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Zehn Jahre, nachdem Petra Schmidt die erste Auflage des Buches Ki-Karate. Zur Philosophie von Ki, Karate und Kampfkunst veröffentlicht hat, hat sich die Übungsmethode Ki- Karate zu einem festen Bestandteil der deutschen Karateszene etabliert. Was ist geschehen im letzten Jahrzehnt? Welche Verbindungen zu anderen Methoden und Stilrichtungen gibt es? Wohin hat sich diese Art und Weise Karate zu vermitteln weiterentwickelt? Was denken Karateka heute über Ki im Karate? Wie ist der wissenschaftliche Stand zu «Ki»? Das sind die Fragen, die die Autorin und Herausgeberin in diesem Buch aufgreift. Herausgekommen ist eine bunte Mischung aus Interviews mit hochrangigen Karate-Experten der vier großen Stilrichtungen, philosophischen und autobiografischen Texten unterschiedlichster Karateka sowie einem ausführlichen wissenschaftlichen Beitrag über «das Paradoxon Ki». Dieses Buch bietet sowohl erste Rückblicke und Erfahrungen aus zehn Jahren Ki-Karate in Deutschland als auch eine Einladung zum Nachdenken, Neudenken und Andersdenken. Nach wie vor ist das Anliegen von Petra Schmidt, den Begriff Ki vom Geheimnisvollen zu befreien. Sie möchte ihn vielfältiger und pragmatischer fassen. Ihre Suche nach dem Ki im Karate wird mit diesem Buch weiter intensiviert. Dabei ist sie sich bewusst: «Weisheit und Demut vertragen sich nicht mit Eile. Kunst ist für das ganze Leben.» (Jordi J. Serra)
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Seitenzahl: 439
Durchgesehene digitale Ausgabe der Originalausgabe, Copyright © 2012-2022 Verlag Werner Kristkeitz. Alle Rechte für sämtliche Medien und jede Art der Verbreitung, Vervielfältigung, Speicherung oder sonstiger, auch auszugsweiser, Verwertung bleiben vorbehalten. ISBN 978-3-948378-20-2 ISBN des gedruckten Buchs 978-3-932337-66-6www.kristkeitz.de
Der Planet braucht keine erfolgreichen Menschen mehr. Der Planet braucht dringend Friedensstifter, Heiler, Erneuerer, Geschichtenerzähler und Liebende aller Art.
Dalai Lama xiv
Von Herzen danke ich allen Menschen, die mich auf meinem Weg unterstützen, an mich glauben und bei mir sind.
Ohne die Lehrjahre bei Osamu Aoki wäre ich diesen Weg nicht gegangen. Ich habe von vielen Menschen viel lernen dürfen, wundervolle Karateka kennengelernt, und empfinde dies als großes Glück.
Meinen Interviewpartnern danke ich sehr dafür, dass ich sie interviewen durfte. Die Einblicke, die wir durch sie in die Denkweisen der vier großen Karatestile erlangen können, bereichern dieses Buch sehr. Meinen Co-Autoren und Co-Autorinnen danke ich für ihre Beiträge, die unterschiedlichste Perspektiven und Aspekte zum Ki-Karate einbringen und damit dieses Jubiläums-Buch zu einem wundervoll bunten, vielfältigem Werk machen.
Für die hilfreichen Anmerkungen und Korrekturen danke ich Christine Höcklin, Jürgen Schneider-Jansohn und Michael Schneider. Matthias von Saldern danke ich sehr dafür, dass er für dieses Buch ein Vorwort geschrieben hat. Auch für seine diversen fruchtbaren Anmerkungen zum Text danke ich ihm. Keigo Shimizu danke ich sehr für seine ausführlichen und sehr hilfreichen Anmerkungen zu den verwendeten japanischen und chinesischen Begriffen. Ganz besonderer Dank geht auch an Christina Goedderz für die charmanten Illustrationen.
Dies ist das dritte Buch, welches ich im Werner Kristkeitz Verlag veröffentliche, und es wird Zeit, meinem Verleger für seine vielfältige Unterstützung, seine schnellen Rückmeldungen und seine Geduld von Herzen zu danken. Seine außerordentliche Expertise, die sowohl fast sämtliche Themen im Bereich der Kampfkünste als auch Orthographie, Interpunktion, Sprachstil und Ausdrucksformen umfasst, sind eine große Bereicherung für meine Bücher. Vielen Dank dafür!
Auf meinen Kursen empfinde ich es immer wieder als großes Glück, von so vielen wundervollen Menschen umgeben zu sein, und kann euch gar nicht genug danken dafür. Danke für eure Offenheit, euer Vertrauen und euren Mut, auch sonderbar anmutende Übungen mit mir zu machen! Ich habe großes Glück, dass es euch gibt in meinem Leben.
Die Sichtweisen meines Ehemannes, der als Olympionike im Hammerwurf stets bodenständig, pragmatisch und kritisch meinem Tun gegenübersteht, bereichern meinen Karateweg immer wieder sehr. Auch er kennt aus seiner aktiven Zeit im Leistungssport «Momente, in denen Kräfte einfach wirken», unabhängig davon, wie wir es nennen. Die Verbindungen und Parallelen, die wir beide zwischen Karate und Hammerwurf sehen, würden so manchen ins Staunen bringen. Impuls, Verwringung, Auflösung, Loslassen, Balance – immer wieder sind es verblüffend ähnliche Grundprinzipien, die das Aufgehen in einer Bewegung erfordern. Danke für alles, mein wundervoller Mann!
Petra Schmidt, im Sommer 2017
Petra Schmidt legt mit diesem Band ihre bereits dritte Publikation zum Thema Ki-Karate vor. Ist denn nicht bereits alles gesagt? Nein, keineswegs!
Oft ist es ja so, dass mehr Fragen entstehen, je tiefer man in eine Sache eindringt. Genauso ist es auch hier: Fragen, die sich in den ersten beiden Bänden schon andeuteten, werden hier aufgegriffen, Antworten zugeführt und – führen schon wieder zu neuen Fragen. Ein frustrierender Prozess? Nein, ganz im Gegenteil notwendig und spannend.
Ansatz dieses Bandes ist es, Ki-Karate unter verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Es ist eine ausgewogene Mischung gelungen zwischen Interviews mit hochrangigen Karateka, stark autobiografischen Texten von Newcomern und alten Hasen, sowie in einem langen, herausfordernden Beitrag eine wissenschaftliche Analyse über Ki. Eines wird an vielen Stellen deutlich: Ein neues Konzept führt erfolgreich zu einem Nachdenken über das, was man teilweise schon jahrzehntelang betreibt. Gerade die älteren Autoren zeigen eindrucksvoll, dass es sich lohnt, immer weiterzulernen und sich nicht auszuruhen. Dazu gehört auch ein Sich-infrage-Stellen, was manchmal Mut erfordert, aber unerlässlich ist für die eigene Weiterentwicklung.
Viele neue Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben so das Karate vorangebracht, das Verstehen vertieft. Erst machten wir Kata als reinen Ablauf von Techniken ohne Sinn, dann kam Bunkai und wir wussten, was wir taten. Plötzlich entdeckten wir die Würfe im Karate (nage waza) oder die Klebenden Hände (kaki’e). Das Karate selbst hat sich nicht grundlegend verändert, aber das Verständnis dessen, was wir tun. Ich denke, die Beschäftigung mit Ki leistet genau das. Wir werden Karate wieder ein wenig mehr verstehen. Das Bewusstsein wird geschärft.
Was ist denn nun eigentlich Ki? Ich bin nicht so vermessen, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Aber es muss irgendetwas mit Bewegung zu tun haben. Alles, was man inzwischen aus der Psychomotorik kennt, stützt die Erkenntnis der alten Meister: Die Technik (waza) verbindet Geist (shin) und Körper (mi oder tai). Vielleicht kommt hier etwas zusammen, was durch den Philosophen Descartes getrennt wurde. Körper und Geist (res extensa – res cogitans) werden wieder als Einheit verstanden. Und daher kommt auch unser Blick in den Fernen Osten, in dessen Gedankenwelt man diese Trennung so nicht kannte.
Ist es nicht typisch westliches Denken, alles analysieren zu wollen? Müssen wir eigentlich die Frage stellen, was Ki ist? Die Silberrücken im Karate kennen noch die japanischen Trainer aus der Anfangszeit, die nie etwas erklärten, sondern nur eine Bewegung vormachten. Aber solche Fragen sind uns offenbar ein Anliegen. Als man noch nicht wusste, wie Gewitter entsteht, glaubten unsere Vorfahren an Thor, der mit seinem Wagen donnernd und grollend über die Wolken fuhr. Wir suchen immer nach einer Erklärung.
Brauchen wir überhaupt eine Erklärung? Kann man Karate eigentlich ohne Ki machen? Ich glaube nicht, aber dazu braucht man nicht zu wissen, was Ki eigentlich ist. Das klingt nun provokant, aber wer kann erklären, warum ein Fahrrad nicht umfällt, wenn man in die Kurve geht? Ich kann zwar ohne umzufallen mit dem Fahrrad in die Kurve fahren, aber ich weiß nicht, warum es sich so verhält.
Für viele ist das beunruhigend. Viele Karateka suchen; man sieht es an Konzepten wie Qigong oder Kyūsho Jitsu. Überall Ki. Die Gefahr, dass man sich dem Esoterischen zuwendet, ist groß. In diesem Kontext ist auch Petra Schmidts Ansinnen zu verstehen, Ki zu entzaubern, wie sie selbst schreibt.
Dies zeigt sich in den praktischen Übungseinheiten: Man bereitet sich durch Ki-Übungen vor, man macht mal zwischendurch Ki-Übungen usw. Dies ist meines Erachtens aber noch nicht hinreichend. Ein derartiges Vorgehen benutzt Ki-Übungen, um Karate besser und intensiver machen zu können. Das ist unstrittig und für Einsteiger ein guter Weg: Man nutzt Ki-Übungen, um das Karate zu verbessern und sich damit dem Ki im Karate zu nähern. Die Frage bleibt daher, wo sich das Ki im Karate selbst befindet, äußert, lebt (was auch immer es sein mag). Diesen Punkt werden wir vertiefen müssen. Sicher ist für mich deshalb: Wir sind in Sachen Ki noch auf der Suche. Dieser Band treibt die Suche intensiv voran, weshalb ich ihm große Verbreitung wünsche.
Matthias von Saldern
My doctor told me I would never walk again. My mother told me I would. I believed my mother.
Wilma Rudolph
Mit vier Jahren hatte Wilma Rudolph eine doppelte Lungenentzündung und Scharlach, woraufhin ihr linkes Bein gelähmt blieb. 1960 war sie die erste Frau überhaupt, die bei den Olympischen Spielen drei Goldmedaillen (Leichtathletik, Laufen) gewann.
Zehn Jahre sind verflogen, seitdem ich die erste Auflage des Buches Ki-Karate. Zur Philosophie von Ki, Karate und Kampfkunst veröffentlicht habe. Die Übungsmethode Ki-Karate hat sich mittlerweile zu einem festen Bestandteil der deutschen Karateszene etabliert. Was ist geschehen im letzten Jahrzehnt? Welche Verbindungen zu anderen Lehren, Methoden und Stilrichtungen gibt es? Wohin hat sich diese Art und Weise Karate zu vermitteln weiterentwickelt? Was denken Karateka heute über Ki im Karate? Wie ist der wissenschaftliche Stand zum Begriff Ki? Das sind die Fragen, die ich mit diesem Buch aufgreifen möchte.
Dafür habe ich im ersten Kapitel international bekannte Karate-Experten der vier großen Stilrichtungen Shōtōkan, Gōjū-Ryū, Shitō-Ryū und Wadō-Ryū interviewt. Im zweiten Kapitel kommen erfahrene Kampfkünstlerinnen und Kampfkünstler mit ihren Konzepten und philosophischen Überlegungen zum Thema Ki im Karate zu Wort. Im dritten Kapitel berichten Lernende und Lehrende von ihren persönlichen Erfahrungen mit der Übungsmethode Ki-Karate. Im vierten Kapitel untersucht ein karatebegeisterter Sportwissenschaftler das Paradoxon Ki aus naturwissenschaftlicher Sicht.
In einem Gespräch mit dem Autor des letzten Beitrags, Peter Kuhn, ist mir bewusst geworden, dass der Begriff «Schulungsmethode» für mich nicht mehr stimmig ist. Viel passender ist es, von der «Übungsmethode» Ki-Karate zu sprechen. Denn der Begriff «Schule», ebenso wie die «Verschulung», die wir wieder zunehmend auch an deutschen Universitäten und anderen Ausbildungseinrichtungen sehen, führt zu unangemessenen Assoziationen: feste Grenzen, vorgegebene Inhalte, unabänderliche Methoden, starre Hierarchien, wenig Selbstständigkeit … All das soll mit Ki-Karate gerade nicht gestärkt werden. Stattdessen nutze ich nun den Begriff «Übungsmethode», mit welchem sich leichter die Inhalte assoziieren lassen, um die es mir geht: üben, wachsen, lernen, erfahren, ausprobieren, weiterentwickeln etc. Mit dem Begriff «Ki-Karate» bezeichne ich eine bestimmte Übungsmethode, mit der Karate vermittelt wird. Noch einmal zur Erinnerung, die Ausgangsposition zur Entwicklung dieser Übungsmethode war folgende Beobachtung:
Diejenigen, die Aikidō oder Kendō machen, werden meist auch im fortgeschrittenen Alter besser. Ihre Fähigkeiten, effektive Techniken ausführen und anwenden zu können, nehmen zu. Doch es gibt heute, nach wie vor, nur wenige Karateka im fortgeschrittenen Alter, die gutes oder gar besseres Karate machen als die zwanzigjährigen «Karate-Frischlinge». Das sollten wir ändern! Wenn wir Karate nicht nur als Sport, sondern auch als Kunst verstehen, sollten wir Möglichkeiten suchen, unsere Fähigkeiten durch das Üben dieser ganzheitlichen Kampfkunst auch im hohen Alter zu verbessern. Dies ist die grundlegende Idee zur Entwicklung der Übungsmethode Ki-Karate.
Ki-Karate ist eine Methode, in der Ki-Übungen für die Optimierung von Karatetechniken genutzt werden. Unter Ki-Übungen verstehe ich eine Mischung aus ganz bestimmten vorbereitenden Übungen, mit denen wir uns dehnen, strecken, Verklebungen der Muskulatur, der Faszien und des Bindegewebes lösen, die Feinkoordination und die sensible Wahrnehmungsfähigkeit erhöhen durch Stimulation neuronaler Vernetzungen und vieles mehr. Grundlage ist eine Art «japanisches Qigong», erweitert durch Übungen aus anderen Kampf- und Bewegungskünsten, die gezielt abgewandelt wurden, um bestmöglich das Erlernen, Verbessern und Optimieren von Karatetechniken zu unterstützen. Aus der Leichtathletik kennen wir seit Langem den Begriff «Zubringerübung». Das trifft es schon ganz gut: Übungen, die uns dahin bringen, durch möglichst optimales Vorbereiten und Nutzen unserer körperlichen und emotional-geistigen Ressourcen höchstmögliche Effizienz hinsichtlich der jeweiligen Techniken, in unserem Fall Karatetechniken, zu erlangen. Viele verschiedene Einflüsse fließen in diese Methode ein. Neben meinen jahrzehntelangen Erfahrungen in den unterschiedlichsten Sportarten nutze ich stets auch meine Kenntnisse und Erfahrungen als wingwave®-Coach, als Kommunikationstrainerin und als Lehrbeauftragte diverser Hochschulen für die andauernde Weiterentwicklung. Um diesem System einen Rahmen zu geben, habe ich in den letzten Jahren vier grundlegende Arbeitsprinzipien des Ki-Karate aufgezeigt:
– Die Arbeit mit dem Gleichgewicht, um die Erdanziehung nutzen und Orientierung in Raum und Zeit erfahren zu können.
– Die Arbeit mit Visualisierungen, Verfeinerung der Empathiefähigkeit und biomechanisch optimierte Koordinationsarbeit, um die gewünschten Haltungen, präzisen Ausgestaltungen und den jeweiligen Gesamt-Ausdruck für eine Technik erlangen zu können.
– Die Arbeit mit verschiedenen Atemübungen, um zum einen Einfluss in bestimmte Bereiche des vegetativen Nervensystems zu nehmen (z. B. Beeinflussung von Hormon- und Immunsystem) und zum anderen in den erlernten Techniken Sicherheit zu erlangen.
– Die Arbeit für neue neurophysiologische Bahnungen, um unsere Möglichkeiten zu erweitern und damit mehr kreative Freiheit in den Bewegungen und Haltungen zu erlangen.
Ki-Karate ist für jede Altersgruppe geeignet. Diese Art Karate zu üben fördert grundsätzlich die Gesundheit und das Wohlbefinden. Zugleich bleibt das Augenmerk auf eine höchstmögliche Effizienz der Techniken gerichtet. Unsere Ressourcen zu verbessern und unsere Ressourcen besser zu nutzen, ist das Ziel von Ki-Karate.
Zu den sprachlichen Formalitäten
Ich spreche im Folgenden, den deutschen Gepflogenheiten folgend, häufig von Trainerinnen und Trainern, auch wenn ich mich selbst eher als «Lehrerin» oder «Übungs-Anleiterin» verstehe. Auch schreibe ich die japanischen Namen gemäß der deutschen Gewohnheit: erst den Vornamen und dann den Nachnamen. Titel, welche im Japanischen hinter die Namen gestellt werden (Funakoshi-Sensei), setze ich ebenfalls gemäß der deutschen Sprachnorm vor den Namen (Sensei Funakoshi). Grundsätzlich verzichte ich im Fließtext auf sämtliche Titel wie Dr., Prof., Sensei etc., um den Lesefluss zu vereinfachen. In manchen Fällen verwende ich die weibliche, in anderen die männliche Form des grammatischen Geschlechts oder nutze beide Schreibweisen. Grundsätzlich meine ich Menschen jeglichen Geschlechts. Mit dieser Uneinheitlichkeit möchte ich es meinen Leserinnen und Lesern leicht machen, dem Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern gegenüber aufmerksam zu bleiben, welches nicht nur in der Welt der Kampfkünste existiert.
In den Texten meiner Co-Autorinnen und -Autoren verwenden diese die Ihnen selbst jeweils angenehme Schreibweise für geschlechtsspezifische Bezeichnungen, Titel, japanische Begriffe, bestimmte Konzepte und anderes mehr. Dadurch kommt es in diesem Buch zu unterschiedlichen Schreibweisen. Dahinter steht oft die Frage, was ist denn nun angemessener: Karate-Dō, Karatedō oder einfach nur Karate? Funakoshi-Sensei oder Sensei Funakoshi? Trainerinnen und Trainer, Lehrer oder Schülerinnen und Schüler? Heißt es Ki, ki, oder Qi? Ich lasse die Bezeichnungen nebeneinander stehen, denn auch diese bunte und uneindeutige Vielfalt zeigt ganz offensichtlich die großen Bewegungen und Strömungen, in denen sich die Kampfkünste heute befinden.
Selbstverständlich werden die Titel und Positionen der jeweiligen Co-Autorinnen und Co-Autoren im Portrait am Ende des Buches aufgeführt.
Am Ende des Buches findet sich auch ein Glossar, in welchem die in den Texten verwendeten Begriffe mit japanischen bzw. chinesischen und lateinischen Schriftzeichen und deutscher Übersetzung aufgeführt sind.
Das Buch ist eine bunte Mischung aus verschiedensten Beiträgen. Jeder Abschnitt kann auch für sich gelesen werden. Es ist nicht notwendig, sich an die Reihenfolge der Kapitel zu halten.
Es sei kein Hauchzwischen Denken und Tun.
Zenmeister Takuan
Ich habe das große Glück, dass für das erste Kapitel vier international bekannte Karateka bereit waren, mir ein Interview für dieses Buch zu geben. So kommen gleich am Anfang Vertreter der vier großen Stilrichtungen – Gōjū-Ryū, Shitō-Ryū, Wadō-Ryū, Shōtōkan – zu Wort. Bei der Reihenfolge der Interviews habe ich mich an den Graduierungen meiner Interviewpartner orientiert. Fritz Nöpel, Carlos Molina, Uwe Hirtreuter und Efthimios Karamitsos sprechen mit mir über ihre Meinung zum Ki im Karate, zum Ki speziell in dem von ihnen vertretenen Karatestil und über die Übungsmethode Ki-Karate. Herausgekommen sind sowohl interessante und spannende Gespräche über nicht alltägliche Phänomene, als auch Zeitdokumente und private Einblicke in den Werdegang dieser vier Karate-Experten. Ich habe mich in den Interviews von den Gesprächsverläufen leiten lassen und zugleich versucht, einige Fragen möglichst ähnlich an alle vier zu stellen, damit wir die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede in ihren Antworten deutlicher erkennen können.
Mit dreien dieser vier hochrangigen Karateka habe ich seit vielen Jahren Kontakt. Efthimios Karamitsos kenne ich seit Anfang der 90er Jahre. Ich habe viele Jahre in seinem Dōjō trainiert und dort auch meine ersten Ki-Kurse gegeben. Uwe Hirtreuter habe ich in meiner Zeit in Norddeutschland kennen und schätzen gelernt. Carlos Molina habe ich über die Deutsche dan-Akademie kennengelernt und bin sehr dankbar, einen so erfahrenen Karateka mit seinem unglaublich umfangreichen Wissen persönlich zu kennen. Den Großmeister des Gōjū-Ryū-Karate in Deutschland und höchstgraduierten deutschen Danträger, Fritz Nöpel, habe ich über meinen langjährigen Kollegen Martin Nienhaus angesprochen. Martin Nienhaus ist eng mit Fritz Nöpel befreundet und hat mit ihm das Buch Jukuren: Kampfkunst der Erfahrenen geschrieben.Ich habe Fritz Nöpel in der Pause eines Lehrganges meine Fragen stellen dürfen. Mit diesem Interview beginnt das Kapitel.
Im Gōjū-Ryū lassen sich noch am deutlichsten die chinesischen Einflüsse erkennen. Chōjun Miyagi (1888–1953) lernte von Kanryū Higaonna und übte mit ihm gemeinsam chinesisches Boxen und Baguazhan (auch Pakua genannt). Er nannte seinen Stil Gōjū-Ryū. Gōjū bedeutet «hart-weich». Eine Zuschreibung, die sicher als typisch für den Stil gelten kann. Gōjū-Ryū wird auch «Stil der inneren Kraft» genannt.
Im Anschluss an das Gespräch mit Fritz Nöpel folgt das Interview mit Carlos Molina, der in den 70er Jahren nach Deutschland kam und maßgeblich an der Verbreitung des Shitō-Ryū-Karate in Deutschland beteiligt war und ist. Den Shitō-Ryū-Stil entwickelte Ken Ei Mabuni (1893–1957). Er machte eine Synthese aus den Karaterichtungen Shōrin-Ryū und Shōrei-Ryū und nutzte die Initialen der beiden Meister, bei denen er gelernt hatte, für den Namen seines neuen Stils.
Weiter geht es mit dem Interview des norddeutschen Karateka Uwe Hirtreuter, der seit 1965 dem Wadō-Ryū-Karate treu geblieben ist. Er gibt mit seinem guten Freund und Weggefährten Rob Swartjes, dem international erfolgreichen ehemaligen Bundestrainer der Niederlande, seit Jahrzehnten regelmäßig Lehrgänge. Der Wadō-Ryū-Stil wurde von Hironori Ōtsuka (1892–1982) entwickelt. Er lernte bei Gichin Funakoshi, Ken Ei Mabuni und Chōki Motobu und kombinierte körperfreundliche, kleinere Bewegungen für seinen Stil. Wadō bedeutet «Weg des Friedens».
Abschließend folgt das Interview mit dem seit Jahrzehnten international erfolgreichen Bundestrainer für Kata des Deutschen Karateverbandes Efthimios Karamitsos, dem hochklassigen Vertreter des Shōtōkan-Karate. Der Shōtōkan-Stil geht zurück auf Gichin Funakoshi (1868–1857), dessen Künstlername Shōtō war. «Shōtō» bedeutet «das Rauschen der Pinien». Seine erste Trainingshalle wurde Shōtōkan genannt und dieser Name wurde für seinen Karatestil übernommen. Shōtōkan gilt als «Stil der äußeren Kraft».
In den folgenden Interviews stelle ich meine Interviewpartner jeweils kurz vor, bevor die Gesprächsaufzeichnung beginnt.
Der Wegbereiter des Gōjū-Ryū-Karate in Deutschland ist höchstgraduierter Danträger im Deutschen Karate Verband (DKV), Ehrenvorsitzender des Goju-Ryu-Karate-Bund Deutschland und der European Goju-Ryu Karate-Do Federation. 1999 wurde ihm, wenige Jahre nach dem Tod seines großen Lehrers Tomoharu Kisaki, dem früheren Präsidenten des Yuishinkan-Gōjū-Ryū-Verbands, der zweithöchste japanische Ehrentitel, Hanshi, verliehen.
Sein Karateweg begann 1954. Als 19-Jähriger wollte er mit dem Fahrrad zu den Olympischen Spielen nach Melbourne fahren und blieb auf dem Weg dorthin in seinem 29. Reiseland, in Japan, hängen. Dort heiratete er, übte Karate und kam 1967 mit Frau und Kind zurück nach Deutschland. Hier gründete er die Karateabteilung im Polizeisportverein Dortmund, Deutschlands ersten Gōjū-Ryū-Verein. Seit 1979 ist sein Heimat-Dōjō: Yuishinkan Goju-Ryu Karate-Do Kamen / Bergkamen e. V.
Petra Schmidt
Hallo Fritz, vielen Dank, dass du mir deine Zeit schenkst.
Fritz Nöpel
Was hast du denn so für Fragen?
Petra Schmidt
O. K., fangen wir gleich an. Du hast etwas von innerer Kraft gesagt eben beim Training, was meinst du damit genau?
Fritz Nöpel
Ich gebe dir mal ein Beispiel: Ein Eisberg, der zeigt sich 15 % über Wasser und 85 % unter Wasser, und so ist es auch mit dem Menschen. Man hat festgestellt, dass ein Mensch nur 15 % seiner Kraft nutzt. Mit diesen 15 % seiner Kraft macht er alles. Er macht seinen Beruf, sein Leben und alles. Trainiert einer seinen Körper und baut ihn auf, dann kann er bis 35 % nutzen. Also er kann diese Teile dann auch nutzen – über die Spannung, die Dreier-Spannung, wie in der Kata Sanchin. Das ist auch ganz wichtig. Wenn man jetzt Karate macht, so richtig jahrelang und alles richtig macht und sich mit der inneren Kraft immer wieder beschäftigt und sie auch zum Vorschein bringt, dann kannst du bis 50 % einsetzen, die anderen 50 % werden immer versteckt bleiben. Außer du gehst jetzt noch weiter und machst die richtigen Atemübungen und dann kannst du noch etwas mehr. Aber dass einer sagt, ich nutze jetzt 100 % meiner Kraft, das gibt es nicht.
Es gibt außerordentliche Situationen, in denen wir noch mehr aktivieren können. Zum Beispiel hat man gesehen, dass im Krieg verwundete Soldaten von ihren Kameraden kilometerweit getragen wurden. Man kann es nicht erklären. Das ist eigentlich gar nicht möglich. Oder bei Unfällen, da ist man in der Lage, eine Tür aufzutreten oder ein Auto anzuheben, weil darunter einer liegt. All diese Sachen, die gar nicht zu schaffen sind normalerweise, die gehen dann. Oder es gibt eine Geschichte, die hat mir ein Experte erzählt, da war ein Jäger, der ist von einem Bären verfolgt worden und kam an eine Schlucht, die sehr breit war. Es lässt sich nicht erklären, aber er ist in der Gefahren-Situation da rübergesprungen. Man hat dann Reporter hingeschickt, um die Breite zu messen. Und es kam raus: Es ist unmöglich, und trotzdem hat er es geschafft. Das erklärt sich dann nur aus der Situation heraus. In der Todesangst stehen einem dann alle Kräfte zur Verfügung, die in einem schlummern.
Petra Schmidt
Das glaube ich auch. Solche Erfahrungen, nicht ganz so spektakulär, habe ich auch gemacht. Daraus ist dann mein Ansatz entstanden, gezielt Übungen zu nutzen und neue Methoden zu finden, die dieses «Reserve-Kräfte-Aktivieren» bewusst unterstützen können.
Fritz Nöpel
Ich habe mal an einem Lehrgang eines Ki-Professors in Hawaii teilgenommen, der hat mir so ein bisschen die Augen geöffnet. Er konnte das nur mit seinen Leuten machen. Ich habe mich zur Verfügung gestellt und bei mir ging gar nichts. Ich bin da sehr skeptisch. Ich habe es dann auch mit anderen ausprobiert. Für mich ist der Weg eher so, dass es um diese innere Kraft geht, von der ich gesprochen habe. In diesen Momenten, in denen alles stimmt, wenn der Stand stimmt und alles, wenn du das hervorrufen kannst, dann bist du wirklich in der Lage, eine Kraft zu erzeugen, die einfach viel größer ist als normalerweise. Dann kann mehr von dieser inneren Kraft zutage treten. Davon bin ich überzeugt. Aber sonst bin ich sehr skeptisch. Es ist auch nicht realistisch. Die Ki-Kraft, die kannst du vielleicht zeigen, aber in Zusammenhang mit unserer Kampfkunst, da sind Grenzen.
Petra Schmidt
Vielleicht ist es ja genau das, was du sagst, dass alles zusammenkommen muss. Du hast ja gesagt, die innere Kraft und das Übereinstimmen der inneren und der äußeren Haltung sind wichtig. Und genau das üben wir ja auch immer wieder im Karate, vielleicht ist Ki ja einfach nur das?
Fritz Nöpel
Ich muss dann aber dieses Ki im Karate nicht so betonen, nicht so mystifizieren, verstehst du? Ich glaube, ich weiß, was damit gemeint ist. Ich kann das auch umsetzen und ich spüre es auch. Manchmal habe ich einen super Tag, dann stimmt alles. Dann gebe ich dir einen Stoß und du taumelst und fällst hin. Verstehst du? Das ist meine innere Kraft, das ist meine Ki-Kraft. Aber ich betone sie nicht. Für mich ist das ein ganz normaler Weg, den jeder erfahren kann.
Petra Schmidt
Das glaube ich auch.
Fritz Nöpel
Ich gebe mich auch mit den bestimmten Punkten nicht so ab. Ich weiß, wo die empfindlichen Punkte sind. Man muss einfach genau die richtige Waffe zum richtigen Punkt bringen. Die Waffe steht mir zur Verfügung. Die Erfahrungen habe ich gemacht.
Ich habe ja immer noch Verbindungen nach Japan und zu japanischen Meistern. Das sind ganz seriöse, erfahrene Menschen, die sich auch viel damit befasst haben. Da sind wir alle einer Meinung und haben alle eine ähnliche Einstellung dazu.
Petra Schmidt
Ich glaube auch, dass der Begriff Ki einfach pragmatischer verstanden werden sollte und finde deine Vorstellungen von der inneren Kraft sehr einleuchtend. Du hast eben beim Training gesagt, ich muss meine Distanz und meine innere Einstellung halten, damit ich auch meine Energie auf den Gegenüber loslassen kann. Meintest du damit das Gleiche wie die innere Kraft?
Fritz Nöpel
Ja, das ist das.
Petra Schmidt
Das ist notwendig, um mich «ganz» einzubringen?
Fritz Nöpel
Was heißt «mich einzubringen»? Wenn es eine realistische Selbstverteidigung ist, dann gibt mir die Kata ja ein Beispiel. Die Kata zeigt mir ja, was ich kennen sollte, und daraus habe ich eine weitere Entwicklung. Man muss natürlich die Kata lesen können. Sie sind ja nicht alle zur gleichen Zeit entwickelt worden. Das muss man mit beachten. Und dann müssen noch die Elemente und die Tiere beachtet werden, die darin enthalten sind. Wenn du es wirklich begreifen und verstehen willst, dann musst du dich gedanklich erst einmal so bewegen, wie es die Chinesen auch tun. Ich habe natürlich das Glück gehabt, dass ich lange in China und Japan war. Da habe ich schon etwas mitbekommen. Wenn wir hier in Europa oder Deutschland Karate entwickelt hätten, dann hätten wir es in einer ganz anderen Form entwickelt.
Petra Schmidt
Was lernen wir von den einzelnen Tieren? Sind es vielleicht auch die spezifischen Haltungen der Tiere? Natürlich sind es auch die Dinge wie zwei Hände oder der Schwanz des Drachen oder die Richtung, aus der sie kommen. Ist es vielleicht zudem diese Art der spezifischen inneren Kraft der jeweiligen Tierart, die wir versuchen, uns anzueignen?
Fritz Nöpel
Ja, aber wir sind immer noch Menschen! Ein Punkt, warum man die Tiere nach und nach beobachtet hat, ist, weil man erreichen möchte, dass der Mensch reagiert, statt mit dem Kopf zu agieren. Mit dem Kopf kommt man nicht zum Erfolg. Sondern das Reagieren ist wichtig. Ein Tiger hat nur zwei Möglichkeiten: Er greift an oder er flieht. Auch bei den anderen Tieren ist es so. Das macht der Leopard, die Schlange, der Kranich und der Drache.
Petra Schmidt
Der Drache ist für uns in Europa ein ungewöhnliches Tier.
Fritz Nöpel
Da muss man die Chinesen so und so noch einmal genau befragen. Die sehen den Drachen ja in den Wolken, im Wasser, und überall haben sie den Drachen. Das wissen wir ja auch. Aber jetzt sehen wir uns noch einmal die anderen Tiere an. Wie reagieren sie? Sie überlegen und planen ja nicht. Wenn du auf die Schlange trittst, dann greift sie an. Und daran wollte man erinnern. Sei wie ein Tiger. Oder sei wie eine Schlange. Es geht um die Abläufe der Bewegungen.
Petra Schmidt
Was meinst du genau mit den Abläufen der Bewegungen?
Fritz Nöpel
Naja, der Mensch, der bewegt sein Bein oder seine Schulter. Aber wenn wir jetzt von oben nach unten angreifen, wie beim Kranich, dann läuft so auch die Bewegung. Es geht dann um die gesamte Bewegung, nicht darum, den Arm zu heben. Und das siehst du in der Kata. Da siehst du, dass die Entwickler dieser Kata sich diese Tiere als Beispiel genommen haben. Der Leopard zertrümmert den Kehlkopf. Du musst den Weg finden, wie du den Kehlkopf zertrümmerst. Oder der Biss der tödlichen Schlange oder der Würgegriff.
Petra Schmidt
Ist da vielleicht auch wieder diese Vorstellung davon, etwas «ganz» zu tun, mit enthalten? Diese zen-buddhistische Weisheit von «atme, wenn du atmest; iss, wenn du isst» und so weiter?
Fritz Nöpel
Ja natürlich, absolut. Der Tiger gibt alles, wenn er etwas macht. Und so macht es auch der Kranich und auch die Schlange. Da gibt es keine halben Sachen.
Petra Schmidt
Da gibt es keine halben Sachen und deshalb vielleicht auch die Möglichkeit, an unser Potenzial näher heranzukommen als sonst? Kann das sein?
Fritz Nöpel
Ja, Tiere können vielleicht mehr aus ihrer inneren Kraft schöpfen. Weil sie unkomplizierter sind, und bei ihnen ist alles entspannt, und daraus gehen sie dann in eine Vollspannung. Das ist schon möglich.
Petra Schmidt
Vielleicht werden dafür ja auch die Tiere im Karate genutzt. Damit wir genau dies von ihnen lernen.
Fritz Nöpel
Ja, da können wir uns ein Beispiel daran nehmen. Die Tiere im Karate – das ist ja keine Entwicklung von fünf Tagen, sondern über Jahrhunderte. Und da sehe ich schon die Faszination. Bei den Elementen ist es ähnlich. Ob du nun ein Erdmensch bist oder ein Feuermensch, das spielt alles eine Rolle. Die Chinesen sagen, der Mensch ist in der Mitte und alles um ihn herum wird mit einbezogen ins Leben. Das ist gar nicht so kompliziert. Wir wollen es nur immer kompliziert machen. Ich komme damit sehr gut klar.
Petra Schmidt
Einen Begriff gibt es noch, zu dem ich gern deine Meinung hören würde: Im Deutschen haben wir ja das Wort «Spannung». Wir kennen Entspannung, Anspannung, Verspannung usw. Das kommt ja auch immer wieder im Karate vor. Die Spannung kann sich auf eine spannungsreiche Situation beziehen oder einfach auf Muskelspannung. Für mich ist es ein ganz wichtiger Begriff im Karate. Was meinst du?
Fritz Nöpel
Das ist auch ein großer Begriff. Erst einmal haben wir die Entspannung. Dazu gehört die innere Ruhe, das Vertrauen zu meinem Können. Die Entspannung brauche ich, um Spannung zu erzeugen. Nur wenn ich entspannt bin, kann ich auch blitzschnell reagieren. Deshalb müssen wir zu starke Vorspannung, Verspannung oder einen falschen Stand vermeiden. Denn schon bin ich im Eimer. Wenn der Stand eine falsche Spannung hat, kann ich nicht reagieren. Das zieht sich durch die ganzen Techniken. Immer wieder entspannen und Hände öffnen. Die Kata gibt uns dafür auch das Beispiel. Die Hände im Gōjū-Ryū zum Start der Kata zeigen etwas an, dann gibt es eine kurze Spannung und wieder Entspannung. Mit dieser Entspannung starte ich in die Kata. Nur entspannt kann ich blitzschnell anspannen und meinen Kiai einsetzen. Wir haben ja den Stil der inneren Kraft. Das kommt von Laotse, das Yin und Yang. Shōtōkan ist ja der Stil der äußeren Kraft. Das hängt aber damit zusammen, dass damals die Lebenserwartung nur 40 Jahre war, und die meisten sind gar nicht weiter gekommen. Heute ist es so, dass die Shōtōkan-Leute, die älter sind und die gut sind, die kämpfen auch mit der inneren Kraft. Das geht ganz normal ineinander über. Heute bei der Masse von Leuten, die viel älter werden als je zuvor, da merkt man ja auch, dass einige es auch nie begreifen werden.
Petra Schmidt
Wie ist es mit den älteren Karateka? Du hast den Begriff «Jukuren» in die deutsche Karateszene eingebracht. Auf wen genau bezieht er sich?
Fritz Nöpel
Es gibt Jukuren und Späteinsteiger. Die richtigen Jukuren sind diejenigen, die ihr ganzes Leben lang schon Karate machen. Sie tragen diese innere Kraft dadurch schon in sich. Auch wenn sie Shōtōkan machen. Und es gibt dann auch noch welche, die sind aus dem sportlichen Bereich nicht herausgekommen. Die kennen den Kampfkunst-Weg nicht. Sie kennen nicht die Vielfalt und haben keine Charakterschule genossen. Das ist eine Sache des Charakters. Ich schätze den Menschen ein nach seinem Charakter. Das ist das Wichtigste. Das ist so wichtig in der Kampfkunst, und leider bekommen das aber nicht alle mit. Und was meinst du? Findest du Charakterschule wichtig?
Petra Schmidt
Ja, natürlich. Für mich hat es ganz viel mit Haltungen und Einstellungen zu tun. Und ich glaube, dass äußere und innere Haltungen immer auch Einfluss aufeinander ausüben. Deshalb können wir über das Üben von äußeren Haltungen auch innere Haltungen beeinflussen.
Fritz Nöpel
Ja, natürlich, genau so ist es.
Petra Schmidt
Eine Sache fällt mir jetzt noch ein. Ich hatte mir während des Lehrgangs noch das Stichwort «Atmung» aufgeschrieben. Atmung hat auch etwas damit zu tun, uns «ganz» einzubringen. Und über die Atmung können wir ja auch ganz viel bewirken. Wir können unser Immunsystem, unser Hormonsystem oder beispielsweise unseren Blutdruck beeinflussen. Und wir können mithilfe von Atemübungen Einfluss auf unsere inneren Haltungen nehmen, wir können uns damit ruhiger oder unruhiger machen.
Fritz Nöpel
Ja, Atmung ist ganz wichtig. Da gibt es diese Kata Sanchin. Das ist eine sehr persönliche Kata, eine Atmungs-Kata. Damit wird diese Dreier-Spannung trainiert. Da wird drei Mal ausgeatmet, bevor wir wieder einatmen. Wir machen uns also leer. Dieses bewusste Atmen und dieses dreimalige Ausatmen ist das Wichtige. Ein Gefühl der Sättigung kommt dadurch. Das ist bedingt durch die erhöhte Sauerstoffaufnahme, die diese tiefe Atmung mit sich bringt. So kommt es zu einer Sauerstoff-Sättigung im Blut. Man darf es auch nicht übertreiben, sonst wird man richtig «dizzy», wenn man zu viel Sauerstoff einnimmt. Die Chinesen sagen, wer richtig atmet, wird zehn Jahre älter. Da ist etwas dran. Ich glaube da auch dran. Man muss es aber auch immer wieder machen. Diese Ibuki-Atmung, wie wir sie in der Sanchin-Kata üben, ist unsere tiefe Bauch-Atmung. Und wenn ich es etwas langsamer mache, betone ich es auch.
Petra Schmidt
Da fällt mir die Jukuren-Kata ein. Erzähle mir doch bitte, wie es dazu kam und was diese Kata genau ausmacht.
Fritz Nöpel
Wir, Martin Nienhaus und ich, haben die Jukuren-Kata entwickelt. Martin hat mich gedrängt, aus den Edlen Übungen der Alten Meister eine feste Reihenfolge zu machen, damit die Leute dies auch üben können. So ist das entstanden. Ich habe aus den achtzehn Edlen Übungen der alten Meister elf Übungen herausgenommen, den Mawashi-uke hinzugefügt und daraus die Jukuren no Kata zusammengesetzt. Und Martin hat dann aus den restlichen sieben Übungen plus einer Mawashi-uke-Variante die Kata Jukuren no Shō erstellt.
Die Jukuren-Kata ist eine Kata, die über den gymnastischen Weg geht. Darin sind aber auch Selbstverteidigungstechniken versteckt, die in der Kata gezeigt werden. Diese kann ich in der Kata groß und weit ausladend machen. Und ich kann die Kata auch über die Atmung, über die Ibuki-Atmung, machen. Wenn ich kämpfe, muss ich mich anpassen. Die Atmung, die ich dann brauche, ist in dem Moment automatisch da. Die zweite und dritte Technik ist dann genauso stark wie die erste Technik, dank der Atmung. Wir machen ja leider unsere Techniken in der Folge oft zu schnell. Dann kommt die Atmung für die zweite Technik nicht mehr aus dem Hara, sondern aus dem Hals. Das ist aber nicht so schlimm, wichtig ist, dass wenigstens die Atmung für die erste Technik aus dem Hara kommt. Der Kiai muss von dort kommen, nicht so langgezogen wie etwa beim Sport. Wenn ich etwas langsam mache, dann kann ich die Atmung betonen. Das ist wichtig.
Petra Schmidt
Das wird im Gōjū-Ryū auch viel mehr geübt als im Shōtōkan, nicht wahr?
Fritz Nöpel
Ja, das stimmt, und das kam durch den Sport. Wenn du in Japan traditionelles Shōtōkan gemacht hast, da wurde früher die Sanchin-Kata auch viel trainiert. Diese Spannung, die wir dadurch üben, die brauchst du ja als Kämpfer, nicht oben oder unten, sondern in der Mitte. Diese Spannungsverhältnisse spielen eine große Rolle. Zudem garantiert die Sanchin-Kata auch eine Schmerzunempfindlichkeit.
Petra Schmidt
Wie kommt das? Durch die Spannung?
Fritz Nöpel
Ja, durch die Spannung und auch durch das Wiederholen. Es geschieht automatisch. Diese Spannung ist dann da, und trotzdem bin ich entspannt. Dieser Widerspruch, der ist eigentlich keiner.
Das Wichtigste ist eben bei den Menschen, das Selbstvertrauen zum eigenen Können zu erreichen. Wie bekommen wir das hin? Und wie zeigt sich das? Es zeigt sich eben in einer Abgeklärtheit, in einer Ruhe. Es zeigt sich, wenn man wirklich entspannt ist. So wie bei der Prüfung heute. Es sind jetzt alle schon unruhig. Dabei müssten sie es gar nicht sein. Sie haben ja alle schon Prüfungen gemacht. Eigentlich gibt es keinen Grund. Der Trainer würde ja niemanden herschicken, wenn er nicht wüsste, sie würden bestehen.
Langsam wird es voll um uns herum und die Prüflinge und Trainer drängen an unseren Tisch.
Petra Schmidt
Vielleicht kannst du uns zum Abschluss noch sagen, was für dich wichtig im Karate ist?
Fritz Nöpel
Für mich ist wichtig, dass die Dōjō-Kun wirklich verstanden werden. Die Charakterschule zum Menschwerden, so nennen es die Chinesen. Das ist für mich ganz wichtig im Karate.
Petra Schmidt
Vielen herzlichen Dank, ich habe ganz viel von dir lernen dürfen heute. Vielen, vielen Dank!
Zum Abschluss ein Zitat von Fritz Nöpel:
«Dō ist der einzige Weg, der zählt. Wenn man Kinder zum Karate führt, müssen sie die Dōjō-Etikette begreifen und akzeptieren. Sie müssen pünktlich sein, sauber, höflich, und sie müssen freundschaftlich miteinander umgehen. Doch es geht noch weiter: Freundlichsein nicht nur in der Halle, auch draußen zu älteren Menschen und Leuten, die Hilfe brauchen. Das ist sehr wichtig. Wir vermitteln ja sehr aggressive Techniken. Die müssen sie richtig einordnen und in die richtigen Bahnen lenken können. Sonst mache ich ja sofort aus jedem Kleinen einen Schläger. Aber man muss sie auch neugierig machen, lernbegierig. Man muss ihnen Geschichten erzählen, sie interessieren für andere Kulturen. Deswegen führen wir auch Mondō (Gespräche). Wir weisen immer wieder darauf hin, wie wichtig der Umgang miteinander ist.» [→ 1]
Carlos Molina trägt den 8. Dan und hat die Lehrbefähigung des Shitō-Ryū von Nidaime Sōke Mabuni Ken Ei (im Folgenden wird erst der Vor- und dann der Familienname genannt: Ken Ei Mabuni) persönlich erhalten. Aufgrund seiner langjährigen und intensiven Lehrer-Schüler-Beziehung wurde ihm der Status eines Uchi Deshi, eines direkten Schülers der inneren Überlieferungslinie von Ken Ei Mabuni verliehen. Carlos Molina ist Gründungsmitglied und Generalsekretär der Union Shito Ryu Europe.
Carlos Molina begann 1965 in Guatemala mit dem Karate-Dō. 1976 machte er sich auf den Weg nach Japan zu seinem Sensei Ken Ei Mabuni. Sein Weg führte ihn über Berlin. Dort blieb er und begann Shitō-Ryū-Karate-Dō in der UFA-Fabrik in Berlin-Tempelhof zu unterrichten. Die Grundsteine des Shitō-Ryū-Karate in Deutschland waren damit gelegt. 1986 wurde der Verein Shin Gi Tai Kai e. V. in Berlin-Kreuzberg gegründet. Durch das Engagement von Carlos Molina sind eine Vielzahl von Shitō-Ryū-Karate-Schulen in Deutschland und Österreich entstanden. (Diese Informationen wurden der Website www.shingitai.de/ karate-berlin entnommen; Stand 06.10.2016.)
Petra Schmidt
Hallo, Carlos! Wie geht es dir? Wie war dein Tag heute?
Carlos Molina
Gut, Danke.
Petra Schmidt
Lass uns vorn anfangen: Seit wann machst du Karate? Wo und bei wem hast du angefangen, und warum hast du überhaupt mit dem Karate begonnen?
Carlos Molina
Ich mache Karate seit 1965 und angefangen habe ich bei Nobuyoshi Murata und Ken Ei Mabuni. Ich war damals 18 Jahre alt und hatte bereits greko-romanisches Ringen und Boxen gemacht. Eines Tages habe ich eine Karatevorführung gesehen und mich haben die Geschmeidigkeit und die Schnelligkeit in den Bewegungen sehr beeindruckt. Ich wollte das lernen.
Petra Schmidt
Wie bist du ausgerechnet zum Shitō-Ryū-Karate gekommen?
Carlos Molina
Es gab damals in Guatemala nur diesen Stil.
Petra Schmidt
Wie bist du dann nach Deutschland gekommen und wie ist es dir hier ergangen?
Carlos Molina
1976 wollte ich nach Japan zu Ken Ei Mabuni und bin hier in Deutschland hängen geblieben. Ich trug damals den zweiten Dan und hier haben die Leute Interesse am Shitō-Ryū-Karate gezeigt. So fing ich an, hier zu unterrichten.
Petra Schmidt
Und wie hast du dich immer wieder motiviert, weiterzumachen?
Carlos Molina
Ich bin nie unmotiviert gewesen. Wenn man lehrt, ist man immer motiviert.
Petra Schmidt
Welche Rolle spielten deine ersten Trainer?
Carlos Molina
Wie ich schon erwähnt habe, Ken Ei Mabuni hat mich sehr beeindruckt, da er in dieser Zeit so um die 50 Jahre alt und ein sehr disziplinierter Lehrer war. Ich habe damals viel Sport gemacht, aber was ich von ihm lernte, das hatte mit Sport nichts zu tun, … dass mir jemand das Kämpfen beibringt, um es nicht anzuwenden und dass es beim Karate nicht um Konkurrenz mit anderen Menschen geht, das war neu für mich! Und es war ein Widerspruch, den ich erst viel später verstand. Er hat immer betont, dass Karate da sei, um schwächeren Menschen zu helfen. Wir sollten lernen, unseren Charakter positiv zu entwickeln, anstatt an den Kampf zu denken.
Petra Schmidt
Gab es zu der Zeit schon Trainerinnen?
Carlos Molina
Als ich anfing mit dem Karate, gab es sehr wenige Frauen in der Gruppe. Das Training war sehr hart und anders als heute. Trainerinnen gab es kaum.
Petra Schmidt
Bei wem hast du selbst trainiert, als du dann in Deutschland warst?
Carlos Molina
Als ich hier in Deutschland war, kannte ich so um die 15 bis 20 Kata. Also genug, um mich mit ihren Techniken zu beschäftigen. Außerdem besuchte ich andere Schulen, an denen ich beim freien Partnertraining mitmachen konnte.
Petra Schmidt
Wir haben uns das erste Mal bei einer Veranstaltung der Deutschen DAN-Akademie getroffen. Erinnerst du dich noch daran? Du hast damals auch bei mir mittrainiert und ich war deswegen ziemlich aufgeregt. Wie war dein erster Eindruck vom Ki-Karate, das ich dort unterrichtet habe?
Carlos Molina
Ich habe von Natur aus nicht deine Geschmeidigkeit und meine Gelenke sind mit der Zeit etwas hart geworden, und daher habe ich dein Training als eine Art Therapie für meinen Körper empfunden.
Petra Schmidt
Was hat dir am Ki-Karate gefallen? Was war fruchtbar auch für dein Karate?
Carlos Molina
Im Shitō-Ryū benutzen wir zwei Arten von Ki. Die eine nennen wir «Ko Ki» und die andere Art heißt «Nan Ki», und das habe ich auch in deinen Erklärungen gesehen. Dieses weiche Ki (Nan Ki) benutzen wir im fortgeschrittenen Kata-Training. Deine Art und Weise, es den Leuten zu erklären, hat mir gefallen.
Petra Schmidt
Ich weiß noch, dass du mich einige Jahre später gefragt hast, ob ich nicht Lust hätte, mit dir gemeinsam einen Lehrgang zu geben. Da habe ich natürlich sofort «ja» gesagt und fühlte mich sehr geehrt. Ich habe dann bei einem deiner Berlin-Lehrgänge jeweils eine Einheit vor deinen Trainings-Einheiten gegeben. Wie bist du damals darauf gekommen, dass wir vielleicht auch zusammen einen Lehrgang geben könnten?
Carlos Molina
Wie ich schon sagte, «deine Art und Weise, es den Leuten zu erklären, hat mir gefallen». Außerdem gefiel mir, was du gesagt und wie du erklärt hast. Das wollte ich meinen Schülern nicht vorenthalten.
Petra Schmidt
Wie siehst du das heute? Welche Elemente vom Ki-Karate könnten auch für das Shitō-Ryū wichtig sein?
Carlos Molina
Nan Ki! … also weich zu werden … wir haben zudem das «kokyūhō» (die richtige Weise zu atmen) in unserem System als eines der wichtigsten Elemente im Shitō-Ryū … so wie das Ausrichten von Körper und Geist … mein Dōjō heißt Shin Gi Tai, das bedeutet, Körper, Geist und Technik sind eins …
Petra Schmidt
Nach unserem gemeinsamen Lehrgang hatte ich den Eindruck, dass es viele Ähnlichkeiten zwischen meinen Übungsformen und dem Shitō-Ryū gibt. Das war mir vorher nicht so klar. Für mich warst und bist du ein wandelndes Karate-Lexikon und dieses viele Bunkai und diese unglaublich vielen Techniken im Shitō-Ryū machen mich jedes Mal fast schwindelig. Doch durch den Lehrgang habe ich ein besseres Verständnis für die Shitō-Ryū-Techniken bekommen, und auch die Wellenbewegung, die ich im Ki-Karate übe, immer wieder gesehen. Was war oder ist für dich hängengeblieben aus unseren Begegnungen?
Carlos Molina
Genau das … Die Wellenbewegung, nur machen wir sie nicht so groß wie du.
Petra Schmidt
Ich hatte damals das Gefühl, dass besonders der Fluss der Übungen und eben diese weichen Bewegungen dir sehr vertraut waren. Stimmt das oder waren es ganz andere Dinge?
Carlos Molina
Richtig … die weichen und geschmeidigen Techniken sind für mich das Wichtigste im Karate, und genau das vermittelst du!
Petra Schmidt
Kannst du Grundprinzipien identifizieren, die vielleicht sowohl im Shitō-Ryū als auch im Ki-Karate wichtig sind? Welche sind das für dich?
Carlos Molina
«Ko Ki» ist das, was man als «hartes Ki» bezeichnet. Das ist nicht die Muskelkraft, aber ähnlich … das wird am Anfang im Karate angewandt – also das Harte … und das «Nan Ki» ist das «weiche Ki», welches wir gegen das Harte anwenden … das ist die innere Energie, die aus dem Tanden kommt … andere Elemente, die ähnlich sind, könnten sein: Tempō go soku: die Art und Weise sich zu bewegen, Kokyūhō: die Art und Weise zu atmen … und Go dō shin: die fünf Wege des Herzens …
Die Grundprinzipien des Karate sind für mich:
– Never forget the spirit of first beginning (will/determination)
– Never neglect courtesy and etiquette (moral virtue)
– Never neglect effort (growth/development)
– Never lose the common spirit (common sense)
– Never disturb harmony (peace)
Petra Schmidt
Das hört sich alles auch sehr passend für mich an. Ich möchte noch einmal konkret nachfragen: Was findest du fruchtbar für dein Karate an der Ki-Karate-Übungsmethode?
Carlos Molina
Die praktischen Übungen finde ich fruchtbar für mein Karate. Einige deiner Übungen habe ich auch im Training angewandt. Als Verbindung sehe ich zudem, dass wir ebenfalls mit dem Prinzip des geringsten Widerstands arbeiten.
Petra Schmidt
Wie würdest du den Begriff Ki erklären? Er ist ja nicht so einfach ins Deutsche zu übersetzen und wird oft auch überhöht oder fehlinterpretiert nach meiner Meinung. Wie würdest du Ki definieren?
Carlos Molina
Innere Energie, Lebensenergie, «der gesamte Mensch als materielle Erscheinung». Klang!
Petra Schmidt
Wow, das klingt spannend. Kannst du mir das noch genauer erklären? Was meinst du damit?
Carlos Molina
Ich meine die Energie, die, als wir geboren wurden, uns atmen ließ.
Petra Schmidt
Ist der Begriff Ki, über diese daoistische Erklärung hinaus, auch im Shitō-Ryū für dich interessant?
Carlos Molina
Es ist das A und O im Shitō-Ryū …
Petra Schmidt
Dann gibt es vielleicht sogar bestimmte Übungsformen im Shitō-Ryū genau dafür, egal, ob diese als Ki-Übungen bezeichnet werden oder nicht?
Carlos Molina
Ja, es gibt gezielte Übungen dafür, beispielsweise die Kata Tenshō und Sanchin …
Petra Schmidt
Erzähle uns bitte noch über das Buch, an dem du mitgewirkt hast.
Carlos Molina
Ich selbst habe kein Buch geschrieben, aber herausgegeben habe ich das Buch von meinem Sensei Ken Ei Mabuni, Leere Hand. Es ist im Palisander-Verlag erschienen.
Petra Schmidt
Wozu, glaubst du, sind Karatebücher sinnvoll? Was ist der Nutzen? Nur aus den Büchern wird ja niemand Karate lernen. Was können sie vielleicht trotzdem leisten?
Carlos Molina
Es ist hilfreich, die Gedanken und Vorstellungen anderer Karateka kennenzulernen, um damit die eigenen Erfahrungen zu bereichern …
Petra Schmidt
Das führt auch zu einer anderen Frage. Was vermitteln wir als Trainerinnen und Trainer eigentlich? Sind es die physischen Details, ist es ein reines Techniktraining, oder ist es immer mehr?
Carlos Molina
Ich betrachte mich als Lehrer; wenn ich Trainer wäre, würde ich nur die physischen Details vermitteln. Als Lehrer vermittle ich auch Verhaltensformen, damit wir in der Gesellschaft als bessere Menschen leben. Unsere fünf Leitsätze sind:
– Es ist eine Pflicht, nach der Perfektion des Charakters zu streben.
– Folge dem Ideal der Wahrheit.
– Mühe dich, deinen Geist zu kultivieren.
– Achte die Regeln der Etikette.
– Hüte dich vor ungestümem Übermut.
Petra Schmidt
Sind wir damit schon wieder bei der Frage nach dem Ki, oder ist es ganz einfach so, dass körperliche und emotional-geistige Haltungen, wie sie in diesen fünf Leitsätzen beschrieben werden, immer Hand in Hand gehen und wir uns dessen bewusst sein sollten, ganz egal, wie wir es nennen?
Carlos Molina
Ja, es ist wichtig, dass wir uns immer unserer körperlichen und emotional-geistigen Haltungen in jedem Moment unseres Lebens bewusst sind.
Petra Schmidt
Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren immer wieder bestätigt, dass unser Lernerfolg sehr von einer entspannten und lustvollen Atmosphäre abhängt und dass andauernder Druck sich auf den Lernerfolg sehr ungünstig auswirkt. Passen diese Erkenntnisse der Hirnforschung noch mit den traditionellen Vermittlungsmethoden des typischen Karate-Unterrichts zusammen? Wie siehst du das?
Carlos Molina
Es kommt auf den Lehrer an. Karate hat sich in der letzten Zeit auch sehr verändert. Unter Druck und Stress kann man nichts lernen.
Petra Schmidt
Wie hat sich vielleicht auch deine Einstellung dazu mit der Zeit verändert?
Carlos Molina
Ich bin älter geworden und das spiegelt sich in meinem Karate wieder.
Petra Schmidt
Inwiefern spiegelt sich das wieder?
Carlos Molina
Ich bin reifer geworden und mein Karate ist reifer geworden!
Petra Schmidt
Um Stress und Blockaden zu lösen und Zugriff auf sämtliche Ressourcen zu ermöglichen, habe ich «bilaterale Hemisphärenstimulation» als eines der Grundprinzipien von Ki-Karate benannt (Stichwort «Körperhälfte überkreuzende Übungen»). Das Zusammenspiel beider Hirnhälften sollten wir gezielt üben und nutzen – zum Ent-stressen und um effektive Karatechniken zu erlernen. Vieles davon haben wir auch schon im «normalen» Karate. Nur beim Ki-Karate wird es eben explizit und nicht bloß «nebenbei» geübt. Wie ist das beim Shitō-Ryū? Welche Übungen gibt es da, die in diese Richtungen gehen?
Carlos Molina
Wir arbeiten sehr viel mit beiden Händen gleichzeitig und nicht, wie andere Stile, nur mit einer Hand … Ken Ei Mabuni betonte immer, wie wichtig die Übungen der Handgelenke sind, um die linke und rechte Hirnhälfte positiv zu beeinflussen. Über die Kata Tenshō, Hakuchō usw. üben wir das.
Petra Schmidt
Würdest du uns noch ein bisschen von deinem privaten Leben erzählen? Wie sehen deine Tage und Wochen jetzt normalerweise aus? Wann beginnt dein Tag?
Carlos Molina
Ich beginne mit einem Spaziergang mit meinem Hund für eine Stunde, dann frühstücke ich, nur Obst und grünen Tee. Danach setze ich mich an den Computer, um meine Post zu erledigen. Dann fahre ich zum Fitnesscenter, um meine Muskeln zu trainieren, zu schwimmen und in die Sauna zu gehen usw. Danach kommt das Mittagessen … Ich esse viel Gemüse. Dann ruhe ich mich für eine Stunde aus, bevor ich ins Dōjō fahre und die Routine beginnt: Makiwara, Kata Naifanchin, Tenshō, Sanchin und Dehnung, und dann kommen meine Schüler. Ich unterrichte sie meistens bis 20 Uhr abends. Danach setzen wir uns in ein Restaurant, um gemeinsam etwas zu trinken. Dann fahre ich nach Hause, plaudere etwas mit meiner Frau und gehe schlafen.
Petra Schmidt
Wie oft bist du im Dōjō? Wie viele Lehrgänge gibst du in diesem Jahr?
Carlos Molina
Ich bin jeden Tag im Dōjō. Dieses Jahr gebe ich acht Lehrgänge. Die meisten liegen in der zweiten Hälfte des Jahres, da ich zu Beginn des Jahres oft im Ausland bin.
Petra Schmidt
Und die Abschlussfrage: Was ist dir wichtig?
Carlos Molina
Meine Gesundheit.
Petra Schmidt
Was möchtest du unseren Leserinnen und Lesern gern mitgeben – für ihr Leben oder für ihr Karate?
Carlos Molina
Wir sollten den Anfängergeist nicht vergessen … und immer weiter lernen … ein Leben lang …
Petra Schmidt:
Vielen herzlichen Dank für das Gespräch!
Gleich zu Beginn unseres Interviews gibt Uwe mir ein Papier, welches 1995 von der technischen Prüfungskommission des Wadō-Ryū ausgearbeitet wurde. Dieser Kommission gehörten folgende Mitglieder an: Karl Heinz Stief, Josef Schäfer, Heinrich Reimer, Shuzo Imai, Peter Wirbeleit und Uwe Hirtreuter.
Im ersten Absatz des Textes wird als Grundprinzip des Wadō-Ryū der Kreis benannt und ausdrücklich gesagt, dass eckige Bewegungen zu vermeiden seien. Es heißt weiter, damit entfalle auch der Kimebegriff, welcher von einer Verspannung bzw. Verhärtung des Körpers in einem bestimmten Moment ausginge, da damit der Bewegungsfluss gehemmt würde.
Schon diese einleitenden Sätze erinnern mich sehr an all das, was ich mit dem Ki-Karate ausführlich übe. Auch der zweite Absatz spricht mir aus dem Herzen; dort heißt es:
«Fehler, die grundsätzlich zu vermeiden sind:
Mudana Chikara – unnötige Spannung
Mudana Dōsa – unnötige Bewegungen
Mudana Waza – unnötiges und unsauberes Techniktraining».
Wahrscheinlich sind diese Prinzipien für sämtliche Karatestile relevant. Ganz sicher würden auch Karateka aus dem Shōtōkan, dem Shitō-Ryū und dem Gōjū-Ryū sofort unterschreiben, dass diese Fehler zu vermeiden sind. Was ich daran als so besonders erachte, ist, dass es hier explizit einen so wichtigen Stellenwert erhält. Das ist neu für mich.
Der dritte Abschnitt beschäftigt sich mit den Linien, die den Körper teilen. Zum Seichūsen, der vertikalen Linie, welche durch die Körpermitte verläuft, heißt es: Auf ihr liegen viele vitale Punkte. Im Jiyū-Kumite sei es sehr wichtig, diese Linie durch das Kamae zu kontrollieren, weil man so den Gegner kontrolliere. Zum Seichūshin, der horizontalen Linie, welche den Körper auf Höhe des Tanden teilt, heißt es, diese sei enorm wichtig, weil das Tanden das Energiezentrum des Körpers bilde.
Im vierten Abschnitt werden die wichtigen Prinzipien für die Partnerarbeit im Wadō-Ryū genannt:
«Nagasu – vorbeifließen lassen
Inasu – vorbeifließen lassen und dabei ablenken
Noru – mit dem Partner bewegen (wie der Surfer mit den Wellen)».
Die Wellenbewegung und das Fließenlassen sind hier kennzeichnend. Der letzte Abschnitt beschäftigt mit einer weiteren Anforderung, Sanmittai, d. h., drei Dinge sollen gleichzeitig gemacht werden:
«Ten I – Positionsänderung
Ten Tai – Ausweichbewegung des Körpers
Ten Gi – Anwendung der Technik».
Abschließend heißt es: «Es wird größtmögliche Mobilität angestrebt, was sich unter anderem darin zeigt, dass man versucht, den Körperschwerpunkt dauernd zu kontrollieren.»
Ich bin überrascht, wie sehr die Inhalte dieses Textes, den die technische Prüfungskommission des Wadō-Ryū 1995 ausgearbeitet hat, den von mir erstellten Übungsinhalten im Ki-Karate ähneln.
Wir treffen uns in einem Klassenzimmer in dem Schulgebäude, in welchem die Räumlichkeiten von Uwes Dōjō sind. Ich kenne den Ort von diversen Lehrgängen.
Petra Schmidt
Hallo, Uwe! Wie geht es dir? Was hast du heute so gemacht?
Uwe Hirtreuter
Mir geht es ausgezeichnet. Ich war um 7.00 Uhr schon im Fitnessraum und habe eine Stunde trainiert, wie jeden Tag.
Petra Schmidt
Wow, ich bin beeindruckt. Du hast Karate seit Jahrzehnten in den Mittelpunkt deines Lebens gestellt und gibst nicht nur bundesweit, sondern seit Jahrzehnten auch über die Grenzen hinaus regelmäßig Lehrgänge. Dreht sich bei dir alles um das Karate, oder gibt es noch andere wichtige Zentren für dich?
Uwe Hirtreuter
Segeln – das ist meine zweite große Leidenschaft!
Petra Schmidt
Dann bist du hier im Norden ja genau richtig aufgehoben. Wo segelst du denn, auf der Ostsee oder der Nordsee?
Uwe Hirtreuter
Am liebsten auf der Ostsee. Das ist das schönste Revier! Man kann es sich gar nicht vorstellen, wie schön die Ostsee ist.
Petra Schmidt
Lass uns vorn anfangen: Seit wann machst du Karate?
Uwe Hirtreuter
Ich habe 1965 mit dem Karate begonnen. Drei Jahre, bevor du geboren wurdest (lächelnd).
Petra Schmidt
Wie bist du zum Karate gekommen?
Uwe Hirtreuter
Über Jūdō und Jū-Jūtsū. Damals gab es ja Karate noch kaum in Deutschland, hauptsächlich gab es Jūdō. «Jiu-Jiutsu», so wie es hier genannt wird, diesen Ausdruck gibt es in Japan ja gar nicht. Dort ist es Jū-Jutsu (柔術).
Petra Schmidt
Kannst du dich an deine ersten Eindrücke erinnern, die du mit Karate verbindest?
Uwe Hirtreuter
Ja, und ob, ganz genau: Training auf Betonfußboden. Das kannst du dir gar nicht vorstellen. Das war richtig harter, kalter Boden.
Petra Schmidt
Wo war das damals?
Uwe Hirtreuter
In Eimsbüttel bei Ronny Kiltz. Er hat das Karate in Deutschland, das Wadō-Ryū-Karate, maßgeblich beeinflusst.
Petra Schmidt
Erzähl mehr davon, das hört sich spannend an. Es waren damals sicher auch nur wenige Leute, bestimmt auch nur Männer, oder?
Uwe Hirtreuter
Ja, es waren fast nur Männer. Doch eine Frau, die kennst du vielleicht auch, Christel Ehlert, war damals auch schon dabei. Sie war eine exzellente Kämpferin und eine bildhübsche Frau. Ansonsten waren es nur Männer.
Petra Schmidt