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Wenn Sie gerne Schach spielen, Pasta essen und sich auf dem Sofa lümmeln, sind Sie was? Richtig, ein Orientale! Klingt komisch? Ist aber so.
Denn diese Dinge gelangten aus dem Orient nach Europa. Und das ist nur die Spitze des Dönerberges, denn das Abendland wurde schon seit Jahrhunderten kulturell, kulinarisch und wissenschaftlich überflutet, unterwandert und beeinflusst, oder kurz und korrekt: bereichert. Sogar im Allerheiligsten der Spießerseligkeit hat sich der Orient richtig breitgemacht, im deutschen Wohnzimmer. Glauben Sie nicht? Dann folgen Sie Kerim Pamuk auf seiner vergnüglich-investigativen Tour durch 1500 Jahre Kulturgeschichte und Migration. Sie werden das Fremde im Vertrauten und das Vertraute im Fremden entdecken: Wo »wir« draufsteht, sind sehr oft »die« schon drin!
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Seitenzahl: 226
Kerim Pamuk
Kiffen, Kaffee
und Kajal
Eine kurze Kulturgeschichte von allem, was uns lieb und orientalisch ist
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Umsetzung eBook: Greiner & Reichel, Köln
Umschlaggestaltung: Elisa Eckartsberg / ee-grafik hamburg
ISBN 978-3-641-21026-7V001
www.gtvh.de
INHALT
ÜBERFREMDUNG 0.1
DANKBARER DÖNER
GEKOMMEN UND GEBLIEBEN
DIE ARABISCHEN WISSENSCHAFTEN #1
COFFEUM WIRFT JUNGFRAU UM
RITTER MIT SCHNAUZER
BESUCH BEI DEN ELTERN
STINKENDE ROSE
DIE ARABISCHEN WISSENSCHAFTEN #2
TULIPAN ODER »EIN TROTTEL UND SEIN GELD – DIE BLEIBEN NICHT LANGE ZUSAMMEN!«
PFEFFER UND PFEFFERSÄCKE
IM MITTELALTER
OPTIMAL ERLEUCHTET
ÜBERFREMDUNG 0.1
Als der Admiral endlich den Algorithmus zum Vervollständigen seines Alkoholarsenals fertiggestellt hatte, ließ er sich ermattet in das Sofa fallen, zog mit Kajal den Lidschatten nach und sinnierte bei einer Tasse Kaffee mit Zucker über seinen beruflichen Zenit, während sein bekiffter Papagei vom Marzipan naschte.
Wenn Sie in der Lage sind, diesen inhaltlich eher mittelschwangeren Bandwurmsatz unfallfrei zu lesen und zu verstehen, können Sie gleich als Lehrkraft in einem humanistischen Gymnasium anheuern. Sie können ebenfalls liebe deutsche Panzer im Nahen Osten verkaufen, die nur zur Verteidigung und zum Flanieren an der Strandpromenade benutzt werden dürfen, oder bei mangelnder seelischer Orientierung auch gern zum Islam konvertieren: Denn Sie sprechen Arabisch! Die obige Sequenz besteht nämlich größtenteils aus arabischstämmigen Wörtern: Admiral, Algorithmus, Alkohol, Arsenal, matt, Sofa, Kaffee, Zucker, Zenit, bekifft, Papagei, Marzipan. Und zu kleineren Anteilen beherrschen Sie dazu Persisch, Griechisch und sogar ein paar indische Brocken.
Zumindest lingual ist es viel schrecklicher als es sich ostdeutsche Kreisläufer aus dem Tal der Ahnungslosen vorstellen können. Das Arabische hat den teutonischen Sprachraum schon vor Jahrhunderten islamisiert und ist einfach nicht mehr wegzukriegen. Schlimmer noch, es hat sich dabei – hinterhältig und verschlagen wie Arabisch und Araber nun mal sind – als Italienisch und Französisch getarnt. Da übernimmt man als weltoffener Deutscher die französische und italienische Lebensart, samt Kultur, Kulinarik und Sprache und bekommt Arabisch untergejubelt. Unerhört!
Umgekehrt hätte es auch nicht passieren können, denn im frühen Mittelalter gehörte der Lebensraum germanischer, keltischer und slawischer Waldschrate nicht zu den zivilisatorischen Hotspots. Die befanden sich weiter im Süden, am Mittelmeer. Dort kamen die Bewohner der iberischen Halbinsel und des italienischen Stiefels und auch die Byzantiner durch Kriege und Handel in Kontakt mit den islamischen Reichen in Spanien, Nordafrika und der Levante. Durch diesen teils freiwilligen, teils unfreiwilligen Austausch übernahmen sie neben Waren auch arabische Begriffe und manchmal gleich beides zusammen. Waren und Worte wanderten schließlich mit zeitlicher Verzögerung weiter nach Norden.
Zum Beispiel kannten weder Ost- und Westfranken-, noch die Hoch- und Niederburgunder, noch Normannen samt Nordtannen ein gepolstertes Sitzmöbel für mehrere Personen mit Rücken- und Armlehnen, das Sofa. Ergo hatten sie dafür auch keine Bezeichnung. Sofa stammt vom arabischen suffa, »Erhöhung, Sitzbank«, es ist der abgeleitete Substantiv von saffa »in Reihe stehen / in Reihe stellen«. Inzwischen ist das Sofa des Deutschen liebstes Möbelstück auf dem er zwischen Tagesschau und Tatort über den schrecklichen Zustand der Welt philosophiert, sich über die Undankbarkeit von Sozialschmarotzern, Ausländern und den eigenen Kindern beklagt und seine philosophischen Selbstgespräche grundsätzlich mit der immer neuen Erkenntnis abschließt: »Schlimmer kann es ja nicht werden!« Arabische Wörter gelangten also über das Lateinische, Italienische und Französische ins Deutsche. Der Deutsche benutzt eben durchaus gern arabische Waren und Begriffe, wenn er sie für Italienisch oder Französisch hält. So ist der alkoholaffine Admiral vom obigen Nonsens-Satz eine Entlehnung des altfranzösischen amiral, admiral. Und amiral stammt vom arabischen amir ar-rahl, »Befehlshaber der Flotte«.
Bei matt denkt man natürlich auch an Schachmatt und liegt damit nicht falsch. Bis zu seiner heute gebräuchlichen Bedeutung als »schwächlich, glanzlos, zerschlagen« hat das Adjektiv eine vorbildliche kulturell-sprachliche Patchwork-Odyssee hinter sich gebracht. Matt geht auf das arabische mata, »sterben,« zurück und die Araber benutzten beim Schach die Formel ash-shah mat, »der König ist gestorben«. Weil die meisten arabischen Schachausdrücke wie shah aus dem Persischen entlehnt sind, wird vermutet, dass auch mat ursprünglich aus dieser Sprache stammt. Die arabische Formel gelangte im 12. Jahrhundert nach Europa (das Spiel vermutlich schon ein Jahrhundert früher) und über das Französische ins damalige Mittelhochdeutsche. Bei der Transformation in der Bedeutung von »gestorben« zu »ermattet, schlapp« spielte wohl das Altfranzösische ebenfalls eine Rolle, in der es schon vor der lingualen Einreise des arabischen mat ein eigenes mat im Sinne von »niedergeschlagen, schwach« gab. Über diese Worttransformation sind vor allem Männer dankbar, denn bei schlimmen Gebrechen wie Männerschnupfen, Rücken und Gastritis geben sie zwar an nur »ermattet« zu sein, fühlen sich aber insgeheim wie »tot.«
Unspektakulärer liegt der Fall bei Arsenal. Über das Italienische ist es ins Deutsche gelangt. Aus dem arabischen dar as-sina a, »Werkstatt«, wurde arsanale, arsenale und daraus Arsenal. Zur importierten feinen Lebensart führen uns wieder Tasse und Kaffee, denn Gefäß und Getränk stammen nicht aus dem Manufactum-Katalog sondern aus dem Orient. Schon die ganz alten Perser benutzten eine Schale und nannten sie tashta, die mittelalten Perser kürzten zu tasht ab, die jüngeren Araber machten tasa daraus und brachten das Gefäß mit nach Sizilien und Spanien. Später wurde aus dem Italienischen tazza und dem französischen tasse die deutsche Tasse. Kaffee geht auf qahwa zurück und machte ebenfalls einen interessanten Bedeutungswandel durch, denn in früher Zeit bezeichneten die Araber mit diesem Wort den Wein. Vermutlich ersetzte der Kaffee den Wein, aber den Namen behielt man, was von Pragmatismus oder Cleverness eines Händlervolkes zeugt: Gleiche Etikette, anderer Inhalt.
Einen längeren Weg legte der Zucker zurück. Vom altindischen sarkara zum arabischen sukkar und über das italienische zucchero (nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen und fast so alten Schmachtrockbarden) schließlich ins mittelhochdeutsche zuker. Der Rest ist selbsterklärend. Besonders originell ist die Geschichte von Zenit. Sie beruht auf schlampiges Abschreiben. Zenit geht auf samt ar-ra’s, »Richtung des Kopfes« zurück. Aus samt wurde vermutlich die latinisierte Form zemt, die wiederum eine zerstreute Leuchte mit einem Knick in der Linse als zenit weitergab, also das m durch ni ersetzte, fertig war Zenit.
Nun zur Abteilung für Gechillte: Die Mutter des Kiffens ist das arabische kaif, »Wohlbefinden, gute Laune« – Achtung, wichtiger erkennungsdienstlicher Hinweis für Verkehrspolizisten: Wenn der Fahrer statt panisch nach den Wagenpapieren zu suchen, tiefenentspannt und grinsend ein Gespräch über die Sinnhaftigkeit von Kontrollen und den Polizeistaat führen möchte, liegt es nicht am sonnigen Wetter. Aus kaif wurde das türkische keyf, dessen allgemeingültige Bedeutung bis heute lautet: Geschwätziges und tiefenentspanntes Nichtstun bei fortlaufender Alkohol- und Tabakzufuhr. Auch die Maghrebiner beherrschten keyf meisterlich und kamen auf die brillante Idee das viel zu lange Wort kaif auf kif zu verkürzen. Weil sich – wie jeder Kiffer weiß – kiff im bekifften Zustand viel leichter aussprechen lässt als kaif.
Der sprechende Vogel geht auf babbaga zurück und über das altfranzösische papegai fand es seinen Weg ins Deutsche. Wie aber babbaga ins Arabische kam, wussten selbst die Araber nicht genau. Bei der Herleitung von Marzipan dampften Philologenköpfe vieler Länder, alle mit dem gleichen Ergebnis: Nichts Genaues weiß man nicht. Einigkeit besteht nur in der Feststellung, weder das Wort, noch die dazugehörige Süßspeise sind europäisch, sondern wegen der Zutaten und Zubereitungsart sehr wahrscheinlich orientalisch. Der Rest sind nicht vollends stichhaltige, aber hochseriöse etymologische Theorien: Es geht um Schachtelnamen, die zum Inhaltsnamen werden, Hohlmaße, byzantinische Münzen mit dem Heiland drauf und hämische Bezeichnungen von Königen, die statt Feinde zu bekriegen lieber auf ihrem Thron dösen. Möchten Sie jetzt trotzdem irgendwie nachvollziehen, wie man von all diesen Erklärungen auf die heutige Bedeutung gekommen ist? Viel Spaß bei der Recherche!
Der Kajalstift ist aus keiner Handtasche von Frauen, theatralischen Männern und allen drama-affinen Geschlechtern dazwischen mehr wegzudenken. Kajal stammt von dem sanskritischen kajjala, »Ruß« und die indischen Gottesanbeter schminkten sich früher bei ihren Mantra-Messen die Augenränder mit dem Ruß von verbranntem Butterschmalz. Was man halt so macht, wenn man Göttern gefallen will. Auch die Araber legten Wert auf ein gepflegtes Äußeres und nannten ihr Produkt aber al-kuhl, »Augenpulver.« Klingt bekannt? Ist es, denn unser Alkohol ist eine Entlehnung davon. Natürlich schmierten sich die Araber nichts Hochprozentiges um die Augen, al-kuhl nannten sie ein wertvolles und aus Mineralien sehr fein zerriebenes Pulver zum Schminken. Das Wort fand wohl über die hispanoarabische Dialektform al-kuhul und über das Spanische alcohol den Weg ins Mittellateinische und schließlich ins Deutsche. Seine heutige Bedeutung bekam es wesentlich später. Erst der berühmte Arzt Paracelsus brachte das bis dahin »Lebenswasser« oder »Wasser, das brennt« genannte Ethanol mit dem Begriff zusammen und nannte es alco(h)ol vini, »Reinster Weingeist« und wollte vermutlich ausdrücken, dass Ethanol feiner und flüchtiger ist als Wein. Was hartgesottene Schnapsdrosseln sicher bestätigen werden.
Aus keiner anderen nichteuropäischen Sprache sind mehr Begriffe in die Sprachen Westeuropas eingeflossen als aus dem Arabischen. Tarif, Karaffe, Limonade, Kaliber stammen genauso aus dem Arabischen wie Artischocke, Gitarre, Orange, Giraffe, Jacke, Benzin, Sirup und auch die Ziffer. Die Ziffer stammt von sifr und machte einen Sprung in der Bedeutung. Sifr heißt nämlich »Null, Nichts«, daraus wurde das Lateinische cifra, das Altfranzösische cifre und das mittelhochdeutsche zifer und daraus unsere heutige Ziffer mit der Bedeutung »Zahlzeichen«. Für die Zahl 0 übernahm man die Null entweder vom lateinischen nullus, »keiner« oder vom italienischen nulla, »Nichts«.
Etwa die Hälfte aller eingewanderten arabischen Begriffe haben ursprünglich eine andere Herkunft. Die Araber selbst haben viele Waren und Begriffe von Indern, Persern und Griechen übernommen und sie in ihre Lebenswelt integriert, bevor diese über die Expansion der islamischen Reiche nach Westeuropa gelangten. Der Kultur- und Warentransfer begann im fernen Asien und fand über tausende Kilometer den Weg nach Westeuropa und Araber waren die Transporteure. Das rüttelt natürlich nicht an der Selbstwahrnehmung in diesen Breitengraden. Wo kämen wir da auch hin? Schließlich war und ist das Abendland die Krone der Zivilisation und beglückte mit seinen Errungenschaften den Rest der Welt, ob der wollte oder nicht.
Darum ähnelt Westeuropa im Weltschauspiel zunehmend einer alternden Theaterdiva, die in der Garderobe sitzend immer mehr Schminke und Puder auf ihr Gesicht klatscht und die Falten trotzdem nicht verbergen kann. Und während auf der Bühne das Stück weiterläuft, erzählt sie dem schwerhörigen Hausmeister dauernd von den guten alten Zeiten, als sie der Star war und die ganze Welt ihr zu Füßen lag. Sie war oben und der Rest unten. So blickt die schrumpelige Diva Westeuropa immer noch herablassend und ignorant auf den nahen und erst recht auf den fernen Osten und vergisst, dass viele Jahrhunderte lang Europa politisch, kulturell, kulinarisch und technologisch nur der Hinterhof Asiens war.
Müde lässt sich die Diva auf der Matratze massieren und während sie an ihrer Soda nippt und im Magazin blättert, wird ihr klar: Der Lack ist ab.
Raten Sie, woher Matratze, massieren, Soda, Magazin und Lack kommen!
DANKBARER DÖNER
Gewöhnlich erwartet der gemeine Deutsche von Menschen mit nichtdeutschen Wurzeln, die in seinem Land leben oder leben wollen, zuallererst Dankbarkeit. Von dieser Erwartungshaltung sind die schon hier geborenen Nachkommen der Einwanderer, die keine andere Heimat als Deutschland kennen, selbstverständlich nicht ausgenommen. Auch sie sollen dankbar sein, ihre Kinder und Enkelkinder natürlich auch noch. Für alles Mögliche sollen sie »Danke« sagen: Für den mehr als ein halbes Jahrhundert lang dauernden und vergeblichen Versuch ihnen und ihresgleichen ein passendes Etikett aufzukleben. Zuerst hießen die meist dunkelhaarigen Neuzugänge »Gastarbeiter«. Während auf den meisten anderen Flecken der Erde Gäste von ihren Gastgebern bewirtet werden, sollen hier Gäste für die Gastgeber arbeiten, Gastfreundschaft à la Teutonia. Danach wurden sie zu »Ausländern« gestempelt, den beziehungstechnischen Höhepunkt erreichten sie als »Mitbürger«, verwandelten sich weiter zu »Migranten«, nahmen die nächste Image-Stufe abwärts zu »Menschen mit Migrationshintergrund« und endeten als »Muslime«, obwohl die große Mehrheit dieser Menschen weder religiös war oder ist, noch sich über die eigenen Religion definiert. Von diesen sprachlichen Stempelversuchen waren Migranten aus dem »christlichen Raum« ausgenommen, sie durften weiterhin Griechen, Italiener, Spanier, Kroaten und Serben heißen.
Weiterhin soll der Migrant dankbar sein, dass er hier leben, arbeiten und/oder Hartz IV beziehen, die Vorzüge der deutschen Straßenverkehrsordnung und des Steuerrechts genießen, bei der Mülltrennung mitmachen und bei Wahlen nicht wählen darf. So wie aber Integration und Respekt keine Einbahnstraßen sind, ist auch Dankbarkeit keine, denn die Inländer haben ebenfalls allen Grund dankbar zu sein. Sie wurden bereichert, nicht nur durch die Milliarden, die jene arbeitenden Gäste in die Rentenkasse und Steuersäcke steckten, sondern auch durch die Kulinarik, die Orientalen nach Europa und Deutschland »eingeschleppt« haben.
Beginnen wir mit dem offensichtlichen und zumindest in den alten Bundesländern für alle sichtbaren kulinarischen Einfluss, an dem kein Passant in keiner Fußgängerzone optisch und olfaktorisch vorbeikommt, dem Dönerimbiss. Er gehört zur zweiten Stufe des migrantischen Unternehmertums. Die erste Stufe bildeten Gemüseläden, die vor allem türkische Einwanderer eröffneten, wenn Sie keine Lust mehr auf Fabrik, Schichtarbeit und Vorarbeiter hatten. Dies lag nahe, da die meisten Einwanderer aus den ländlichen Gebieten Anatoliens kamen und sich als Bauern im besten Sinne mit Obst und Gemüse auskannten. In der zweiten Stufe gestaltete sich der Schritt vom Angestellten zum eigenen Chef weniger kompetenzlastig: »Ich esse gerne Fleisch und so einen Spieß rundherum absäbeln kriege ich auch noch hin!«
Ganz im Gegensatz zum urorientalischen Prinzip »Mehr ist mehr« eröffneten sie Imbisse, die durch ihr asketisches Interieur jeden Spartaner beeindruckt hätten. Weiße Stehtische und Hocker aus Plastik, Besteck aus Plastik, Salz-, Pfeffer-, und Chilistreuer aus Plastik und Teller selbstverständlich auch. Gäbe es große Kühltresen aus Plastik, der türkische Gastronom wäre entzückt. Überflüssig zu erwähnen, dass ihm der große blutrote Dönerspieß in dickem Plastik verschweißt geliefert wird, den er mit einem Feuerzeug vom Fleisch trennt. Wieviel verbrannter Kunststoff bei dem Prozedere am Spieß hängen bleibt, ist schwer einzuschätzen, aber die ersten Dönerkunden des Tages schätzen das besondere Aroma.
Von oben strahlt im Imbiss grundsätzlich grelles weißes Licht, das auch Folterknechte des CIA gerne einsetzen und von unten wird diese Illumination vom grellweiß gekachelten Boden hervorragend reflektiert. Dadurch sieht man zwar jeden Krümel auf dem Boden, aber für die Reinigung braucht man wie beim Schlachter nur Wasser, Chemie und Schrubber. Natürlich wird der farbliche Kontrapunkt im Meer des ganzen Weiß nicht vergessen: Die Speisetafel. In bunten Lettern auf bunt illuminiertem Grund preist der Teilzeitgermanist seine Speisen an und fügt der deutschen Sprache schöne Blüten bei: »auf Scharf, mit Scharf, ohne Schaf, zum Mitnehme, außer Haus, Nudeln alla Chef«. Orthographisch werden mit sämtlichen statistisch möglichen Schreibweisen von »Tsatsiki« wahre Gipfel erklommen. Ein von der Decke hängender Fernseher, auf dem ständig in Kasernenlautstärke Videoclips laufen, rundet die Innengestaltung ab.
Wie bei der Reinigung liegt beim Service der Schwerpunkt ebenfalls auf Tempo und Effizienz. Ohne unnötige Freundlichkeit, die den Betriebsablauf stören könnte, wird jede Kundin und jeder Kunde mit dem Dreiklang »Ja? Bitte? Nächste?« abgefertigt. Seine Lebensgeschichte kann man der Kassiererin im Supermarkt ins Ohr quatschen, nicht aber dem Dönermann. Er möchte nicht quatschen und noch weniger zuhören, sondern so viele Kunden wie möglich in so kurzer Zeit wie möglich durchschleusen. Viele Worte, wenig Umsatz, wenig Worte, viel Umsatz. Tragikomisch wird es, wenn sich vegane Hipster in so einen Imbiss verirren und die üblichen hundert Fragen nach Herkunft und Beschaffenheit der Zutaten stellen, jedes Mal ein harsches »Nein« als Antwort bekommen und schließlich mit einem gefüllten Fladenbrotviertel voller Tomaten und Salat davonziehen. Lockere Veganer, die ihr hedonistisches Veganerleben nicht als Dschihad zelebrieren, lassen sich verschämt noch einen Löffel Tsatsiki draufklatschen.
Betrachtet man die Dönerläden von der Straße, wird deutlich, was für ein großer Humorist in jedem einzelnen Dönerchef steckt. Während der finanziell goldenen Anfangsjahre hing an den Läden eine große Fahne, auf der ein dicker schnauzbärtiger Türke neben einem noch dickeren Dönerspieß stand, mit einem langen Säbel in der Hand natürlich. Vermutlich sollte die Fahne Appetit auf einen Döner Kebap machen, was nicht wirklich gelang. Denn bei manchen Deutschen triggerte ein morgenländisch aussehender, bärtiger Mann mit einem Säbel in der Hand die Jahrhunderte alte, tiefsitzende Angst vor der »Türkengefahr«. Oder war dieses dezente Stillleben die erste versteckte Kampagne der Tierschutzorganisation PETA gegen Tierquälerei?
Bei der Namensgebung dieser kulinarischen Tempel nehmen es die Imbissunternehmer locker mit jedem Kreativen aus der Werbebranche auf. Nur Friseure können ihnen namenstechnisch das Wasser reichen. Hier ein paar Beispiele aus dem Kreativduopol Dönerimbiss versus Friseursalon:
Istanbul 2 – Schnitt-Stelle
Star Döner – Vor Hair nach Hair
Istanbul 3 – Haareszeit
King Döner – Haarmonie
Istanbul 4 – Kopfsache
Royal Kebap – Hairport
Istanbul 5 – HairTie
King Kebap – Hairlich
Istanbul 6 – die HairRichter
Galaxy Döner – Salon Krehaartivität.
Noch Fragen?
Inzwischen findet man in größeren westdeutschen Städten Döner-Restaurants, die zwar noch weit diesseits von Michelin-Sternen operieren, aber Gastlichkeit und Service für die Kundschaft entdeckt haben. Die Inneneinrichtung besteht aus viel Chrom, fluoreszierenden Deckenfarben, epischen Wandmalereien, ausladenden Sitzecken und schweren Holzstühlen und den obligatorisch weiß gekachelten Böden. Türkische Gastronomen müssen ihre Lokalitäten auch »pimpen«, denn die ausländisch Mitkonkurrenz schläft nicht. Arabische Imbisse bereichern das Angebot und vor allem asiatische Gaskochzeilen mit babywannengroßen Woks. Hinzu kommen chinesische, koreanische, vietnamesische, thailändische und japanische Schnellküchen, um nur einige Untersektionen zu nennen, die aber den deutschen Gourmet mit traditionell gesunder Ignoranz nicht sonderlich interessieren. Entweder er geht deutsch essen (Kneipe), italienisch (Roma, Napoli, Milano, Bei Carlo, Bei Giovanni, Bei Alberto, Bei Franco, bei Ciao Bello&Bella), türkisch (türkisch, syrisch, jordanisch, arabisch, irgendwas mit Knoblauch halt), griechisch (Lesbos, Knossos, Olympos, Rhodos, Dionysos, Gyros, Hauptsache Fleischplatte und Krautsalat), oder eben asiatisch (Chicken Tandoori, Chicken Biriyani, Chicken Korma, Chicken Chicken, irgendein Curry oder eben Sushi, möglichst roh, möglichst kleine Minirollen zu möglichst hohem Preis), das sind ihm Auswahl und Kategorien genug.
Lange Jahre haben asiatische Imbissbetreiber noch weniger in ihre Läden investiert als türkische (was schon eine Leistung an sich war) und den Kunden unter anderem leere Getränkekisten als Sitzgelegenheiten angeboten. Aber der Fortschritt macht auch vor dem knauserigsten chinesischen Selbstausbeuter nicht halt. So hat sich bei ihm und seinesgleichen die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Kunde Freundlichkeit und Service eher schätzt als karge Kommunikation im gebellten Ton und eine verschmierte schmale Ablagefläche, auf der man nicht mal eine Cola abstellen kann. Den Menschen bietet sich eine schöne Bandbreite verschiedener Küchen, in denen man oft gut und günstig und öfter schlecht und billig dafür aber reichhaltig essen kann. Über die Qualität von Speisen und Zutaten der Billigliga schweigen wir vornehm. Anders gesagt: Wer einen Dönerteller oder Hühnerfleisch Chop Suey für vier Euro will, sollte seine kulinarischen Ansprüche an der nicht vorhandenen Garderobe abgeben.
Zumindest dem Döner Kebap wurde aber das Image des billigen Fastfoods nicht an den Spieß gelegt, das bekam es erst durch die Metamorphose zum industriell hergestellten Massenprodukt. Ursprünglich wurden mehrere Scheiben aus tatsächlichem Fleisch mariniert übereinander gespießt und anschließend drehend gegrillt. Das taten schon die Osmanen Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie stapelten Fleisch auf einem Spieß und brieten es drehend über dem Feuer wie Asterix und Konsorten das Wildschwein, in der Waagerechten. Der evolutionäre Quantensprung, den Spieß senkrecht zu grillen, vollzog sich dann im 20. Jahrhundert mit der Erfindung entsprechender Technik. Wer auf diese brillante Idee kam, ist nicht bekannt, aber selbstverständlich hat der Erfolg viele Väter und so beanspruchte unter anderem ein Berliner Türke in den 70ern des letzten Jahrhunderts der »Erfinder« des Döners zu sein. Was er durchaus hätte sein können, wenn er das Alter einer Galapagos-Schildkröte erreicht und sich Mitte des 19. Jahrhunderts schon in Anatolien rumgetrieben hätte.
Die Hersteller von Dönerspießen spielen heutzutage eine gewichtige Rolle in der hiesigen Fleischindustrie, operieren europaweit und ihr Produkt hat es sogar bis in die USA geschafft. Döner Kebap ist ein deutsch-türkischer Exportschlager und wird im Ausland als »German Food« angeboten. So ist dem Döner gelungen, was seinen Herstellern und Verkäufern im Inland bisher partout nicht glücken will: Im Ausland ist der Döner schon mal Deutscher.
GEKOMMEN UND GEBLIEBEN
Sie sind Rentner und leben in Hamburg-Winterhude. Die große Tochter arbeitet als Frauenärztin in ihrer eigenen Praxis, der Sohn ist glücklicher Freiberufler und die kleine Tochter arbeitet bei einem großen IT-Unternehmen in Bremen. Zekiye und Sabri Pamuk haben das Feld bestellt, sie können ihr Leben nun genießen und ihre sechs Enkelkinder verwöhnen. Und wenn ihnen die Hamburger Jahreszeiten Frühling-Herbst, Sommer-Herbst und Herbst-Winter-Herbst zu viel werden, fliehen sie an die türkische Mittelmeerküste.
Als sich Zekiye vor fast fünfzig Jahren, im Frühjahr 1972, auf dem Weg ins gelobte Land »Almanya« machte, stellte sie sich dieses »Ende« ihrer Geschichte nicht mal in den kühnsten Träumen vor. Gemeinsam hatten Zekiye und Sabri beschlossen auszuwandern, weil ihnen die Heimat nur eine Zukunft auf den Haselnuss- oder Tabakfeldern zu bieten hatte, deren Erträge kaum zum Überleben reichten. Sie wollten aber ein besseres Leben, ihren beiden Kindern eine Schulausbildung ermöglichen und nicht ein Leben lang auf den Plantagen schuften. Und Deutschland brauchte nach der ersten großen Anwerbewelle in den Sechzigern noch weitere Gastarbeiter. Der Wirtschaftsaufschwung schuf immer noch neue Arbeitsplätze, für die sich nicht genug Einheimische fanden. »Über Deutschland wussten wir eigentlich nur zwei Dinge«, sagt Sabri heute, »es gab dort Arbeit und gutes Geld dafür, mehr nicht.«
Mit anderen jungen Frauen von der Schwarzmeerküste setzte sich Zekiye in den Bus nach Istanbul. Sabri, die vierjährige Tochter und der zweijährige Sohn blieben zurück. Sabri sollte sobald wie möglich nachkommen, die Kinder nicht. Die Eltern wollten ja nur ein paar Jahre in Deutschland arbeiten, um dann mit dem Verdienten in der Heimat neu anzufangen, warum sollte man da die Kinder aus ihrer gewohnten Umgebung reißen? In Istanbul angekommen, unterzog sich Zekiye im Verbindungsbüro einem Gesundheitscheck. Wer von den Ärzten nicht für gesund und arbeitsfähig befunden wurde, musste wieder die Heimreise antreten. Zu den Ausschlusskriterien gehörte unter anderem eine Schwangerschaft. Deutschland brauchte robuste junge Frauen, keine Mütter mit schreienden Babys. Zekiye hatte Glück, sie wurde für gesund und nicht schwanger erklärt.
Ins Verbindungsbüro kamen ebenfalls die Personalchefs deutscher Firmen, um sich vor Ort die zukünftige Belegschaft selbst auszusuchen. Am nächsten Morgen stand Zekiye neben anderen Frauen in einer Reihe und wartete. Herr Eckhof betrat den Raum. Der Personalchef der Firma Kühne aus Hamburg ging die Reihe ab und deutete mit dem Finger auf alle jungen Frauen, die er für seine Firma haben wollte. Insgesamt suchte er 40 Frauen aus, darunter auch Zekiye. Die Frauen wurden nach München geflogen und bekamen bei der Ankunft einen Beutel Verpflegung für die Weiterreise in die Hand. Anschließend ging es mit dem Zug weiter in die Hansestadt. »Wir wurde in einem Wohnheim im Nordosten Hamburgs untergebracht. Die Frau des Hausmeisters verteilte uns auf die Zimmer. Pro Zimmer gab es sechs Betten und einen großen Schrank mit sechs Fächern. Duschen und Toiletten waren im Flur.« An die folgende Geschirrausgabe erinnert sich Zekiye noch genau: »Jede von uns wurde genau mit einem Löffel, einer Gabel und einem Teller ausgestattet.« Danach durften sie sich einen Tag lang ausruhen.
Die Einarbeitung dauerte nicht lange. »Ich stand am Fließband und steckte saure Gurken in Gläser, von 7 bis 16 Uhr, mit 45 Minuten Pause dazwischen. Das war meine erste Arbeit in Deutschland.« Und die Kommunikation mit deutschen Kolleginnen? »Zuerst verständigten wir uns nur mit Händen und Füßen, manchmal halfen andere Landsleute, die schon länger bei Kühne arbeiteten, und schließlich lernten wir mit der Zeit selbst ein bisschen Deutsch.« An manchen Wochenenden besuchte sie ihren großen Bruder, der schon seit den Sechzigern in Hannover lebte. Insgesamt dreizehn Monate arbeitete Zekiye an den Fließbändern der Firma Kühne und hielt mit Briefen Kontakt zu Sabri. »Alle Briefe an uns kamen beim Pförtner an, der sie an die Scheiben seines Häuschens lehnte, damit man von draußen gleich den Empfänger sehen konnte. Nach jeder Schicht liefen wir aufgeregt wie Hühner zum Pförtnerhäuschen, um zu gucken, ob ein Brief für uns an der Scheibe war. Bei den Glücklichen, die ihre Namen fanden, war die Freude groß. Bei anderen, die vergeblich suchten, flossen oft Tränen. Kein Brief hieß, keine Lebenszeichen von der Familie, keine Nachricht aus der Heimat.«
Ein Jahr später konnte sie Sabri im Rahmen der Familienzusammenführung nachholen. Seine Anreise war weniger komfortabel, er brauchte mit dem Zug von Istanbul nach Hamburg vier Tage. Zunächst mussten sie ein Zimmer bei einem Landsmann anmieten, der wiederum seine Wohnungsmiete auf originelle Weise refinanzierte, wie Sabri immer noch staunend erzählt: »Es war nur eine Drei-Zimmer-Wohnung, aber er hatte tatsächlich ein weiteres Zimmer an ein anderes Paar untervermietet. Er selbst lebte mit drei kleinen Kindern und seiner Frau im dritten Zimmer und wohnte damit praktisch umsonst. Keine Ahnung, wie sie es zu fünft in einem einzigen Zimmer ausgehalten haben, der Landsmann hatte es mit dem Geldverdienen wohl sehr eilig. Aber manche heutigen Probleme hatte Hamburg schon damals, es gab viel zu wenig Wohnraum.«
Sabri fing als Reinigungskraft im gerade neu gebauten Plaza Hotel am Dammtor an wie fast alle nachgeholten Ehemänner der türkischen Kühne-Arbeiterinnen. Nebenher besuchte er Sprachkurse. Schließlich fanden Zekiye und Sabri 1974 über eine Zeitungsanzeige eine Zwei-Zimmer-Wohnung im bürgerlichen Stadtteil Winterhude und konnten beim sparsamen Großvermieter endlich ausziehen. Im selben Jahr flogen die beiden auch in den ersten Heimaturlaub. Nach zwei Jahren sah Zekiye ihre Kinder wieder.
Wieder in Hamburg fingen sie gemeinsam bei Lumoprint an, einer Firma, die Fotokopierer herstellte. Zekiye arbeitete am Montageband und Sabri in der Dreherei. Die folgenden Jahre vergingen im Rhythmus von elf Monaten Arbeit in Hamburg und einem Monat Heimaturlaub. Währenddessen wuchsen die Kinder bei Sabris Vater auf. Selbst in den wenigen Urlaubswochen konnten sich Zekiye und Sabri kaum um ihre Kinder kümmern, weil sie von Familie und Verwandtschaft mit anderen Verpflichtungen beladen wurden: »Als ob sie ein ganzes Jahr lang sämtliche Probleme und zu erledigenden Dinge sammelten, die wir dann in nur vier Wochen lösen und erledigen durften. Wir waren so jung und naiv und versuchten es tatsächlich nach besten Kräften.« Alles andere als erholt, packte Zekiye schließlich die Koffer für die Rückreise und bat ihre Schwägerin Gülten, mit den Kindern zum Spielen an den Fluss zu gehen. Sie sollten nicht sehen, wie ihre Urlaubseltern wieder verschwanden. Wie hat sie als junge Mutter Ende zwanzig dieses jährliche Abschiedsritual verkraftet? Das Leben ohne die eigenen Kinder in Hamburg? Zekiye ringt lange um Worte. »Das kann ich bis heute nicht beschreiben«, sagt sie mit belegter Stimme, »so eine Erfahrung wünsche ich niemandem.«