Kellerspinne - Matthias Nibler - E-Book

Kellerspinne E-Book

Matthias Nibler

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Beschreibung

Nachdem sie einen schrecklichen Unfall miterleben musste, wird die junge Studentin Hannah Naers von unerklärlichen Albträumen und Visionen heimgesucht. Verzweifelt begibt sie sich auf die Suche nach Antworten. Ihre Recherchen führen sie in ein einstmals beschauliches Örtchen, das ein dunkles Geheimnis birgt - ohne die tödlichen Verkettungen zu erahnen, die sie damit in Gang setzt.

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Er baut sein Haus wie eine Spinne und wie ein Wächter eine Hütte macht. (Hiob, 27:18)

Kapitel

0

Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

X

Easter Eggs

Danksagungen

0

Irgendwann hatte es sich verändert.

Anfangs war es ein bloßer Einfall gewesen. Doch dann war dieser zu einem Vorhaben und schließlich zu einem Plan gereift. Einem handfesten Plan, der umgesetzt werden wollte. Der umgesetzt werden musste. Diese Veränderung hatte unmerklich stattgefunden, beinahe unterbewusst, wenn auch getragen von konkreten Gedanken und Ideen. Hannah war froh darüber. Sie fand, dass Veränderung im Kleinen ein zwingend notwendiger, erster Schritt für Veränderung im Großen war. Und nach einer Veränderung im Großen sehnte sie sich mehr denn je.

Zwei Jahre lang war sie mit ihm zusammen gewesen. Sie hatte zwar nicht mit ihm gelebt (denn dagegen hatte er sich immer gesträubt) aber ihr Leben mit ihm geteilt, wann immer das möglich gewesen – oder eher: von ihm erlaubt worden – war. Zwei Jahre lang hatte sie Zeit gehabt, ihn kennen zu lernen. Sie hatte diese Zeit genutzt, sein Verhalten, seine Gewohnheiten, Eigenheiten und Routinen studiert und auswendig gelernt.

Dies half ihr nun; ebenso wie die Tatsache, dass er nicht jener Sorte Mensch angehörte, die das Ende einer Beziehung (oder eher seine Trennung von ihr) zum Anlass nehmen würde, das gesamte Leben zu überdenken. Ganz im Gegenteil. Er machte weiter wie zuvor.

Den Riss durch die Trennung spürte nur sie.

Dessen war sie sich bewusst.

Und das schmerzte. Es rieb sie auf. Es versengte sie. Es verbrannte sie innerlich. Zu wissen, dass sie für ihn nichts als eine Episode gewesen war. Eine langwierige Episode zwar, aber dennoch nur eine Episode. Für sie war die Zeit mit ihm weit mehr als das gewesen. Sie wusste nicht, wie sie sie umschreiben sollte, außer …

Die schönste Zeit meines Lebens.

Sie fühlte sich elend, wenn sie darüber nachdachte. Hundsmiserabel. Wenn sie sich erinnerte, was alles schiefgelaufen war, verspürte sie den unbändigen Drang, sich zu ohrfeigen. Sich zu maßregeln. Sich zu bestrafen. Ein gezielter Schlag für jeden einzelnen ihrer dummen, kleinen Fehler. Sie spürte dieses Verlangen in ihrer Hand. Es pochte. Ganz deutlich. Auch in diesem Moment, hier, im Café sitzend, den großen Humpen mit schwarzem Kaffee vor sich, war es so übermächtig und eindeutig, dass sie ihm beinahe nachgegeben hätte.

Da war Reue. Da war Selbstmitleid. Da waren viel Bitterkeit und noch mehr Wut. All das vermengte sich zu einem stechenden Schmerz in ihrer Brust. Als ob sich in der Nähe ihres Herzens irgendeine Krankheit eingenistet hätte, eine Wucherung oder eine Wunde. Aber die einzige Wunde in ihrem Leben, die einzige Lücke, die sich nicht schloss, war er.

Er.

Benjamin, Benni, Ben. Big Ben.

Auf ihren Fingernägeln herumkauend flüsterte sie all die dämlichen Abkürzungen und Spitznamen, mit denen sie ihn überzogen hatte, vor sich hin. Ließ sie wie Schneeflocken genüsslich auf ihrer Zunge zergehen. Dabei starrte sie durch die schmutzige Panorama-Fensterscheibe des Cafés auf die gegenüberliegende Straßenseite. Ihre Augen waren auf eines der Wohnhäuser dort fixiert. Einst hatte sich in diesem Gebäude ihr zweites Zuhause befunden. Dort hatte sie Zeit mit ihmverbringen dürfen. Oder war längere Zeit am Stück zu Besuch gewesen, je nach Sichtweise.

Wohl dosierte Intervalle des Glücks.

In Erinnerungen schwelgend verbrühte sie sich an ihrem Kaffee und stellte den Humpen mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf der Tischplatte ab. Sie sah auf ihr Handy. Es war bizarr und hochgradig peinlich, aber dennoch eine Tatsache: Selbst jetzt, nach all den langen und schweren Monaten ohne ihn, hoffte sie, das Nachrichtensymbol würde erscheinen und ihr ein Lebenszeichen schenken. Von ihm, dem belesenen, sportlichen, wilden Benni.

Doch Fehlanzeige. Kein Symbol. Keine Nachricht. Keine Hoffnung.

Weder von Big Ben, noch von sonst jemandem. Nicht einmal von ihren Eltern. Dass diese sich nicht gemeldet hatten, war jedoch zu verschmerzen.

Das Display blieb dunkel, genauso dunkel wie immer. Lediglich die Uhrzeit wurde angezeigt: Viertel vor fünf. Hannah nickte, obwohl niemand in ihrer Nähe war, für den diese Geste gedacht gewesen wäre. Niemand, der ihr Vorhaben hätte bestätigen, gutheißen und kommentieren können. Also kommentierte sie es selbst. »Gleich ist es so weit.«

Draußen war es wolkenverhangen, neblig und bitterkalt, doch es regnete nicht. Somit würde das wöchentliche 17-Uhr-Training nicht in der Halle stattfinden, sondern im Freien. Auf dem Sportplatz, der fünf Minuten zu Fuß entfernt war. Sie kannte die Entfernungen noch. Abgelaufen war sie die Strecke trotzdem.

Sicher ist sicher, schließlich weiß man ja nie, oder? Das Gehirn kann einen täuschen. Es ist verräterisch. Ebenso wie das Herz. In dieser Hinsicht hatte Hannahs Gehirn sie allerdings nicht getäuscht, die fünfminütige Entfernung hatte sich bestätigt. Ben läuft zum Training, er nimmt nie das Fahrrad oder das Auto.

Das war schon immer so gewesen. Auch während ihrer Beziehung. Sie erinnerte sich daran. An damals, an die gute Zeit. Wenn sie Benni in seiner Wohnung verabschiedet und anschließend auf ihn gewartet hatte. Sehnsüchtig, liebestrunken, begierig. Nach Erzählungen lechzend. Vom Training, vom »Sport mit den Jungs«. Benni, männlich, athletisch, groß, schlank, mit kantigem Kinn und einnehmenden Grinsen, war durchgeschwitzt in die Wohnung und sofort unter die Dusche getreten. Manchmal hatte sie ihm Gesellschaft leisten, ihn einseifen und abbrausen dürfen. Mit ihm zu duschen war schön. Beim Gedanken daran nickte sie erneut und hätte beinahe zu weinen angefangen.

»Wunderschön.«

Sie führte eine Hand an ihr Dekolletee; zwischen die beiden Brüste, die als erstes an Gewicht und Umfang verloren hatten, als sie beschlossen hatte, weniger zu essen. Dick war sie nie gewesen, nicht einmal mollig. Aber dennoch irgendwie unförmig. Das war ihre Meinung, egal, was andere behaupteten. Außerdem war Bennis Trennung ja wohl ein unmissverständlicher Beweis dafür, dass etwas mit ihr nicht stimmte, oder etwa nicht? Mit ihrer Persönlichkeit, vielleicht. Aber bestimmt auch mit ihrem Körper, ihren »Rundungen«. Ihren Maßen.

Also hieß es, weniger zu essen.

Das machte ihr nichts aus.

Sie zuckte mit den Schultern, weil niemand bei ihr war, der für sie mit den Schultern zucken konnte. Viel essen, wenig essen, nichts essen. Was machte das für einen Unterschied? Es schmeckte ohnehin alles nach Asche. Selbst der überteuerte Kaffee vor ihr auf dem Tisch. Das konnte aber auch daran liegen, dass sie sich an diesem Gebräu die Zunge verbrannt hatte.

Ihr Blick wanderte wieder zum Handy. Sie tippte mit der Fingerspitze auf das Display und es erwachte. Sechzehn Uhr fünfzig. Ihr Herz schlug schneller. Gleich war es soweit. Gleich würde es geschehen. Er würde erscheinen. Für ein paar Minuten würde die Sonne die Wolken durchbrechen.

Sie starrte durch das Fenster auf die gegenüberliegende Straßenseite, fixierte den Hauseingang, den sie so gut kannte. Den Türgriff, dessen Gewicht sie förmlich in ihrer Hand spüren konnte. Knisternde Spannung lag in der Luft. Sie konnte sie beinahe greifen. Ihre Hände zitterten. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Und—

»Da!« Sie flüsterte. Sie japste. Sie rang nach Luft und rutschte unruhig auf der Sitzbank hin und her. Dabei beobachtete sie das Ereignis, so banal es auch sein mochte, als wäre es ein Spektakel gewesen. Die massive Eingangstür der Hausnummer 19 bewegte sich. Sie war schwer. Dennoch wurde sie schwungvoll geöffnet; definitiv von einem stattlichen, maskulinen Mann mit viel Kraft. Von einem Mann, der jemanden wie Hannah spielend leicht hochheben und im Rausch der Leidenschaft gegen die Schlafzimmerwand drücken konnte. Was Ben einmal gemacht hatte. Ein einziges Mal. Es hatte weh getan. Es war unangenehm gewesen und hatte ihre Haut aufgescheuert. Sie hatte sich danach darüber beschwert. Was für eine dumme, verklemmte Göre sie doch gewesen war. Nun hätte sie alles gegeben, um von ihm gegen die Wand gedrückt zu werden.

Sie hätte sich schon wieder ohrfeigen können, doch stattdessen fummelten ihre Finger an dem kleinen Messinglöffel neben ihrer Kaffeetasse herum. Sie hyperventilierte. Ihre Augen weiteten sich. Jemand trat aus der Hausnummer 19 heraus.

Jemand? Nein, nicht jemand, sondern er! »Big Ben.«

Unverkennbar. Trotz des Schals, trotz der Kapuze. Seine hochgeschossene, breitschultrige Gestalt, das markante Kinn, der zielgerichtete Blick. Die rote Sporttasche. Der schwarze Hoodie, die graue Jogginghose. Die roten Sneakers. Er war es, er war es wirklich!

Sie griff nach ihren Sachen. Handy, Handschuhe, Mütze. Sie raffte alles in Sekundenschnelle zusammen und behielt Benni dabei die ganze Zeit im Blick.

Gottverdammt, er war so schön!

Egal, was er machte, selbst wenn er nur zum Sportplatz lief, war er schön. Sie wusste ganz genau, dass sie ihn fortan jeden Donnerstag begleiten würde. Dies würde das Highlight ihrer Woche markieren. So ein süßer, bitterer Genuss, diesen Weg mit ihm gemeinsam zu gehen. Nur die Straße und ein paar Meter Sicherheitsabstand würden sie dann voneinander trennen. Und eines Tages, vielleicht im Frühjahr, wenn sie noch mehr Gewicht verloren und zusätzlich an Gesichtsfarbe gewonnen hatte, würde sie die Gelegenheit nutzen. Sie würde ein Kleid tragen, halterlose Strümpfe und hohe Absätze.

Derart aufgehübscht fädelte sie dann eine scheinbar zufällige Begegnung auf der Straße ein. Am besten mit einem Date an ihrer Seite, irgendeinem gutaussehenden Kerl. Vielleicht würde sie jemanden engagieren, von der Kabuki- oder der Laientheatergruppe, in der Eike mitmachte. Aber Eike selbst würde sie nicht fragen, im Leben nicht! Der geierte auf sie und war außerdem zu seltsam und zu farblos, um zu imponieren.

Wie auch immer.

Benni war noch in Sichtweite. Trotzdem musste sie sich beeilen, denn der Weg zum Sportplatz war kurz, die Zeit in seiner Nähe daher begrenzt und kostbar. Ihren Kaffee hatte sie bezahlt, als er serviert worden war. Sie war ja nicht dumm. Nur verliebt. Wahrscheinlich kam das aufs Selbe heraus.

Bennis Schritte waren geradlinig. Zügig. Zielstrebig. Männlich. Wie immer. Doch auf einmal stoppte er, blieb stehen und drehte sich um.

Warum?

Sie folgte seinem Blick. Da war doch nichts, außer … Hannah hielt den Atem an. Doch, da war etwas. Dort, bei der Eingangstür zum Haus, stand jemand. Eine junge, schöne Frau. Sie lächelte in Bennis Richtung und sprach. Dabei schien sie etwas in ihrer Hand zu halten. Hannah rutschte zur Fensterscheibe hinüber, um besser sehen zu können. Die junge Frau hielt dieses Etwas nicht in der Handfläche; stattdessen baumelte es von einem kokett abgewinkelten Finger ihrer rechten Hand. Es war ein Paar Fußballschuhe, an den Schnürsenkeln zusammengebunden. Frech grinsend plapperte die Frau nach einer kurzen Pause weiter. Dabei schürzte sie die Lippen. Im Anschluss redete Ben. Er schlug sich eine Hand an die Stirn, schritt auf die junge Frau zu.

Seine Körperhaltung, sein Lächeln – Hannah wusste ganz genau, was das bedeutete. Sie fletschte die Zähne. Er hat eine Neue. Er hat mich ersetzt. Mit dieser miesen, kleinen Schlampe. Was für ein Flittchen! Bestimmt war ihr frech grinsender Mund mit den geschwungenen Lippen immerzu willig geöffnet, um sein Glied zu empfangen. Wann immer er es verlangte.

Jede Sekunde dieser Farce auf der gegenüberliegenden Straßenseite drehte die Schrauben um Hannahs Brustkorb fester zusammen. Ihre Hände verkrampften sich. Sie spürte wieder diese vertraute, unsägliche Wut in sich aufsteigen. Sie fraß sie auf, sie quälte sie. Dennoch konnte Hannah ihren Blick nicht abwenden. Teils, weil sie das Lächeln so sehr vermisste, das Benni zur Schau trug. Teils, weil sie trotz ihrer Verliebtheit im hintersten Winkel ihres Gehirns doch noch einigermaßen realistisch veranlagt war. Größtenteils aber wünschte sie sich einfach nur, dass sich gleich offenbaren würde, dass die Dinge nicht so waren, wie sie befürchtete. Aber Hannah hatte kein Glück. Die Dinge waren exakt so, wie sie befürchtete.

Als Benni die Schuhe aus dem Fingerzeig seiner kleinen Schlampe gefischt hatte, drückte er ihr einen Kuss auf die Lippen. Die Schlampe schlang die Arme um ihn und küsste ihn nochmal. Ihr Mund war dabei willig geöffnet. Seiner auch. Der Kuss dauerte lange, viel zu lange, und war viel zu innig. So als ob sie gewusst hätten, dass sie beobachtet wurden, und eine kleine Peepshow abziehen wollten.

Hannah schirmte ihren Blick wieder vom Fenster ab. Der Plan hatte sich in Luft aufgelöst. Eine halbe Stunde lang starrte sie betreten auf die Tischplatte vor sich und trottete dann aus dem Café.

Kalter Regen hatte inzwischen eingesetzt. Sie bemerkte ihn gar nicht. Sie fühlte sich, als hätte man ihr einen Dolch in die Brust gebohrt und sie dann in einer Seitengasse elendig krepieren lassen. Inmitten von überfüllten, stinkenden Müllcontainern. Das hätte bestens zu ihr gepasst, fand sie. Da gehörte sie hin, denn sie war Müll, sie war Dreck. Ein lebensunwertes Nichts, zu langweilig, zu bedeutungslos, zu 08/15, um weiter zu existieren.

An der Haltestelle preschte der Bus direkt vor ihren Augen davon. Der Fahrplan zeigte an, dass der nächste erst in einer Stunde fahren würde.

Großartig!, dachte sie bitter. Genau, wie ich es verdient habe.

Sie lief weiter, durch eine Szenerie aus Beton, Schmutz, Abwasser. In einem trüben Schaufenster betrachtete sie ihre Reflexion. Leicht vornübergebeugt, missmutiges Gesicht, verwaschenes, dünnes Haar und unförmige Klamotten. Klar, dass Benni sie abserviert hatte. Hätte sie an seiner Stelle genauso getan. Und selbst wenn all die billigen Discounterklamotten von ihr abgefallen oder verfault wären, würde sie mit ihrem Körper trotzdem niemanden hinter dem Ofen hervorlocken. Sie war dürr statt schlank. Hatte viel zu kleine Brüste und milchige Augen. Als goldene Krönung zierte ein kreisrunder Leberfleck direkt neben dem Nabel ihren Bauch. Das war die mit Abstand hässlichste Besonderheit an ihr. Sie hasste sich. Und in genau dieser, der schlechtesten aller möglichen Stimmungen, tippte ihr jemand auf die Schulter.

Hannah erschrak und wirbelte herum. Im ersten Moment begriff sie nicht, wer da vor ihr stand: Eine blonde Frau, sehr feminin, sehr auffällig, großgewachsen, grinsend. Ein top gestylter Sonnenschein inmitten dräuender Herbstwolken. Designertasche in der einen, Coffee-To-Go-Becher in der anderen Hand. Ihr langer Mantel schrie »Edel!«, ihre engen Jeans mit den Löchern über Knie und Oberschenkel schienen zu brüllen: »Ich kann das tragen, alle anderen (vor allem du!) sähen darin lächerlich aus!«

Diese Ausgelassenheit, diese Perfektion!

Bei jedem anderen Menschen hätte all das ausgereicht, um Hannah in Neid und Verachtung zu versetzen. Doch bei dieser Person war das nicht der Fall, denn nun registrierte sie, von wem sie da angetippt worden war: Von Lisa. Und gegen Lisa konnte Hannah ihren Hass nicht richten, sie konnte sie weder grauenvoll noch ekelhaft finden. Hannah mochte Lisa. Sie hatte Lisa immer gemocht. Schon damals, als das Zufallsprinzip entschieden hatte, dass sie sich im Studentenwohnheim ein Doppelzimmer teilen würden.

Hannah hatte Lisa ab der ersten Sekunde an sympathisch gefunden, obwohl sie das genaue Gegenteil von ihr war. Lisa war groß und schön anzusehen. Man konnte kaum die Augen von ihr lassen, so perfekt war sie. Hannah wusste, dass sie zu jeder Zeit von Lisa in den Schatten gestellt wurde. Seltsamerweise machte ihr das aber nichts aus. Lisa besaß ein unglaublich einnehmendes Wesen. Und im Gegensatz zu vielen anderen ähnlich schönen Menschen, die Hannah in ihrem jungen Leben kennengelernt hatte, ließ Lisa nie den Eindruck entstehen, sie würde sich für etwas Besseres halten.

Sie war eine angenehme, unproblematische Mitbewohnerin und sehr darauf bedacht gewesen, ihren Anteil zu leisten. Pflichten, Kosten, Anstrengungen – alles war Fifty-Fifty aufgeteilt worden. Sie waren sehr gut miteinander ausgekommen. Hannah glaubte sogar, dass sie damals richtige Freundinnen gewesen waren. Doch irgendwann hatte Lisa einen jungen Mann namens Marc kennengelernt und kurze Zeit später das Doppelzimmer gekündigt, um bei ihm einzuziehen. Hannah war daraufhin ein Einzelzimmer zugewiesen worden – fünfzehn Quadratmeter plus Nasszelle. Dies war nun drei Jahre her. Seitdem war viel geschehen. Lisa hatte die Uni geschmissen und Hannah ihren Studiengang gewechselt. Außerdem war sie mit Benni zusammengekommen. Und Benni hatte sich von ihr getrennt.

Hannah vermisste Lisa. Sie vermisste ihr altes Leben. All das, was einst gut gewesen war, lag nun unwiederbringlich hinter ihr.

Jeder hat mich verlassen, dachte sie, als Lisa sie zur Begrüßung in die Arme schloss. Niemand ist bei mir geblieben.

»Hannah, Liebes, wie geht’s dir?«, fragte Lisa und wirkte – wie immer – ehrlich interessiert an einer aufrichtigen Antwort.

Hannah konnte und wollte daher nicht lügen. »Ging schon mal besser. Aber egal. Wie geht's dir?«

»Gut, gut!«, flötete sie. »Alles gut, alles bestens. Was machst du so? Was macht das Studium?«

»Oh, das geht …«

… den Bach runter, genauso wie alles andere.

»... total ruhig vor sich hin. Ohne große Ereignisse. Was machst du denn so?«

»Um ehrlich zu sein, ich habe mich ein bisschen zu sehr an das Hausfrauendasein gewöhnt.« Lisa vollführte eine entschuldigende Geste. Der Tonfall ihrer Stimme verriet jedoch, dass es ihr überhaupt nicht leidtat. »Und ganz nebenbei habe ich noch meine Beauty- und Lifestyle-Seite. Du weißt schon, mit Fotos, Texten, Vlogs.«

»Blogs? Macht man das heutzutage noch?«

»Vlogs. Mit V wie Vogel«, korrigierte Lisa. »Ist ähnlich wie ein Blog, das stimmt schon. Nur in Videoform. Eine Art Video-Tagebuch, aber eben mit der Besonderheit, dass andere es auch sehen können. Und ich mache Livestreams. Jeden Mittwoch um neunzehn Uhr. Da zeige ich mein Leben und was gerade so abgeht.«

»Wo kann man das denn sehen?«

»Such einfach nach LisaLee1907«, sagte Lisa. »Google es, ist am einfachsten. Wie gesagt, jeden Mittwoch Livestream, dazwischen Vlogs. Wann immer ich Lust habe. Je nach dem. Hab' noch nicht viele Views, nur so an die fünfhundert.«

»Fünfhundert? Wow!« Hannah machte große Augen. »Fünfhundert Leute, die dir zuschauen? Kennst du die alle?«

Lisa quittierte diese törichte Frage mit einem Kopfschütteln. »Nein, nein, Hannah. So ist das nicht. Solche Zahlen sind in der Branche normal. Anfangs, jedenfalls. Wer weiß, wie viele Bots dabei sind. Ich meine, ein paar davon habe ich ja selbst bezahlt. Wegen der Reichweite, verstehst du?« Sie legte einen Finger verschwörerisch an ihre Lippen. »Aber du weißt von nichts!«

»Krass«, meinte Hannah. »Krass. Nein, ich weiß natürlich von nichts.«

Passt ja zu mir. Hannah, die Nichts-Wissende. Die Nicht-Eingeweihte. Hannah, die Dumme.

»Sehr gut.« Lisa nickte. »Tja, du Liebe, ich muss jetzt leider.« Sie umarmte sie erneut und klang auch diesmal wieder aufrichtig, als sie sagte: »Hat mich gefreut, dass wir uns wieder mal gesehen haben.«

»Mich auch«, meinte Hannah.

Lisa bedachte sie mit einem herzlichen Abschiedslächeln und ging davon. Sie sah ihr nach, tief in Gedanken versunken. Insgeheim wünschte sie sich, sie könnte noch viel mehr Zeit mit ihr verbringen, ein paar Stunden nur, damit ein bisschen Glanz und ein bisschen Fröhlichkeit und Lebensfreude von ihr auf sie abfärbten. Damit nicht alles so unglaublich trostlos, düster und fahl wirkte.

Und plötzlich, so als hätte Lisa telepathische Fähigkeiten besessen, drehte sie sich zu ihr um und rief: »Hannah, du bist ja total durchnässt. Pass auf, ich hätte einen Vorschlag: Du kommst mit zu mir und wärmst dich auf. Ich kann dir ein paar trockene Klamotten von mir geben. Dann kannst du mir alles erzählen, was bei dir so abgeht. Hast du heute noch etwas vor?«

»Ich ...« Hannah überlegte. »Nein, eigentlich … Eigentlich nicht.«

»Na dann!« Lisa trat an die Beifahrertür eines schicken, teuer aussehenden SUVs und öffnete sie: »Steig ein.«

Kurz darauf fuhren die beiden in die Schanzenwehr, dem mit Abstand begehrtesten und teuersten Viertel der Stadt. Dort befand sich das große und schick eingerichtete Loft-Apartment, das Lisa mit ihrem Freund bewohnte. Während einer ausgiebigen Tour durch die üppig ausgestatteten Räumlichkeiten lenkte Lisa Hannahs Blick immer wieder auf die zahlreichen Deko-Artikel und erklärte, wo sie diese erworben hatte.

Da standen im Vorraum Statuen aus Afrika neben einem Didgeridoo aus Australien und einer Buddhastatue aus Thailand, da beherbergte im Arbeitszimmer ein weißes IKEA-Regal einen unförmigen Obelisken aus dem Bayerischen Wald und einen verzierten Handspiegel aus der Schweiz neben einer Miniaturnachbildung einer roten englischen Telefonzelle. So viel unnützer Kram auf einmal, fand Hannah, der im Grunde überhaupt nicht zueinander passt.

Lisa ermutigte sie, alles zu berühren, um ein Gefühl für die Echtheit der einzelnen Objekte zu erlangen. Als höflicher Gast tat sie natürlich wie geheißen und drückte bei jedem Stück, egal wie hässlich oder unförmig es war, ihre Finger dagegen und ihre Bewunderung aus. Lisa überschüttete sie in der Zwischenzeit mit Randinformationen, sodass ihr nach wenigen Minuten der Kopf rauchte und sie nichts mehr aufnehmen konnte. Ihre Gastgeberin schien dies tatsächlich zu bemerken. Sie unterbrach ihren Redefluss und lud Hannah auf eine Tasse Tee ein. Im Wohnzimmer bugsierte sie sie auf eine unheimlich bequeme, L-förmige Couch, sagte: »Bin gleich wieder da!« und verschwand in der angrenzenden Küche.

Nun hatte Hannah zum ersten Mal Zeit, sich ungestört umzusehen. In Gedanken verglich sie jedes Möbelstück, jedes Bild an der Wand, jeden Meter, jeden Winkel von Lisas heller, offener Wohnung mit ihrem kümmerlichen, kargen Studentenzimmer. Eins war offensichtlich: Lisa hatte mit Marc das große Los gezogen.

»Wo ist denn dein Freund?«, rief Hannah.

Lisa kehrte mit zwei Tassen in der Hand zurück. »Im Büro. Marc macht zurzeit ein Traineeprogramm für Teamleiter. Dadurch habe ich meinen Schatz leider nicht so oft für mich, wie ich gerne hätte.«

Hannah räusperte sich. Mit unbefriedigter Sehnsucht kannte sie sich aus. »Ja, das kann ich gut nachvollziehen.«

»Bei dir ging es vor kurzem auseinander, habe ich mitbekommen?«

Hannah konnte nicht genau sagen, ob ihre ehemalige Mitbewohnerin besorgt oder einfach nur mitleidig wirkte. Weder das eine noch das andere hätte sich gut angefühlt. Also wischte Hannah die Angelegenheit so gut es ging beiseite. »Ja, aber das ist nicht schlimm«, log sie. »Es ist echt besser so. Benni war wirklich …«, sie suchte ein Wort, das ihn überhaupt nicht beschrieb, »… ein Arsch. Ein richtiger Arsch!«

»Wenn es besser so ist, dann ist es wirklich besser so. Hauptsache, dir geht’s gut.« Lisa sah in Richtung der Teetassen. Hannah verstand dies als Wink, einen Schluck zu nehmen. Es schmeckte grauenvoll.

»Und, erzähl mal, was hast du denn so für Pläne für dich?«, fragte Lisa.

»Pläne?« Hannah war froh, dass sie sich unterhalten konnte und nicht weitertrinken musste. »Oh, ich, keine Ahnung … Ich weiß nicht, ehrlich gesagt, ich denke, ich mache einfach weiter wie bisher, schätze ich. Muss ja.«

Großartig, dachte sie ironisch. Wollte ich nicht eigentlich den Eindruck erwecken, mir wäre Bennis Trennung egal?

»Nein, nein. So meinte ich das nicht.« Lisa schüttelte den Kopf. »Ich meinte, im Leben. Was hast du da für Ziele? Männer, also sei mir nicht böse, aber Männer kommen und gehen. Ist es nicht so? Du und dein Leben, das ist doch wichtig und kostbar.«

»Ja, klar.« Hannah blickte unsicher zu Boden. Männer kamen und gingen? Klar, wenn man blond und schön war, so wie Lisa, traf diese Aussage zu. Bei Hannah standen die Heiratswilligen hingegen nicht gerade Schlange. Mal abgesehen von Eike, ihrem Kommilitonen, der es seit dem ersten Tag auf sie abgesehen hatte. »Ich bringe erst einmal mein Studium zu Ende.« Eine bessere Antwort fiel ihr nicht ein.

Lisa nickte und trug ein erwartungsvolles Lächeln zur Schau. »Wie findest du denn den Tee?«

»Oh, er ist … Er ist gut«, presste Hannah hervor und nahm zu Demonstrationszwecken noch einen Schluck. Das einzig Gute daran war, dass die Tasse dadurch leerer wurde.

»Weißt du, das ist kein gewöhnlicher Tee.«

Hannah zuckte zusammen. Hatte Lisa ihr etwas untergemischt? Marihuana? KO-Tropfen? »Der Tee ist ein Produkt von einer ganz tollen Firma namens Life Dash.«

»Ah, wirklich?« Hannah schüttelte den Kopf, noch immer skeptisch. Seit wann war es wichtig, welches Unternehmen den Tee in ihrer Tasse produzierte? Sie wusste ja nicht einmal, welches Firmenlogo auf den Teepackungen bei ihr zuhause prangte. »Wer ist das?«, fragte sie halb-interessiert.

»Life Dash ist ein nachhaltiges Unternehmen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, den Nährstoffhaushalt des Menschen in Ordnung zu bringen.«

Hannah lachte auf. »In Ordnung zu bringen? Ich wusste nicht, dass er nicht in Ordnung ist.«

Lisa schloss die Augen und nickte bedauernd. »Doch, es ist so. Ich meine, schau’ dich doch nur um.« Hannah ließ ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Sie wusste nicht, was sie hätte entdecken sollen. »Überall Gift«, sagte Lisa. »Oder nicht? Der Smog, Chemtrails, Vakzine, Zucker, Aspartam. Big Tobacco. Big Auto. Big Pharma. Die Unternehmen sind echte Teufel, die machen uns krank. Aber Life Dash will uns mit seinen Produkten wieder gesund machen. Das, was du da trinkst, gibt dir sämtliche Vitamine und Nährstoffe, die du für den heutigen Tag brauchst. Trink’ gerne aus, ich bin gleich wieder da.« Lisa eilte aus dem Raum und Hannah würgte unterdessen den Rest des grauenvollen Gebräus hinunter. Beim letzten Schluck hob es sie erneut. Mittlerweile dämmerte ihr, warum ihre ehemalige Mitbewohnerin sie eingeladen hatte. Sie wollte sich nicht mit Hannah unterhalten; sie war ihr herzlich egal. Lisa wollte werben und verkaufen, sie wollte ihr wahrscheinlich nur ein paar überteuerte, sinnlose Produkte aufschwatzen. Anscheinend war Lisa Teil eines Pyramiden-, oder, netter ausgedrückt, eines »Network-Marketing«-Systems.

Nach ein paar Minuten kehrte Lisa mit Flyern und Broschüren in der Hand zurück. Anschließend ließ Hannah einen ausladenden Vortrag über Life Dash über sich ergehen, nickte in unregelmäßigen Abständen und versprach, sie würde sich alles, was Lisa erzählt hatte, in Ruhe durch den Kopf gehen lassen und sich überlegen, ob sie etwas für ihren Stoffwechsel oder ihren Vitaminhaushalt tun wollte. Um wieder fitter und attraktiver auszusehen.

»Mach das!« Mit diesen Worten drückte Lisa ihr die Broschüren und Flyer in die Hand und Hannah schwor hoch und heilig, einen Blick darauf zu werfen.

Bevor sie in den Müll wandern, fügte sie in Gedanken hinzu.

Lisa war offensichtlich mit Hannahs Reaktion zufrieden und erbot sich, sie nachhause zu fahren. Bei einem Blick aus dem Fenster auf die dunkle, regennasse Außenwelt fiel es ihr nicht schwer, dieses Angebot anzunehmen.

Während der Fahrt rührte Lisa natürlich weiter die Werbetrommel und beendete ihr Verkaufsgespräch mit der Bemerkung: »Wer weiß, wenn es dir besser geht, vielleicht läuft dir ja dann ein weiterer Ben über den Weg. Oder ein zweiter Marc.«

»Wer weiß?«, sagte Hannah, als Lisa auf dem Parkplatz des Studentenwohnheims gestoppt hatte. »Ich schau’ es mir an.« Sie öffnete die Beifahrertür und schlüpfte hinaus. »Danke fürs Heimbringen! Mach’s gut.«

»Du auch, meine Liebe! Bis bald! Melde dich, wenn du Fragen zu den Produkten hast.«

»Ja, mach’ ich.«

Kaum hatte Hannah die Beifahrertür geschlossen, brauste Lisa auch schon davon. Sie sah ihr nach, bis die Rücklichter im Dunkel verschwunden waren, und dachte sich: So ist es also. So ist es um die Welt bestellt. Menschen wie Lisa bekommen alles einfach in den Schoß gelegt. Alles, was sie sich erträumen. Für die Lisas dieser Welt geht das Leben immer irgendwie geil weiter. Genauso wie für die Bennis dieser Welt. Die können das Ende einer Beziehung ohne weiteres verschmerzen. Neuer Tag, neues Glück, neue Tussi. Und ich? Ich bin auf Gedeih und Verderb Umständen ausgeliefert, die ich nicht beeinflussen kann. Mit niemandem an meiner Seite, den es interessierte. Was für eine verdammte Ungerechtigkeit.

Diese Ungerechtigkeit ließ ihre Haut kribbeln und jucken, aber kein Kratzen, kein Schlagen half. Hannah, die Ausgegrenzte, die Auserkorene, betrat das Studentenwohnheim, stieg die Treppe in den dritten Stock hinauf und zog sich in ihr Zimmer zurück. Dort trabte sie auf und ab, tanzte unbeholfen zu Musik, von der sie hoffte, sie würde sie fröhlich stimmen. Nichts half, nichts brachte etwas. Blickte sie aus dem Fenster, sah sie die Schwärze der Nacht, strömenden Regen und grauen Asphalt. Blickte sie in den Spiegel, sah sie fahle Haut und trübe Augen. Hannah dachte daran, wie glücklich Lisa gewirkt hatte. Einst waren die beiden ein Herz und eine Seele gewesen, hatten gemeinsam gelebt und gemeinsam studiert. So unähnlich konnten sie sich doch nicht sein! Und trotzdem genoss Lisa ihr Leben in vollen Zügen und Hannah verzweifelte an sich und der Welt. Was machte sie nur so grundlegend anders als Lisa? Was machte sie falsch? Was war denn so schlimm an ihr? Warum sagte ihr das niemand? Warum war es einfach sie zu verlassen, aber wirkliche Gründe dafür ins Feld zu führen schien unmöglich? Für Benni hatte sie alles gemacht, sogar Dinge, mit denen sie normalerweise nicht einverstanden war Er war ihr all das wert gewesen. An seiner Seite sein zu dürfen hatte alles aufgewogen. Und das Resultat war, dass sie jetzt nichts mehr hatte und er wieder vergeben war, kurze Zeit nach seiner Trennung.

Hannah machte sich etwas zu essen. Freudlos, lustlos, appetitlos aß sie und grübelte. Sie stand auf, stellte sich vor den Spiegel im Badezimmer und versuchte, sich selbst anzulachen. Sie hasste ihr Lächeln, es sah so dumm aus. Wie eine dumme, verbohrte Kuh.

Hannah nahm ihr Handy und setzte sich auf ihr Schlafsofa. Sie suchte Lisas Vlog und fand ihn recht schnell. Sie betrachtete die Videos, die Einträge, die Texte, die Fotos. Glückliche Momente, warme Farben, aufregende Lokalitäten: Strand, Wald, Hotel, Flughafen, Rollbahn, Disco, Stadion. Immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Keine Träne. Kein missmutiges Gesicht. Immer auf der Suche nach Inspiration, nie auf der Suche nach Bestätigung. Lisa brauchte keine zusätzliche Bestätigung, denn ihre Bestätigung kam von innen.

Das war das, was Hannah verwehrt blieb.

Lisa lebte in einer ganz anderen Welt als Hannah. Studium, Singleleben, Sparsamkeit, das alles spielte in Lisas Leben keine Rolle mehr. Was für sie aber eine Rolle spielte, war ihre Website. Der Vlog. Sie schien ständig zu filmen. Und sie schien immer süß auszusehen. Selbst wenn sie irgendetwas Dummes von sich gab oder auch wenn sie beim Waldspaziergang stolperte – solch ein Zeugnis eines Fauxpas' löschte sie nicht einmal, sondern behielt es sogar im Video. Das ertrug Hannah nicht. Sie hielt keinen einzigen Vlog bis zum Ende durch. Viel zu viel Fröhlichkeit. Viel zu viel gute Laune. Gute Laune war Hannah schon vor langer Zeit abhandengekommen.

Dennoch: Vielleicht sollte sie sich ein bisschen an Lisa orientieren? Sollte versuchen, ein wenig von ihrem Leben abzukupfern. Ihr nachzueifern. Vielleicht sollte sie versuchen, mehr wie Lisa zu sein. Vielleicht war das die Lösung für ihre Probleme. So kam es, dass sich Hannah am darauffolgenden Mittwoch, einem dunklen, aber trockenen Abend, auf die Couch setzte und darauf wartete, dass das allwöchentliche Live-Video begann.

EINS

»Hallo, meine Lieben!« Lisa strahlte in die Kameralinse. »Heute nehme ich euch mal mit – auf einen Walk zum Abendmarkt hier in der City. Die haben da so viele Köstlichkeiten und faszinierende Produkte. Dafür gibt’s einfach nur ein Wort: Madness!«

Im unteren Bereich des Displays wurde die Anzahl der Zuschauer angezeigt. Diese war von zwei auf vier angestiegen; Hannah war eine davon. Lisa schien sich um die geringe Reichweit nicht zu scheren. Ihre Stimme klang so inbrünstig und glücklich, als würde sie zu einem Millionenpublikum sprechen. Ein Millionenpublikum war schließlich auch ihr erklärtes Ziel; das hatte sie Hannah anvertraut.

»Influencerin des Jahres«, hatte sie gesagt und dabei bedeutsam genickt. »Aber ich möchte nichts überstürzen. Wenn nicht mehr dieses, dann eben nächstes Jahr. Und dann will ich alles, was damit zusammenhängt: Sponsoring. Bezahlte Produktmarkennennung. Eine eigene Beauty-Linie. Vielleicht irgendetwas im Convenience-Bereich, ein Eistee, oder so. Werbeverträge eben.«

Und Hannah hatte in Gedanken vervollständigt: Bekanntheit. Beliebtheit. Ruhm.

Lisa redete weiterhin pausenlos, ohne Punkt und Komma. Während sie sich anzog, ihre Schuhe, Jacke, Handtasche und Schlüssel nahm. Während sie die geräumige Wohnung verließ, mit dem Aufzug ins Parterre fuhr und kurze Zeit später aus dem Wohnhaus trat. Die Zuschauerzahl sprang auf fünfzig.

Das müssen die bezahlten Bots sein, die sie erwähnt hat, dachte Hannah.

Währenddessen sprach Lisa mit überbordend fröhlicher Stimme über Ernährung, Nährstoffhaushalt und »what I eat in a day«; sie erzählte von Carbs, Eiweißen, Proteinen, Soja, Milch und Zucker.

Hannah hörte nicht richtig zu. Im Grunde interessierte es sie nicht, was Lisa in ihrer Liveübertragung von sich gab oder was sie tat. Sie wollte ihre ehemalige Mitbewohnerin lediglich auf dem Weg zum Erfolg begleiten und beobachten, möglicherweise ein wenig abkupfern, aber ihr natürlich auch beistehen und sie unterstützen.

Vielleicht erinnert sie sich noch an mich, wenn sie tatsächlich irgendwann einmal ganz oben angekommen ist.

Hannah dachte daran, wie glücklich Lisa während ihres Besuchs gewirkt hatte. In ihrem tollen Zuhause, das sie mit ihrem erfolgreichen und spendablen Freund Marc teilte. Jener Freund, von dem sie während der Autofahrt zur Wohnung am laufenden Band geschwärmt hatte, genauso wie von den Reisen, den Souvenirs, ihrem Leben und ihren neuen, inspirierenden Träumen und »Goals«. Wichtig zur Erreichung ihrer »Goals« wäre das »Mindset«, hatte sie voller Inbrunst skandiert und hinzugefügt: »Ab sofort heißt es bei mir: Good vibes only! Keine Negativität, keine Meckereien, keine Kritik. Das alles lasse ich einfach nicht mehr zu. Sorry, aber hat einfach keinen Platz mehr in meinem Leben.«

Hannahs Träume und Goals waren im direkten Vergleich zu Lisas nahezu lächerlich. Ebenso lächerlich wie ihr »Mindset« und ihr gesamtes Dasein. Eine einzige, ununterbrochene Aneinanderreihung an Lächerlichkeiten. Nach Bennis Trennung hatte sie mit lächerlichen Methoden versucht, ihn umzustimmen, immer und immer wieder. Irgendwann war es ihm wohl zu dumm geworden. Er hatte sie aufgesucht, hier, in diesem Wohnheim, in dem er einst ein- und ausgegangen war, voller Wut und Zorn und mit Drohungen um sich geworfen. Sogar das Wort »Unterlassungsklage« war gefallen, wenn Hannah nicht aufhörte, ihn zu …

(lieben)

… »stalken«.

Stalken, dachte sie spöttisch. Google das Wort lieber noch mal, Benni. Was ich gemacht habe, war mit Sicherheit kein Stalking. Aber okay, wenn du es so haben willst, dann muss ich es in Zukunft eben verdeckter anstellen. Du lässt mir ja keine andere Wahl.

Wer war er, dass er ihr vorschrieb, wo sie sich aufzuhalten hatte? Er hatte sich von ihr getrennt, sie war frei! Sie konnte tun und lassen, was sie wollte – und wo sie wollte. Außerdem: Was konnte sie denn für ihre Gefühle? War es ihre Schuld, dass er ihr so viel bedeutete? Dass sie ihn liebte? Er war ihr Ein und Alles gewesen, ihr Fels in der Brandung, ihre starke Schulter zum Ausweinen. Er hatte sie unterstützt, psychisch, physisch und spirituell. In ihren schwärzesten, dunkelsten Tagen. Nach jedem einzelnen Streit mit ihren Eltern, diesen kalten, verbohrten, verlogenen Fanatikern, hatte er sie aufgebaut. Er hatte sie getröstet, nachdem ihr Hund gestorben war. Oder genauer gesagt, nachdem ihre Mutter ihr eine Whatsapp-Nachricht mit den Worten »Hannah-Verena, Noah ist letzte Nacht leider von uns gegangen. Hoffe, dir geht’s gut. Gruß und Kuss, Mama.« geschickt hatte.

»Sie hat ihn überfahren«, hatte Hannah geschrien. Benni hatte versucht, sie zu beruhigen. Keine Chance. »Sie hat ihn überfahren, sie hat ihn überfahren, sie mochte ihn nie! Nie mochte sie ihn! Und als ich ihn nicht mitnehmen wollte, als ich ihn nicht mitnehmen konnte, war er plötzlich zu ihrem Hund geworden. Und er war ihr eine Last! Sie hat ihn überfahren, sie hat ihn überfahren!«

Benni, diese treue Seele, hatte Hannah in den Arm genommen, sie getröstet und gesagt, aus ihr würden nur der Schmerz und der Kummer sprechen, im Grunde glaubte sie doch gar nicht, dass ihre eigene Mutter imstande gewesen wäre, ihren Hund zu überfahren.

Er hatte es nicht verstanden.

Er hatte es nie verstanden und er würde es nie verstehen. Was ihre Eltern Zeit ihres Lebens getan, was sie angerichtet und zerstört hatten. Aber das war nicht seine Schuld. Benni hatte Hannah unterstützt. Tag um Tag, Nacht um Nacht. Hatte sie umarmt. Hatte ihre Hand gehalten. Hatte sie getröstet und ihr liebevoll zugeredet.

Sie erinnerte sich an das Gefühl, seine Hand zu spüren. Von ihm geküsst zu werden. Langsam. Schnell. Heiß und innig. All das war von heute auf morgen, ohne vorherige Anzeichen, beendet worden. Von ihm. Mit einer einzigen Sprachnachricht; lapidar und kühl.

»Sorry, Hannah, aber das mit uns wird nichts. Ist zu viel passiert. Echt, jetzt. Tut mir ehrlich leid. Sorry nochmal.«

Hannah schüttelte ihren Kopf frei von dieser Erinnerung und starrte wieder auf das Handydisplay, die einzige Lichtquelle in ihrem dunklen Studentenzimmer.

Lisa lief durch die Nacht. Ihr Atem verwandelte sich zu Dampf. Sie war mittlerweile an irgendeiner Straßenecke angekommen und schwenkte die Kamera umher, um ihrer Zuschauerschaft die Gegend zu zeigen. Das Wohngebiet endete an einer Fußgängerbrücke, die über eine vierspurige Stadtstraße führte. Auf der anderen Seite begann ein Geschäftsviertel. Im Hintergrund konnte man Schilder erkennen. Lisa deutete darauf und sagte: »Levinstraße und Bradbury-Ring, meine Lieben, das müsst ihr euch einfach merken, wenn ihr zu dem Abendmarkt kommen wollt. Es ist nicht mehr weit. Oh mein Gott, Leute, ich bin einfach so aufgeregt. Excitement!«

Lisa, nach wie vor im flötenartigen Singsang-Redeschwall, rückte schniefend ihren übergroßen Schal zurecht und just, als sie die Fußgängerbrücke überquerte, fragte eine ihrer mittlerweile mehr als fünfzig Zuschauer per Chatnachricht: »Wo kann man denn deinen tollen gelben Schal kaufen?«

Hannah verdrehte die Augen. Das ist ein verdammter, einfarbiger Schal, die Teile gibt es überall! Hör auf, Interesse zu heucheln!

Lisa, sichtlich erfreut über die Interaktion ihres Publikums, lächelte. »Oh, den hab’ ich im Online-Shop gekauft, war schon ein bisschen teuer, aber vegan und nachhaltig produziert und fair trade, daher dachte ich einfach, what the hell. Man muss sich einfach mal gönnen.« Sie hielt ihr Handy etwas höher und weiter von sich entfernt, sodass die angeblich interessierte Mina den großartigen Schal in seiner Gesamtheit bewundern konnte. »Ich würde ihn dir liebend gerne verlinken, aber ich habe nicht mehr allzu viel Zeit, bis ich krepiere.«

Kurzerhand kletterte sie über die Brüstung der Fußgängerbrücke und sprang in die Tiefe. Das Handy glitt ihr dabei aus der Hand, fiel gemeinsam mit ihrem Körper hinab und traf ebenso wie Lisa selbst auf dem Asphalt auf. Diese stöhnte und ächzte und hinter ihr blitzten Scheinwerfer auf. Zwei große Scheiben grellen Lichts. Sie tauchten das komplette Bild in weiße Farbe. Ein dumpfer Knall folgte. Und die Welt, die die Handylinse einfing, drehte und wendete sich in einem bizarren Taumel, in einer blitzschnellen Abfolge aus Dunkelheit, Licht und Farben. Das Gerät wirbelte durch die Luft, traf – von einem Krachen begleitet – irgendwo auf und die Aufnahme brach ab.

Das Bild war schwarz.

Was war das denn jetzt?

Hannah starrte auf das Display.

Runzelte die Stirn.

Keine Zuschauerzahlen mehr. Kein Stream. Nichts.

Nur Schwärze. Und dort, wo die Videoübertragung angezeigt worden war, leuchtete nun eine weiße Schrift neben einem Ausrufezeichen auf. »Connectivity problems«

Hannah war verwirrt. Sie musste sich daran erinnern, Luft zu holen. Mit fassungslosem Gesichtsausdruck starrte sie auf ihr Telefon. »Hallo? Was ist los?«

Gleich danach schämte sie sich für ihre Frage. Wer sollte ihr schon antworten? Im ersten Moment dachte sie noch, sie wäre Zeugin eines elaborierten Spezialeffektes gewesen, einer großangelegten Finte oder etwas anderem vergleichbar Dummen. Denn seien wir ehrlich, dachte sie, Lisa ist zwar reich und schön, aber nicht gerade die hellste Leuchte. So ein »Prank«, um Aufmerksamkeit und Zuschauerzahlen zu generieren, ist nicht unbedingt unter ihrem Niveau.

Sie erwartete, dass der Livestream von Neuem begann. Dass Lisa in die Kamera gluckste und in ihrer Sing-Sang-Stimme flötete: »Hey Leute, ver-a-harscht! Das war einfach nur ein Prank, die Soundeffekte hat der liebe So-und-so gemacht, sein Profil verlinke ich euch in der Bio.«

Aber so kam es nicht. Nichts dergleichen geschah. Kein neuer Livestream, keine Lisa, keine Sing-Sang-Stimme, kein Glucksen, kein Gerede über »Pranks« oder Soundeffekte. Erst jetzt dämmerte Hannah, dass etwas Schreckliches geschehen sein musste. Die Erkenntnis sickerte wie zäher Schleim durch ihre Gehirnwindungen. Sie erinnerte sich an die Scheinwerfer, die hinter Lisa aufgeblitzt waren.

Ein Unfall. Etwas hat sie gerammt, sie erwischt und … Aber warum ist sie gesprungen? Und was hat sie kurz davor gesagt? Hannah wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu denken.

Der Größe der Scheinwerfer nach zu urteilen hätte es sich gut und gerne um einen SUV oder etwas noch Bulligeres handeln können. Das Fahrzeug hatte Lisa erfasst, nachdem sie auf dem Asphalt aufgetroffen war. Hatte der Fahrer sie denn nicht bemerkt, war ihm denn nicht aufgefallen, dass da eine verletzte junge Frau auf der Straße lag und offensichtlich Hilfe benötigte?

Die Dunkelheit in ihrem Zimmer machte Hannah auf einmal Angst. Sie sprang auf und schaltete das Deckenlicht an. Unruhig lief sie auf und ab. Draußen setzte erneut Regen ein und prasselte lautstark gegen die Fensterscheibe.