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Studienarbeit aus dem Jahr 2014 im Fachbereich Anglistik - Literatur, Note: 1,3, Universität Augsburg, Sprache: Deutsch, Abstract: Die Epoche der Romantik ist geprägt durch politischen und literarischen Individualismus. Die Dichter der Romantik suchen „im eigenen Selbst, seiner Imagination und seinem Gefühl, die Quelle von Ordnung und Glück“. Dabei ist die poetische Individualität für diese bedeutend und diese hat ihren Ursprung in einer individuellen menschlichen Seele: „Der Sinn der natürlichen Existenz ist es deshalb, der eigenen Individualität, der eigenen Seele zu folgen.“ Verwirklicht wird sie in einem „meditativen, harmonischen, nicht von den Zwängen der Handlungswelt und ihren Rationalitätserwartungen geprägten Verhältnis zur Natur in einer Situation der Einsamkeit.“ Hierbei rückt der Dichter selbst in den Mittelpunkt seiner Lyrik und wird zur „Quelle der Wahrheit“. Alle Erkenntnisse, die der Poet über seine eigene Person oder andere bezieht kommen nicht auf dem Weg der Vernunft, sondern auf dem Weg des Gefühls, der Herzens zu Stande. Ein bedeutender Vertreter der englischen Romantik ist William Wordsworth. Während seine frühen Werke eher im Zeichen der topographischen Dichtung des 18. Jahrhunderts stehen, wendet er sich erst später der Dichtung über den einfachen Mann zu. Er passt sowohl die Sprache als auch die Thematik seiner Werke den einfachen Menschen an. In den Jahren 1797 und 1807 entstehen seine bedeutendsten poetischen Werke, zu denen auch die Lyrical Ballads zählen, welche er gemeinsam mit seinem Freund Samuel Coleridge veröffentlicht. Diese Art der Dichtung handelt von der Natur, sowohl im Sinne von Landschaft als auch der Natur der Menschen, die eine Prägung durch eine natürliche Umgebung erfahren haben. Als Grundlage seines Schaffens setzt er „den lebendigen Bezug des Dichters zu seiner Vergangenheit voraus. Die Trennung von der Lebensquelle der Kindheit und Jugend bedeutet die Erstarrung des inneren Lebens des Dichters, den Tod im Leben.“
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Inhaltsverzeichnis
Die englische Romantik
Das Phänomen des Kindes in der englischen Romantik
Analyse des Gedichts „Lucy Gray or Solitude“
Fazit
Literaturverzeichnis
Die Epoche der Romantik ist geprägt durch politischen und literarischen Individualismus. Die Dichter der Romantik suchen „im eigenen Selbst, seiner Imagination und seinem Gefühl, die Quelle von Ordnung und Glück“[1]. Dabei ist die poetische Individualität für diese bedeutend und diese hat ihren Ursprung in einer individuellen menschlichen Seele: „Der Sinn der natürlichen Existenz ist es deshalb, der eigenen Individualität, der eigenen Seele zu folgen.“[2] Verwirklicht wird sie in einem „meditativen, harmonischen, nicht von den Zwängen der Handlungswelt und ihren Rationalitätserwartungen geprägten Verhältnis zur Natur in einer Situation der Einsamkeit.“[3] Hierbei rückt der Dichter selbst in den Mittelpunkt seiner Lyrik und wird zur „Quelle der Wahrheit“[4]. Alle Erkenntnisse, die der Poet über seine eigene Person oder andere bezieht kommen nicht auf dem Weg der Vernunft, sondern auf dem Weg des Gefühls, der Herzens zu Stande.[5] Ein bedeutender Vertreter der englischen Romantik ist William Wordsworth. Während seine frühen Werke eher im Zeichen der topographischen Dichtung des 18. Jahrhunderts stehen, wendet er sich erst später der Dichtung über den einfachen Mann zu. Er passt sowohl die Sprache als auch die Thematik seiner Werke den einfachen Menschen an.[6] In den Jahren 1797 und 1807 entstehen seine bedeutendsten poetischen Werke, zu denen auch die Lyrical Ballads zählen, welche er gemeinsam mit seinem Freund Samuel Coleridge veröffentlicht. Diese Art der Dichtung handelt von der Natur, sowohl im Sinne von Landschaft als auch der Natur der Menschen, die eine Prägung durch eine natürliche Umgebung erfahren haben.[7] Als Grundlage seines Schaffens setzt er „den lebendigen Bezug des Dichters zu seiner Vergangenheit voraus. Die Trennung von der Lebensquelle der Kindheit und Jugend bedeutet die Erstarrung des inneren Lebens des Dichters, den Tod im Leben.“[8] Da für Wordsworth die Zeit der Kindheit elementar war, soll nachfolgend das Gedicht Lucy Gray or Solitude aus den Lyrical Ballads analysiert werden. Dazu wird zunächst der Begriff der Kindheit beziehungsweise die Bedeutung des Kindes in der Romantik allgemein und bei Wordsworth im Speziellen dargestellt. Anschließend folgt eine Analyse des Gedichts. In einem abschließenden Fazit werden die Ergebnisse rekapituliert und zusammengefasst.
For scholar interested in the cultural and literary history of the Romantic period, the figure of the “Romantic Child” has often been seen as central to the delineation of what has been called the “Romantic self,” that private, interior and natural version of subjectivity, identity and individual growth considered the ideological invention of the major Romantic writers.[9]
Das Kind als Objekt erlebt im Zeitalter der Romantik ein großes Maß an Interesse. Grund der Beschäftigung mit diesem Thema, war die Frage, was es eigentlich bedeutet, ein Kind zu sein.[10] Als literarisches Symbol wird die Bedeutung des Kindes als die eines „naturhaften und unverbildeten Elementarzustandes des menschlichen Geschlechts, [...] Symbol der Unschuld [...]. “[11]beschrieben. Damit bietet es die ideale Projektionsfläche für „eine Ambivalenz gegenüber der sich strukturierenden bürgerlichen Gesellschaft.“[12] Vor dieser intensiven Beschäftigung wurden Kinder eher als Miniaturausgaben von Erwachsenen betrachtet, die keine großen Unterschiede erkennen lassen.[13] Aber plötzlich wurde das Kind zum Gegenstand vielfacher Untersuchung und:
The new continent of childhood – as a domestic colony, a remembered internal real, an accessible otherness – opens up creative space for a number of writers, notably Romantic conservatives like Wordsworth, De Quincey, and Lamb.[14]
Die Andersartigkeit von Kindern bewog manche gar Schriftsteller gar dazu, sie als eigene Spezies anzusehen.[15] Die Kindheit wurde in dieser Zeit als eine eigene Welt „or at least a treasure island apart“[16] angesehen:
Childhood, in fact, operates both as an adult imaginary kingdom and as an adult research institute. As imaginary kingdom, it is almost always figured as a lost garden paradise presided over by a child-redeemer or child-idol.[17]
Die Schriftsteller waren in der Lage, eine Diskussion aus verschiedensten Teilen über die Kindheit zusammenzustellen, in deren Verlauf „The Child“ als „normative human being and also the fetishized ‘sublime object’ that deploys multiple cultural fantasies” dargestellt wurde.[18] Der romantische Diskurs hat das Kind als ein zeitloses Wesen der essentiellen Kindheit inszeniert.[19]
This essential timeless figure is principally produced by two initiatives: the identification of childhood with Nature – both as Law and as the green world – and the attribution to children of an autonomous, unitary consciousness.[20]
Bei der Identifikation mit der Natur verkörpert das Kind „the evolutionary being of our species“ und in einem Zeitalter, das von lebendigen, biologischen Ideen dominiert wird, werden Kinder häufig als „the indigenes of nature“ bezeichnet.[21] Sie sind die ursprüngliche Modelle der idealen Natur, eine unbefangene und unabhängige Abbildungen der natürlichen Schönheit und unbezähmbaren „engines of vital power“.[22] Ebenso wichtig ist der mentale Aspekt der Kindheit. Nach Schopenhauer ist jedes Kind zu einem bestimmten Grad ein Genie und jedes Genie zu einem bestimmten Grad ein Kind. [23] Auch Kant war dieser Ansicht: „Every child can be seen in important ways already as a creative genius, a solitary idealist fashioning a visionary world of its own.“[24]
Mit dieser Beschreibung gehört das Kind eher in den Bereich der Natur und wird erst mit seiner Entwicklung Teil der Gesellschaft:
The equation of childhood with the ancient and abiding realm of nature universalizes and essentializes the child as a figure of nature rather than culture who is therefore the guardian of human nature.[25]
Die Romantik sieht das Kind als ein Wesen das dem tiefsten natürlichem Gesetz gehorcht und dem eine unbegrenzte mentale Kapazität zur Verfügung steht. Es versöhnt den Erwachsenen mit der Natur, bildet ein Bindeglied, das es dem Menschen ermöglicht, durch die Liebe zur Natur die Liebe zum Menschen zu finden. Aus diesem Grund vermittelt die Romantik den Ansatz „to submit to the childhood’s law rather than to break the child’s will.“[26]
Als einer der wichtigsten Figuren im Zusammenhang mit dem Phänomen des „Romantic Child“ gilt William Wordsworth: „This is simply to make the obvious point that Wordsworth remains the touchstone and origin figure in discussion of Romantic Childhood.“[27] Es war Wordsworth, der sagte: „The Child is father of the man“ und darauf verwies, dass alles, was im reifsten Erwachsenen gesehen wird und im Erwachsenenalter Früchte trägt, seinen Ursprung im frühsten Kindesalter hat, und dass der Keim für alles, was der Mensch später vollbringt, in der Kindheit liegt.[28] Wordsworths große Liebe zur Natur entwickelte sich in seiner eigenen Kindheit, als er in den „lake districts“ zu Hause war. Laut Wordsworth befindet sich der Mensch in seiner Kindheit in einer Zeit der Freiheit, sowohl der körperlichen als auch der geistigen. Aber diese Freiheit wird bedroht durch den Druck der normalen Entwicklung zum Erwachsenen und der Reife, die man aus Erfahrungen erlangt.[29] Die Natur fungiert als „tabula rasa“ im jungen Verstand und arbeitet über die Sinne des Kindes und seinen unbeschränkten Geist.[30] Für das Interagieren mit der Natur herrschet bei Wordsworth die Notwendigkeit der Einsamkeit vor: „As in so many of Wordsworth’s „nature“ poems, solitude is an essential element in communion with the spirit of nature.”[31] Diese ist wichtig, um überhaupt mit der Natur in Kontakt zu treten.
Aber selbst Wordsworth war sich nicht sicher, wie genau dies vonstatten geht: „The exact process of interaction remains a mysterious, evasive one even for Wordsworth himself, but he is firmly convinced of its results, which are both moral and creative.“[32] Somit ist die Kindheit die entscheidende Phase im Leben jedes Menschen weisungsgebend und in allen Belangen beeinflusst von der Natur:
We have seen that for Wordsworth childhood is a virally important period in life because the child’s mind is particularly sensitive tot he highly formative influences of nature or, as the critic Nicola Trott has described it, „an immaculate openness to natural influence”.[33]
Das Kind nach Wordsworth ist sowohl schön als auch nützlich, „an agent of adult pedagogy and self-improvement“[34]. Aber da die Kindheit durch den Lauf der Zeit unweigerlich endet, führt diese zeitliche Begrenzung auch zum Dilemma Wordsworths:
[...] childhood is literally a beautiful period of innocence and intimacy with the spirit of nature, ist significance for adults is, resignedly, only a metaphorical one. In other words, we discover too late the great power and moral joy of childhood, and it exists as a constant reminder of our unwelcome fall from thos condition.[35]
Dieser Zustand bewog ihn dazu, viele Werke über die Kindheit im Zusammenspiel mit der Natur, Kultur und dem Erwachsenwerden zu schreiben. Eines dieser Gedichte ist Lucy Gray or Solitude, mit dem sich diese Arbeit befasst. In der nachfolgenden Analyse soll das Verhältnis des Mädchens Lucy zur Natur, zum Älterwerden und der Gesellschaft als Vertretung ihrer Eltern dargestellt werden.
Das Gedicht Lucy Gray or Solitude wurde 1799 verfasst und in dem Gedichtband Lyrical Ballads von William Wordsworth und Samuel Taylor Coleridge 1800 veröffentlicht. Bestehend aus 16 Strophen mit je vier Versen ist das Gedicht in Balladenform verfasst und lässt sich in drei Abschnitte aufteilen. Im ersten Abschnitt erzählt das lyrische Ich im Präsens von dem Mädchen Lucy einem „solitary child“ (LG V.4)[36], das niemals mehr gesehen wird. In den Versen vier bis 14 erhält Lucy einen Auftrag von ihrem Vater: Sie soll ihrer Mutter mit einer Lampe entgegengehen, um sie sicher durch einen aufziehenden Schneesturm zu geleiten. Im weiteren Verlauf wird Lucys erfolglose Suche nach ihrer Mutter und ihr spurloses Verschwinden thematisiert. Dieser Teil des Gedichts ist in der Vergangenheitsform verfasst. Im letzten Abschnitt, den Strophen 15 und 16, erfolgt ein erneuter Wechsel der Zeitform zurück in die Gegenwart. In diesem letzten Teil werden Vermutungen über ihr Schicksal angestellt, aber eine endgültige Auflösung des Rätsels erfolgt nicht. In der nachfolgenden Analyse soll dargestellt werden, wie das Element der „Childhood“ in Lucy Gray dargestellt wird.
In den ersten vier Strophen wird das Mädchen Lucy zunächst als „solitary Child“ (V.4) beschrieben, das ohne Freunde „No mate, no comrade Lucy knew:“ (LG V.5) in der Natur zu Hause war: „She dwelt on a wide Moor,“ (LG V.6). In Vers sieben wird ihre Unschuld zum ersten Mal angeführt, als sie als „The sweetest Thing that ever grew“ bezeichnet wird. Hier wird ihre Zugehörigkeit zu ihrer Familie als auch zur Natur verdeutlicht.
[...] ‚Beside a human door’ implies a strange metamorphism, not quite human but indigenous and somewhere on the mysterious threshold between the human and the natural. So while Lucy is intrinsic to the family she also belongs inherently tot he natural scene outside the house.[37]
In der nächsten Strophe wird Lucys kommendes Schicksal angedeutet: „But the sweet face of Lucy Gray / Will never more be seen.“ (LG V.10-11). Die Wiederholung des Wortes „sweet“ betont ihr freundliches Wesen. „As well as her endearing cuteness, these references also endorse the feeling of vulnerability she exudes.“[38] Das Mädchen wird uns als verletzlich, unschuldig und freundlich präsentiert. Die Erwähnung der Tiere in Vers neun und 10, die an Lucys statt die Landschaft bevölkern und dort spielen stützt die Verbundenheit Lucys mit der Natur. Sie wird somit nicht nur als lebendes Mädchen sondern auch als Teil der Natur wahrgenommen.[39] Nun erfolgt der erste Wechsel in der zeitlichen Darstellung. Das Gespräch zwischen Lucy und ihrem Vater in den Strophen vier und fünf wird in der Gegenwart wiedergegeben. Die Figur des Vaters wendet sich in den Versen 13 bis 16 in wörtlicher Rede direkt an die Figur des Mädchens und lässt das Geschehene unmittelbar wirken. Er verweist auf das baldige Aufkommen eines Sturms und fordert das Mädchen auf, ihre Mutter mit einer Laterne sicher aus der Stadt nach Hause zu geleiten. Das Verhalten des Vaters wirkt hier etwas befremdlich, da er sich des aufkommendes Sturms und der damit verbundenen Gefahr bewusst sein müsste. Aber anstatt diese nicht ungefährliche Aufgabe selber zu übernehmen, setzt er ein uns bereits als unschuldig und sehr naturverbunden dargestelltes Kind allein dieser Situation aus. In der folgenden Strophe wird Lucys Reaktion auf die Aufgabe geschildert, die ihr übergeben wurde. „That Father will I gladly do,“ (LG V.17). Ihre Antwort ist respektvoll und zuvorkommend, sie will die Aufgabe gern erfüllen und lässt sich auch von dem Sturm nicht abschrecken: „The imminence of the storm reveals her trusting innocence, and eagerness to please.“[40] Sie fürchtet die Natur nicht, sondern wendet sich ihr fröhlich zu. Eine Begründung dafür könnte die Nennung des Mondes in Vers 20 liefern: „And yonder is the Moon.“ Der Mond kann in diesem Zusammenhang als „Symbol stiller Freundlichkeit“[41] und als „Freund der Einsamen“[42] gedeutet werden und die Furchtlosigkeit des Mädchens gegenüber der Natur erklären. Die Reaktion des Vaters auf die freudige Bestätigung des Kindes, die darauf folgt, ist kühl und lässt wenig Gefühl erahnen:
A commanding patriarchal figure, her father seems god-like and the deftness with which he raises his hook and „snapped a faggot band” (22), strengthens the impression of a brusque and forthright man.[43]
Es scheint so, als wäre all das selbstverständlich für ihn und keiner größeren Aufmerksamkeit würdig.[44] Im letzten Vers dieser Strophe nimmt Lucy also die „lantern“ und macht sich auf den Weg in Richtung Stadt. In Strophe sieben wird Lucy ein weiteres Mal mit einem Tier verglichen, um ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur zu unterstreichen: „Not blither is the mountain roe, / With many a wanton stroke, / Her feet disperse the powd’ry snow / That rises up like smoke.“ (LG V.25-28). Aber auch die Unbekümmertheit des Kindes kommt hier die zur Geltung:
[...] with that image of Lucy idly kicking up the snow, beautifully evokes the heedless complacency of childhood – while the word „wanton“ points up her utter absorption in this casual fun. Gradually, and tragically, this absorption transforms into disorientation, she loses her way, and Lucy becomes enveloped in the snow and consumed into the landscape.[45]
Dem Schnee kommen hier gleich mehrere symbolische Bedeutungen zu. Er kann als Symbol der Isolation, als Symbol der Unschuld und der Reinheit, des Todes sowie als Träger einer Spur oder deren Auslöschung stehen.[46] Als Symbol der Isolation wäre die negativ geprägte Konnotation passend, da der Schnee nachfolgend ein „trennendes, nicht zu überwindendes Hindernis“[47] darstellt, das zwischen Lucy und ihrem Weg zur Mutter steht. „Die weiße Farbe des Schn[ees] bedingt auch die Symbolkonnotationen von Unschuld und Reinheit“[48]. Attribute die Lucy schon weiter oben im Gedicht zugewiesen wurden. Die erneute Erwähnung dieser Unschuld wirkt betonend und soll den kindlichen, unverdorbenen Status Lucys bekräftigen. Der Schnee als Sinnbild für den Tod dient als Hinweis auf die nachfolgenden Ereignisse und die Zukunft, der Lucy entgegengeht. Die Nachverfolgbarkeit ihrer Spuren auf dem zurückgelegten Weg wird jedoch erst im späteren Teil des Gedichtes relevant und deshalb erst in diesem Zusammenhang erläutert. In der achten Strophe kommt nun der vorausgesagte Sturm auf: „The storm came on before its time,“ (LG V.29) und überrascht Lucy auf freiem Felde. Sie verliert die Orientierung und „wander’d up and down“ (LG V.30), ohne ihr Ziel jemals zu erreichen. Damit wird der vorweggenommenen Aussage der dritten Strophe „[...] Lucy Gray / Will never more be seen.“ (LG V.12) eine Erklärung zuteil. Nun ist zu klären, wie der Sturm, der Lucys Schicksal besiegelt, zu deuten ist. Der Sturm ist unter anderem ein Symbol des (blinden) Schicksals, des Krieges und der Bedrohung.[49] „Seine Unvorhersehbarkeit und sein unbeeinflussbares Hereinbrechen machen den Sturm [...] zum Sinnbild für schicksalhafte Fügungen.“[50] Ebenso werden „Sturm- und Unwettermetaphern [...] auch genutzt, um Beängstigendes auszudrücken.“[51] Wenn man sich die vorangegangenen Beschreibungen der Natur und Lucys Interagieren mit eben dieser vor Augen führt, fällt es schwer den Sturm als Element der Natur zu sehen, die stets ein Gefühl von Wärme und Sicherheit für Lucy vermittelt hat. Demgegenüber steht das Interagieren mit ihrem Vater, das Wärme und Zuneigung vermissen lässt. Es ist deshalb davon auszugehen, dass das Geschehen im Gedicht den sogenannten „storm of adolescence“[52] symbolisieren soll, also den Sturm des Erwachsenwerdens: „The death of Lucy is the loss of childhood in the storm of approaching life.“[53] Teil dieser Entwicklung sind sowohl die körperlichen als auch die mentalen Veränderungen, bedingt durch den Einfluss des Umfelds und der Gesellschaft. Diese Einflüsse lassen den Menschen Erfahrungen sammeln und somit reifen, seine frühere Unschuld und die damit verbundene Kindheit verblassen mehr und mehr. Der Mensch wird an die Rationalität gebunden und von seinem Verstand „gefesselt“. Anders als dem kindlichen Geist sind dem Geist des Erwachsenen Grenzen gesetzt.[54] In Strophe neun wurde Lucys Verschwinden von den „wretched parents“ (LG V.33) bemerkt und sie beginnen das Mädchen zu suchen. Durch diese Beschreibung wird klar, dass sie von Schuldgefühlen geplagt werden und sich zu diesem Zeitpunkt schon bewusst sind, was sie verloren haben.[55] Sie suchen verzweifelt nach einem Zeichen, das sie führen soll, finden jedoch nichts. Sie überschauen zuerst das Moor, die umliegende Natur, bevor sie eine Brücke erblicken. Deren Bedeutung wird in den nachfolgenden Strophen deutlich.
Im nächsten Abschnitt des Gedichts ist die Vorahnung der Eltern über Lucys Verbleib bestätigt. Sie sind sich sicher, ihre Tochter sei umgekommen: „In Heaven we all shall meet!“ (LG V.42) und machen sich trauernd auf den Heimweg. Auf dem Rückweg wird die Mutter auf Spuren im Schnee aufmerksam „the print of Lucy’s feet.“ (LG V.44). In den folgenden zwei Strophen folgen sie den Fußspuren durch die Landschaft: „Then downward from the steep hill’s edge / They track’d the footprints small; / And through the broken hawthorn-hedge, / And by the long stone-wall;“ (LG V.45-48). Dadurch, dass die Erwachsenen nach den Spuren des Kindes suchen, befinden sie sich im übertragenen Sinne auf der Suche „of a lost or evasive Childhood“[56]. „[...] childhood becomes the moral guide to adulthood and ironically Lucy takes over the educational role“[57]. Dies wird sowohl durch Lucys „telling name“ bestätigt, der aus dem Lateinischen für lux abgeleitet ist und Licht bedeutet, als auch die Laterne, mit der sie ihrer Mutter den Weg leuchten sollte.[58]„She is the light and this, together with her blithe uncomplicated innocence, discloses her role as a moral leader.“[59] Die Fußspuren, beziehungsweise das Fehlen derselben und die Brücke symbolisieren Lucys Wechsel von der materiellen in die immaterielle Welt. „[Fußspuren] symbolisieren die phys[ische] Präsenz eines Menschen [...].“[60] „Metaphysisch verstanden können Fußspuren zu symbol[ischen] Lebenspuren erhöht werden.“[61] Die Spuren führen bis zur Mitte der bereits erwähnten Brücke und hören dort auf. Damit wird das Ende der physischen Präsenz des Mädchens gekennzeichnet. Die Brücke dient als „Symbol der Verbindung zweier getrennter Bereiche, der Grenze und des Übergangs, der Gefahr [...], [und] des Zwischenraums [...].“[62] Bezeichnenderweise wird im Gedicht direkt auf die Mitte der Brücke verwiesen, eine doppelte Betonung auf einen Zustand zwischen zwei Bereichen. Lucy befindet sich bei ihrem Verschwinden in einem Stadium zwischen Kind und Erwachsenem: „Literally and figuratively she is moving towards the mother.“[63] Ein weiteres Indiz dafür lässt sich in ihrem Nachnamen „Gray“ finden. Die Farbe grau ist ein Zeichen für eine „existentielle Zwischensituation“ oder einen „existentiellen Zwischenraum“, dessen „Symbolik auf einen Raum zwischen Leben und Tod, Diesseits und Jenseits“[64] verweist. Durch ihr Verschwinden verweilt sie nun ewig in diesem präpubertären Zustand voller Unschuld und Reinheit. [65] Dieser kann jedoch nur durch den Tod gewährleistet werden.
In den letzten zwei Strophen wechselt der Autor zurück in die Gegenwart und bezeichnet Lucy als „living Child“ (LG V.58) und zerrüttet damit das typische Balladenende. Der Leser wird von den Gefühlen des Verlustes, der Traurigkeit und der Reue der Eltern weggelotst und Lucys Unsterblichkeit und ihr Dasein als „ever living child“[66] wird betont und wirkt so mäßigend auf jegliche Tendenzen zum Melodram. [67] „She enters the realm of the immortal, becoming at one with the ghost-like spirit of nature, an elemental being.“ Somit verschmelzen Mädchen und Natur zu einem und sind untrennbar verbunden. In Vers 62 wird mit „And she never looks behind;“ die Zufriedenheit des Mädchens damit angedeutet.
Das Mädchen Lucy wird als unschuldiges, noch unverdorbenes Kind präsentiert, das an der Schwelle zum Erwachsenwerden steht. Sie lebt in einer recht einsamen Welt, die ihr aber scheinbar völlig zusagt und nichts vermissen lässt. Ihr reicht die Interaktion mit der Natur und ihren Bewohnern. Die Beziehung zur Natur ist von großer Intimität und Vertrauen geprägt. Wordsworth zeigt hier den „special character of childhood, its mysteriously transcendent quality and special relationship with nature“.[68] Die Beziehung zu ihren Eltern wird erst nach ihrem Verschwinden auf einer gefühlsmäßigen Eben dargestellt. Ab diesem Zeitpunkt wird klar, dass das Mädchen als Sinnbild für die eigene Kindheit der Eltern steht, die im Laufe der Entwicklung zum Erwachsenen verloren geht. Die Suche hat deshalb auch den Zweck, die eigene Unschuld, Offenheit und tiefe Verbundenheit mit der Natur, welche mit der Kindheit einhergeht, wiederzufinden. Die Abkehr von einem melodramatischen Ende in Lucy Gray bekräftigt die Stellung der Natur als gute Kraft. Lucy könnte nichts Besseres passieren, als Teil dieser ursprünglichen Kraft zu werden und die Trennung von Mensch und Natur nicht erleben zu müssen. Schon im ersten Vers des Gedichts wird Wordsworths Sehnen nach der eigenen Kindheit deutlich, als er bei seinen einsamen Wanderungen nach Lucy und somit auch nach den Eigenschaften, die sie verkörpert, Ausschau hält. Lucy Gray ist ein Gedicht über den Wunsch, in dem elementaren Zustand der Kindheit verhaftet zu bleiben, um die einzigartige Verbindung zur Natur und die Erlebnisse, die damit einhergehen, nicht aufgeben zu müssen. Möglich wird dies hier nur durch den Tod des Kindes, durch den der Prozess des Lebens zum Stillstand kommt.
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Butzer, Günter und Jacob,Joachim: Metzler Lexikon literarischer Symbole, 2., aktualisierte Auflage, Stuttgart/Weimar: J.B.Metzler,2012, Druck.
Metz, Stephanie. Romanticism and the Child: Inventing Innocence“, Web.
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Plotz, Judith A. Romanticism and the Vocation of Childhood, New York: Palgrave,
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Schmaus, Marion. “Meike Sophia Bader: Die romantische Idee des Kindes und der
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marion 259/PDF/schmaus.pdf>.