ich, dass Sie schon mal mit mir warm werden, denn der erste Eindruck zählt. Zweitens steht hier dieses Vorwort aus demselben Grund, aus dem ich die Geschichte erzähle: Mir geht total einer ab, wenn ich rede und mir Leute zuhören. Aufmerksamkeit ist meine Droge, da will ich Sie gar nicht anlügen und schlage sogar vor, dass wir von Anfang an mit offenen Karten spielen. The hour’s getting late.
In dieser Tradition werde ich nun fortfahren und Sie etwas einführen.
Es ist eine Geschichte biblischen Ausmaßes, die eines Shakespeare, eines Tolstoi oder eines Homer würdig gewesen wäre, weshalb sie gerade gut genug ist für mich.
Die Welt unserer Helden beinhaltet das Nichts, meinen ältesten Freund. Es geht um die Menschlichkeit und ihre Abwesenheit, um nebensächliche Sachen, wie Mord und Vergewaltigung, und um die alles entscheidenden Sachen, wie Witz und Nichtwitz. So ein bisschen geht’s auch um den Menschen unserer Zeit, von dem man halten kann, was man will, obwohl ich mir anmaße, relativ viel von ihm zu halten, da ich ja selbst einer bin.
Man könnte sich sogar so weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, es ginge zum Teil um mich, aber an Ihrer Stelle hätte ich Angst, aus besagtem Fenster herauszufallen.
Über mich gibt’s nicht viel zu sagen, obwohl ich es zu gegebener Zeit tun werde. Nur als kleiner Funfact vorneweg: In mir kämpft ein Organismus um sein Überleben, der mein Überleben auf lange Sicht unmöglich machen wird. Abgesehen davon bin ich quietschfidel. Der Mensch hat sich ja zeit seines Lebens dadurch ausgezeichnet, vor allem gegen die Dinge anzukämpfen, die er nicht ändern kann, und ohne jetzt melodramatisch klingen zu wollen: Ich schreibe um mein Leben. Also schreiten wir zur Sache.
Ich werde mich bemühen, mich zurückzuhalten, aber manchmal ist der Impuls, das Geschehen zu kommentieren, doch zu groß.
Ein Versprechen werde ich Ihnen noch an die Hand geben, bevor ich Sie allein lasse (wenn auch nicht für lange Zeit): Diese Geschichte ist wahr. Was ist Wahrheit, mögen Sie vielleicht fragen, wenn nicht eine durch Konditionierung antrainierte Illusion? Ich muss gestehen, die Frage würde mich etwas überraschen, da sie minimal fehl am Platz scheint, aber diese Überraschung würde ich durch blanken Zynismus überspielen und antworten, dass mir Ihre Meinung ziemlich egal sei und ich die Geschichte erzähle, um Ihnen meine Meinung aufzudrängen, da ich natürlich glaube, dass sie die beste ist.
Diese Aussage fänden Sie dann vielleicht etwas fragwürdig, aber bevor Sie Poppers Logik der Forschung aus Ihrem Bücherregal gezaubert hätten, wäre ich bereits wieder beim Thema Wahrheitsgehalt angelangt und würde Sie schlichtweg ignorieren. Ich würde sagen, dass Sie zwar beten mögen, die Geschichte sei ausgedacht, da Ihnen das Grauen lieber wäre, wenn Sie den Sicherheitsabstand der Fiktion wahren könnten, aber das würde nichts an ihrer völligen Tatsachentreue ändern.
Sie würden vielleicht einwenden, dass Wahrheit nicht unbedingt besser sein müsse als Lüge, da die Wahrheit oft nur Leid und Schmerz zutage fördere, und ich müsste Ihnen eingestehen, dass Sie mir langsam auf die Nerven gehen. Da dieser Umstand vermutlich auf Gegenseitigkeit beruht, werde ich Sie hier verlassen.
Ein »Wie bitte?«, dicht gefolgt von einem gedachten: »Ernsthaft? Hephaistos?«, ist die häufig beobachtete Reaktion auf die Antwort auf die beliebte Small-Talk-Frage: »Und wer bist du?« oder, ähnlich intelligent und eloquent: »Wie heißt du?«.
Die Antwort würde von einem unscheinbaren, durchschnittlichen Wicht gesprochen werden, mit überdurchschnittlich teuren Klamotten, die im starken Gegensatz zu seinem sonstigen Aussehen, dem etwas unschönen Gesicht, ständen, und damit vermutlich das Gegenteil von dem bezwecken, was der Antwortende beabsichtigte.
Die Antwort würde lauten: »Hey, ich bin Hephaistos, aber meine Freunde sagen Hep zu mir.«
Hep hatte allerdings keine Freunde. Nur eine Menge Leute, die sich gegenseitig Freunde nannten, um ihre offensichtliche Oberflächlichkeit zu ertränken, in der ihrer Meinung nach zwangsläufigen Erkenntnis für andere, dass jemand mit Freunden sympathisch sein müsse. Dieses Abkommen wurde natürlich niemals laut ausgesprochen und war manchen Vertragspartnern sogar gänzlich unbekannt. Diese besonders primitiven Kontraktualisten ließen sich ausschließlich mit der Masse treiben, aber nicht in der coolen »Go with the flow, Queens of the Stone Age«-Weise, sondern auf die ziemlich uncoole NSDAP-Wähler-Weise.
Zu welcher Gattung genau Hep gehörte, kann ich bis jetzt schwer einschätzen. Möglicherweise können Sie mir diese Frage ja später beantworten. Zwischendurch handelt er so dämlich, dass es nahezu unmöglich erscheint, dies könnte keinem bestimmten Plan folgen. In anderen Situationen … auch. Das macht das Ganze ziemlich schwer. Aber ist ja eigentlich auch egal.
Wie Hep es geschafft hat, mit unseren Helden in Kontakt zu kommen, ist mir bis heute ein Rätsel, allerdings eines, dessen Lösung erstaunlich simpel ist.
Lisa ging mit ihm zur Grundschule und das war’s. Pure Nostalgie, könnte man sagen. Mittlerweile empfand Lisa zwar auch den vertrauten Charme der Beulenpest, wenn er in ihrer Nähe war, und Jona und Arthur hatten schon lange vermutet, Hep sei ein Floh, der vom Rücken einer Ratte gehüpft war, um sie heimzusuchen, aber aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte Aurora an ihm Gefallen gefunden. Allerdings mehr auf der Vertragspartnerebene als auf der Ebene, an die Hep dachte, und offensichtlich war hier der Wunsch Vater des Gedankens.
Hep dachte erstaunlich oft daneben. So glaubte er zum Beispiel, seine Eltern hätten ihm seinen Namen gegeben, weil sie immer wussten, dass er dazu bestimmt sei, Großartiges zu schaffen. Vor neuen Leuten brüstete er sich oft damit, so zu heißen wie der griechische Gott der Schmiedekunst. Dooferweise, vor allem für seine Mitmenschen, hatte ihm seine Mutter das Ganze ein wenig zu oft versichert. Der eigentliche Ursprung von Heps Namen war weitaus banaler und allein deshalb viel angemessener.
Der vielleicht etwas zu elitäre Arzt, der die undankbare Aufgabe hatte, Hep zur Welt zu bringen, hatte, nachdem er dieses wirklich hässliche Baby gesehen hatte, den internen Witz gemacht, das Baby Hephaistos zu nennen, nach dem Gott, der so hässlich war, dass seine Mutter Hera ihn vom Olymp warf.
»Sie könnten den kleinen Racker dann Hep abkürzen«, vollendete der Doktor seinen Witz und die anwesenden Krankenschwestern lachten pflichtschuldig.
Heps Eltern, zwei neureiche Arschlöcher, fanden die Idee so gut, dass es jedem der Anwesenden zu peinlich war, die frischgebackenen Eltern auf den Witz hinzuweisen. Die neureichen Arschlöcher waren auch nicht wirklich reich, sondern bestenfalls wohlhabend, bezeichneten sich aber bei ihren neureichen Arschloch-Freunden gerne als neureiche Arschlöcher.
Sie hatten irgendwo gelesen, dass sich der wahre Name im Moment der Geburt wie durch Zauberhand in das Gehirn der Namensgeber begeben würde, und hatten sich deshalb nicht die Mühe gemacht, sich vor diesem wichtigen Tag mit der Namensgebung zu befassen. Ein fataler Fehler. Die logische Konsequenz war, dem kleinen Hep sowie sich selbst einzureden, der Name wäre für jene, die zu Großem bestimmt wären. Als die armselige Kreatur, die er zweifelsfrei ist, ging Hep in dieser Rolle so sehr auf, dass er sich dafür entschied, Modedesign zu studieren, da dies »ja auch was mit Händen schaffen« sei. Modedesign. (Seufz). Es gibt auf der großen weiten Welt wohl kein oberflächlicheres und darum auch kein besser zu ihm passendes Studium als Modedesign. Sogar ein Wirtschaftsstudiengang, die Mutter aller oberflächlichen Studiengänge, ist noch zweckmäßiger, da er wenigstens die Gesellschaft mit am Leben hält. Modedesign hingegen dient absolut und ausschließlich nur denen, die absolut und ausschließlich Wert auf Äußeres legen. Schopenhauer hat mal gesagt, es gäbe drei Wege, auf denen die Menschen versuchten, glückselig zu werden. Dass alle zwangsläufig scheitern würden und man sich bestenfalls vom Willen zum Leben abkehren könnte, um so etwas Ähnliches wie Glück zu erreichen, sei hier außen vor gelassen, da Schopenhauer dies separat erwähnt und weil es meinem Punkt nichts bringt. Die drei Wege seien jedenfalls der des inneren Glücks, also des Geistes, der der Äußerlichkeiten, also des Aussehens, und der der Anerkennung, also, was andere von einem denken. Laut Schopenhauer kann nur der erste Weg funktionieren. Wie es der Zufall so will, vereint Modedesign die beiden letzteren und unterstreicht somit nur noch mehr seine fulminante Sinnlosigkeit. Genauso gut könnte man sich auf die Stirn tätowieren lassen:
»Ich bin überflüssig.«
Die Modedesigner würden einem aus stilistischen Gründen erstmal hiervon abraten, aber nachdem ein paar hirnverbrannte Influencer das Ganze zum Trend gemacht hätten, würden auch die Modedesigner begeistert folgen. Der Philosophie wird zwar auch oft nachgesagt, sie sei überflüssig, aber da es sich bei ihr um meine große Liebe handelt, muss ich doch ein paar verteidigende Worte vorbringen. Die Welt, wie wir sie heute kennen, würde ohne die Philosophie nicht existieren. Natürlich würde die Welt, wie es sie heute in diesem Moment gibt, auch ohne Modedesign nicht existieren, aber es lässt sich annehmen, dass die Welt ohne Modedesign eine weitaus bessere wäre, nämlich eine, in der die Menschen weniger auf Äußerlichkeiten achten würden, und das wäre wirklich wünschenswert. Die Unmengen an gespartem Geld könnte man dann gewinnbringend in einen Fonds für Philosophiestudenten investieren, die sonst ihr Dasein als Taxifahrer fristen müssten. Zurück zu Hep.
Seine Mutter hätte ihm die Lebenslüge seiner Großartigkeit übrigens gar nicht sein ganzes Leben lang vorheucheln müssen, Hep glaubte es schon so. Einmal in Rage gekommen, hielt Hep Reden darüber, wie sehr sich sein Leben von dem der anderen unterscheide. Die anderen wollten doch nur schnelles Geld und saufen. Er wollte schnell viel Geld und saufen. Hier ließ er für gewöhnlich Platz für die Lacher, die mit unheimlicher Präzision jedes Mal ausblieben. Alle wollten das gleiche Leben leben, aber er wäre anders. Die Rede bewegte sich dann meistens in Richtung Klimaaktivisten, einer Gruppe, die gerne zur Zielscheibe der Kinder neureicher Arschlöcher wurde, da sie da alle einer Meinung waren. So viel zum Thema unterschiedliche Leben. Diese Identitätslosen hätten doch keine Ahnung von Kultur, verhielten sich nur ihren Umständen entsprechend, könnten nichts und hassten die, die etwas könnten. Leute wie ihn also. Als ob das sein Problem wäre. Kam er aus besseren Verhältnissen? Ja. War sein Leben besser als das dieser erbärmlichen Würmer? Ja. Aber er würde sich doch nicht schlecht fühlen, nur weil er in einem großen Haus mit Swimmingpool groß geworden war. Wo kämen wir denn da hin? »Wehret den Anfängen«, sagte er immer.
Mit »sagte er immer« meine ich natürlich, dass er es immer sagte, seitdem er es seinen Vater einmal im Gespräch hatte verwenden hören.
Diese Wichser hätten doch schon damals versagt. Das Leben wäre ein Spiel und er wisse, wie man es spiele. Er hätte so gut wie gewonnen. Er wäre im ersten Jahr seines Studiums und wisse, dass er sich nicht anzustrengen brauche. Er wäre tatsächlich zu gut für diese Universität. Der einzige Grund, warum ihn bei solchen Reden niemand unterbrach, war der, dass Hep sich als braver Zuhörer bei den Reden der anderen erwies. Auch das war unausgesprochener Teil des Vertrags.
Eigentlich wäre er an diesem Tag einfach liegen geblieben, aber er musste sich für ein Projekt mit Aurora, Lisa, Arthur und Jona treffen. Hep dachte sich in diesem Moment, der ihn seinen kostbaren Schlaf kostete, dass er bei dieser Weltverbessererscheiße auch nur mitmachte, weil er Aurora flachlegen wollte. Er war sich außerdem sicher, dass Arthur auch nur deswegen mitmachte. Aber erstens, dachte sich Hep, sähe er besser aus als Arthur, und zweitens trug er, Hep, teurere Klamotten, worauf Aurora großen Wert legte. Hep hielt sich zudem für sehr viel schlauer.
Was Hep nicht wusste, war, dass Arthur ein Mathematik-Genie war, das seinen Schulabschluss mit 17 gemacht hatte. Sein Unwissen kann man Hep in diesem Fall nicht vorwerfen, da Arthur es nie jemandem erzählt hatte. Trotzdem sollte Hep an diesem Tag nicht nur mit dieser Annahme falschliegen. Konsequent redete sich Hep weiter ein, dass Aurora ihm schon oft ihr Interesse zu verstehen gegeben hatte. Auf diesem Gebiet hatte er zwar bis jetzt überhaupt keine Erfahrung, aber er glaubte wie so oft fehl, dass für jemanden wie ihn die Liebe und das Körperliche keine wirkliche Herausforderung darstellten.
Ich gestehe einen gewissen Subjektivismus in der bisherigen Darstellung ein, deshalb bitte ich Sie, selbst einen Blick in den Gedankengang dieses Fehlers zu werfen.
In diesem Moment dachte er (der Fehler), dass Jona keine Konkurrenz für ihn sei, da er eine Freundin habe. Hep musste ihm zugestehen, dass Lisa ziemlich gut aussah, zu gut für Jona. Eine lange Zeit hatte er auch geglaubt, sie wolle etwas von ihm, und er wäre definitiv nicht abgeneigt gewesen, war aber halt echt nicht der Typ für was Ernstes. Wahrscheinlich der Grund, warum sie sich für Jona entschieden hatte. Das konnte nur ein Fehler gewesen sein, denn jetzt war sie voll am Arsch, was social standing anging und so. Sie machte bei dem Projekt offiziell auch mit, kam aber an diesem Morgen nicht, da Jona ihr versichert hatte, alles für sie mitzuschreiben, so dass sie länger schlafen könnte. Obwohl es in ihrer WhatsApp-Gruppe diskutiert wurde und Lisa am Anfang noch etwas dagegen gesagt hatte, bevor sie sich von Jona hatte überzeugen lassen, war Hep sich sicher, dass die beiden währenddessen zusammen auf dem Sofa lagen. Sie waren doch eher Normalos und dachten über so was nicht nach. Das war zumindest Heps Erklärung. Jona dachte die ganze Zeit, dass es ihm egal wäre, was andere von ihm dachten, aber Hep wusste, dass das nur an Lisa lag, da ihm außer ihr nichts wichtig war. So ein realitätsfernes Opfer. Jeder wäre doch alleine, wenn er sich nicht so verhalten würde, wie es den anderen passte. Jona war alleine, nur Lisa trennte ihn noch von diesem Schicksal. Früher war sie genau wie er, Hep. Deswegen hätten sie ja auch so gut zusammengepasst. Gefühlt war es ihr wichtiger als ihm gewesen, was die anderen dachten. Zu der Zeit dachte er auch, dass er sich das irgendwie zum Vorteil machen könnte. So psychologisches Zeugs. Abhängig machen von seiner Meinung und so was. Er schwor, es hätte geklappt, wenn Jona sie nicht so durch seine Nettigkeit verdorben hätte. Hat ihr die Unterstützung gegeben, die sie brauchte, wie in einem der alten Scheißfilme, die seine Mutter sich anschaute. Das hatte Lisa nicht gutgetan, denn jetzt war sie auch kurz davor, nur noch Jona zu haben, der immer noch viel zu nett war. Hep hätte es definitiv besser gemacht. Das heute war doch das beste Beispiel. Jona passte zu sehr auf sie auf. Sollte sie lieber mal etwas härter behandeln. Wie ein richtiger Mann. Wenn er Lisa hätte, würde er ihr zeigen, wo’s langgeht. Er hätte ihr besser getan. Er musste nur warten, bis Lisa Jonas ganzer Finanzlifestyle zu langweilig wurde und sie sich nach echten Männern sehnte. Nach einem Original. Nach einem Künstler. Dann wäre er an der Reihe. Bis dahin konnte es ja nicht schaden, bei Aurora einzulochen. Wenigstens einmal.
Gott sei Dank riss Heps Wecker ihn aus seinen Gedanken und gibt mir damit Anlass, Sie von dieser Kaskade zu erlösen, denn viel länger hätte ich das Ganze nicht guten Gewissens verantworten können.
Hep öffnete die Augen, sein erster kolossaler Fehler des Tages. Etwa 21 Jahre zuvor hatte er diesen Fehler schon einmal gemacht und seitdem konsequent täglich wiederholt. Zweifelsohne, ein Verbrechen gegen die Menschheit.
Auf Instagram hatte er gelesen, dass man eine Stunde nach dem Aufstehen ohne sein Handy verbringen müsse, da dies besser fürs Gehirn sei – und generell für das Mindset.
Glauben Sie mir, sein Gehirn war nicht mehr zu retten.
Er stand also auf, der zweite Fehler, und holte sein iPad Pro, entsperrte es und öffnete erst Instagram, dann Snapchat und schließlich TikTok. Nachdem er 15 Minuten seine Feeds gecheckt hatte, war er bereit für den nächsten Schritt. Sein zweiter Wecker klingelte und wies ihn darauf hin, dass er seine Zeit am iPad nun für sein morgendliches Workout unterbrechen müsse. Hep gratulierte sich selbst, dass er dies schon getan hatte. Es sind die kleinen Dinge, sagte er sich, die den Unterschied machen. Er nahm an, dass nicht jeder das verstehen müsse, aber erfolgreiche Leute machten das halt so. Beim Gedanken an Aurora hatte er eine Erektion bekommen, ging ins Bad und masturbierte. Er sagte sich, dass das vor allem gut sei für den Fall, dass er sie heute wirklich ficken würde, da er dann länger durchhalten könnte. Danach betrachtete er sich kurz im Spiegel und war sehr zufrieden mit seiner Form. Einsichtig, wie er war, wusste er natürlich, dass es Leute gab, die in besserer Form waren als er, aber die hatten dann wirklich nichts anderes im Leben zu tun. Dafür war er halt interessant. Einfach so und von Natur aus. Er müsste weiter nichts machen, aber das tat er sogar, weil er nichts dem Zufall überlassen wollte. 10 Seiten lesen am Tag. Politische Podcasts. Auch solche Dinge, das wusste er, machten den Unterschied zur durchschnittlichen Bevölkerung. Trotzdem machte er auch Sport. Er hatte sich die Pro-Version von Freeletics auf sein iPhone 14 geladen, neuestes Modell. Konnte dieses sogar mit seinem Flachbildfernseher verbinden, der wirklich hässlich an seiner Zimmerwand hing. So trainierte er. Immer morgens. Auch etwas, was nur jene taten, die ihre Ziele fest im Auge hatten. Er ging zurück in sein Zimmer und schaltete die Fußbodenheizung ein. Der Marmorboden im Bad hatte seine Füße runtergekühlt (und er wusste nicht, dass die Fußbodenheizung mehrere Stunden brauchte, um sich aufzuwärmen). Er ging direkt zum Perserteppich, der direkt vorm Fenster und direkt unter dem Samsung-Fernseher lag. 4K.
Glauben Sie mir, es bereitet mir Schmerzen, das vergangene Geschehen dieser Art niederzuschreiben, aber was tut man nicht alles für die Wahrheit.
Heps Sony-Funkwecker spielte gerade Bruno Mars. Sein Musikgeschmack war wie er, anders als der Rest. Nicht diese Mainstream-Popscheiße. Fürs Training motivierte es ihn aber nicht genug.
Er zog seinen Schlafanzug auss^= hätte er das vor dem Formcheck gemacht, dann wäre dieser vielleicht etwas deprimierender verlaufen (also noch deprimierender) – und warf ihn in Richtung Habitat-Wäschekorb, links neben der Flügeltür. Er traf nicht. Heute Abend würde er gewaschen und gebügelt auf seinem Bett liegen. Er öffnete Spotify und ließ sich die Trainingsplaylist seiner »Freunde« anzeigen und spielte sie ab, nur für den Fall, dass das Gespräch auf so etwas kommen würde.
Gute Frau, bitte verzeihen Sie mir dieses Kapitel, es ist notwendig für Ihr volles Verständnis der Ausgangslage an diesem schönen Frühlingsmorgen. Ich verspreche Ihnen, dass jeder weitere Protagonist dieses Epos interessanter und zugleich unterhaltsamer ist. Zudem wird die Handlung exponentiell an Fahrt aufnehmen, also haben Sie Geduld. Geduld und Zeit sind, wie Tolstoi schrieb, die beiden größten Krieger. Bitten Sie die beiden auf ein Tässchen Tee herein und ich schwöre auf den Leichnam vom lieben Gott, das Ganze wird nicht mehr lange dauern. Sie können die beiden Krieger dann sofort höflich bitten zu gehen. Noch ist es nicht so weit, denn Hep ist auf die Idee gekommen mitzurappen, während Kendrick Lamar über Doppelmoral sinniert. Die Ironie fällt natürlich allen auf, außer Hep, aber da er der einzige Anwesende ist, ist die Ausbeute dies betreffend sehr gering.
Hep musste sich motivieren, und er tat es durch Posen vorm Spiegel und durch Rappen mit sicherer Textunkenntnis. Durch Heps Sound-Surround-System von Bose ertönte Musik, die viel zu gut war für diesen verfluchten Ort. Das Meisterwerk näherte sich dem Ende und Hep ruinierte die Klimax, indem er mitsang:
»When gang-banging makes me kill a nigga blacker than me.«
Hep war weiß. Dafür war er jetzt hinreichend motiviert.
Würde er das gleiche Maß an Motivation auf Selbsterkenntnis richten, dann hätte er sich mittlerweile vielleicht schon umgebracht und das Kapitel wäre schneller vorbei. Natürlich tat er das nicht, denn das hier ist keine Utopie, und Wunder passieren nur in Märchen.
Er wählte »20 Minuten Core Training« aus und nutzte die Übungen für den unteren Rücken immer als Pause, wichtig waren ihm nur die für die Bauchmuskeln. Deshalb war er sehr stolz auf sich, denn für ihn handelte es sich um eine Art problemlösendes Denken. Nach dem Training war er immer »völlig fertig«. Es zeigte ihm, dass er an seine Grenzen ging. Wären diese Grenzen die eines Landes, dann die des Vatikans. Was innerhalb dieser Grenzen vor sich ging, war ähnlich menschenverachtend wie der Inhalt der Vatikangrenzen. Zum Beispiel schlug Heps Herz.
Er ging rüber zu seinem Habitat-Schrank, öffnete die linke Tür und griff ins obere Fach. Er war nicht so groß; dafür hatte er einen kleinen Hocker neben dem Schrank stehen. Dieser Hocker war außerdem ein Designerstück, deswegen würde, davon war er überzeugt, nie jemand auf die Idee kommen, dass er ihn brauchte, um an sein oberstes Fach, das Proteinfach, zu kommen. Das wäre ihm etwas peinlich gewesen. Seine Mutter war ebenfalls klein, deshalb hatte er auch das oberste Fach gewählt, denn sie hatte ihm den Gebrauch von Supplements verboten. Sie war auf dem Gebiet einfach nicht so belesen wie er. Er nahm sich Kreatin Monohydrat und Chocolate Protein Powder heraus, beides von MyProtein, und mixte sich die Getränke.
Endlich war der Moment gekommen, sein Handy zu öffnen. Während er die Getränke trank, öffnete er WhatsApp. Es gab nur eine neue Nachricht. Immerhin eine mehr als sonst. Arthur hatte in die Projektgruppe geschrieben, dass er sich verspätete. Hep freute dies ungemein, denn wenn auch Jona sich verspäten würde, was er meistens tat, wäre er mit Aurora allein. Ein Grund mehr sich zu beeilen.
Wie jeden Morgen vollführte Hep das Mauvaise-foi-Ritual des Sich-Einredens, es seien nicht mehr Nachrichten eingetroffen, da er so lange wach geblieben und dann vor allen anderen aufgestanden war. Der Fluch des Erfolgreichen; das sagte sein Vater immer. Er ging ins Bad, begab sich unter die Urwalddusche, die er 10 Minuten laufen ließ, während er darunter stand und leise zu Harry Styles mitsang. Als ihm der Gedanke an die Klimabewegung kam, musste er grinsen. Ihr spartanisches Leben führte dazu, dass er ohne die Spur eines schlechten Gewissens länger duschen konnte. Auch das sagte sein Vater immer. Er shampoonierte sich mit Versace Eros ein und duschte es danach ab. Dann trat er vor den Spiegel und trug Axe-Deo und Hugo-Boss-Parfüm auf. Er ging zurück in sein Zimmer, das Calvin-Klein-Handtuch noch auf den Schultern, bewegte sich zu seinem Habitat-Schrank und nahm einen Michael-Kors-Pullover, eine Gucci-Hose und ein Paar Lacoste-Socken heraus. Er zog sich an und warf das Handtuch neben seinen Schlafanzug. Daraufhin verließ er sein Zimmer, nahm seine Gant-Aktentasche, die auf der Mahagonitreppe stand, und ging nach unten.
Zum Glück waren seine Eltern nicht mehr da, denn er hatte das Gefühl, morgens allein sein zu müssen, um seine Gedanken zu ordnen.
Er nahm ein YFood aus dem LG-Kühlschrank und trank es schnell. Er dachte sich, das würde zeigen, wie effizient sein Denken war, und im Spiel des Lebens ginge es ja nur um Effizienz. Er dachte falsch. Mehrmals. Auf einmal. Sein geheimes Talent. Apropos, Sie haben es bald geschafft. Halten Sie durch.
Hep ging in den Flur und zog seine Balenciaga-Speedtrainer an. Sein Vater hatte auf seinen Wunsch hin den Ford genommen, deswegen konnte er den BMW nehmen. Als er nach draußen trat, schloss sich die Tür automatisch hinter ihm und er zog den Reißverschluss seiner Moncler-Weste bis nach ganz oben hin zu. Der Wind könnte ihn wieder mal für Wochen außer Gefecht setzen, wenn er nicht aufpasste. Als er sich hinters Steuer setzte, verband sich sein Handy automatisch mit den Lautsprechern. Statt Musik wählte Hep einen Podcast, der ihm das zusammenfassen sollte, was seit gestern in der Welt so alles vor sich gegangen war. Das Intro begann, als er von dem Grundstück seiner Familie auf die Hauptstraße und durch sein kleines Viertel fuhr. Die Häuser waren klassischer Vorstadtnatur; Heps Vater sagt das immer, und obwohl Hep sie schön fand, freute er sich auf den Tag, an dem er in ein Villenviertel wegziehen könnte, welches seinem Leben gerechter werden würde, denn was machte ein Leben hier für einen Sinn.
ES HEISST SINN ERGEBEN, DU DUMMER BASTARD. Sorry, kurzer Ausbruch der Gefühle. Es ist bald vorbei.
Aurora wohnte in einem wirklich teuren Villenviertel und ihr Haus war riesig. Wenn er sie heiraten würde, überlegte Hep, dann wäre er mit Sicherheit reich. Sie wollte ja ohnehin was von ihm, und Liebe wie in diesen alten Büchern existierte nicht mehr oder hatte eigentlich noch nie existiert. Er überlegte weiter, dass er hin und wieder ein bisschen offensiver sein könnte. Vielleicht könnte er sie heute nach einem Date fragen. Ein bisschen zeigen, wo’s langging und wer er wirklich war und was sein wirkliches Potential war. Er wäre mit Abstand die beste Option, die sie kriegen könnte, und eigentlich bräuchte er sie auch nicht, um reich zu werden; das schaffte er auch so. Der Reichtum war eher so etwas wie ein Bonus. Außerdem hatte sie den eh nur von ihrer Mutter geerbt, die ihn von ihrer Mutter geerbt hatte, und so weiter. Logisch betrachtet, wäre er bei ihm eindeutig besser aufgehoben. Er kannte sich mehr damit aus.
Die Tankanzeige des BMW leuchtete, Hep musste auf dem Rückweg tanken.
»Hey Siri, erinnere mich in zwei Stunden an Tanken und an einen Beleg.« Der Beleg war wichtig, damit sein Vater ihm das Geld zurückgeben konnte. Aurora und er könnten ins Kino oder essen gehen. Essen wäre besser, dann
könnte er sie mehr beeindrucken. Sie kannte wahrscheinlich die meisten Wörter, die er benutzte, nicht mal. Das würde punkten. Sie war nicht besonders schlau, dafür hatte sie andere Vorteile. Er könnte es ja einfach mal probieren, und wenn es ihm zu langweilig wurde, dann könnte er immer noch Lisa klarmachen, sobald sie mit Jona durch war.
Hep war mittlerweile im Stadtzentrum angekommen und fuhr auf die Universität zu. Kurz vorher bog er rechts ab und fuhr in die Tiefgarage. Die Schranke war problemlos hochgeglitten, da sein Vater einen Tarif hatte, der über irgendeine technische Sache im Auto Tickets kaufte, so dass er keines mehr brauchte. Das sparte Zeit, vor allem beim Rausfahren, und Zeit war tatsächlich Geld.
Beim Verlassen des Parkhauses achtete er darauf, dass seine Klamotten die Türklinke des Treppenhauses nicht berührten, und desinfizierte sich anschließend sofort die Hände. Dann ging er Richtung Café de Paris, das direkt neben dem Campus der Universität lag.
Vor der Tür standen schon Arthur und Aurora, rauchten und schienen auf Jona und ihn zu warten.
»Wo hast du deine Tasche gelassen?«, fragte Arthur zur Begrüßung, und Aurora, die Hep gerade umarmen wollte, hielt inne.
»Ja, Hep, du wolltest doch die Materialien mitbringen.«
Hep wollte überhaupt nicht. In einem sehr diktatorischen Demokratieverfahren wurde Hep bestimmt, derjenige zu sein, der das gesamte Material nicht nur beschaffen, sondern auch bezahlen musste. Er hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden und dachte sich dann, er könne es so gut machen, dass ihn alle bewunderten. Er kaufte also USB-Stick, Diktiergerät und einen Collegeblock von der teuersten Marke, packte seinen Laptop ein und vergaß alles in seiner Küche. Vor zwei Tagen hatte er bereits einen Paypal-Link in die Gruppe geschickt, den alle konsequent ignoriert hatten; auch nach mehreren Hinweisen Heps, die ebenfalls konsequent ignoriert wurden. Schließlich hatte er aufgegeben, aber mit dem Plan, dass die anderen ihn während ihres Café-Besuchs einladen mussten. Nun sah es so aus, als würde sich dieser nach hinten verschieben, nur wegen ihm. Trotz der frischen Frühlingsluft begann er zu schwitzen. Fuck. Er hatte die Tasche extra gestern schon gepackt und trotzdem vergessen. Kein guter erster Eindruck heute. Arthur lächelte. Er hatte ein nettes Lächeln, aber Hep war sich sicher, dass es nicht nett gemeint war. Er konnte bestimmt einfach nur nicht anders lächeln. Da hatte Hep mal recht.
Arthur hasste Hep, der diesen Hass leidenschaftlich erwiderte. Der einzige Grund, weshalb die Gruppe sich in dieser Konstellation traf, war der, dass Lisa und Aurora beste Freundinnen waren. Jona war mit Lisa zusammen und Arthur war irgendwie gut mit jedem. Das Projekt war auf fünf Personen ausgeschrieben, und obwohl Arthur meinte, es mache einen guten Eindruck, sich nicht an die Vorgaben zu halten, bestanden die anderen darauf, eine weitere Person zu fragen.
Das Projekt war darauf ausgelegt, Studenten zusammenzubringen, die sonst keinen Kontakt zueinander hatten, deswegen war eine weitere Vorgabe, dass alle Teilnehmer aus unterschiedlichen Studiengängen sein mussten. Schließlich hatte Aurora Hep vorgeschlagen, der, obwohl alle anderen ihn nicht ausstehen konnten, mit der Begründung gewählt wurde, dass man ihn ohne schlechtes Gewissen dazu verdonnern könne, sämtliche Materialien zu besorgen, und hier waren wir.
»Dann musst du sie wohl holen, Hephaistos«, sagte Arthur, während er 30 Sekunden lang versuchte, den starken Impuls zu unterdrücken, auf Heps Stirn zu klopfen und McFly zu fragen, ob jemand zu Hause sei. Die Gründe, die dagegensprachen, waren die, dass niemand außer Arthur den Witz witzig gefunden hätte, was ihn normalerweise nicht davon abgehalten hätte; aber solange Hep dabei war, hatte er sich vorgenommen, nur Sachen zu sagen, die Hep verdeutlichten, dass er keine Chance bei Aurora hatte. Zurück in die Zukunft hatten die beiden nicht gesehen, was Grund genug für Arthur wäre, die Freundschaft zu kündigen, aber da er keine Freundschaft zu den beiden pflegte, sah er dieses Mal großzügig darüber hinweg. Der andere Grund, der gegen die Anklopfaktion gesprochen hätte, war der, dass Arthur Hep so wenig wie möglich berühren wollte.
»Ja, natürlich«, antwortete Hep schnell und blickte dabei so auffällig auf Aurora, dass es allen Beteiligten peinlich war, obwohl Aurora von der Bestätigung durch das männliche Geschlecht lebte und obwohl Arthur solche Momente der Scham eigentlich selbst erschaffen wollte.
Hep blickte auf ihre enge Anzughose mit Bluse, offensichtlich ein Kostüm, der zugehörige Blazer guckte aus der Tasche. Hep tippte auf Armani. Hatte sie das nicht gestern schon angehabt? Wahrscheinlich hatte sie mehrere. Sah auf jeden Fall echt geil aus.
Arthur fragte sich, ob Hep bei seiner Betrachtung eigentlich bemerkt hatte, dass Aurora gerade eben so nicht als fett bezeichnet werden konnte. Er ekelte sich in diesem Moment etwas vor beiden.
Jetzt bloß cool bleiben, erinnerte sich Hep.
»Dann geht schon mal rein und wartet auf Jona, ich hole schnell die Tasche und komme dann wieder. 20 Minuten. Höchstens.«
Boom, das hatte gesessen. Hep war stolz auf sich. Er hatte gerade eiskalt deutlich gemacht, dass es ihm egal wäre, wenn die beiden allein waren, weil er wusste, dass es keine Gefahr gäbe, da er immer gewinnen würde. Er warf Aurora noch einen Blick zu, der, wie er fand, definitiv als Anmache gewertet werden konnte. Sie lächelte nett.
»Aber beeil dich, Zeit ist Geld«, rief ihm Arthur hinterher, während Hep beherrscht langsam zurückging, um keinen gestressten Eindruck zu vermitteln.
Das konnte ja jedem mal passieren. Ganz einfach. Kaum war er um die Straßenecke gebogen, sprintete er los. Er musste dafür sorgen, dass Arthur und Aurora so wenig Zeit wie möglich miteinander verbrachten. Fuck. Das war alles so dumm. Hoffentlich kam Jona bald. Hep begann zu schwitzen, und als er das Auto erreichte, war er schon klitschnass. Ausdauer trainierte er nie. Er musste sich zu Hause also auch noch umziehen. Ein gruseliger Gedanke kam ihm. Wieso war Arthur schon da gewesen; hatte er nicht gemeint, dass er später kommen wollte? Mit dieser weltbewegenden Frage, die nur die Welt eines kleinen, primitiven Geschöpfes wie Hep bewegen konnte, fuhr Hep nach Hause.
Lassen Sie mich Ihnen gratulieren. Sie haben es geschafft. Das schlimmste und anstrengendste Kapitel ist zu Ende. Imaginäres High-Five. Nice. Begeben wir uns zu meinem Helden, Arthur, der um 08:00 Uhr morgens an diesem Tag tatsächlich später gekommen war, und zwar auf Auroras Rücken.
Arthur war später gekommen als sonst. Aurora überlegte, ob er vielleicht trainiert hatte. Sie selbst hatte sich erst letzten Monat die Premium-Version einer Beckenbodentrainingsapp geholt und seitdem konsequent nicht benutzt. Sie wusste, dass sie es nicht nötig hatte, aber ihr hatte die Werbung gefallen. Generell brauchte sie kein Training, denn sie war eine Naturschönheit.
Arthur hatte sie die halbe Nacht über gut gefickt und das war definitiv besser als irgendeine andere Beschäftigung, die ihr in den Sinn gekommen wäre. Es war schon spät gewesen, als er sie angerufen und gefragt hatte, ob sie Lust hätte vorbeizukommen, um etwas zu essen. Gemeint war natürlich sein Penis. Aurora hatte Lust, brauchte aber auch die Bestätigung, gewollt zu sein. Arthur hatte weniger Lust, sondern das Bedürfnis, nicht allein zu sein, denn, so viel sei dem Leser verraten, dieser Tag markierte ein Jubiläum, welches ihm normalerweise schon schwer aus dem Kopf ging, heute allerdings mit der Beharrlichkeit eines Brokers aus den 90ern versuchte, auf sich aufmerksam zu machen. So gesehen hatten Aurora und das Ereignis viel gemeinsam. Arthur hatte gesunde Coping-Strategien wie Labeling und Achtsamkeit mit einer gewagten Mischung ungesunder Coping-Strategien aus Alkohol und Sex kombiniert, was schon an normalen Tagen ein absurd abgefahrener Cocktail gewesen wäre.
Heute war aber kein normaler Tag, und mit der Sicherheit, mit welcher der Wetterdienst das falsche Wetter vorhersagt, werde ich Ihnen frühestens in 100 Seiten von diesem Jubiläum erzählen, und dabei sind 100 Seiten überaus optimistisch kalkuliert. Das nennt sich nicht nur dramatische Ironie, sondern es hat sich so zugetragen, und wer wäre ich, diese Geschichte zeitlich zu verdrehen. Jetzt mag man einwenden, dass Arthur doch bestimmt permanent daran denke, und ich würde antworten, ob man nicht gut lesen könne, denn offensichtlich tue er alles, um nicht daran zu denken. Ein weiterer neunmalkluger Einwand würde vielleicht lauten, dass der verwendete Effekt keinesfalls dramatische Ironie, sondern foreshadowing sei. Dieser Einwand wäre berechtigt, und ich würde mich dafür bedanken, denn ein Fehler kann ja wirklich jedem mal passieren, und mein Ego ist nicht so groß, dass ich ihn nicht einsehen könnte. Wie ich im ersten Kapitel bewiesen habe, kenne ich mich mit Fehlern gut aus. Einer von ihnen heißt Hep. Zurück zum Fischglas.
Es war das erste Mal, dass Aurora bei Arthur war; vorher war er immer bei ihr gewesen. Es hatte sie interessiert, wie er lebte, aber abgesehen davon wäre sie so oder so gekommen. Sie war sich der Wirkung, die sie auf Typen hatte, bewusst.
»Es soll jetzt nicht abgehoben klingen«, versicherte sie immer ihren BFFs. »Aber es ist irgendwie wie ein Fluch. Gefühlt jeder Mann, den ich treffe, will mich für mein Aussehen und immer nur das eine. Ich hätte auch gerne männliche Freunde wie ihr.«
Aus offensichtlich nachvollziehbaren Gründen hassten Auroras BFFs sie, aber sie hatte es durch eine beträchtliche Menge fake it till you make it geschafft, den Status einer beliebten Nutte zu erringen. Es war wirklich faszinierend: Die Typen wollten sie, die Mädchen wollten sie als Draht zu den Typen. Von den Typen wollte sie nur das eine, von den Mädchen Unterstützung. Sie war überall dabei, denn es konnte nie schaden, eine Nutte auf der Party zu haben. Sie brachte immer eine Horde kreischender Fangirls mit, die den ganzen Scheiß so wenig durchschauten wie sie selbst, und wenn Arthur sie anrief, kam sie.
Obwohl Arthur sonst nicht ihr Typ war (sie glaubte, dass sie es sich erlauben könne, wählerisch zu sein), da seine Familie zu wenig Geld besaß, fand sie ihn interessant. Er studierte Physik, und es war Aurora ein Rätsel, wie er an das Geld kam, das er angesichts seiner Wohnung besitzen musste.
Überall hingen Fotografien, eine Kombination aus alten Filmpostern, den Schauplätzen der schönsten Naturereignisse und David Bowie. An zwei Wänden standen lange Bücherregale, die mit Klassikern gefüllt waren (die Arthur anfangs nur gelesen hatte, um sich gezielt Charisma zuzulegen, wobei er dann aber der Lesesucht verfallen war, wie Jared Leto in Requiem for a Dream) und Selbsthilfebüchern. In einer Vitrine thronte eine Erstausgabe des Hitchhikers Guide through the Galaxy, und der Rest der Wohnung war in dunklen Tönen und schlichten Möbeln gehalten, welche teilweise auf eine große Glasfront ausgerichtet waren, die sich durch die ganze Wohnung zog wie ein Fluss.
Aurora hatte in ihrem gesamten Leben kein einziges Buch gelesen. Auch deshalb tat sie sich mit ihren Jurabüchern schwer.
Sie fand, die Regale hatten trotzdem etwas Exzentrisches. Sie kannte das Wort, weil ihre Mutter ihr auf die Frage, warum sie so viele Bücher zu Hause hatten, die keiner las, geantwortet hatte, das sei exzentrisch.
Aurora lag in einem großen Queensizebett, dessen Qualität sie beeindruckt hatte. Nie wäre ihr in den Sinn gekommen, dass es sich bei diesem Raum nicht um Arthurs Schlafzimmer handelte. Arthur hatte die Vorstellung etwas eklig gefunden, dass Aurora sein schönes, frisch bezogenes Bett vollschwitzen würde; deswegen hatte er nach seinem Anruf schnell das Bett im Gästezimmer hergerichtet. Arthur bekam zwar nie Gäste, aber wenn, dann schliefen sie in seinem Bett. Doch Aurora war die Mühe definitiv wert. Sie schwitzte beim Koitus so stark, dass man glatt auf die Idee kommen könnte, sie hätte es noch nie gemacht. Auf die Idee kam trotzdem keiner, denn der Mensch war ja ein vernunftbegabtes Wesen. Zumindest in der Theorie.
Für Aurora war die Wohnung jedenfalls einen Tick zu dunkel; ihr eigenes Haus war ihr lieber, denn es war eingerichtet wie ein Schloss. Kronleuchter, weiße Marmorböden, und irgendwo dazwischen liefen ein paar weitere verlorene Seelen durch die Gegend, die so teuer gekleidet waren, dass man ihnen den antrainierten Seelenverlust sofort ansah, vorausgesetzt, man trug nicht die gleiche Uniform wie sie. Wie Aurora hatte auch Arthur einen begehbaren Kleiderschrank, in dem er soeben verschwunden war. Sie nutzte die Gelegenheit, um ins Bad zu gehen.
Hier waren sogar die Wände schwarz gekachelt. Todschick. Sie stellte sich unter die Dusche und entspannte. Aus einem verregneten Donnerstagabend hatte sie definitiv das Beste gemacht, und jetzt würde sie aus einem Freitagmorgen das Beste machen. Lisas prophezeite Abwesenheit nervte sie ein wenig. Nicht weil Aurora Wert auf ihre Meinung legte, nicht in dem Sinne zumindest, sondern weil sie sich sicher sein konnte, dass Lisa immer ihrer Meinung sein würde. Zumindest würde sie sich nicht trauen, etwas anderes zu sagen. Jona hingegen würde wahrscheinlich aus Prinzip nicht ihrer Meinung sein. Ihn könnte man umerziehen, indem man Lisa erzog, da sie das Einzige war, was ihn zu etwas bewog. Sie war sich ziemlich sicher, dass er ohnehin lieber gar nichts mehr mit irgendwem machen und stattdessen mit Lisa die Zeit zu zweit verbringen würde. Aber das würde sie nicht zulassen.
Bei all dem Nachdenken über die Meinungen anderer war es Aurora komplett entfallen, dass sie selbst keine hatte.
Arthur und Jona würden beide so von sich selbst überzeugt sein, dass die klägliche Unterstützung, die Hep ihr bieten könnte, nicht ausreichen würde. Sie trat aus der Dusche und wickelte sich eins der Handtücher um den Körper, die sie äußerst erlesen fand. Arthur hatte sie extra dort platziert, da es sich seiner Meinung nach um die hässlichsten handelte, die er besaß. Vor dem Spiegel angekommen, betrachtete sie ihr Gesicht, das ihr nach der Dusche, nun ungeschminkt, nicht mehr wirklich gefiel. Sie begann es zu massieren, was den nun eintretenden Arthur dazu animierte, verdutzt zu gucken.
»Ich mache face yoga«, erklärte sie.
»Hast du auch nötig«, lautete die Antwort.
Nach kurzer Pause folgte ein:
»Wollte fragen, ob du auch Irish Coffee willst.«
»Spinnst du? So früh? Meine Hausärztin meinte, ich soll gar nicht mehr trinken. Deswegen fang ich jetzt immer erst um 12 an.«
Arthur lachte, aber es war kein Witz gewesen. Sein Lachen erstarb, nicht weil er sich schämte, sondern weil ihm eingefallen war, dass Aurora weniger Humor hatte als etwas, was dafür bekannt war, sehr wenig Humor zu haben.
»Komm gleich wieder«, sagte Aurora nur, »ich muss mich ein bisschen über Lisa aufregen.« Es klang wie ein Befehl, was daran lag, dass es einer war.
Arthur ging zurück in die Küche und vollendete den Prozess der Irish-Coffee- Herstellung und ging dann zurück zu Aurora, die er nicht im Mindesten attraktiv fand, weshalb er den Fortpflanzungstrieb bewunderte, der es geschafft hatte, ihm nicht nur ein-, sondern gleich viermal eine Erektion zu bescheren, die ausreichte, um ihn zumindest für die so oder so schlaflosen Stunden zwischen 2 Uhr nachts und 8 Uhr morgens abzulenken. Er nahm einen Schluck und spürte, wie sein Körper sich gegen den Alkohol wehrte. Heute (an diesem SEHR WICHTIGEN Datum) konnte er darauf keine Rücksicht nehmen, obwohl er sonst keinesfalls wie Aurora war. Er hatte ein schlechtes Gewissen wegen mehrerer Dinge und entschied sich deswegen, gleich noch ein Getränk zuzubereiten. Ein weiterer Pluspunkt wäre, nicht länger mit Aurora sprechen zu müssen, die er jetzt fast schon abstoßend fand. Aus Erfahrung wusste er, dass dieser Ekel noch zunehmen würde, so wie er es immer getan hatte. Arthur lernte aus seinen Fehlern, aber er machte sie gerne nochmal, um den gleichen Schmerz zu erleben wie beim ersten Mal, nur damit dieser, zumindest für eine kurze Zeit, den anderen übertünchte.
Die Natur seiner Angst an diesem Morgen war die blanker Panik, die von ihm Besitz ergriffen hatte, als wäre er nur eine Marionette und die Angst seine übermächtige Puppenspielerin. Diese Marionette war über die Planke gegangen und schwamm nun, machtlos wie ein Papierschiffchen, an der Oberfläche des Atlantiks, in düsterer Antizipation dessen, was unter ihr auf sie lauerte. Kurz: Arthur war einfach nicht er selbst.
Als er fertig war, ging er zurück ins Gästebad. Aurora war auf TikTok und zeigte ihm, ohne Nachfrage, ein Mädchen, das grob geschätzt 23,468-mal besser aussah als sie, und fragte ihn:
»Die ist doch safe operiert, oder nicht? Sieht richtig scheiße aus.«
»Ich verstehe nicht, warum sie das Geld nicht einfach in eine Rasierklinge investiert hat. Wäre viel billiger gewesen und hätte die Welt zu einem besseren Ort gemacht.«
Aurora dachte kurz über das Gehörte nach, dann begann sie sich zu empören: »Sowas kannst du doch nicht sagen. Das ist so assi und ekelhaft.«
»Es sind nur Wörter«, antwortete Arthur. »Sie bedeuten nichts.«
An seinen schlechten Tagen war Arthur Zyniker durch und durch, und Aurora hasste Zyniker, ohne genau zu wissen, dass es sich bei dem, was sie hasste, um Zynismus handelte.
Aurora erwiderte nichts und hatte stattdessen angefangen, den Account des Mädchens zu stalken.
»TikTok schafft so ein falsches Gefühl von Zugehörigkeit. Vom Dabeisein. Wenn du nach dem Aufwachen als Erstes auf TikTok gehst, dann fühlst du dich eingebunden in eine Welt, die nicht existiert«, Arthur begann leicht zu lallen. »Diese Abhängigkeit, eingebunden zu sein, führt zu einer weiteren Abhängigkeit und andersrum auch«, schloss er.
Arthur ging Aurora jetzt gehörig auf die Nerven, was natürlich genau seinem Ziel entsprach. Sie wünschte sich, sie wäre zu Hause, aber das hätte keinen Sinn, denn sie müssten sich ja eh bei dem Café treffen.
»Bestell schon mal einen Uber«, sagte sie.
Arthur sagte nichts. Er sah aus, als wäre er mit einem Schlag wieder nüchtern geworden, und so fühlte er sich auch. Sie sah ihn fragend an.
»Hasse Ubers«, sagte er nur. »Halten sich für was Besseres, nur weil sie billiger sind«, fügte er erklärend hinzu. Er fühlte sich ertappt, deswegen log er weiter:
»Offensichtlich ist es andersrum. Ich meine, wer von beiden kennt seinen Wert nicht und prostituiert sich für eine Firma, die sie wie Dreck behandelt? Taxis haben noch so was Old-school-Mäßiges. Jeder große Denker der letzten 100 Jahre ist bestimmt schon mal Taxi gefahren und noch nie diese Uberscheiße.«
Arthur war gut darin, Meinungen zu vertreten, die er überhaupt nicht vertrat. Worte waren Werkzeuge.
»Ja«, sagte Aurora nur.
Ihre Familie hatte einen Fahrer, und Arthurs Gerede war mit der Präzision eines unbeaufsichtigten Kleinkindes, das aus Versehen gegen einen zufällig bereitstehenden Glastisch donnert, an ihrem bewussten Ich abgeprallt. Möglicherweise hatte sie nicht zugehört, weil es ihr egal war; vielleicht war es aber auch, weil ihr tiktokdopaminvergewaltigtes Gehirn eine Aufmerksamkeitsspanne von ungefähr 10 Sekunden besaß.
Arthur fuhr sonst Fahrrad, tat jetzt so, als würde er das Taxi nur für Aurora bestellen, obwohl es offensichtlich war, dass er gleich nicht mehr fahren könnte, wenn er getränketechnisch so weitermachte.
Aurora dachte sich, dass er ihr auch ruhig Taxi-Geld geben könnte, schlug es aber nicht vor, da sie es für unangemessen hielt. Sie war ja schließlich keine Nutte.
Stattdessen kam sie auf ihr ursprüngliches Anliegen zu sprechen:
»Jetzt hör mir mal kurz über Lisa zu: Ich will wissen, wie du darüber denkst.«
Arthur nickte langsam und wusste, dass es ihn nicht interessieren und dass auch Aurora seine Meinung nicht interessieren würde. Ihr Wunsch war, wie er wusste, pure Bestätigung, aber er war der Meinung, ihr durch seine bloße Anwesenheit und durch die vorangegangene Nacht genug Bestätigung gegeben zu haben. Nein, nicht genug, zu viel. Was glaubte diese dahergelaufene Marguerite Gautier eigentlich, wer sie war? Er war so viel besser als sie, dass es fast schon weh tat, über die letzte Nacht nachzudenken. Aber das war nicht der einzige Grund. Als hätte Aurora Arthurs Gedanken lesen können, nur um sich dann dazu zu entscheiden, das Gedachte zu ignorieren, fing sie an zu reden.
Ihre Stimme war schrill und schnell, wie die Pfeife eines Zuges. Arthur wünschte sich Irish Coffee ohne Coffee.
»Jona ist nicht gut für Lisa. Sie auch nicht für ihn, aber der Wichser ist mir scheißegal. Meine Meinung ist alles für sie gewesen. Alles. Ich konnte mir einfach sicher sein, dass sie hinter mir steht. Hörst du mir überhaupt zu?«
Arthur hatte den Fehler begangen, seine Augen durch den Raum wandern zu lassen, weil er Aurora weder sehen noch hören wollte; aber sie war gut darin, Ungehorsam zu entdecken, weil er ihr so oft widerfuhr.
»Klingt, als würdest du Lisa wirklich wegen ihrer Persönlichkeit vermissen«, sagte er nur.
»Sie hat keine Persönlichkeit gehabt, außer meine beste Freundin zu sein. Sie ist in der Rolle ganz aufgegangen. Weißt du, was Gaslighting ist, Arthur?«
»Ich bin mir sicher, du weißt es.«
»Wenn jemand Aufmerksamkeit gibt und nimmt als Belohnung oder Bestrafung für das Verhalten einer Person, so dass diese abhängig wird vom Urteil und Verhalten des Gaslighters. Zudem lässt man die andere Person glauben, ihre Weltsicht sei falsch. Ich hab das schon mit 14 gelernt; darkpsychology auf YouTube. Als Frau musst du sowas wissen; die Welt ist voll mit falschen Schlangen. Es basiert auf der klassischen Konditionierung.«
Arthur wusste, was Gaslighting war, und Aurora hatte seine Spitze nicht verstanden.
»Scheint so, als bräuchte man es nur, wenn man nichts Mögenswertes an sich hat.«
»Du hast keine Ahnung. Jona hat es perfektioniert. Lisa war wie seine kleine Versuchsratte. Sie hat zu gut ins Muster gepasst. Ein kleines dummes Hündchen, das alles befolgt hat, was man ihm sagt. Sie war die vollkommene Vermenschlichung von Pawlows Hund; oder was glaubst du, warum wir sie nur noch so selten sehen?«
Abgesehen von dem exponentiell steigenden Ekel, den Arthur empfand, fragte er sich, wieso dieser Wortwechsel Aurora halbwegs intelligent klingen ließ. Er kam zu dem Schluss, sie müsse diesen kleinen Monolog schon oft gehalten haben, und dass ihr bestimmt irgendwelche Untertanen geholfen hatten, ihn zu perfektionieren. Dem Leser sei verraten, dass er recht hatte. Es war das ungefähr zweiundsiebzigste Mal, dass Aurora über Lisa lästerte und dabei versuchte, intelligent zu klingen.
Ein Pädagogikstudent, der zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst hatte, wie einfach es war, Aurora ins Bett zu kriegen, und der es offensichtlich dringend nötig hatte, hatte ihr geholfen den Vortrag zu ergänzen, indem er Fakten beisteuerte.
Ich hoffe, er hat es am nächsten Morgen bereut, aber die Wahrscheinlichkeit ist recht hoch, denn das tun sie alle.
»Jona war wie der Gegenpol. Für alles, was ich ihr beigebracht hab’, nahm er ihr das 10-Fache. Lisa sieht nicht so gut aus wie ich, aber sie könnte jederzeit jemand Besseren finden. Er wollte sie doch auch nur ficken, und was hat sie jetzt davon?«
Arthur dachte, dass Lisa 10-mal besser aussah als Aurora. Und dass sie ihm leidtat, obwohl er sie nicht besonders gut leiden konnte. Denn mit einer Sache hatte Aurora recht: Jona und Lisa würden früher oder später ihre Beziehung beenden, auch wenn der Grund nicht war, dass es bessere Typen als Jona gegeben hätte. Arthur konnte auch ihn nicht besonders leiden. Aber er würde nicht anfangen, sich selbst zu belügen; er war ja schließlich nicht Aurora.