Kindliche Mehrsprachigkeit - Solveig Chilla - E-Book

Kindliche Mehrsprachigkeit E-Book

Solveig Chilla

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Beschreibung

Immer mehr Kinder wachsen "lebensweltlich zweisprachig" auf. Dieses Buch bietet eine Einführung in die kindliche Mehrsprachigkeit. Ein Schwerpunkt liegt auf der Symptomatik und Diagnose von Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern. Beispiele, Exkurse zu speziellen Fragen und Übungen vertiefen die Ausführungen. Neu in der 3. Auflage: Diagnostik von Developmental Language Disorders im Deutschen als Zweitsprache sowie eine Erweiterung der Modelle lebensweltlicher Zweisprachigkeit um die Bedeutung von Erbsprachen, wobei auch der Deutscherwerb geflüchteter Kinder illustriert wird. Zudem wurde der Fahrplan zur sprachpädagogischen Diagnostik aktualisiert.

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Seitenzahl: 230

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Solveig Chilla

unter Mitarbeit von Monika Rothweiler und Ezel Babur

Kindliche Mehrsprachigkeit

Grundlagen – Störungen – Diagnostik

3., vollständig überarbeitete Auflage

Mit 4 Abbildungen und 4 Tabellen

Ernst Reinhardt Verlag München

Prof. Dr. Solveig Chilla ist Professorin für Pädagogik bei Beeinträchtigung von Sprache und Kommunikation an der Europa-Universität Flensburg mit den Arbeitsschwerpunkten sprachliche Heterogenität und Inklusion.

Prof. Dr. Monika Rothweiler, germanistische Linguistin und Sprachbehindertenpädagogin, war Professorin für den Förderschwerpunkt Sprache/Sprachbehindertenpädagogik im Lehrgebiet Inklusive Pädagogik an der Universität Bremen.

Ezel Babur ist Oberstudienrätin an einem Hamburger Gymnasium, Fachseminarleiterin für das Fach Türkisch im Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung und Lehrbeauftragte an der Europa-Universität Flensburg. Sie ist in der Türkei geboren und 1997 nach Deutschland eingewandert.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03124-5 (Print)

ISBN 978-3-497-61586-5 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61587-2 (EPUB)

3., vollständig überarbeitete Auflage

 

© 2022 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Der Verlag Ernst Reinhardt GmbH & Co KG behält sich eine Nutzung seiner Inhalte für Text- und Data-Mining i.S.v. § 44b UrhG ausdrücklich vor.

Printed in EU

Covermotiv: © p(AS)ob – fotolia.com

Satz: JÖRG KALIES – Satz, Layout, Grafik & Druck, Unterumbach

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: [email protected]

Inhalt

Vorwort zur Neuauflage

1 Der Erwerb mehrerer Sprachen

1.1 Die Erwerbsaufgabe

Monika Rothweiler

1.2 Erstspracherwerb: Ein Überblick

1.3 Mehrsprachigkeit ist nicht gleich Mehrsprachigkeit

1.4 Der simultane Erwerb zweier Sprachen

1.5 Heritage-Language-Erwerb und die Bedeutung der Lernumgebung

1.6 Kindlicher Zweitspracherwerb

2 Charakteristika des Sprachgebrauchs mehrsprachiger Kinder

2.2 Sprachmischungen – vermischte Sprachen?

2.3 Sprachverlust bei Mehrsprachigkeit

3 Sprachstörungen bei mehrsprachigen Kindern

3.1 Zum Problem einer Definition von Sprachstörung im Kontext von Mehrsprachigkeit

3.2 Türkisch als Heritage Language in Deutschland

Solveig Chilla, Ezel Babur

3.3 Auffälliger Spracherwerb?

3.4 Auffälligkeiten in der Zweitsprache als Charakteristika oder als Störungen der Sprachentwicklung?

3.5 Spezifische Sprachentwicklungsstörung bei mehrsprachigen Kindern

4 Diagnostik im Kontext von Mehrsprachigkeit

4.1 Sprachstandserhebungen und Sprachscreenings

4.2 Sprachpädagogische Diagnostik im Kontext von Mehrsprachigkeit

4.3 Sprachpädagogische Diagnostik bei Verdacht auf Sprachentwicklungsstörungen bei mehrsprachigen Kindern

5 Unterstützung von mehrsprachiger Entwicklung

6 Lösungshilfen

Literatur

Sachregister

Vorwort zur Neuauflage

In den letzten Jahren hat sich die Erkenntnis durchgesetzt: Mehrsprachigkeit ist eine Bildungsressource. Viele Kinder im Vorschulalter lernen neben Deutsch noch mindestens eine weitere Sprache. Vielen Eltern ist es ein Anliegen, ihre Kinder möglichst früh auf die globalisierte Gesellschaft vorzubereiten, lassen ihre Kinder Kurse zum frühen Fremdspracherwerb besuchen oder wählen gezielt eine bilinguale Englisch-Deutsche Kindertagesstätte. Die überwiegende Zahl mehrsprachig in Deutschland aufwachsender Kinder sind aber lebensweltlich zwei- oder mehrsprachig – sie nutzen neben Deutsch noch weitere Sprachen, wie Amhari, Farsî, Kurdisch, Polnisch, Russisch, Türkisch, eine arabische Varietät oder Somali. Unter ihnen sind viele Kinder mit Migrationshintergrund. So zeigen Forschungen, dass in Hamburger Vorschulen und Stadtteilschulen ca. 60 Prozent aller Kinder einen Migrationshintergrund haben (Behörde für Schule und Berufsbildung 2020), und ca. ein Drittel aller Kita-Kinder unter sechs Jahren in Berlin spricht in der Familie eine andere Sprache als Deutsch (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2020).

Zehn Jahre nach der ersten Auflage dieses Buches (Chilla / Rothweiler / Babur 2010) erstaunt es uns immer noch, dass sich die Bildungschancen für mehrsprachige Kinder mit „Migrationshintergrund“ kaum verbessert haben. Mehrsprachige SchülerInnen mit Migrationshintergrund werden durch das Schulsystem immer noch systematisch benachteiligt und zwar besonders dann, wenn Migrationserfahrung und niedriger sozio-ökonomischer Status zusammenfallen. Armut und Migrationshintergrund stellen weiterhin die größte Bedrohung für den Bildungserfolg dar. Ausschlaggebend für eine erfolgreiche Schulkarriere, die sich auch über Schulleistungen in Mathematik und Deutsch misst, ist immer noch vor allem der Zugang zu und die Beherrschung der Bildungssprache Deutsch (u. a. Montanari et al. 2019; Chilla 2019). Eine Vielzahl von Forschungsbemühungen und Praxisprojekten stellt sich der Herausforderung, die sprachlichen Bildungschancen durch gezielte Förderung des Deutschen bei mehrsprachigen Kindern zu verbesssern – „Sprachbildung“ ist Gegenstand aller bundesweiten Bildungspläne. Pädagogische Fachkräfte, Lehrkräfte, LogopädInnen und SprachtherapeutInnen nehmen dabei eine Schlüsselrolle ein. Sie sollen mittels selbst ausgewählter oder institutionell vorgegebener Verfahren Sprachstandsmessungen bei mehrsprachig aufwachsenden Kindern durchführen und interpretieren, um so den Deutscherwerb der Kinder zu beurteilen und kompetent ein möglichst individuell passendes und effektives Sprachförderkonzept auszuwählen und umzusetzen oder Sprachtherapie zu konzipieren, zu verwirklichen und zu reflektieren.

Wenn Sie dieses Buch in der Hand halten, wissen Sie um die mehrsprachige Realität, erkennen die mehrsprachige Lebenswirklichkeit und möchten Ihren Teil dazu beitragen, dass jedes Kind seine mehrsprachige Identität entwickeln kann. Als PraktikerIn oder Studierende der Pädagogik und Linguistik fragen Sie sich: Was bedeutet es, in Deutschland mehrsprachig aufzuwachsen? Auf welcher Basis kann ich den Sprachstand eines mehrsprachig aufwachsenden Kindes bewerten? Wie stelle ich fest, ob das Kind zusätzliche Förderung benötigt? Welche Äußerungen und Strukturen können als typisch für den mehrsprachigen Erwerb angesehen werden? Wann muss ich aufmerksam werden und welche Faktoren können den Spracherwerb (einer oder mehrerer Sprachen) gefährden? Und wann sind Störungen des Spracherwerbs festzustellen, die einer Therapie bedürfen?

In dieser dritten Auflage werden wir Sie als AutorInnen in das komplexe Themenfeld „Kindliche Mehrsprachigkeit“ begleiten. Wir werden die in den letzten zehn Jahren neu gewonnenen Studienergebnisse aus internationalen Projekten zum mehrsprachigen Erwerb und zu Spacherwerbsstörungen (developmental language disorders, DLD) bei mehrsprachigen Kindern mit verschiedenen Sprachen verständlich aufbereiten.

In Kapitel 1 werden wir uns zunächst mit dem Sprach(en)erwerb befassen. Anhand des monolingualen Erwerbs des Deutschen erläutert Monika Rothweiler typische Erwerbsschritte und linguistische Modelle, bevor wir uns den verschiedenen Formen des Zweitspracherwerbs bei Kindern und Erwachsenen zuwenden. In diesem Buch steht der ungesteuerte Erwerb von zwei- und mehrsprachig in der Migration aufwachsenden Kindern, d. h. der Spracherwerb ohne expliziten Sprachunterricht, im Mittelpunkt. Der (schulische) Fremdspracherwerb, also der gesteuerte Erwerb einer zweiten Sprache in einer Institution eines Landes, in der diese Sprache nicht Verkehrssprache ist (z. B. Französischunterricht am Gymnasium), wird nicht betrachtet.

Wir stellen aktuelle Erkenntnisse zum kindlichen Zweitspracherwerb vor, wobei wir dem mehrsprachigen Erwerb von Kindern, die mit einer Heritage Language (Erbsprache) aufwachsen, besondere Aufmerksamkeit widmen. Im zweiten Kapitel geht es um typische Charakteristika des mehrsprachigen Erwerbs, die Ezel Babur anhand von Beispielen aus dem Erwerb türkisch-deutscher Kinder erläutert. Die Fähigkeiten und die Fertigkeiten des mehrsprachigen Individuums stehen dabei im Vordergrund, wobei wir besonders auf das Sprachmischungsverhalten sowie auf den Sprachverlust im mehrsprachigen Erwerb eingehen.

Das dritte und das vierte Kapitel sind den Kernfragen des Spracherwerbs in der Migration gewidmet. Wir stellen dar, welche Formen von (Sprach-)Diagnostik im mehrsprachigen Kontext gewählt werden und worin Grenzen und Möglichkeiten von Sprachscreenings, Sprachstandserhebungen, sprachpädagogischer Diagnostik und Diagnostik bei Störungen des mehrsprachigen Erwerbs bestehen. Wir werden zunächst darlegen, welche Faktoren für den Erwerb mehrerer Sprachen in Deutschland bedeutsam sind und wie diese auf die Bewertung „auffälliger“ oder „abweichender“ Sprachentwicklung einwirken. In Rückgriff auf unsere Forschungsergebnisse aus verschiedenen Projekten werden von Ezel Babur wertvolle Hinweise für die Diagnostik von Spracherwerbsstörungen im Türkischen als Erstsprache gegeben. Die daran anschließenden Erkenntnisse zur Diagnostik von Spracherwerbsstörungen im Deutschen als Zweitsprache stellen in komprimierter und leicht zugänglicher Weise vielversprechende Testverfahren vor, die im internationalen Kontext entwickelt wurden. Vor diesem Hintergrund aktualisieren wir die Handreichungen für sprachpädagogische Diagnostik.

Mit einem kurzen Kapitel, das Anregungen zur Unterstützung des mehrsprachigen Erwerbs gibt, endet dieses Buch.

Sie werden während des Lesens immer wieder Anregungen zur Vertiefung und Übung finden, mit deren Hilfe Sie das Gelesene reflektieren und die gewonnenen Kenntnisse anwenden können. Am Ende des Buches erhalten Sie zu jeder Übung Lösungshinweise.

Wir wünschen uns, dass Sie dieses Buch in Ihrer alltäglichen Praxis nutzen werden, und hoffen, dass wir so gemeinsam unseren Beitrag dazu leisten können, dass jedes Kind seine Mehrsprachigkeit entwickeln kann.

März 2022

Solveig Chilla, Monika Rothweiler und Ezel Babur

1 Der Erwerb mehrerer Sprachen

1.1 Die Erwerbsaufgabe

Monika Rothweiler

Der Erwerb einer Sprache bedeutet mehr als Wörter zu lernen oder Sprache als System sozial-kommunikativer Verhaltensweisen zu erfassen. Sprache erwerben heißt ganz zentral, das strukturelle Regelsystem dieser Sprache zu erschließen. Sprache lässt sich anhand verschiedener Ebenen betrachten: das Lautsystem (Phonetik / Phonologie), die Regeln zur Wortbildung (Morphologie), die Regeln zur Bildung von Äußerungen, Sätzen oder auch von Texten (Syntax), die Bedeutungsebene (Semantik) und die Ebene der sprachlichen Handlungen (Pragmatik). Die Komponente der Semantik beschäftigt sich nicht nur mit der Bedeutung von Wörtern, sondern auch von Sätzen und Texten und ist eng mit dem kognitiven System verbunden. Wie wir Sprache verwenden und sprachlich handeln (Pragmatik), hängt eng mit der sozialen und kommunikativen Kompetenz zusammen. Alle sprachlichen Ebenen sind regelgeleitet und diese Regeln müssen im Spracherwerbsprozess erworben werden.

Eine für den Spracherwerb wichtige Komponente ist das mentale Lexikon. Jeder Eintrag im mentalen Lexikon (das können Wörter, Flexive oder Morpheme sein) enthält Informationen zu jeder der oben beschriebenen Sprachebenen. Diese Vernetzungen, also der Aufbau des mentalen Lexikons für die jeweilige Sprache, ist die Kernaufgabe des Spracherwerbs. Diese Vernetzungen betreffen die lautliche Form des Wortes (Phonologie), seine Bedeutung (Semantik), grammatische Eigenschaften des Wortes wie z. B. die Wortart, irreguläre Flexionseinträge oder die Argumentstruktur bei Verben. Auch pragmatische Informationen über die Verwendung eines Wortes gehören dazu. Das Wort „Schwein“ kann z. B. als Schimpfwort verwendet werden, das Wort „Pferd“ hingegen eher nicht.

Das Lexikon und die dort gespeicherten Informationen interagieren mit den anderen Komponenten von Sprache. Die Syntaxkomponente beispielsweise legt fest, wie Sätze und kleinere syntaktische Einheiten (z. B. Nominalphrasen wie „der große Fisch“, s. o.) im Deutschen aussehen müssen.

Die Satzstruktur lässt sich im Modell der Topologischen Felder beschreiben (vgl. Tab. 1). Dieses Modell bildet zentrale syntaktische Eigenschaften des Deutschen ab. An dieser Stelle kann auch nur ein kleiner Ausschnitt des Modells präsentiert werden. Das Modell verdeutlicht, dass alle Sätze, auch Fragevarianten, einer gemeinsamen Grundstruktur folgen.

Das Modell erfasst und verdeutlicht noch weitere syntaktische Eigenschaften deutscher Sätze. So darf z. B. im Vorfeld nur genau ein Satzglied stehen. Welches Satzglied das ist, kann die SprecherIn frei entscheiden, und diese Entscheidung richtet sich nach pragmatischen Anforderungen. Soll also das Objekt oder ein Adverbial vorne sein, muss das Subjekt hinter dem Verb stehen, denn in der Position vor dem finiten Verb ist kein Platz mehr. Die Verbklammerpositionen sind ebenfalls definiert. So darf in der linken Verbklammer nur ein finites Verb stehen, also ein Verb, das in den grammatischen Merkmalen Person und Numerus mit dem Subjekt kongruiert, in der rechten Verbklammer hingegen finden verbale nicht-finite Elemente (und auch finite, nämlich im Nebensatz) Platz. Ist ein Satz eine Aufforderung oder eine Entscheidungsfrage, bleibt die Position vor dem finiten Verb unbesetzt.

Tab. 1: Grundstruktur eines Satzes

Vorfeld

linke Verbklammer

Mittelfeld

rechte Verbklammer

Der Lehrer

hat

das Mädchen

gelobt.

Das Mädchen

hat

der Lehrer

gelobt.

Wen

hat

der Lehrer

gelobt?

Hat

der Lehrer das Mädchen

gelobt?

Ein konkreter Satz oder Teilsatz entsteht, wenn das lexikalische Element in die syntaktische Struktur des Deutschen gefüllt wird. Der konkrete Satzbauplan ergibt sich dann durch die Wahl des Verbs. Das gewählte Verb legt fest, wie viele Argumente im Satz realisiert sein können oder müssen (Valenz), es legt die semantischen Rollen dieser Argumente fest (Agens oder Patiens) und die Form der syntaktischen Realisierung dieser Argumente (z. B. Nominalphrase im Akkusativ). Diese Informationen gehören zum Lexikoneintrag eines Verbs, sie bilden die Argumentstruktur. Die Syntax legt demnach generelle Gesetzmäßigkeiten deutscher Sätze fest, aber erst die syntaktischen Informationen, die das Verb als Lexikoneintrag mitbringt, führen zur Umsetzung eines Satzbauplans, bis hin zur Kasusmarkierung der möglichen Objekte. An der Entstehung eines Satzes sind neben Lexikon und Syntax auch die Entscheidung darüber beteiligt, ob der Satz eine Frage oder ein Aussagesatz sein soll. Welches Satzglied zum Beispiel ins Vorfeld kommt, wird pragmatisch gesteuert.

Die Wissenschaft diskutiert seit langem und immer noch anhaltend über die Frage, wie viel und welche Anteile der Spracherwerbsfähigkeit angeboren sind. Grundsätzlich müssen Spracherwerbstheorien Erklärungen anbieten. Eine reine Beschreibung der beobachtbaren Phänomene ist wichtig, liefert aber noch keine Theorie über den Spracherwerb.

Spracherwerbstheorien müssen erklären, wieso Kinder so schnell und effizient Sprache erwerben und wieso ihnen das auf der Basis eines Sprachangebots gelingt, das alles andere als perfekt ist. Spracherwerbstheorien bieten Erläuterungen dafür an, wie Kinder Regeln erwerben, die ihnen niemand erläutert, und sie berücksichtigen, dass Kinder weitgehend unempfänglich für explizite Korrekturen sind. Sie nehmen auf, dass der Erwerb einer Sprache – trotz vieler individueller Unterschiede – überindividuellen Mustern folgt und bestimmte Erwerbsabfolgen generell beobachtbar sind. Eine weitere Herausforderung für eine Spracherwerbstheorie ist, dass sich der Erwerb von Sprache im Kindesalter vom Erlernen einer Sprache im Erwachsenenalter grundlegend unterscheidet. Weiterhin ist die Beobachtung von Bedeutung, dass der Erwerb eines sprachstrukturellen Systems weder an die Fähigkeit zu hören gebunden ist, noch in einem direkten Zusammenhang zur Intelligenz eines Menschen steht.

Die zentrale Frage der Diskussion um den Spracherwerb ist dabei, ob menschliche Sprache eine grundlegende Struktur hat, die zur genetisch determinierten Ausstattung des Menschen gehört und sich von generellen kognitiven Fähigkeiten unterscheidet.

Menschenaffen beispielsweise können in einem begrenzten Umfang sprachliche Symbole erwerben. Zu den wesentlichen Unterschieden der Sprache bei Menschenaffen und Menschen gehört, dass Affen die gelernten Symbole nur sehr selten zur spontanen Produktion nutzen und damit Kommunikation initiieren. Sie kombinieren zwar gelegentlich Symbole zu Aussagen, diese Aussagen sind aber auf der Ebene „Apfel Maria geb“ anzusiedeln. Eine Grammatik erwerben Affen nicht und – was noch viel wichtiger ist – sie erwerben sprachliche Symbole nicht spontan, man muss sie ihnen beibringen.

Das ist bei menschlichen Kindern anders: Spracherwerb vollzieht sich spontan und gelingt im Normalfall scheinbar mühelos. WissenschaftlerInnen, die sich mit der Frage nach dem Spracherwerb beschäftigen, haben für die Erklärung des Vorganges – teilweise sehr unterschiedliche – Theorien entwickelt. Noam Chomsky oder Steven Pinker vertreten den Ansatz, dass der Erwerb einer Sprache und deren Grammatik, angeborenen Prinzipien folgt. Sie nennen das eine „Language Making Capacity“. Diese Spracherwerbstheorie wird Nativismus genannt. Michael Tomasello versucht, Spracherwerb als Ergebnis der Verarbeitung von Inputinformationen mit Hilfe sozial-interaktiver Fähigkeiten und vor allem generellen kognitiv-funktionalen Verarbeitungsprozessen zu erklären. Seine Spracherwerbstheorie ist also keine nativistische, sondern eine sozial-pragmatische.

Epigenetische Ansätze versuchen, das Zusammenspiel von angeborenen und Umgebungsfaktoren stärker zu berücksichtigen. Spracherwerb wird von EpigenetikerInnen als ein komplexer Prozess verstanden, in dem sich das System immer wieder durch die Interaktion von Innen und Außen verändert. Nur in Wechselwirkung von genetischer Ausstattung des Kindes, den Reifungsprozessen im Gehirn und der äußeren Umwelt werden neue Strukturen ausgebildet (Elman et al. 1996).

Gemein ist den Ansätzen die Annahme, dass Spracherwerb humanspezifisch sei (woraus nicht zwangsläufig folgt, dass sprachspezifische Erwerbsmechanismen angenommen werden), dass im Verlauf des Spracherwerbs kognitive Reifungsprozesse eine Rolle spielen und dass Spracherwerb ohne ein sprachliches Angebot (Input) nicht möglich sei.

Die Unterschiede liegen in der Gewichtung dieser Aspekte und auch darin, für welche sprachlichen Domänen (z. B. Wortschatz oder Wortstellung) welche Annahmen gemacht werden. Die Hauptkontroverse bezieht sich vor allem auf den Erwerb des sprachstrukturellen Bereichs, auf die Grammatik; weit weniger Auseinandersetzungen gibt es über den Erwerb von Wörtern.

Der Theorienstreit in der Spracherwerbsforschung soll und kann hier nicht vertieft dargestellt werden – das Thema bleibt anderen Büchern vorbehalten. Einen guten Überblick bieten Schöler (2020) und Szagun (2019).

Im Folgenden soll zunächst in einem groben Überblick der Verlauf des Erstspracherwerbs skizziert werden.

1.2 Erstspracherwerb: Ein Überblick

Es gibt zwei Aha-Erlebnisse von Eltern, die sie bei Eintritt ihrer Kinder in die Welt der Sprache und des Sprechens haben. Das erste Erlebnis haben sie in dem Moment, in dem sie das erste Mal den Eindruck haben, ihr Kind versteht, was sie sagen. „Schau mal, da ist eine Katze!“ und das Kind wendet den Kopf, schaut in die Richtung, in die der Vater zeigt, und reagiert interessiert oder gar aufgeregt. Das zweite Erlebnis ist das erste vom Kind gesprochene Wort, vielleicht „Mama“. In beiden Fällen können die Eltern richtig liegen oder auch falsch. Im ersten Fall kann es sein, dass das Kind einfach der Aufmerksamkeit des Vaters und der Zeigegeste folgt. Man nennt das auch „Joint Attention“, also gemeinsame oder geteilte Aufmerksamkeit. Dieses Verhalten wird schon bei Kindern im Alter von sechs Monaten beobachtet und ist eine wichtige Voraussetzung für den Erwerb von Wörtern, insbesondere für Objektwörter. Ob das Kind aber tatsächlich das Wort „Katze“ verstanden hat, ist fraglich – aber vielleicht hat es einen wichtigen Schritt zum Erwerb dieses Wortes getan.

Diese Frage kann man prüfen, in dem man ein Experiment durchführt. Man setzt kleine Kinder auf den Schoß der Mutter, präsentiert ihnen rechts und links alternative Bilder und ein Wort zu diesen Bildern, und schaut, wohin sich das Kind wendet. Mit solch einer „Head Turn Preference“-Anordnung kann man z. B. testen, ob Kinder ein neues Wort tatsächlich auf ein unbekanntes Objekt beziehen. Was sie tatsächlich tun, schon vor Abschluss des zweiten Lebensjahres, aber noch nicht mit sechs Monaten. Bei sehr kleinen Kindern, Babys, kann man mit Nuckelexperimenten arbeiten. Hierzu wird ein Schnuller mit Sensoren verkabelt, welche die Nuckelfrequenz messen. Ausgehend von der Beobachtung, dass alles, was das Interesse des Kindes weckt, mit einer verstärkten Saugaktivität einhergeht, kann man so die Aufmerksamkeit von Babys an der Nuckelfrequenz messen. Dazu gibt man z. B. einen lautlichen Reiz vor, wie „babababa“ usw., bis es dem Kind langweilig wird und die Nuckelrate sinkt. Nun kann man (über digitale Modifikation) aus dem „babababa“ ganz allmählich ein „papapapa“ werden lassen und messen, bei welchen Frequenzen das Kind den Unterschied zwischen einem  / b /  und einem  / p /  hört. Sobald der Laut von dem Kind als anders, nämlich als  / p / , wahrgenommen wird, steigt die Aufmerksamkeit und damit die Nuckelfrequenz.

So kann man also schon mit Babys, die nur wenige Monate alt sind, untersuchen, ob sie verschiedene sprachliche Laute wahrnehmen können. Tatsächlich unterscheiden sie schon im Alter von einem Monat viele verschiedene Laute. Das ist deshalb von Bedeutung, weil Kinder zu Beginn der Lallphase mit etwa sechs Monaten eigentlich alle Laute, die in Sprachen vorkommen, produzieren. Bis zum Ende der Lallphase aber, also nach zehn Monaten, haben sie dieses Inventar weitgehend auf die Laute reduziert, die auch für die Sprache relevant sind, die sie erwerben. Unwichtige Lautoptionen werden nicht nur aus dem produktiven Inventar aussortiert, in dieser Phase verändert sich auch die Wahrnehmungsfähigkeit für Lautkontraste. Viele Kontraste (aber nicht alle), die in der Zielsprache nicht relevant sind, werden nach dem ersten Lebensjahr nicht mehr wahrgenommen. Dieses Aussortieren unwichtiger Lautoptionen kann nur gelingen, wenn die relevanten Unterschiede für die eigene Sprache wahrgenommen werden. Das betrifft Laute, Silbenstrukturen und Betonungsmuster.

Bezüglich des zweiten möglichen Missverständnisses: Sagt das Kind irgendwann „Mama“, dann kann es einfach eine typische Silbenfolge in der Lallphase sein, die aber von der Mutter mit Begeisterung als erstes Wort interpretiert wird. Dies wiederum kann den Erwerb des ersten Wortes vorantreiben, sodass „Mama“ vielleicht wirklich das erste gesprochene Wort wird, eine Lautkette, die sich eindeutig auf einen Referenten bezieht.

Etwa im Alter von einem Jahr produzieren Kinder ihre ersten Wörter. Mit etwa 18 Monaten hat sich der produktive Wortschatz auf etwa 50 Wörter erweitert und der rezeptive Wortschatz kann bis zu 250 Wörter umfassen. Bis zu diesem Alter sind Wörter holistische Einheiten, die Aussprache ist bei vielen Wörtern noch abweichend von der Zielsprache, viele Äußerungen beziehen sich eher auf Situationen als auf Kategorien und dienen eher als handlungsbegleitende Äußerungen und nicht als Wörter im eigentlichen Sinn. Einige Monate lang haben Eltern also die Chance, den gesamten kindlichen Wortschatzerwerb zu dokumentieren.

Wenn der Wortschatz auf etwa 50 Wörter angestiegen ist, können Kinder den nächsten Entwicklungsschritt begehen. Das Kind entdeckt das syntaktische Prinzip – Wörter können nun zu Zwei- und Dreiwortsätzen zusammengefügt werden. Zur gleichen Zeit beginnt der Wortschatzspurt und das Kind erwirbt täglich neue Wörter. Verschiedene sprachliche Entwicklungsschritte treffen hierbei aufeinander. Dazu gehört auch der Ausbau der artikulatorischen Fähigkeiten und damit verbunden Fortschritte in der phonologischen Entwicklung.

Wenige Monate später, etwa zum zweiten Geburtstag, ist der Wortschatz umfangreich genug (200–300 Wörter), um Flexive zu identifizieren und erste Funktionswörter als lexikalische Einheiten zu erkennen. Erst über die Verwendung von Wörtern im Satz können Wortarten unterschieden werden. Mit etwa zwei Jahren hat das Kind alle Voraussetzungen, um das grammatische System auszubauen und seinen Wortschatz rasch zu vergrößern.

BEISPIEL

 

Beispiel 1

Simone (S), 2;01 und Max (M, Vater) kneten eine Puppe.

M: „Solln wer mal n bisschen an der Tafel malen?“

S: „ja.“ S geht zur Tafel hin und nimmt Kreide.

S: „mein. is maxe auch.“ S gibt M die Knetfigur.

S: „puppa habe. maxe auch puppa habe.“

M: „Danke!“

S: „mone auch puppa habe. mone auch balla. puttemacht.“

(Miller 1979, MacWhinney 2000)

Der Transkriptausschnitt von Simone stammt genau aus dieser wichtigen Entwicklungsphase im Übergang vom zweiten zum dritten Lebensjahr. Tracy (1991) beschreibt Entwicklungsstadien in der grammatischen Entwicklung als Meilensteine, Clahsen (1988) als Phasen. Phase I bzw. Meilenstein 1 beschreibt den Entwicklungsabschnitt der Einwortäußerungen. Die meisten Wörter in dieser Phase sind Nomen oder Partikel wie „weg“ oder „ab“, die als Verbvorläufer gelten können, sowie sozial-pragmatische Wörter wie „ja“, „nein“ und „aua“. Verben, Adjektive und Funktionswörter fehlen zunächst weitgehend.

Vom dritten Lebensjahr an bis ins vierte hinein durchläuft der Grammatikerwerb nun verschiedene Phasen. Am Ende dieser Zeit, spätestens mit Abschluss des vierten Lebensjahres, hat das Kind die Satzstruktur und weitere morphosyntaktische Eigenschaften des Deutschen erworben und kann sogar Nebensätze bilden.

Phase II und Meilenstein 2 werden mit der Entdeckung des syntaktischen Prinzips erreicht. Die zweijährige Simone aus dem Beispiel oben ist genau in dieser Phase. Es zeigt sich, dass Funktionswörter wie Artikel oder Auxiliare noch vollständig fehlen. Verben sind noch nicht korrekt flektiert, sie kongruieren nicht mit dem Subjekt. Viele Kinder stellen in dieser Phase des Spracherwerbs Verben an das Ende des Satzes.

Mit Erreichen des Meilensteins 3 nach Tracy oder Phase III nach Clahsen treten vermehrt Sätze mit finiten Verben auf. Zunächst meist Modalverben und Verben, die mit -t in der 3. Person Singular flektiert werden. Die Sätze haben oft schon die korrekte Verbstellung für den deutschen Hauptsatz (SVX – Subjekt – Verb – weiteres Satzglied), doch daneben finden sich noch viele Verbendstellungssätze. Im Alter von 2;04 hat Simone den Meilenstein 3 bzw. den Übergang von Phase III zu IV erreicht.

BEISPIEL

 

Beispiel 2

Simone (S), 2;04, sitzt mit Max (M, Vater) und anderen am Esstisch.

S: „heiß is das.“

M: „Was is heiß?“

S: „des / des is heiß.“

M: „Die Kaffeekanne. Ne?“

S: „ja.“

M: „Manchmal is die heiß. Ne?“

S: „will nich mehr mehr esse.“

M: „Was is, Mone?“

S: „ich will nich mehr esse.“

Der Übergang in die Phase V oder das Erreichen des Meilensteins 4 ist gekennzeichnet durch das Auftreten von Nebensätzen, den Ausbau des Kasussystems sowie den vollständigen Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz (SVK). Verbzweitstellungssätze (V2) sind die Regel und die Verbklammer mit finitem und nicht-finitem Verb in einem Satz wird genutzt. Ergänzungsfragen mit Frage-Pronomen werden gebildet. Gegen Ende dieser Phase treten erste eindeutige Kasusmarkierungen für Nominativ und Akkusativ auf. Zugleich werden Funktionswörter wie Artikel, Auxiliare oder Präpositionen nicht mehr ausgelassen. Ein halbes Jahr nach dem letzten Transkriptausschnitt hat Simone diese Phase sicher erreicht, wie der folgende Dialog belegt.

BEISPIEL

 

Beispiel 3

Simone (S), 2;10 und Max (M, Vater) betrachten das Bilderbuch von Peter mit der Gans.

S: „der peter weint ganz doll. der peter weint da.“

M: „Warum weint’n der Peter so?“

S: „weil er ganz dolle weint. wo die / die elle / wo die ente is.“

M: „Warum weint der?“

S: „weil die ente weg is.“

M: „Die is weg?“

S: „mhm. die wird geschlachtet. puttemacht.“

Übung 1

Analysieren Sie in den drei Transkriptausschnitten die Verbstellung und beschreiben Sie die Fortschritte im Erwerb der Verbstellung, die Simone innerhalb ihres dritten Lebensjahres vollzieht.

Nachfolgend werden die Entwicklungen im Spracherwerbsprozess im Detail nach sprachlicher Ebene geordnet besprochen, beginnend mit der grammatischen Entwicklung. Die Variation der Geschwindigkeit, mit der einsprachige Kinder die grammatischen Entwicklungsstufen durchlaufen, ist groß. Es gibt Kinder, die schon kurz nach ihrem zweiten Geburtstag Phase V / Meilenstein 4 erreichen und subordinierende Konjunktionen wie „weil“ und „wenn“ verwenden. Andere Kinder produzieren ihre ersten Nebensätze erst nach dem dritten Geburtstag. Infinitivsätze und Passivkonstruktionen werden häufig erst nach Eintritt in die Schule erworben.

Parallel zum Erwerb der Satzstruktur werden morphologische Markierungen erworben, dazu zählen die Verbflexion (mit den Merkmalskategorien Numerus, Person, Tempus und Modus) sowie im nominalen Bereich die Kasusflexion, Genusformen und Pluralmarkierungen. Der Erwerb der Kasusmarkierungen beginnt mit der Unterscheidung von Nominativ und Akkusativ, sobald Artikel verwendet werden. Dabei werden zunächst Nominativformen auf Akkusativ- und gelegentlich auf Dativkontexte übergeneralisiert. Akkusativ wird dann vor Dativ markiert und auch hier kommt es zu Übergeneralisierungen der Akkusativform. Das gleiche gilt für den Erwerb des Kasussystems. Dativ und Genitiv sind nicht selten erst in Klasse 2 sicher erworben. Der Numerus wird früh korrekt am Artikel angezeigt. Langwieriger ist der Erwerbsprozess für Genusmarkierungen (an Artikeln und Pronomen) und für Pluralmarkierungen am Nomen. Sowohl das Genus als auch die Pluralform sind lexikalische Informationen, die zu Nomen gehören. Für beides gibt es im Deutschen Muster, die sich nach morphophonologischen Eigenschaften von Nomen richten, aber klare Gesetzmäßigkeiten, welche die jeweils korrekte Genuskategorie und Pluralflexion sicher vorhersagen ließen, gibt es kaum. Dreijährige machen trotzdem nur noch wenige Äußerungen, die von der Erwachsenensprache abweichen und daher als „Fehler“ wahrgenommen werden.

Typische entwicklungsbedingte Abweichungen beim Erwerb der Pluralflexion sind Übergeneralisierungen. Viele Kinder entscheiden sich dafür, ein Pluralflexiv als reguläres Flexiv zu nutzen (-n oder -s oder -e) und setzen dies stets ein, wenn sie die korrekte Pluralform noch nicht kennen. So produziert Simone „Manns“, „Mutters“ und „Biers“ als Pluralformen. Übergeneralisierungen von Plural- und auch von Partizipformen kommen noch bei Fünfjährigen vor. Mit dem Ausbau des Lexikons werden sie immer seltener.

Um Flexive zu erwerben und Flexionsparadigmen aufzubauen, muss das Kind eine Reihe von Spracherwerbsaufgaben lösen: Es muss Flexive isolieren und grammatische Merkmalskategorien erkennen (wie Numerus oder Kasus), es muss isolierte Flexive mit grammatischer Bedeutung belegen (-st trägt die grammatischen Merkmale 2. Ps. Sg.), es muss Regeln für reguläre Flexion entdecken (gemacht, s. o.) und es muss irreguläre Formen mit der korrekten grammatischen Bedeutung verbinden. Hier treffen lexikalischer und grammatischer Erwerb aufeinander.

Wie erschließen sich Kinder das Verbflexionsparadigma des Deutschen? Stellen Sie sich vor, die einzige Form des Verbs „kommen“, die Sie kennen, ist die Form „kommt“. Da Sie es stets mit Subjekten in der 3. Ps. Sg. hören und damit die Information 3. Ps. Sg. jeweils bereits durch das Subjekt vermittelt wird, gibt es für Sie keinen Grund anzunehmen, dass „kommt“ in zwei Bestandteile, also „komm-“ und „-t“, aufgegliedert werden könnte. Wenn Sie dann die Form „kommen“ für die 3. Ps. Pl. dazu erwerben, gibt es noch immer keinen Grund für eine interne Analyse von „kommt“ und „kommen“. Es reicht, wenn Sie nun erschließen, dass diese beiden Formen in unterschiedlichen grammatischen Kontexten vorkommen: Die eine Form mit Singularsubjekten, die andere mit Pluralsubjekten. Erst wenn Sie noch ein zweites derartiges Wortformpaar zum Vergleich dazu nehmen, also „malt“ und „malen“, könnten Sie die Formen so kontrastieren, dass Sie zwei Flexive und zwei Verbstämme isolieren können, wie Tabelle 2 illustriert. Die Tabelle zeigt nicht, in welcher Reihenfolge Kinder das Verbflexionsparadigma aufbauen, aber sie verdeutlicht, dass das Kind wie ein kleiner Strukturalist Formen vergleichen und kontrastieren muss (Bittner 2000; Penke 2006; Pinker 1984). Zugleich erschließt es die grammatische Bedeutung der Flexive.

Tab. 2: Kontraste und Dimensionen im Verbflexionsparadigma (Präsens)

3. Person Singular

3. Person Plural

Verb 1

er/sie/es komm–t

sie komm–en

Verb 2

er/sie/es mal–t

sie mal–en

Das Kind muss also über ein Inventar an holistisch gespeicherten Verbformen verfügen, diese analysieren und kontrastieren, bevor es ein Paradigma aufbauen kann. Wie groß dieses Inventar sein muss und ob es eine kritische Masse gibt („Critical Mass“ Marchman / Bates 1994), ist nicht sicher, auch wenn solch ein Zusammenhang intuitiv plausibel ist.