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Packender Roman, lebensnah und ergreifend. Das Schicksal hat Kinderärztin Dr. Katja Holm übel mitgespielt: Nach dem frühen Tod ihres Mannes, muss sie die beiden Kinder alleine großziehen. Tochter Cindy erblindet durch einen tragischen Unfall. Eine Operation soll Cindy das Augenlicht zurückgeben, doch der geplante Eingriff kann nicht durchgeführt werden: Cindy wird von einem Fremden vergewaltigt und schwanger. Doch Dr. Katja Holm gibt nicht auf und kämpft wie eine Löwin um das Leben und Glück ihrer Tochter. -
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Seitenzahl: 228
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Marie Louise Fischer
Saga
Kinderärztin Dr. Katja HolmCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1979, 2020 Marie Louise Fischer und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726444858
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit Zustimmung von SAGA Egmont gestattet.
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– a part of Egmont www.egmont.com
Die morgendliche Visite im Kinderkrankenhaus war beendet. Nach einer kurzen, abschließenden Besprechung auf dem Gang des Erdgeschosses löste sich der Zug der Ärzte und Schwestern auf.
Frau Dr. Katja Holm legte Professor Ellwangen sanft die Hand auf den Arm. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen, Vater?«
Er sah sie an, aber sie konnte den Ausdruck seiner Augen hinter den dicken, spiegelnden Gläsern seiner Brille nicht deuten. Wie immer hatte sie unter diesem Blick das ungute, ja geradezu peinigende Gefühl, durchschaut zu werden. Unwillkürlich schob sie das Kinn vor und warf den Kopf mit dem üppigen dunkelblonden Haar in den Nacken. Ihre tiefblauen Augen unter den langen Wimpern nahmen einen trotzigen Ausdruck an. »Komm«, sagte er und ließ die Tochter in das Vorzimmer.
Seine Sekretärin, Fräulein Irene Henninger, die auf die Tasten ihrer Schreibmaschine gehämmert hatte, hob den Kopf. »Herr Professor . . .«
Er nickte ihr zu. »Machen Sie uns bitte einen steifen Kaffee, Irenchen . . .«
Fräulein Henninger sprang auf, schob die Tür des Aktenschrankes zurück, holte den elektrischen Topf heraus. »Sofort, Herr Professor!«
Es war offensichtlich, daß das alte Mädchen bereit gewesen wäre, sich für den stattlichen Witwer aufzuopfern. Aber Katja konnte nicht einmal innerlich darüber lächeln. Ihr war bewußt, daß es ihr nicht zustand, sich über ein anderes verliebtes weibliches Wesen zu erheben. Sie selber wußte, wie quälend heimliche Liebe sein konnte.
Professor Ellwangen hatte schon sein großes Arbeitszimmer betreten, einen Eckraum, dessen hohe Fenster Ausblick auf den Park boten.
»Also, was hast du auf dem Herzen?« fragte er.
Er ließ sich schwer in den Sessel hinter seinem Schreibtisch fallen.
Katja setzte sich ihm gegenüber.
»Du weißt, daß ich dieses Wochenende frei habe«, begann sie langsam. Er strich ein Zündholz an und sah sie dabei über die kleine Flamme hinweg an. »Ich werde wahrscheinlich schon heute abend wegfahren«, fuhr Katja unter diesem etwas irritierenden Blick fort, »damit ich wirklich etwas von den beiden Tagen habe. In der Nacht zum Montag komme ich dann wieder zurück.« Professor Ellwangen hielt die kleine Flamme an das Ende seiner Zigarre. Er sagte immer noch nichts. Also war Katja gezwungen, ihren Monolog weiterzuführen. »Ich wollte dich bitten, Vater, ob ich . . . es hat mir die letzten Male so wohlgetan, einfach draufloszufahren. Ihr braucht mich und meine Adresse hier doch wirklich nicht. Du bist da und Dr. Sydow . . . es ist also völlig ausgeschlossen, daß ich gebraucht werden könnte. Ich weiß ja, es ist im allgemeinen üblich, daß jeder Arzt immer erreichbar ist, aber mir zuliebe könntest du doch eine Ausnahme machen!«
»Das habe ich schon mehr als einmal getan.«
»Ja, aber gerade deshalb . . .«
»Katja«, sagte der Professor, »ich bin nicht mehr jung. Du wirst in absehbarer Zeit die Klinik übernehmen . . .« Sie lachte, es klang nicht sehr echt. »Eben, und wenn es erst soweit ist, wird es vorbei sein mit meiner Freiheit . . . endgültig und für alle Zeit.«
Er hakte sofort ein. »Falls du dich nicht doch entschließt, wieder zu heiraten!« Sie wollte zu einer Entgegnung ansetzen, aber er ließ sie nicht zu Worte kommen. »Ich verstehe, daß du Klaus nicht vergessen kannst, ich respektiere deine Liebe und deine Treue über den Tod hinaus. Aber immerhin sind seit jenem tragischen Unfall nun gut zwölf Jahre vergangen . . .«
»Vater«, entgegnete sie gequält, »müssen wir ausgerechnet jetzt wieder darüber sprechen?«
»Verzeih, Liebling.« Professor Ellwangens Ton klang nahezu reuevoll. »Trotzdem muß ich immer und immer wieder sagen: Dr. Sydow ist ein ausgezeichneter Mann!«
»Er ist ein wunderbarer Arzt, das gebe ich unumwunden zu. Ich kenne eine Menge wunderbare Ärzte. Aber das ist doch kein Grund, mich in einen von ihnen zu verlieben oder ihn gar zu heiraten. Dr. Sydow ist einfach nicht mein Typ, verstehst du das denn nicht?«
»Wenn du mich so fragst«, sagte Professor Ellwangen, »so muß ich dir ehrlich sagen: Ich verstehe nicht, wie ein Frau in deinem Alter sich wie ein unvernünftiger Teenager aufführen kann . . . Du sollst ja nicht aus rasender Verliebtheit heiraten, sondern weil du eine Frau bist, die an die Seite eines Mannes gehört.«
Katja beugte sich vor, ihre tiefblauen Augen funkelten ihn an. »Ich bin noch nicht alt, Vater«, unterbrach sie ihn, »ich bin vierunddreißig Jahre! Ich habe es noch nicht nötig, mich selbst zu belügen und mich aus reinen Vernunftsgründen in eine zweite Ehe zu stürzen. Es macht mir nichts aus, das Leben einer Witwe zu führen.«
»Aber vielleicht macht es deinen Kindern etwas aus! Cindy braucht einen Vater, und auch Axel kommt in das Alter . . .«
Katja atmete auf, als der Summer der Sprechanlage ertönte. Professor Ellwangen drückte auf einen der Knöpfe. »Ja, was gibt’s?«
»Ein Neuzugang, Herr Professor«, tönte die Stimme einer Schwester aus dem Lautsprecher, »neunjähriger Junge, soeben eingeliefert worden! Der Oberarzt ist gerade mit einer Patientin beschäftigt, die . . .«
»Ich komme«, sagte Professor Ellwangen lakonisch und schaltete ab. Er erhob sich und sah seine Tochter an: »Komm mit!«
Sie kam sich in diesem Moment selber sehr schäbig vor, aber sie konnte nicht aufgeben. »Ja«, sagte sie, »aber was das Wochenende betrifft, sind wir uns doch einig, daß . . .«
»Herrgott!« Zum erstenmal schien er nahe daran, seine Fassung zu verlieren. »Deine Sorgen möchte ich haben!«
Der Junge, der auf dem Untersuchungstisch im überhellen Licht des Aufnahmeraumes lag, sah sehr schlecht aus. Sein rundes, sommersprossiges Gesicht, das Spuren von Schmutz und Tränen zeigte, war fahl.
Schwester Martha hatte ihn schon ausgezogen. Jetzt schlug sie das weiße Laken, mit dem er zugedeckt war, zurück. Eine schluchzende Frau drängte nach vorn.
»Herr Professor . . .«
»Sind Sie die Mutter?«
Die weinende Frau nickte.
»Dann erzählen Sie mal, was passiert ist!«
Die Frau mühte sich, ihre Tränen hinunterzukämpfen. »Ich weiß ja auch nicht . . . die Kinder sagten . . . Jürgens Freunde . . . sie hätten auf einem Holzstapel gespielt, und plötzlich wäre er ausgerutscht und heruntergefallen . . . und . . . und auf einem Baumstamm aufgeschlagen . . .«
»Bäuchlings?«
»Ich weiß nicht . . .«
»Aber wir werden das gleich wissen!« Professor Ellwangen wandte jenen väterlichen, selbstsicheren Ton an, der auf verzweifelte Mütter stets wie eine Beruhigungspille wirkte. »Jetzt gehen Sie bitte hinaus und geben draußen der Schwester Ihre Personalien an.«
Als die Frau das Zimmer verlassen hatte, wandte sich der Professor an seine Tochter, die er im Dienst immer mit »Frau Kollegin«, anzusprechen pflegte.
»Bitte, untersuchen Sie den Patienten!«
Katja fühlte sich durch diese Aufforderung keineswegs geschmeichelt. Sie zweifelte ernstlich daran, daß dem Professor an ihrem Urteil als Kollegin gelegen war, und unterstellte ihm ohne weiteres, daß er nur ihre Fähigkeiten zur Diagnose prüfen wollte. Wortlos schlug sie das Laken zur Seite. Die Hautabschürfungen und blutunterlaufenen Stellen am linken Rippenbogen waren nicht zu übersehen. Sehr behutsam tastete Katja das Gebiet des Bauches ab. Plötzlich schrie der Junge auf. Sie biß die Zähne zusammen, denn sie haßte es, einem ihrer kleinen Patienten Schmerzen bereiten zu müssen, und drückte stärker.
Der Junge wimmerte.
»Sag mir . . . wo hat es jetzt weh getan?« fragte sie.
»Da oben . . . an der Schulter!« Der Junge stöhnte.
»Nun, Frau Kollegin?« fragte Professor Ellwangen.
»Ich fürchte, es liegt eine innere Verletzung vor.« Katja wartete die nächste Frage nicht erst ab, sondern fügte rasch hinzu: »Er muß sofort geröntgt werden. Übersichtsaufnahme des Bauches.«
»Sehr richtig«, lobte Ellwangen, »Schwester Martha, Sie haben gehört. Verfrachten sie den Jungen sofort zur Röntgenstation. Wir kommen in zehn Minuten nach.« Wenig später legte im weißen, nüchternen Röntgenzimmer der Röntgenologe das fertige Bild vor sie auf den Leuchtschirm. Sie sahen ihre Diagnose bestätigt: Das Zwerchfell würde nach links oben gedrängt, der Magen wich rechts zur Seite, alles wies auf eine Blutung in der Bauchhöhle hin.
»Operation«, sagte Katja.
Aber Professor Ellwangen hörte schon nicht mehr hin. Er stand an der Sprechanlage, forderte den Kinderchirurgen an, setzte sich mit dem Labor in Verbindung, befahl der technischen Assistentin, die Blutgruppe des Kindes festzustellen, die passende Blutkonserve bereitzuhalten und gleich die Kreuzprobe vorzunehmen. Endlich ordnete er an, den Operationssaal vorzubereiten, und rief den Anästhesisten herbei.
Er hatte kaum seine Anordnungen getroffen, als die Tür aufgerissen wurde und Dr. Gert Curtius in den Röntgenraum stürmte, ein schlanker, hochgewachsener Mann mit einem Gesicht, das zu ausdrucksvoll war, als daß man es hätte schön nennen können. Die Nase war zu groß, die Stirn zu breit, aber er wirkte sehr männlich. Die grauen, klugen Augen, die von winzigen Lachfältchen umgeben waren, machten Dr. Curtius ausgesprochen sympathisch. Durch das Weiß seines Kittels kam die gesunde Bräune seiner Haut besonders zur Geltung. Katja wagte nicht, ihn anzusehen. Sie wandte das Gesicht rasch wieder dem Röntgenbild auf der Leuchtplatte zu. Immer wenn sie mit Curtius zusammentraf, hatte sie das unangenehme Gefühl, daß jeder, aber auch jeder ihr anmerken müßte, wie es um sie stand. Auch diesmal fühlte sie sich geradezu nackt unter den Augen des Röntgenologen, dessen Blick sie in Wahrheit nur ganz zufällig streifte.
»Herr Professor . . .«, sagte Dr. Curtius.
»Gut, daß Sie schon da sind, Herr Kollege!« Professor Ellwangen war jetzt ganz in Aktion. »Schauen Sie sich das mal an: Ein neunjähriger Junge ist beim Spielen von einem Stapel Bretter gefallen, wahrscheinlich bäuchlings auf einen Baumstamm . . . aber ich möchte Ihrem Urteil nicht vorgreifen!«
Dr. Gert Curtius trat hinter Katja. Sie spürte die Wärme, die von ihm ausging, den Geruch nach Männlichkeit wie eine körperliche Berührung.
Der Chirurg betrachtete das Röntgenbild, während Professor Ellwangen ihm die Symptome schilderte. Katjas Mund war trocken, es war ihr unmöglich, ein Wort hervorzubringen.
»Hm, möglicherweise ein Milzruptur«, meinte Dr. Curtius endlich.
»Ja, das habe ich mir auch gedacht«, stimmte der Professor zu. »Genaues werden wir natürlich erst wissen, wenn wir den Bauch geöffnet haben. Ich habe schon alles für die Operation veranlaßt. Machen Sie sich gleich dran, Herr Kollege . . . meine Tochter wird Ihnen assistieren.«
»In Ordnung, Herr Professor.«
»Ich werde jetzt mal mit der Mutter des Kindes sprechen!« Professor Ellwangen verließ das Zimmer.
Katja und Curtius blieben allein zurück – nicht ganz allein, wenn es ihnen auch sekundenlang so vorkam. Der Röntgenologe war im Zimmer und seine Assistentin. »Ich denke, ich werde den Schnitt hier ansetzen«, sagte Dr. Curtius wie zu sich selber. Gleichzeitig fuhr er mit dem Finger über die Röntgenaufnahme und schrieb in die Luft, sichtbar nur für ihn und Katja: »Hat es geklappt?«
Mühelos entzifferte sie diese flüchtigen Buchstaben, denn sie wußte ohnedies, welche Frage in ihm brannte. Nur dann konnten sie das freie Wochenende miteinander verbringen, wenn sie der Verpflichtung entbunden war, ihre Adresse zu hinterlassen. Er, der Chirurg, mußte jederzeit erreichbar sein, und die gleiche oder auch nur annähernd gleiche Anschrift hätte sie unweigerlich verraten.
»Ja.« Katja nickte. Das Aufatmen, das durch seinen Körper lief, teilte sich ihr mit, erfüllte ihr Blut mit prickelnder Erregung.
Das Telefon unterbrach die Spannung. Die Assistentin des Röntgenologen meldete sich. »Jaja . . . Moment bitte.« Sie hielt die Sprechmuschel zu.
»Herr Dr. Curtius, Ihre Frau . . .«
Er fuhr herum. »Sagen Sie ihr, daß ich im OP bin . . . nein, lieber nicht . . . geben Sie her!« Mit zwei Schritten war er beim Apparat. Katja fühlte sich von einer Sekunde zur anderen verlassen. Sie mußte gegen ein ganz unvernünftiges Gefühl der Enttäuschung ankämpfen. Sie hörte ihn sagen, durchaus nicht unfreundlich, sondern sehr, sehr geduldig: »Hallo, Baby . . . ja, etwas Besonderes?«
Da wandte sie sich ab und verließ rasch den Raum. Vor der Operation hatten sie keine Gelegenheit mehr, miteinander zu sprechen.
Dr. Katja Holm half der Operationsschwester, eine Dauertropfinfusion anzulegen. Sie führte in die Ellbogenvene des Jungen eine Kanüle ein, an die die Blutkonserve angeschlossen wurde. Der Anästhesist begann mit der Narkose, die Oberschwester desinfizierte die gesamte Bauchoberfläche, deckte Brust, Beine und Unterkörper mit sterilen Tüchern ab. Dann trat Dr. Gert Curtius aus dem Waschraum. Sein Blick suchte den des Anästhesisten.
»Wir können«, sagte der junge Narkosearzt.
Die Operationsschwester reichte Curtius das Skalpell. Ein unmerkliches Zögern, eine atemlose Sekunde der Erwartung, dann setzte der Chirurg das Skalpell an und öffnete mit einem einzigen scharfen Schnitt, der vom Brustbein bis zum Nabel führte, den Bauch. Er wechselte das Skalpell gegen ein noch feineres, durchschnitt das Bauchfell und fuhr mit der rechten Hand in die Bauchhöhle, tastend, suchend, dann stellte er fest: »Ruptur!«
Alle wußten, was das bedeutete: Die Milz war zerrissen, mußte entfernt werden.
Die Schwester wechselte die Tücher.
Dr. Curtius erweiterte den Bauchschnitt vom Nabel bis zur linken Seite unterhalb des Rippenbogens. Frau Dr. Holm setzte die Haken ein, die den Hautmuskellappen zurückhielten.
Jede Bewegung verlief schnell, präzise, gekonnt. Niemand sprach ein Wort. Nichts war zu hören als das Surren des elektrischen Sauggerätes, das das Blut im linken Unterbauch entfernte.
Der Chirurg zog mit der Hand die zerrissene Milz nach vorn, unterband die blutenden Gefäße, trug das zerstörte Organ ab. Er untersuchte Leber und Dickdarm und stellte fest: »Intakt!« Und dann: »Kochsalzlösung!« Die OP-Schwester reichte ihm das bereitstehende Gefäß mit der warmen physiologischen Lösung. Der Arzt entfernte die Blutgerinnsel und spülte den Unterbauch aus. Dann vernähte er das Bauchfell. Dr. Katja Holm löste die Haken. Dr. Curtius vernähte die Bauchmuskulatur und schloß die Bauchhaut. Sie wußten: Wenn nichts Unvorhergesehenes geschah, war der Junge gerettet. Andere Organe würden die Funktion der Milz übernehmen.
»Pulsschlag schwach, aber spürbar«, sagte der Anästhesist.
»Der Patient braucht Dauerwache. Weiterhin Bluttransfusion, bis der Kreislauf sich erholt hat«, ordnete der Chirurg an. »Bitte, veranlassen Sie das, Frau Doktor!« »Jawohl!«
Später, im Waschraum, konnte er ihr zuflüstern: »Es bleibt dabei!« Mehr nicht. Denn die Schwestern waren um sie herum, und jedes weitere Wort, ja schon ein verständnisinniger Blick hätten verräterisch sein können. Es war Spätnachmittag, als die junge Ärztin die Klinik verließ, um nach Hause zu gehen. Wie immer durchquerte sie den Park, dem die weiten Rasenflächen und schönen alten Bäume einen besonderen Reiz gaben.
Katja ging rasch, atmete tief durch. Es war ein guter Tag gewesen und gute Arbeit. Der Junge mit der Milzruptur hatte, als sie das letztemal bei ihm gewesen war, schon etwas Farbe in den Wangen gehabt und war brav und friedlich gewesen. Ein gerettetes Kinderleben – ein Leben, das Dr. Curtius gerettet hatte.
Bald würde sie mit ihm zusammen sein, sich an ihn schmiegen dürfen, nicht mehr Versteck spielen müssen. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr: Nicht mehr ganz drei Stunden mußte sie jetzt noch warten. Unwillkürlich ging sie schneller, als ob sie dadurch das Treffen beschleunigen könnte. Dabei wußte sie doch genau, daß immer sie die erste war, immer sie, die auf ihn warten mußte . . . mal war es ein Fall, der ihn zurückhielt, mal seine Frau, Baby Curtius, mit ihren ständig wechselnden, unberechenbaren Launen.
Katja hatte nichts gegen die schöne, kindhafte Baby Curtius – oder vielmehr, sie redete sich ein, nichts gegen sie zu haben. Sie sprach niemals schlecht über die Frau des Chirurgen, nahm sie immer in Schutz, wenn andere über sie herzogen. Tief innerlich jedoch war sie außerstande, gut von ihr zu denken. Ja, sie haßte Baby, weil Gert Curtius unglücklich mit ihr war. Und doch wußte Katja genau, daß sie selber, wenn sich Baby ihrem Mann gegenüber anders verhalten hätte, nicht die geringste Chance bei ihm gehabt hätte.
Ihr Verstand sagte ihr, daß ihre Einstellung unsinnig und unlogisch war, aber ihr Gefühl ließ sich nicht vom Verstand diktieren.
Katja war so sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, daß sie regelrecht zusammenschrak, als sie angerufen wurde. Sie fuhr herum und entdeckt Dr. Horst Sydow, an dem sie vorbeigelaufen war, ohne ihn zu bemerken.
Er saß im weißen Kittel auf einer sonnenbeschienenen Bank und rauchte seine Pfeife.
Sie mußte sich zur Freundlichkeit zwingen. »Ach, du bist es, Horst!« Sie kannte ihn schon viele Jahre, noch aus der Zeit ihrer Ehe her. Er war Studienkollege ihres verunglückten Mannes gewesen, und schon seit damals duzten sie sich. »Du hast mich aber ganz schön erschreckt!«
»Tut mir leid. War keine Absicht.« Der Oberarzt stand auf und stellte sich an ihre Seite.
Dr. Horst Sydow war fast einen halben Kopf kleiner als Katja. Seine großen braunen Augen schienen immer zu strahlen. Von ihnen ging eine ungewöhnlich anziehende Wirkung aus. Alle Kinder liebten ihn sehr, wahrscheinlich, weil er es verstand, sie auf fast geheimnisvolle Weise zu trösten und ihnen über ihre Schmerzen hinwegzuhelfen.
Merkwürdigerweise schien er bei Frauen kein Glück zu haben. Selbst diejenigen Schwestern, die dafür bekannt waren, daß sie zu jedem Flirt bereit waren, wollten von ihm nicht viel wissen.
»Ich verstehe, daß du’s eilig hast«, sagte er, ohne Katja anzusehen, »von deinem freien Wochenende willst du natürlich keine Stunde verlieren.«
»Du hast wieder einmal den Nagel auf den Kopf getroffen«, gab sie zurück und ärgerte sich, weil ihre Stimme so gezwungen und unnatürlich klang.
»Wo geht’s denn diesmal hin?«
»Keine Ahnung. Ich fahre einfach los . . . nur ins Blaue hinein.« Obwohl nicht der geringste Anlaß bestand, überfiel sie das Gefühl, sich rechtfertigen zu müssen. »Ich bin reichlich abgespannt und brauche einfach hin und wieder einen Tapetenwechsel.«
»Hm«, sagte er nur und dann: »Wie geht es Cindy?« Der Name ihrer Tochter war eine Art Losungswort zwischen ihnen. Dr. Sydow war es gewesen, der Cindy behandelt hatte. An jenem furchtbaren Tag, an dem sie bei einer leichtsinnigen Kletterei von einem Baugerüst und mit dem Gesicht in eine Kalkgrube gefallen war. Damals, als sie nur noch ein gekrümmtes, schmerzverzerrtes Bündel gewesen war. Als Katja, die so viel Leid gesehen hatte, von Entsetzen gelähmt, hilflos der Katastrophe ihres eigenen Kindes gegenübergestanden hatte. Damals – es war jetzt drei Jahre her – hatte Dr. Sydow den Kopf oben behalten. Er hatte eine Dauertropfinfusion angelegt, die Verbände gemacht und Professor Heinzelmann kommen lassen, eine Autorität auf dem Gebiet der Augenheilkunde.
Der Professor hatte die Kalkteilchen aus den Augen des Mädchens gespült. Augensalben mit verschiedenen Antibiotika appliziert, einen kühlenden Verband angelegt. Cindy hatte den Wundschock leicht überstanden. Schon nach wenigen Tagen schien es gewiß, daß die Lebensgefahr gebannt war. Die Verätzungen im Gesicht waren zwar langsam, aber erstaunlich gut verheilt und hatten kaum sichtbare Narben hinterlassen. Auch die Augen heilten gut ab. Nur die Hornhaut zeigte dichte weißliche Trübungen: Dr. Katja Holms Tochter war blind geworden und blind geblieben.
»Cindy«, sagte Katja auf Sydows Frage, »ja, sie ist lieb, brav und gut. Manchmal kommt sie mir geradezu . . . seltsam entrückt vor. Ich habe nicht einmal den Eindruck, daß sie unter ihrem Zustand wirklich leidet.«
»Tja«, gab der Arzt zu, »es gibt fast nichts, an das sich der Mensch nicht gewöhnen könnte. Trotzdem bleibt es ein Jammer.«
Sie hatten jetzt die hohe Hagebuttenhecke, hinter der der Garten lag, erreicht und blieben stehen.
»Sie soll sich ja gar nicht daran gewöhnen«, widersprach Katja. »Professor Heinzelmann ist nach wie vor der Überzeugung, daß eine Operation Erfolg haben könnte. Er will die gesunde Hornhaut eines gerade Verstorbenen in Cindys Augen verpflanzen. Und wir haben auch schon einen Menschen gefunden, der bereit ist, seine Hornhaut für diesen Zweck herzugeben . . . einen jungen Mann, der in den Städtischen Krankenanstalten in der Eisernen Lunge liegt, ein hoffnungsloser Fall.«
»Das ist grausam . . .«
»Ja, das ist es«, gab Katja zu, »aber der junge Mann scheint es nicht einmal so zu empfinden. Er sieht einen Trost darin, daß sein Tod, der unausweichlich ist, dadurch noch einen gewissen Sinn bekommt.«
Dr. Sydow räusperte sich. »Katja«, sagte er, »ich fürchte, du machst da einen entscheidenden Fehler. Es ist falsch, alle Hoffnungen auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren. Wenn die Operation schiefläuft? Was dann? Du weißt, sie kann nicht wiederholt werden.«
Katja war überzeugt, daß Dr. Sydow es nur gut meinte. Heute aber brachte sie einfach nicht die Geduld auf, sich mit ihm zu unterhalten.
»Ein andermal«, sagte sie und reichte ihm die Hand, »ein andermal müssen wir ausführlich darüber sprechen.«
»Ach ja, ich vergaß, du hast es eilig!« Aber Dr. Sydow machte keine Anstalten, zu gehen. »Du bist mich gleich los. Ich will nur mal nach Cindy sehen.«
Als Dr. Katja Holm die Holztür aufstieß, die den Park des Kinderkrankenhauses mit dem Garten der Privatvilla verband, bot sich ihr ein so friedliches und fröhliches Bild, daß alle trüben Gedanken sogleich verscheucht waren. Cindy lag in einem Liegestuhl, der im Halbschatten eines Rosenbusches stand. Sie war ein schönes Mädchen mit einem ebenmäßigen, klaren Gesicht und mit schulterlangem blondem Haar.
Vor den Augen, die trotz der Erblindung einen lebendigen Glanz hatten, trug sie eine schicke Sonnenbrille, die gerade jetzt, im Garten, gar nicht störte. Ihre langen Glieder hatten noch etwas von der staksigen Steifheit eines Füllens, aber schon ihre Hüften zeigten Schwung, und der feste kleine Busen war nicht mehr zu übersehen.
Sie trug sehr kurze knallblaue Shorts, dazu ein blau und rot gestreiftes Brusttuch. Auf ihre Kleidung legte sie großen Wert und fragte immer, ehe sie etwas anzog, ob die Farben auch zueinander paßten.
Ganz entspannt, mit leicht geöffneten Lippen, lag sie im warmen Sonnenschein, während neben ihr ein Kofferradio Schlager von Liebe, Sehnsucht und Glück in die laue Sommerluft hinausdudelte.
Axel Holm dreizehn Jahre alt, zwei Jahre jünger als die Schwester, spielte Tischtennis und versuchte mit hochrotem Kopf, seinen fast erwachsenen Vetter, den Studenten Karl-Heinz, im Tischtennis zu schlagen. Karl-Heinz Holm war ein Neffe des verstorbenen Vaters.
Axel schrie enttäuscht auf, als ein Ball, den er zu Karl-Heinz hatte hinüberschmettern wollen, sich im Netz verfing.
»Zwanzig zu fünfzehn für mich«, rief Karl-Heinz, »du schlägst auf!« Er hob den Kopf und erblickte ganz zufällig – denn er hatte sie nicht gehört – Katja. Er errötete prompt. »Tante Katja . . .«
Axel warf seinen Schläger aus der Hand. »Mutti! Spiel du mal mit Karli . . . ich kriege ihn nicht klein!«
Katja lächelte. Sie freute sich über Axels Eifer wie über das Erröten von Karl-Heinz. Was für zwei nette, anständige Jungen die beiden doch waren. Sie fuhr ihrem Sohn mit allen fünf Fingern zärtlich durch die dunklen Locken.
Dr. Sydow war inzwischen zu Cindy getreten. Katja konnte nicht verstehen, was er zu ihrer Tochter sagte – aber sie sah, wie er seine Hand auf ihre nackten Schultern legte, und das berührte sie seltsam unangenehm. Es war ein kurzer Eindruck, nur den Bruchteil einer Sekunde lang, dann hatte Dr. Sydow sich schon wieder aufgerichtet, und Katja vergaß ihr Unbehagen sofort.
Sydow kam zu den Jungen, scherzte ein wenig mit ihnen, verabschiedete sich von Katja und ging.
»Mutti!« rief Cindy. »Sieh mal, was Onkel Horst mir mitgebracht hat!« Sie schwenkte eine längliche Schachtel. »Eine kosmetische Hautsalbe, es soll das Allerneueste und Beste sein! Sag mal ganz ehrlich, Mutti, sieht man meine Narben denn noch so sehr?«
Katja zog sich einen Schemel neben ihre Tochter. »Überhaupt nicht, Liebling. Onkel Horst wollte dir nur eine Freude machen! Hast du irgendeinen Wunsch, mein Kind?« Sie kam sich schlecht vor, aber sie mußte so schnell wie möglich zur Sache kommen. »Du weißt, daß ich jetzt gleich fortfahre, nicht wahr? Fräulein Hertha hat schon meinen Koffer gepackt.«
Cindy schraubte den Verschluß der Creme-Tube auf und zu. »Fährst du mit Onkel Gert?« fragte sie.
Katja erschrak so, daß ihr für Sekunden die Luft wegblieb. War es möglich, daß Cindy etwas ahnte? Wußte vielleicht schon alle Welt, wie es wirklich um sie stand? Zum erstenmal in ihrem Leben war sie froh, daß Cindy sie nicht sehen konnte.
»Warum sagst du nichts, Mutti?« fragte das Mädchen.
»Also, weißt du, ich bin so überrascht, daß ich einfach keine Worte finde! Wie kommst du denn darauf, daß ich mit Dr. Curtius verreisen könnte?«
»Nur so. Du fährst also nicht mit ihm?«
»Nein!« Katja war froh, daß Cindy sie nicht sehen konnte.
»Warum sagst du nichts, Mutti?« fragte das Mädchen.
»Also weißt du, ich bin so überrascht, daß ich einfach keine Worte finde! Wie kommst du denn darauf, daß ich mit Dr. Curtius verreisen könnte?«
»Nur so. Du fährst also nicht mit ihm?«
»Nein!« Katja war froh, daß wenigstens das keine Lüge war. Sie pflegten getrennt loszufahren und sich erst in einem Hotel zu treffen. »Ist es dir nicht recht, wenn ich allein fahre? Soll ich lieber übers Wochenende zu Hause bleiben? Oder möchtest du mich begleiten?«
Cindy winkte ab. »Ach, laß man, Mutti, was hätte ich denn schon davon?«
»Du darfst den Mut nicht verlieren, Liebling!«
Cindys Gesicht verschloß sich – sie erinnerte Katja in diesem Augenblick sehr an ihren verstorbenen Mann. Auch er hatte manchmal diesen abweisenden, ganz und gar entmutigenden Ausdruck. »Ich weiß gar nicht, was du mit einemmal hast«, sagte das Mädchen, »mir geht es ja tadellos.« Plötzlich lächelte sie. »Es klingelt. Das wird Ruth sein!«
Wenige Augenblicke später lief Ruth, Cindys einzige Freundin, von der kleinen Terrasse aus in den Garten. Sie wirkte trotz des Minirockes gar nicht mehr kindlich, ein großes strammes Mädchen, das man leicht für eine Siebzehnjährige oder Achtzehnjährige hätte halten können.
Ruth winkte den Jungen zu. Katja beobachtete, daß Karl-Heinz schon wieder rot wurde, während Axel die Freundin seiner Schwester nur mit einer kleinen Grimasse bedachte. Dann begrüßte sie Katja sehr höflich mit einem tiefen Knicks und sagte zu Cindy: »Hei, Sweety!«
Katja stand auf. »Tust du mir die Liebe, Ruth«, bat sie, »und schaust auch morgen und übermorgen mal nach Cindy? Ich muß nämlich leider wegfahren, deshalb . . .«
»Aber großes Ehrenwort, Frau Doktor«, versicherte Ruth. »Das mache ich mit Vergnügen. Ist in den Ferien sowieso so langweilig, wenn man nirgendwohin verreisen darf.«
»Also dann«, sagte Katja und ging. Es fiel ihr mit einemmal schwer, sich von ihren Kindern zu trennen. Sie wußte selber nicht, warum.
»Paß auf«, sagte Ruth. »Du weißt also, was du zu sagen hast, wenn meine Mutter morgen anruft?«
»Na hör mal, ich bin doch nicht von gestern! Ich werde ihr erklären, daß du hier bei mir bist, weil meine Mutter es ausdrücklich gewünscht hat . . . und daß du gerade nicht ans Telefon kommen kannst, weil du im Bad bist . . .«
»Prima«, Ruth war befriedigt, »das genügt.«
»Und wenn deine Mutter mir nicht glaubt?«
»Das tut sie bestimmt. Sie würde gar nicht auf den Gedanken kommen, daß du schwindeln könntest. Nein, nein, es wird schon klappen. Übrigens bleibe ich höchstens eine Stunde weg.«
Eine Weile schwiegen die beiden Mädchen und hingen ihren Träumereien nach.
Cindy rollte eine Strähne ihres glatten, seidenweichen Haares um den Finger.
»Ist er nett?« fragte sie.
»Ganz süß!« sagte Ruth begeistert. »Und frech! Gleich beim erstenmal hat er versucht, mich zu küssen.«
»Und du?«
»Hab’ ihn abgewimmelt. Aber morgen . . . ich weiß nicht, ich habe so ein Gefühl . . . morgen wird’s passieren.«
»Ich möchte gern mal wissen, wie so etwas ist«, flüsterte Cindy sehnsüchtig.
»Ach, wirst du noch früh genug erleben!« sagte Ruth.
An diesem Abend schlief Cindy Holm noch schwerer ein als sonst. Sie lag flach auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte in das stumpfte Schwarz hinein, das sie seit damals immer umgab, Tag und Nacht.
Cindy seufzte tief. Ob Mutti wirklich nicht mit Onkel Gert verreist war?
Plötzlich hörte sie das Geräusch.
Es war nicht mehr als ein leichtes Schaben draußen an der Mauer unter dem Fenster. Jeder andere, der nicht so hellhörig gewesen wäre, hätte es wohl nur für das Knarren der Zweige gehalten, die sich im Wind aneinander rieben – aber Cindy erkannte sofort, daß es ein Mensch war, der am Spalier hochkletterte. Jetzt hatten seine Hände die Fensterbank gepackt, er zog sich herauf – jetzt sprang er ins Zimmer.
Cindy hörte das ganz genau. Dennoch erschrak sie nicht. Die Dunkelheit, an die sie sich gewöhnt hatte, hatte jeden Schrecken für sie verloren. Sie war ganz sicher, daß, wer immer da auch eindrang, sich nur einen Spaß machen wollte.
»Hallo«, sagte Cindy mit einem kleinen Lächeln, »ich bin noch wach.«