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Mit sechs Jahren kommt Heinz 1965 in ein Heim der Caritas. Er fällt einer sadistischen Erzieherin und einem sexuell gewalttätigen Priester in die Hände. Als Waise ist er schutzlos Missbrauch und Misshandlung ausgeliefert. Mit 16 verlässt er das Heim: endlich frei, aber ohne Perspektive. Heute ist er 66. In den 50 Jahren dazwischen gründet er eine Familie und geht einem Beruf nach. Das, was er als Kind erlitten hat, behält er lange für sich. Erst seit einigen Jahren erzählt er von seinen Erinnerungen, schreibt sie auf und sucht Verbündete im Ringen um Gerechtigkeit. Er kämpft dafür, dass die Schuldgeschichte der kirchlichen Heime endlich aufgearbeitet wird. Denn Heinz ist kein Einzelfall. Was er zu sagen hat, spricht für sich. Und er spricht für viele. Christiane Florin erzählt die Geschichte eines Mannes zwischen Mut, Wut und Verzweiflung. Sie konfrontiert die Institutionen mit seiner Biografie – und bekommt Lippenbekenntnisse. Was war? Wie war es möglich? Wer übernimmt Verantwortung? Eine Recherche, die bewegt.
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Seitenzahl: 150
Veröffentlichungsjahr: 2025
Christiane Florin
Keinzelfall
Wie Heinz ein katholisches Heim überlebte
Patmos Verlag
1. Das Erwachen Ein Alptraum im Frühling
2. Das Café am Bahnhof Was weiß ich schon vom Heim? Was weiß ich schon von Heinz?
3. Junger Mann zum Mitreisen gesucht Heinz nach dem Heim
4. Der böse Wikinger Männlichkeit, Kraft und Ohnmacht
5. Reine, makellose Frömmigkeit Die Vorgeschichte des Heims
6. Der Ausgelieferte Schläge, Schimmel und bunte Pillen
7. Die Vermessung der Schuld Heimsuchung und Heimstudien
8. Sieben Jahre lang die Hölle auf Erden Was Heinz selbst schreibt
9. Wat willste machen? Schuld, Geld und Gerechtigkeit
10. Du guckst keinem hinter den Kopp Der Aufarbeiter und die Konkurrenz der Opfer
11. Der Schuss hallt nach Neujahr 1965
12. Ein Leben und ein Totenbrief Der Präses als guter Hirte
13. Mut und Wert Das Unrecht macht nicht Feierabend
Zum Nach- und Weiterlesen
Studien
Kleine Erschütterungsbekundungssammlung
ÜBER DIE AUTORIN
ÜBER DAS BUCH
IMPRESSUM
HINWEISE DES VERLAGS
Als Heinz* aus unruhigen Träumen erwacht, blutet seine Hand. Er blickt zuerst in das Gesicht seines Sohnes, dann sieht er seine Frau. Sie weint. Sie hat den Sohn geholt, weil sie Angst bekam, als Heinz in der Nacht um sich schlug. Einige Schläge haben den Nachttisch getroffen, daher die Verletzung an der Hand. Der Sohn ist kräftiger als Heinz, wiegt doppelt so viel. Er hält den Vater fest, umklammert dessen Arme.
Was ist mit dir los?, fragt Heinz’ Frau. Ich kann nicht darüber reden, sagt Heinz. Schreib es auf, sagt seine Frau. Sie geht zur Arbeit, innerlich aufgewühlt, nach außen wie immer.
Es ist ein Frühlingsmorgen des Jahres 2021. Heinz setzt sich hin und schreibt.
Ich wurde unserem Präses Ott* am Freitag nach der Schule vorgestellt. Meine Erzieherin Schwester Ilse* war dabei. Ich weiß nochgenau, wie beide sich angegrinst haben und Schwester Ilse sagte: Ich habe neues Fleisch für dich, er hat keine Eltern und wir brauchen nicht aufzupassen. Erst war Präses Ott nett zu mir, weil ich nicht wusste, was es bedeuten soll, was Schwester Ilse zu ihm gesagt hatte.
Am Samstag kommst du zur Anprobe, du wirst Messdiener. Am nächsten Tag begleitete Schwester Ilse mich zur Kirche. Hinter uns wurde von Präses Ott die Tür verschlossen. Zieh das Gewand mal an, hörte ich ihn sagen. Ich wollte mir das Messdienergewand überziehen. Als ich es über dem Kopf hatte, bekam ich eine schallende Ohrfeige. Ich schrie vor Schmerzen. Du Schwein, sagten beide zu mir, du kannst doch nicht das Gewand über deine Dreckssachen anziehen! So begann mein Leid.
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Heinz wurde 1958 in einer Ruhrgebietsstadt geboren. Als er sechs Jahre alt war, am Neujahrstag 1965, tötete sich sein Vater selbst. Die Mutter starb eineinhalb Jahre nach ihrem Mann, im Sommer 1966. Mit acht Jahren war der Junge Vollwaise.
Heinz stammt aus einer Großfamilie, Thelen werde ich sie in diesem Buch nennen. Der echte Nachname ist ein anderer. Er wuchs mit neun Geschwistern und Halbgeschwistern auf. Im Zuge meiner Recherchen habe ich über seine Herkunft etwas für ihn Neues, besonders Schmerzhaftes herausgefunden.
Ich werde in diesem Buch an mehreren Stellen von »Heinz’ Familie« schreiben. Als wir uns kennenlernen, hat Heinz für das, was er als Kind verlor, kein Wort. An die Mutter kann er sich kaum erinnern, mit dem Vater verbindet ihn mehr. Vor allem die Frage: Warum nur, Vatti, warum nur hast du das getan?
Er ist der Sohn, der auf denselben Vornamen getauft wurde wie der Vater. Nach dem Suizid wurden die meisten Geschwister in Pflegefamilien untergebracht. Schon vorher waren die vielen Kinder der Thelens ein Fall für die Jugendfürsorge. Heinz und sein jüngerer Bruder Paul* kamen gemeinsam ins Heim. Die anderen verlor er aus den Augen. Wichtige Dokumente, Fotos, Erinnerungsstücke – fast alles weg, bis auf die Sterbeurkunden der Eltern.
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Heimkinder sind keine homogene Gruppe, das typische Heimkind gibt es nicht. In Einrichtungen der Fürsorge kamen Minderjährige damals aus sehr unterschiedlichen Gründen. Bei »Gefährdung oder Schädigung der leiblichen, geistigen oder seelischen Entwicklung« konnten Jugendämter die Einweisung als »Freiwillige Erziehungshilfe« verfügen; dies setzte voraus, dass die Sorgeberechtigten einverstanden waren. Wenn der »Missbrauch des Erziehungsrechts«, »Vernachlässigung« oder »ehrloser und unsittlicher Lebenswandel« nach Ansicht der Behörden schon weit fortgeschritten waren, konnte ein Vormundschaftsgericht ohne Zustimmung von Mutter oder Vater Fürsorgeerziehung anordnen.
Den Rahmen gab das »Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt« vor. Es stammte aus der Weimarer Republik und wurde 1961 in »Gesetz für Jugendwohlfahrt« umbenannt. »Jedes deutsche Kind hat ein Recht auf Erziehung zur leiblichen, seelischen und gesellschaftlichen Tüchtigkeit«, verkündet Paragraf 1. Das Gesetz regelt Zuständigkeiten, schafft Ordnung. Erziehung formte nach damaliger Vorstellung Kinder zu nützlichen Mitgliedern der Gesellschaft. Erwachsen ist, wer sich anpasst.
Minderjährige, »Halbstarke« zumal, wurden von den Tüchtigen misstrauisch beäugt. Fehlte den Jungen und Mädchen diese Wohlfahrt im Sinne des Gesetzes, galten sie als Gefahr für die moralische Ordnung der jungen Bundesrepublik. Die Ersatz- und Fürsorgeerziehung sollte die Gesellschaft davor schützen, mit den Folgen fehlender oder falscher Formung konfrontiert zu werden. Heime waren in den 1960er-Jahren noch immer qua Auftrag Verwahranstalten wider die Verwahrlosung. Das Stigma war sozialpsychologisch gewollt. Es erlaubte den Gutbürgerlichen, sich von den Deklassierten abzugrenzen. Auch die Kleinbürgerlichen und Arbeiter in geordneten Verhältnissen hatten immerhin noch jemanden, über den sie sich erheben konnten.
Heinz und sein jüngerer Bruder Paul gehörten schon vor dem ersten Heimtag zur untersten Klasse, auch wenn sie selbst es nicht so ausgedrückt hätten. Sie wuchsen in einer Holzbarackensiedlung auf, unter »Asozialen«. So stand es völlig selbstverständlich in der Lokalzeitung. Das Wort aus dem Nazi-Vokabular überlebte das Ende des NS-Regimes lange. Im Wirtschaftswunderdeutschland diente es dazu, die tüchtigen, gesellschaftlich nützlichen Armen von den vermeintlich faulen und unnützen abzugrenzen.
Heinz’ Vater arbeitete auf dem Bau, die Mutter kränkelte. Das Geld war ständig knapp, die Verwandtschaftsverhältnisse unübersichtlich. Als Vater und Mutter noch lebten, fiel Heinz nicht auf, wo andere ihn sozial verorteten. Nachdem die Eltern gestorben waren, spürten er und sein Bruder das doppelte Stigma. Als Jungs aus der Barackensiedlung standen sie außerhalb der sozialen Hierarchie der Bundesrepublik. Das Aufstiegsversprechen, das elterliche Nachkriegsmantra »Unsere Kinder sollen es einmal besser haben« galt für sie nicht. Als Vollwaisen rangierten Heinz und Paul ganz unten in der Heimhierarchie.
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Drei, vier Seiten schreibt Heinz an diesem Frühlingsvormittag 2021. Über den Priester, der ihn in der Sakristei umarmte, der ihm erst sein Glied und dann eine Kerze in den Po schob, zur »inneren Reinigung«. Von der Erzieherin, die zuschaute und dem Jungen mit dem Schlüsselbund auf den Rücken schlug, wenn er nicht gehorchte.
Heinz’ Frau weiß, dass ihr Mann im Heim aufgewachsen ist. Dass er dort Grießbrei essen musste bis zum Erbrechen. Dass ihn die Erzieherin mit dem Kleiderbügel schlug, mal mit, mal ohne Begründung. Ich war der Prügelknabe, hat er oft zu seiner Frau gesagt.
Unruhige Träume hatte er schon einige Jahre vorher. Auf Facebook postete er 2016, er spüre die aufwühlenden Erinnerungen an die Zeit im Heim in sich aufsteigen. Dass da irgendetwas mit sexualisierter Gewalt gewesen sein muss, ahnte er. Aber darüber sprechen konnte er in diesen Jahren noch nicht.
Als seine Frau abends von der Arbeit nach Hause kommt, schiebt ihr Heinz seinen Text hin. Wörter wie »Leid«, »Hölle auf Erden«, »Vergewaltigung« stehen da. Die beiden sind mehr als 35 Jahre verheiratet. Heinz hat ihr von Misshandlungen erzählt, nie von sexuellem Missbrauch. Sie weint, als sie seine Aufzeichnungen liest, nimmt ihn in den Arm, tröstet ihn.
Von da an träumt er jede Nacht vom Priester und seiner Komplizin. Er hört seine Stimme und die der Erzieherin, drei Wochen lang. Manchmal wiederholen sich die Szenen, oft tauchen neue auf. Nachts schlägt Heinz wild um sich. Bisher hat seine Hand nur den Nachttisch getroffen, er hat sich selbst verletzt. Er hat Angst, während eines Alptraums seine Frau zu schlagen. Er bittet sie, in einem anderen Zimmer zu schlafen.
Heinz hat eine Förderschule besucht, vom Heim aus fuhren er und sein Bruder mit dem Bus dorthin. Als er Kind war, hieß das noch Sonderschule. Schreiben fiel ihm schwer, er empfand es oft als Strafe. Tagebuch hat er nie geführt. Seit jenem Frühlingsmorgen notiert er, was er geträumt hat. Das aufzuschreiben ist wie eine Befreiung, sagt er.
Mein Kontakt mit Heinz kommt im Digitalen zustande, für mich ist er damals noch Herr Thelen. Ende Mai 2022, gut ein Jahr nach seinen Alpträumen, schreibt dieser Herr Thelen mir eine Nachricht. Er bedankt sich für ein Gespräch im Deutschlandfunk mit dem Autor und geistlichen Lehrer Pierre Stutz. Stutz war römisch- katholischer Priester, outete sich als homosexuell und legte im Sommer 2002 sein Priesteramt nach 17 Jahren nieder. Über sexuellen Missbrauch haben wir in dem Radiointerview nicht gesprochen, aber über Missbrauch geistlicher Autorität. Stutz kritisiert das patriarchale Machtsystem der Kirche; dagegen wolle er kämpfen, sagt er, auch wenn er die Früchte dieses Kampfes nicht mehr selbst ernten könne. »Wir stehen nicht mehr zur Verfügung für dieses Unrecht, für diesen Machtapparat«, stellte er im Interview klar.
Herr Thelen liest keine spirituellen Bücher, auch keine Sinn-Bestseller aus dem Regal »Achtsamkeit & Seele«. Aber was Pierre Stutz im Radio sagte, imponiert ihm. Ein Mann, der weiß was er will und dazu steht, schreibt er mir über den Messenger-Dienst. Ich antworte digital distanziert: Sehr geehrter Herr Thelen, vielen Dank, es freut mich, dass Sie das Interview mit Gewinn gehört haben …
Eine Viertelstunde später finde ich eine längere Nachricht in meinem Postfach. Sieben Jahre lang sei er jeden Sonntag in der Kirche eines Kinderheims missbraucht worden. Er leide heute noch darunter, schreibt der mir damals noch unbekannte Mann. Beweisen könne er den Missbrauch nicht.
Ich wurde auf das Schlimmste erniedrigt. Ich konnte mich niemandem anvertrauen. Ich wurde gezwungen, Schimmeliges zu mir zu nehmen, ich mochte es nicht, musste aber aufessen, sonst bekam ich nichts anderes. 3lange Tage habe ich gebraucht, um das zu schaffen. Und: Ich war immer ein Mensch zweiter Klasse.
Eine Lebenserinnerung, komprimiert auf gut 1500 Zeichen, adressiert an eine Frau, die er nur aus dem Radio kennt.
In den Stunden danach trage ich zusammen, was ich über Heimerziehung weiß. In Missbrauchsgutachten, wie sie deutsche Bischöfe in Auftrag geben, kommen Menschen wie Heinz selten vor. Die meisten katholischen Heime waren entweder in der Trägerschaft von Orden oder der Caritas. Bistümer sind dafür nicht zuständig, also werden sie in den Gutachteraufträgen nicht erfasst. Die Betroffenengruppe ist groß. Zwischen 700.000 und 800.000 Kinder und Jugendliche lebten zwischen 1949 und 1975 in der Bundesrepublik im Heim, rund 500.000 waren es in der DDR. Lange wurden die vielen ignoriert.
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2001 veröffentlichte Renan Demirkan den vielbeachteten Report »Der Mond, der Kühlschrank und ich«. Kinder und Jugendliche aus Heimen kamen darin so zu Wort, wie sie es selbst wünschten. Das Buch mischt Tagebucheinträge, Gedichte, Klagen, Rap.
Die populäre Schauspielerin sensibilisierte damit ein größeres Publikum für ein randständiges Thema. Die Texte waren aktuell, erzählten von den 1990er- und 2000er-Jahren. Da hatten sich die Zeiten schon geändert. Mit Heinz’ Welt haben die Schilderungen der Nachgeborenen wenig zu tun. Aber das kleine Buch ermutigte auch Heimkinder der 1950er- und 60er-Jahre zu eigener Biografie-Arbeit. Danach erschienen einige Erinnerungen von Betroffenen in kleinen Verlagen, weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit.
Publizistische, anklagende und vor allem aufklärerische Wucht entfaltete wenige Jahre nach Demirkans Textsammlung die Arbeit des Journalisten Peter Wensierski. Er veröffentlichte im Februar 2006 in der Wochenzeitung »Die Zeit« ein Dossier unter dem Titel »Das Leid der frühen Jahre«. Im selben Jahr erschien sein Buch »Schläge im Namen des Herrn. Die verdrängte Geschichte der Heimkinder in der Bundesrepublik«. Der Autor hatte mit vielen Betroffenen gesprochen und, soweit möglich, in den Einrichtungen recherchiert. Die Heimerziehung bezeichnet er als Menschenrechtsverletzung. Im Vorwort erklärt er: »Dieses Buch ist ein Befreiungsschlag von und für die Betroffenen, die sich erstmals öffentlich dazu bekennen, ein Heimkind gewesen zu sein.«
Wensierski schreibt auch über städtische Einrichtungen, nicht ausschließlich über kirchliche Heime. Aber: Mindestens zwei Drittel der Heime in der Bundesrepublik waren zwischen 1949 und 1975 kirchlich geführt; die Angaben schwanken je nach Region und Jahrzehnt. Die meisten katholischen Häuser waren in der Hand von Frauen- oder Männerorden. Wensierski fordert deshalb: »Von der Kirche muss verlangt werden, dass sie ihre Opfer um Verzeihung bittet für all das, was sie diesen Menschen angetan hat.«
Die eindrucksvolle Recherche brachte mit einem Schlag das Thema Heimerziehung auf die politische Agenda. Leugnen und Verdrängen schienen nun nicht mehr möglich. Der Petitionsausschuss des Bundestages befasste sich zwei Jahre lang mit den Themen Aufarbeitung und Entschädigung. Das Parlament könne dies nicht leisten, befand der Ausschuss und schlug einstimmig einen Runden Tisch Heimerziehung vor. Der kam 2009 zustande, sein Arbeitsauftrag beschränkte sich auf die alte Bundesrepublik. Die Fürsorgeerziehung der ehemaligen DDR wurde ausdrücklich ausgespart. Gesellschaftssystem und Pädagogik seien zu unterschiedlich, lautete die Begründung. »Stiefkinder der Republik« nannte die Historikerin Angelika Censebrunn-Benz ihr 2022 erschienenes Buch über die DDR-Heime.
Wie Stiefkinder müssen sich auch die Betroffenen aus Westdeutschland am Runden Tisch gefühlt haben. Drei ehemalige Heimkinder saßen an dem symbolischen Möbelstück – eine kleine Minderheit inmitten von Profis aus Politik, Wohlfahrtsverbänden, Kirchen und Wissenschaft. Nach knapp zwei Jahren legte der Runde Tisch im Dezember 2010 einen Abschlussbericht vor.
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Mittlerweile waren viele Missbrauchsfälle in der römisch-katholischen Kirche bekannt geworden; auch dazu gab es 2010 einen Runden Tisch. Der Abschlussbericht zu den Heimen verweist darauf:
»Etwa ein Drittel der Betroffenen, die sich an die Infostelle des Runden Tisches gewandt haben, berichtet von sexuellen Übergriffen unterschiedlichster Art und erwartet eine auf diese Erfahrungen bezogene Lösung. Die Bundesregierung hat zum Thema des sexuellen Missbrauchs – auch in Institutionen – im April 2010 einen Runden Tisch eingerichtet, der über den Umgang mit dem Thema berät. Um dieser Arbeit nicht vorzugreifen, werden hier keine spezifischen Vorschläge zu dieser besonderen Problematik unterbreitet. Um jedoch sicherzustellen, dass eine einheitliche Lösung für die von sexuellem Missbrauch betroffenen Menschen erreicht wird, sind die besonderen Erfahrungen der ehemaligen Heimkinder am Runden Tisch gegen sexuellen Missbrauch zu berücksichtigen.«
Die Kirchen hatten an Runden Tischen nichts Scharfkantiges zu befürchten. Sie wurden als Verhandlungspartner betrachtet, nicht als Verantwortliche, geschweige denn als Beschuldigte oder Angeklagte. Die CDU-geführte Bundesregierung achtete auf das Wohlergehen kirchlicher Würdenträger. Die Bischöfe sowie die Vertreter von Diakonie und Caritas mussten nicht ernsthaft damit rechnen, dass der Staat eine unabhängige Instanz mit der Aufarbeitung der Gewaltgeschichte beauftragen würde. Akten beschlagnahmen, Zeuginnen und Zeugen vernehmen und gründlich untersuchen, was die Schläge im Namen des Herrn angerichtet haben – das blieb aus. Eine Kommission mit solchen Befugnissen war nicht erwünscht. Die Bischöfe bestimmten Verfahren und Tempo. Der Staat brauchte 2010 die Kirchen als großen Player im Sozial- und Bildungsbereich, Konfrontation war unerwünscht.
Daran hat sich auch 15 Jahre später nichts geändert. Runde Tische gleichen Pokerrunden: Kirchen und Staat spielen auf Zeit, wohlwissend, dass viele Betroffene diese Zeit nicht haben.
Zu einer systematischen, unabhängigen Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in kirchlichen Einrichtungen kam es 2010 nicht – trotz der Querverweise von einem Runden Tisch an den anderen, trotz großer medialer Aufmerksamkeit für das Thema Missbrauch. Katholische wie evangelische Kirche lancierten gegenüber der Politik und der Öffentlichkeit ihre Erzählung, es handele sich um »bedauerliche Einzelfälle«, aber man stelle sich der »schmerzvollen Geschichte«. Die Bundesregierung ließ sich einlullen. Sie verweigerte, was Betroffene schon damals forderten: von Menschenrechtsverletzungen zu sprechen und das Unrecht umfassend aufzuarbeiten. Die Kirchen ließen sich dazu herab, die eigene Schuldgeschichte kurz anzuschauen. Oder sie unterließen sogar diesen flüchtigen Blick. Das Wort »Aufarbeitung« klingt massiv, wurde aber zum schwer fassbaren Gnadenakt.
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Ende September 2018 veröffentlichte die Deutsche Bischofskonferenz während ihrer Herbstvollversammlung in Fulda eine Studie mit dem Titel »Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz«, besser bekannt als MHG-Studie. Jeder der in Fulda Vollversammelten muss gewusst haben, dass die Geschichte von den »Einzelfällen« schon 2010 nicht stimmte, aber alle hatten sie verbreitet. Nach der MHG-Studie wurde die Lüge diskret entsorgt; nun war von einem bischöflichen »Lernprozess« die Rede. Der damalige Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, bekundete Erschütterung – acht Jahre, nachdem sein Vorgänger Robert Zollitsch sich erschüttert gezeigt und gleichzeitig mit seiner politischen Lobbyarbeit alles dafür getan hatte, eine unabhängige Aufarbeitung unter den Runden Tisch fallen zu lassen.
In der MHG-Studie kommen die Betroffenen aus den Heimen auf den ersten Blick kaum vor. Gibt man das Wort »Heimkinder« in die Suchmaske des PDF-Dokuments ein, ergeben sich nur wenige Treffer. Aber der erste Eindruck täuscht: Für das Forscherteam sind Heimkinder doch der Rede wert. Sie ordnen diese Gruppe in eine eigene Kategorie ein: die »institutionell Gedemütigten«.
In nüchternem Wissenschaftsdeutsch steht auf Seite 71, was Herr Thelen im Text für seine Frau »Erniedrigung«, »Hölle auf Erden« und »Mensch zweiter Klasse« genannt hat:
»Charakteristisch ist hier eine durch den institutionellen Kontext bedingte generalisierteErfahrungvon Gefährdung, Ausgeliefertsein und Hilflosigkeit, die in vielen Fällen dadurch verstärkt wird, dass Bezugspersonen, zu denen eine engere emotionale Beziehung besteht, denen man sich hätte anvertrauen können und die man um Hilfe hätte bitten können, fehlen. Der Beschuldigte steht hier in der Regel stellvertretend für eine autoritäre Institution, der sexuelle Missbrauch für institutionelle Demütigung. Sexuelle Übergriffe beschränken sich meist (in 87,9 Prozent der Fälle) nicht auf einen Beschuldigten und stehen neben weiteren Erfahrungen von psychischer und körperlicher Gewalt, wobei die Viktimisierung ausdrücklich nicht auf die Individualität des Betroffenen zurückgeführt wird«.
Weniger wissenschaftlich formuliert bedeutet das: Ein Kleriker, der Heimkindern sexualisierte Gewalt antat, musste sich nicht einmal die Mühe machen, die Tat anzubahnen und die Kinder zu umschmeicheln. Er hatte es nicht nötig, das Vertrauen der Jungen oder Mädchen zu gewinnen. Er gründete keinen elitären Geheimbund mit seinen Opfern. Die in Heimen Missbrauchten sind Ausgelieferte, nicht Auserwählte. Schutzbefohlene ohne Schutz, Anvertraute ohne Vertrauenspersonen. Sie wurden Opfer sexualisierter Gewalt, weil sie schon Opfer des Systems Heimerziehung waren.
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Als ich Herrn Thelens Facebook-Nachrichten gelesen habe, vertiefe ich mich in einige Studien. Ein journalistischer Reflex: Die Lektüre von Texten mit Prozentangaben und Fachvokabular sichert professionelle Distanz, hoffe ich. Die Formulierung »Nicht-Individualität des Betroffenen« geht mir nicht aus dem Kopf.