Mehrsprachigkeit in der KiTa - Solveig Chilla - E-Book

Mehrsprachigkeit in der KiTa E-Book

Solveig Chilla

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Beschreibung

Viele Kinder in Deutschland wachsen mehrsprachig auf. Sie haben ein Recht auf mehrsprachige Bildung. In der KiTa profitieren Kinder in ihren Entwicklungswegen von pädagogischen Fachkräften, die Mehrsprachigkeit optimal unterstützen und fördern. Das Buch trägt dazu bei, das pädagogische und sprachwissenschaftliche Basiswissen zu erweitern. Aus einer konsequent pädagogischen Perspektive heraus werden grundlegende Informationen zur mehrsprachigen Entwicklung im Kindesalter und diagnostische Fragestellungen in diesem Kontext vorgestellt. Im Mittelpunkt der weiteren Ausführungen stehen die konkreten Möglichkeiten, mehrsprachige Bildung in der KiTa zu gestalten, wobei Lernarrangements sowie die Kooperation mit Eltern und die Gestaltung von Übergängen im Zentrum stehen.

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Die Autorinnen

Dr. Solveig Chilla ist Professorin für Pädagogik bei Beeinträchtigung von Sprache und Kommunikation an der Europa-Universität Flensburg. In ihrer Forschung und Lehre stehen Fragen der sprachlichen Heterogenität, Sprachenbildung und Inklusion im Zentrum. Weitere Informationen zur Autorin: https://www.uni-flensburg.de/pmsks/wer-wir-sind/personen.

Dr. Sandra Niebuhr-Siebert ist Professorin für Sprachpädagogik und Erzählende Künste an der Fachhochschule Clara Hoffbauer Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Sprach- und Leseförderung, Mehrsprachigkeit und ästhetische Sprachbildung.

Solveig Chilla, Sandra Niebuhr-Siebert

Mehrsprachigkeit in der KiTa

Grundlagen – Konzepte – Bildung

2., überarbeitete Auflage

Verlag W. Kohlhammer

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2., überarbeitete Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-041218-7

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-041219-4

epub:   ISBN 978-3-17-041220-0

Vorwort zur 2., überarbeiteten Auflage

 

 

 

Liebe Leser:innen,

aufgrund Ihres ungebrochenen Interesses haben Sie uns zu einer zweiten Auflage unseres Buches ermutigt. In dieser zweiten Auflage haben wir die Gelegenheit genutzt, neue Forschungserkenntnisse einfließen zu lassen und unsere Anregungen und Hinweise für die Praxis zu erweitern.

Die Zahl der Kinder, die in Deutschland mehrsprachig aufwächst, steigt kontinuierlich. Uns liegt es am Herzen, ihnen mehrsprachige und diskriminierungsfreie Bildungsräume in unseren pädagogischen Einrichtungen zu ermöglichen. Mit diesem Buch geben wir Ihnen, liebe pädagogische Fachkräfte, viele gute Argumente an die Hand, warum sich eine konsequent mehrsprachige Erziehung lohnt.

Und wir zeigen Ihnen, wie Sie Ihren Alltag in einer Kindertageseinrichtung sprachanregend sowie mehr- und quersprachig gestalten können. Wir wollen Sie darin bestärken, dass Sie es sind, die mit Ihrem Handeln und Ihrer Haltung aktiv zur mehrsprachigen Bildung eines jeden Kindes beitragen können.

Es ist uns ein Anliegen, unserem Verleger Klaus-Peter Burkarth für sein Vertrauen, seine Unterstützung und vor allem seine Geduld zu danken. Unser Dank gilt auch unseren lieben Kolleg:innen und Freund:innen, Christoph Fasbender und Sarah Odenwald, die das gesamte Manuskript noch einmal gegengelesen und uns wertvolle Hinweise und Anregungen gegeben haben.

Solveig Chilla & Sandra Niebuhr-Siebert

Flensburg und Potsdam, im September 2022

Inhalt

 

 

 

Vorwort zur 2., überarbeiteten Auflage

1    Mehrsprachigkeit in der KiTa

2    Die KiTa als Ort der mehrsprachigen Bildung

2.1    Lernen in heterogenen Gruppen

2.2    Sprachbildung, Sprachförderung oder Sprachenbildung?

2.3    Möglichkeiten und Grenzen der sprachlichen Bildung im institutionellen Kontext: Evidenzbasierung, Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeit in der KiTa

2.4    Zusammenfassung

2.5    Literatur zur Vertiefung

3    Mehrsprachigkeit und mehrsprachiger Erwerb

3.1    »Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr«?

3.2    Was wird erworben? Ergebnisse der Spracherwerbsforschung

3.3    Mehrsprachiger Erwerb und kognitive Entwicklung

3.4    Mehrsprachiger Erwerb und sozio-emotionale Entwicklung

3.5    Mehrsprachigkeit und schulische Leistungen

3.6    »Ja, schaffen die das denn auch noch?« Mehrsprachiger Erwerb unter besonderen Bedingungen

3.7    Zusammenfassung

3.8    Literatur zur Vertiefung

4    Mehrsprachige Bildung gestalten

4.1    Prinzipien, Bildungspläne und Konzepte: Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeit

4.2    Haltung der Leitung und der Institution

4.3    Mehrsprachigkeit institutionell sichtbar machen

4.4    Rolle und Aufgaben der Erzieher:innen im mehrsprachigen Bildungsprozess

4.5    Kinderlieder und Verse – Anregungen und Materialien

4.6    Zusammenfassung

4.7    Literatur zur Vertiefung

5    Mehrsprachige Bildung behutsam begleiten, aufmerksam beobachten, verantwortungsvoll diagnostizieren und dokumentieren

5.1    Pädagogisches Dokumentieren

5.2    Beobachten

5.3    Diagnostische Aufgaben

5.4    Auswahl diagnostischer Verfahren

5.5    Zusammenfassung

5.6    Literatur zur Vertiefung

6    Mehrsprachige Bildung durch Interaktion

6.1    Mehrsprachigkeit in der Bezugsgruppe

6.2    Scaffolding als Unterstützung mehrsprachiger Bildung

6.3    Stützende Dialoge

6.4    Handlungsbegleitendes Sprechen

6.5    Modellieren der Lernersprachen

6.6    Zusammenfassung

6.7    Literatur zur Vertiefung

7    Mehrsprachige Bildung und Biliteralität

7.1    Dialogisches Lesen

7.2    Erzählen

7.3    Zusammenfassung

7.4    Literatur zur Vertiefung

8    Mehrsprachige Bildung durch Zusammenarbeit mit Eltern

8.1    Gespräche und Beratung

8.2    Formen der Beteiligung

8.3    Eltern-Projekte

8.4    Gruppenbezogene Formen der Elternarbeit

8.5    Zusammenfassung

8.6    Literatur zur Vertiefung

9    Partner:innen in der Frühförderung: Institutionelle Kooperation und Vernetzung

9.1    Kooperationspartner:innen

9.2    Netzwerkanalyse und Netzwerkaufbau

9.3    Zusammenfassung

9.4    Literatur zur Vertiefung

10    Übergänge

10.1    Übergänge gestalten

10.2    Übergang von der Geburt in die Familie

10.3    Von der Familie in die außerfamiliäre Betreuung

10.4    Von der KiTa in die Grundschule

10.5    Maßnahmen für einen gelungenen Übergang

10.6    Zusammenfassung

10.7    Literatur zur Vertiefung

11    Ausblick

12    Literatur

1          Mehrsprachigkeit in der KiTa

 

 

 

Bildungserfolg, der meist an akademischen Abschlüssen gemessen wird, beruht in Deutschland auf den Fähigkeiten in der Bildungssprache Deutsch. Dies ist verwunderlich, da Untersuchungen zum Sprachgebrauch von Schüler:innen zeigen, dass bundesweit zwischen 30 und 50 % aller Schüler:innen in ihrem außerschulischen Alltag neben der deutschen Lautsprache noch mindestens eine weitere Sprache verwenden (Woerfel, Küppers & Schroeder, 2020; Chlosta, Ostermann & Schroeder, 2003; Fürstenau, Gogolin & Yağmur, 2003; Schnitzer & Decker, 2012).

Migration und Mehrsprachigkeit sind nicht dasselbe, doch viele KiTa-Kinder mit Migrationshintergrund sprechen neben Deutsch noch mindestens eine Minderheitensprache in ihrem Alltag. So kommt jedes fünfte Kind erst in der KiTa verstärkt mit der deutschen Sprache in Berührung (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020). In Hamburger Vorschulen und Stadtteilschulen haben ca. 60 % aller Kinder eine Migrationserfahrung (Schuljahresstatistik Hamburg, 2020). Ein Drittel aller KiTa-Kinder unter sechs Jahren in Berlin spricht in der Familie eine andere Sprache als Deutsch (Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2020). Hinzu kommen Kinder aus bilingualen Familien, die in Deutschland anerkannte Minderheitensprachen (Niederdeutsch, Sorbisch, Dänisch) sprechen. Zudem wünschen sich immer mehr Eltern eine frühzeitige bilinguale Förderung für ihr Kind und wählen gezielt bilinguale KiTas, nutzen Apps und Computerprogramme zur frühen Förderung von Fremdsprachen oder bringen ihre Kinder neben der KiTa zum Englischunterricht.

Für die überwiegende Zahl der pädagogischen Fachkräfte ist es daher nicht überraschend: Mehrsprachigkeit im Sinne des alltäglichen Gebrauchs von Sprachen neben Deutsch ist nahezu der Normalfall für die Kinder in KiTas.

Mehrsprachigkeit gilt einerseits als Ressource für die Gesellschaft und als Wettbewerbsvorteil für den akademischen Erfolg eines Kindes, bis hin zu der Vermutung, dass Mehrsprachige gegenüber Einsprachigen kognitiv leistungsfähiger wären. Andererseits belegen Studien, dass mehrsprachige Schüler:innen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem systematisch benachteiligt werden, und zwar besonders dann, wenn Migrationserfahrung und niedriger sozioökonomischer Status zusammenfallen, also ein von Armut bedrohtes Kind auch einen Migrationshintergrund aufweist. Der Bildungserfolg migrationsbedingt mehrsprachiger Schüler:innen wird dabei meist mit Fortschritten in der Bildungssprache Deutsch gleichgesetzt (u. a. Montanari, Akıncı & Abel, 2019; Chilla, 2019).

Bildungserfolge von Kindern stehen in Deutschland in unmittelbarem Zusammenhang mit der sozioökonomischen Situation der Familie. 2018 war fast jede:r dritte Minderjährige von Risikofaktoren, wie einem niedrigen Bildungsstand der Eltern, Erwerbslosigkeit der Eltern und Armut, betroffen, wobei vor allem Kinder aus Familien mit nur einem alleinerziehenden Elternteil und Kinder mit Migrationshintergrund von mindestens einem der drei Risikofaktoren betroffen waren (Nationaler Bildungsbericht, 2020). Bildungserfolg muss folglich nicht zwangsweise mit den Sprachfähigkeiten des Kindes zusammenhängen, aber wie auch bei einsprachigen Kindern stellen die mangelnde Unterstützung des Elternhauses durch Armut und soziale Benachteiligung einen wichtigen Faktor dar, der es Kindern erschwert, sich dem Bildungsideal der einsprachigen Gesellschaft (Gogolin, 1994) anzupassen.

Einerseits ist es wichtig anzuerkennen, dass der Abbau sozialer Benachteiligung ein Erziehungs- und Bildungsauftrag von KiTa und Schule ist und allen Kindern eine erfolgreiche (sprachliche) Bildung ermöglicht werden soll. Andererseits führt dies in der überwiegenden Zahl der Förderprogramme dazu, ausschließlich den Deutscherwerb zu fördern und zu unterstützen, sodass ein Primat der Vermittlung der deutschen Bildungssprache in allen Bildungsinstitutionen dominiert (Putjata, 2018; Binanzer & Jessen, 2020). »Mehrsprachigkeit« wird dabei weitestgehend als gruppenbezogene Kategorie definiert. Mit anderen Worten: Ungeachtet der individuellen Sprachenerfahrungen, einer (angenommenen) Migrationserfahrung, des tatsächlichen Sprachengebrauchs im Alltag und der Lebenssituation von Kindern werden »Mehrsprachige« über einen Kamm geschoren. Es wird implizit angenommen, dass Kinder mit Migrationshintergrund automatisch Kinder sind, die aufgrund ihrer Familienkonstellation mit Migrationsgeschichte mehrsprachig werden. Doch nicht alle Menschen mit Migrationshintergrund sind mehrsprachig und nicht alle mehrsprachigen Menschen haben einen Migrationshintergrund (Ahrenholz & Maak, 2013). Darüber hinaus kann dem Bildungsbericht (2016) entnommen werden, dass viele KiTa-Kinder auch weitere Sprachen verwenden, dies aber heißt nicht, dass sie nicht auch deutsch sprächen, Deutsch nicht auch (zweite oder dritte) Familiensprache ist, oder gar, dass diese Kinder gar keine Sprachfähigkeiten ausgebildet hätten. Zweitens scheint es unhinterfragt, dass Kinder mit Migrationshintergrund Schwierigkeiten haben, Deutsch zu lernen. Bi- und multilinguales Aufwachsen wird im Bildungswesen häufig von einem verengten Blick auf die (vermeintlich) defizitären Deutsch-Kenntnisse überlagert (Ganteforth & Roth, 2010, S. 574). Die Deutschkenntnisse der mehrsprachigen Kinder werden dabei frühzeitig diagnostiziert, um bei unzureichender Deutschkenntnis z. B. zusätzliche Förderung für einzelne Kinder in der Bezugsgruppe umzusetzen.

Dem entgegen steht eine pädagogische Orientierung an der kindlichen Lebenswelt, die den mehrsprachigen Erwerb in seinen Facetten betrachtet, die individuelle Funktionalität mehrsprachigen Handelns betont und das Potenzial individueller Mehrsprachigkeit (Roth, 2018; García, 2009; Rösch, 2019) in der KiTa systematisch anerkennt und unterstützt.

Eine konsequent mehrsprachige Perspektive

•  geht mit einer holistischen Perspektive auf Mehrsprachigkeit nach Grosjean (1989) davon aus, dass ein mehr- bzw. zweisprachiges Kind nicht einfach nur die sprachliche und kulturelle Addition zweier Monolingualer ist.

•  berücksichtigt, dass ein Mensch sowohl über gemeinsame als auch über sprachenspezifische Ressourcen verfügt (»Integrated Multilingual Model«, MacSwan, 2019).

•  betont das Recht eines Kindes auf Bildung in all seinen Sprachen, sodass es ihm möglich wird, ein individuelles linguistisches Repertoire auszubilden, das aus vielen verschiedenen sozialen Sprachen besteht.

•  orientiert sich an den Prinzipien inter- und transkultureller und inklusiver Früh- und Elementarpädagogik.

•  stellt die Übertragbarkeit von Modellen des monolingualen Erwerbs des Deutschen auf mehrsprachigen Erwerb infrage und prüft Begriffe wie »Abweichungen« und »Interferenzen« im Spracherwerb kritisch.

•  konzentriert sich nicht nur auf die »Förderung des Deutschen als Zweitsprache«, sondern orientiert sich an den Erkenntnissen und Konzepten zur »quersprachigen« Realität.

•  plant die individualisierte Gestaltung von Lernarrangements unter Berücksichtigung von kindlichen Lebenswelten, von Mehrsprachigkeit, Mehrkulturalität, Translingualität und im Hinblick darauf, mehrsprachige Kompetenzen zu erproben und erwerben zu können.

In diesem Buch wird dabei angenommen, dass autonome Sprachen nebeneinander existieren und erworben werden können.

Mehrprachige sind Einzelpersonen oder Gruppen von Menschen, die in mehr als einer Sprache, einer Modalität, einer Varietät, einem Dialekt über kommunikative Kompetenzen und unterschiedliche mündliche und/oder schriftliche Fähigkeiten verfügen, um mit Sprecher:innen in einer oder mehreren Sprachen in einer Gesellschaft zu interagieren.

Unsere linguistische Verortung folgt der Idee einer universellen Mehrsprachigkeit (»Universal Multilingualism«, MacSwan, 2019), interpretiert diese aber sprach(en)pädagogisch: Jede:r Ein- und Mehrsprachige verfügt über verschiedene Sprachregister und Sprachvarietäten, die koexistieren und auch interagieren können. »Kinder entwickeln von Anfang an ›quersprachige Neugier‹, handeln und lernen quer durch Sprachen hindurch« (List & List, 2004; List, 2010, S. 10). Mehrsprachige erwerben so ein über die Grenzen von Sprachsystemen hinausgehendes Gesamtrepertoire an Sprachpraktiken (vgl. Panagiotopoulou, 2016). Dieses basiert jedoch nicht auf einem gemeinsamen Sprachsystem für alle Sprachen einer mehrsprachigen Person, sondern erfasst Mehrsprachigkeit an sich als universal, wobei die Grammatiken eine:r Mehrsprachigen sowohl voneinander getrennte als auch gemeinsame Eigenschaften aufweisen können (»Integrated Multilingual Model«, MacSwan, 2019).

In diesem Buch wird die besondere Spracherwerbs- und Sozialisationssituation mehrsprachig in der Migration aufwachsender Kinder in den Blick genommen. Heritage-(»Erbsprachen«)Erwerb bezeichnet den informellen und ungesteuerten Erwerb einer ersten Sprache (L1, Türkisch, Koreanisch, Russisch, Urdu, Finnisch, syrisches Arabisch), die soziolinguistisch als Minderheitensprache bewertet wird, in einem Kontext, in dem die Mehrheitssprache (Deutsch) dominiert. Dies gilt für die überwiegende Zahl von mehrsprachigen Kindern in deutschen KiTas. Kinder, die eine oder mehrere Minderheitensprache(n) als Heritage-Sprecher:innen neben dem Deutschen erwerben, bilden die größte Gruppe der mehrsprachig aufwachsenden Kinder, und Russisch und Türkisch sind dabei die häufigsten Sprachen in der KiTa (Czapka, Topaj & Gagarina, 2021).

Aktuelle Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Lernumgebung und der institutionellen Förderung des Sprachenlernens zeigen, wie stark sich die Lernumgebungen auf den Sprachenerwerb, den Sprachengebrauch und letztlich auch die bildungs- und schriftsprachlichen Fähigkeiten von Kindern auswirken. Der KiTa kommt in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle zu, ist sie doch der Bildungs- und Lernort, in dem sich Kinder ihrer Sprachen bewusst werden, Sprachen erproben und Sprachen begegnen und Wertschätzung für ihre mehrsprachige Identität erfahren können.

Die Haltung pädagogischer Fachkräfte zur Sprachenbildung und ihre Vorstellungen zur Selbstwirksamkeit in Bezug auf die Gestaltung von Sprachlernräumen, ihre sozialen Fähigkeiten, in denen sich die Wertschätzung für Mehrsprachigkeit an sich widerspiegelt, sowie ihre Fach- und Methodenkompetenzen im Hinblick auf die Unterstützung individueller Sprachenbildung sind für die Sprachenbildung eines jeden Kindes in der KiTa essenziell.

Um kompetent und unterstützend handeln zu können, ist es unabdingbar, dass sich pädagogische Fachkräfte reflexiv mit dem Bildungsinhalt und dem Bildungsziel Sprache(n) auseinandersetzen (z. B. List, 2010; Projekt Sprachenbildung in KiTas, 2021). Unser Konzept von mehrsprachiger Bildung erkennt sprachliche Heterogenität an, berücksichtigt aktuelle sprachwissenschaftliche und (neuro)linguistische Erkenntnisse zum Mehrsprachenerwerb und betont die Bedeutung inklusiver Bildungsprozesse (Sulzer & Wagner, 2011).

In Anbetracht der Handlungsspielräume pädagogischer Fachkräfte in KiTas ermutigen wir dazu, Mehrsprachigkeit in der KiTa aktiv zu gestalten: Ihre pädagogische Haltung, ihre Vorstellungen zur (Selbst-)Wirksamkeit von Sprachfördermaßnahmen und vor allem ihre Ideen zur Unterstützung des Sprachenerwerbs tragen maßgeblich zur Entwicklung und Umsetzung von Bildungsangeboten bei, in dem Kinder mehrsprachig werden und sich als mehrsprachige Individuen erproben und erfahren können.

Im Folgenden wird diesem Anspruch Rechnung getragen, indem zunächst in Kapitel 2 dargelegt wird, wie wichtig es ist, mehrsprachige Bildung als durchgängiges Prinzip in der KiTa zu verankern ( Kap. 2). Die Bildungsbedürfnisse ein- und mehrsprachiger Kinder und die gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Realitäten verlangen nach einer pädagogischen Antwort auf die Frage nach optimaler Unterstützung aller Sprachen in der KiTa im Einklang mit dem linguistischen Prinzip der universellen Mehrsprachigkeit. In Kapitel 3 wird der wissenschaftliche Forschungsstand zum Sprachenerwerb diskutiert und im Hinblick auf seine Relevanz für das pädagogische Handeln reflektiert ( Kap. 3). Dabei werden aktuelle Forschungsergebnisse zum Heritage-Erwerb dargestellt, um zu erläutern, warum Modelle des Spracherwerbs nur bedingt geeignet sind, um die individuellen Bildungsbedürfnisse zu bestimmen. Dazu gehört es auch, die Möglichkeiten der pädagogischen Interpretation kindlicher Sprachleistungen kritisch zu analysieren, um sie im KiTa-Alltag gewinnbringend zu nutzen. Weiter werden die Prinzipien der institutionell in der KiTa verankerten mehrsprachigen Bildung praxisnah erläutert, wobei auch Möglichkeiten und Grenzen der Förderung des Deutschen als Zweitsprache in der KiTa, die Rolle der Institution und die Bedeutung der Person der pädagogischen Fachkraft beleuchtet werden ( Kap. 4).

Die Frage danach, an welcher Stelle ein mehrsprachiges Kind in seinem Bildungsprozess von den Lernarrangements profitieren kann, hängt auch davon ab, inwiefern die pädagogische Fachkraft sprachenbezogene Bildungsfortschritte und Bildungshürden erkennen und ihnen begegnen kann. In Kapitel 5 wird daher ein praxisnahes diagnostisches Vorgehen skizziert, das die individuellen sprachlichen Bildungsbedürfnisse sowie die praktischen Grenzen diagnostischer Erhebungen in der KiTa bzw. durch die Bezugserzieher:innen berücksichtigt ( Kap. 5). In den anschließenden Kapiteln ( Kap. 6,  Kap. 7) werden einem pädagogischen Verständnis von Translanguaging folgende Vorschläge für einen mehrsprachigen KiTa-Alltag formuliert, in dem alle Sprachen in der Institution KiTa gewürdigt und unterstützt werden. Anhand von Beispielen werden Lernräume zur Gestaltung von mehrsprachigen Interaktionen zwischen den Kindern und zwischen pädagogischer Fachkraft und Kindern veranschaulicht, und dies auch in Bezug auf Literacy. Die anschließenden Kapitel sind der Umfeldarbeit und der Zusammenarbeit mit den Eltern sowie der Gestaltung von Übergängen gewidmet ( Kap. 8,  Kap. 9,  Kap. 10).

Aufgabe

Testen Sie sich selbst! Auf der Seite (https://lingyourlanguage.com/) können Sie spielerisch erfahren, wie unterschiedliche Sprachen klingen. Wie viele Sprachen können Sie sicher erkennen? Welche dieser über 2500 Beispiele aus über 100 Sprachen und 200 Dialekten kennen Sie aus dem KiTa-Alltag? Unter dem »Learn«-Symbol erhalten Sie außerdem grundlegende Informationen über die Sprachen, ihre Sprecher:innen und ihre Verbreitung.

2          Die KiTa als Ort der mehrsprachigen Bildung

 

 

 

2.1       Lernen in heterogenen Gruppen

In unterschiedlichen Lebensphasen sind verschiedene formale, nonformale und informelle Lernorte und Lernkontexte bedeutsam. Daneben sind für die Frühpädagogik verschiedene rechtliche Grundlagen relevant, wie z. B. die Kinderrechtskonvention (United Nations, 1989), das Kinder- und Jugendhilfegesetz KJHG, die Salamanca-Erklärung (UNESCO, 1994) und die Empfehlungen der Kultusministerkonferenz (KMK, 2009).

Neben den Bildungs- und Aktionsplänen der Bundesländer zur Sprachförderung und sprachlichen Bildung (z. B. die Empfehlungen zur Alltagsintegrierten Sprachbildung in Schleswig-Holstein, MSGJFS 2020) sind die Bildungspläne für den Elementarbereich (vgl. zusammenfassend Textor, 2019, und Krappmann, 2007; Prengel, 2011), das UNESCO-Übereinkommen über den Schutz und die Förderung der Vielfalt kultureller Ausdrucksformen (UNESCO, 2005), der EU-Aktionsplan für das Sprachenlernen und die Sprachenvielfalt (2002) Grundlage einer konsequent mehrsprachigen Perspektive in der KiTa. Sie sind in der Konzeption von Bildungsangeboten und Lernarrangements zu berücksichtigen.

Aufgabe

Vergegenwärtigen Sie sich bitte Ihre aktuelle Arbeitssituation. In welchen Alltagssituationen werden Sie durch die Ansprüche, die durch die sprachliche Bildung für alle Kinder an Sie gestellt werden, herausgefordert? Gibt es bereits Vereinbarungen, Vorgaben und Leitideen, die Ihnen den Arbeitsalltag erleichtern? Wo erfahren Sie Unterstützung von Ihrer KiTa-Leitung?

Schreiben Sie einen Wunschzettel: Welche Aspekte, Inhalte oder strukturellen Veränderungen sollten von der Leitung bzw. von Ihrer Einrichtung verbessert bzw. neu geschaffen werden, wenn es Ihnen selbst besser gelingen soll, mehrsprachige Bildung im KiTa-Alltag aktiv zu unterstützen?

KiTas sind laut Tippelt und Reich-Claassen (2010, S. 11) Bildungseinrichtungen, »die Lernangebote organisieren; in einem weiteren Sinne fasst man darunter alle räumlichen Einheiten, die Lernende pädagogisch stimulieren – sowohl im Kontext formal-organisierter Einrichtungen als auch im Rahmen informeller Lernprozesse«.

Es ist wichtig, zu wissen, dass die kindliche Lernmotivation und die Lernerfahrungen für alle weiteren bildungsbiografischen Abschnitte bedeutsam sind, und dies gilt auch für die nonformale Bildung in Kindergarten und Krippe (Tippelt & Reich-Claassen, 2010; Reich-Claassen & Tippelt, 2010; Reich-Claassen & Tippelt, 2009). Studien zeigen, dass sich der Erwerbskontext auf den Erwerb des individuellen Sprachenwissens spezifisch auswirkt (Montrul, 2020). Eine wichtige Erkenntnis betrifft den Unterschied zwischen Heritage und (frühem) Zweitspracherwerb: Informelle Lernumgebungen unterstützen die flüssige Sprachverwendung in Heritage- und der Zweitsprache Deutsch, wohingegen formale Lernumgebungen (Kurse, Unterricht, gezielte additive Förderung) eher auf die linguistische Korrektheit abzielen (Montrul, 2020). Erstens bedeutet dies: Werden individuelle Sprachleistungen von mehrsprachigen Kindern mit Testverfahren gemessen und mit den Schritten im Erst- oder Zweitspracherwerb verglichen, so fehlt oft die pädagogische und linguistische Reflexion des Erwerbskontexts ( Kap. 3). Zweitens kann daraus abgeleitet werden: Lernarrangements im Bildungsraum KiTa, die bewusst sozial-interaktive Kommunikation und strukturiertes Regellernen kombinieren, werden dazu beitragen, dass Mehrsprachigkeit in vielen Facetten gefördert wird.

Der Gestaltung der Lernorte und der Lernorganisation in der KiTa durch die pädagogischen Fachkräfte kommt daher eine herausragende Bedeutung zu. Denn beides, die Gestaltung einerseits und die Lernorganisation andererseits wird mit dem Wissensinhalt abgespeichert und beeinflusst den individuellen Lernerfolg (Roth, 2003; Tippelt & Reich-Claassen, 2010). Lernen zu arrangieren und Lernsettings absichtsvoll zu gestalten bedarf einer methodisch-didaktischen Durchdringung bzw. eines Konzeptes unter Berücksichtigung beeinflussender Faktoren, z. B. räumliche, zeitliche, personelle und instrumentelle Aspekte. Aus Metaanalysen zur Wirksamkeit von Lernarrangements und Unterrichtsmethoden lässt sich ableiten: Selbstgesteuertes Lernen ist »Voraussetzung, Methode und Ziel« (Weinert, 1982, zitiert nach Horstkemper, 2014) und fußt auf sozialen Interaktionen (vgl. auch Meyer & Meyer, 2013).

Wissen kann besonders gut erworben werden, wenn das Lernen situiert und kontextgebunden geschieht. Im Gegenzug sind viele Bereiche des sprachlichen Wissens wiederum mit Handlungen, Kontexten, spezifischen Situationen und Problemlagen verknüpft. Das sprachliche Repertoire eines Menschen umfasst die vielen Sprechstile, Varietäten und Sprachen, über die eine Person verfügt. Das Wissen darüber, ob die Vorgesetzte oder die Beziehungspartnerin geduzt werden darf, welche Jugendwörter aktuell sind, dass das Schwäbische immer dann »durchkommt«, wenn der Vater Maultaschen zubereitet, muss in der sozialen Interaktion und mit seinen linguistischen Mitteln (Wortschatz, Betonung, Lautbildung) erst erworben werden. Wenn im Alltag nie der Bedarf besteht, die Einzelteile einer Kletterausrüstung oder alle Schifferknoten exakt zu benennen, werden diese auch nicht im Lexikon abgespeichert; ein Alltag als Kapitänin auf einem Traditionsewer wird es aber erleichtern, »Palstek« und »Webleinstek auf Slip« sicher zu verwenden.

Ein Lernarrangement strukturiert Themen oder Aufgaben und ist auf einen definierten transparenten Lernfortschritt hin ausgerichtet. Bei einem Lernarrangement handelt es sich um die inhaltliche und/oder systematische An- und Zuordnung von Themen und Aufgaben, Impulsen und Materialien für eine Gruppe. Es soll motivieren und aktivieren sowie an den Lernpotenzialen, Lerninteressen und Lernbedürfnissen der Kinder ansetzen.

Heterogene Lerngruppen in Bildungsinstitutionen sind kein neues Phänomen. Heterogenität wird schon seit dem Altertum als Faktor diskutiert, der Bildung und Erziehung beeinflusst, und in der gegenwärtigen Diskussion wird das Konzept oft im Zusammenhang mit Schwierigkeiten oder besonderen Hürden von Gruppen assoziiert. Dabei ist der Begriff zunächst einmal neutral und nicht wertegebunden: Gruppen können in Bezug auf ein personenbezogenes Merkmal, wie Alter, Migrationshintergrund, Geschlecht oder Sehfähigkeit homogen oder heterogen sein (Wenning, 2007; von Lang et al., 2010; Wischer, 2009), ohne dass damit eine Problematisierung einhergehen muss. Ein Bewusstsein für Gruppenunterschiede und die damit verbundenen Klassifizierungen und Defizitzuschreibungen von Kindern werden jedoch wichtig, wenn gruppenbezogene soziale Phänomene sichtbar gemacht und problematisiert werden sollen, wie dies zum Beispiel in der Sozialberichterstattung über »mehrsprachige Kinder«, »Kinder mit Migrationshintergrund« oder »Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern« (Der Tagesspiegel, 2018) erfolgt (Betz, 2008; Leu, 2002; Prengel, 2011).

In diesem Buch wird Mehrsprachigkeit als eine Dimension sprachlicher Heterogenität in der KiTa gefasst. Mehrsprachige Erziehung ist ein Recht mehrsprachig aufwachsender Kinder. Der Begriff »sprachliche Heterogenität« wird hier gewählt, um die Verschiedenheit der sprachlichen Entwicklung und der sprachlichen Bildungsbedürfnisse in der KiTa anzuerkennen.

Über diese gruppenbezogenen Zuschreibungen werden vermeintlich einheitliche Kategorien transportiert, die suggerieren, dass Kinder, die ein oder mehrere Merkmale dieser Gruppen teilen, in Bezug auf Bildung und Bildungserfolg gleiche Erfolgschancen haben und pädagogische Fachkräfte aus diesen Kategorien für das einzelne Kind Bildungshürden ableiten könnten. Prengel (2011, S. 14) verweist auf einen wichtigen Faktor institutioneller Förderung von mehrsprachig in der Migration aufwachsenden Kindern, nämlich auf die Quote des Besuchs von Einrichtungen. Sie legt anhand der Daten des Zahlenspiegels und der Kinderbetreuungsstudie des Deutschen Jugendinstituts (DJI) dar, dass die meisten mehrsprachigen Kinder in eine KiTa gehen (Leu et al., 2007). Dabei zeigt sich, dass sozioökonomische Faktoren bereits die frühe Bildung in nicht zu unterschätzender und in der sprachlichen Bildung besonders zu berücksichtigender Weise beeinflussen: je höher das Bildungsniveau und die Erwerbstätigkeit der Eltern, desto eher werden Kinder in Einrichtungen untergebracht. Nur 10 % der Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren besuchen keine Einrichtung und stammen tendenziell aus sozial benachteiligten Familien (Riedel, 2007, S. 25; Bien, Rauschenbach & Riedel, 2006). Ein niedriger Bildungsstand der Familie, eine Migrationsbiografie beider Eltern, ein Aufwachsen mit mehreren Geschwistern und eine Erziehung durch Alleinerziehende werden in verschiedenen Studien mit negativen Auswirkungen auf den Entwicklungsstand eines Kindes zum Zeitpunkt der Einschulung assoziiert (u. a. Knollmann & Thyen, 2018). »[…] [W]eist ein Kind einen Migrationshintergrund auf und besitzt zugleich einen niedrigen Sozialstatus, bedeutet dies auch ein zusätzliches Risiko, nicht an frühkindlicher Bildung zu partizipieren« (Fuchs-Rechlin, 2007, S. 216; Geier & Riedel, 2008; Büchner, 2008; Kreyenfeld, 2007; Becker & Tremel, 2006; Becker & Lauterbach, 2004).

Im Zusammenhang mit mehrsprachiger Bildung ist es interessant, wie »Migrationshintergrund« neben Behinderung und Erkrankung als ein den pädagogischen Alltag beeinträchtigender Faktor dargestellt wird. Als Menschen mit Migrationshintergrund werden mit der Definition aus dem Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes (2011) alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer:innen und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil erfasst. 18,7 % der 82,3 Millionen Einwohner:innen hatten 2007 einen Migrationshintergrund, von denen (Spät-)Aussiedler:innen und Türkeistämmige die größte Gruppe bilden (Statistisches Bundesamt, 2008).

Wird diese Definition auf den KiTa-Alltag übertragen, wird deutlich, dass die wenigsten Kinder damit erfasst werden: Die überwiegende Zahl der Kinder und ihre Eltern sind in Deutschland geboren und aufgewachsen. Gleichzeitig wird »Migrationshintergrund« in Anmeldebögen erhoben und in Veröffentlichungen zur Förderung von Kindern nur selten hinterfragt, obwohl »Kinder mit Migrationshintergrund« bei Weitem keine einheitliche Gruppe bilden. Vielmehr begegnen den pädagogischen Fachkräften in der KiTa unterschiedliche Lebenslagen, wobei sich nationale, sozialstrukturelle, milieuspezifische, regionale und religiöse Herkunft in ihrem Leben unterschiedlich auswirken. Zudem kann die Geschlechtszugehörigkeit für ihr Leben einen großen Unterschied machen (Diehm, 2008; Diehm & Kuhn, 2005).

Professionelles Handeln von pädagogischen Fachkräften verlangt daher nach der kritischen (Selbst-)Reflexion in der Nutzung von gruppenbezogenen Konstrukten wie »Migrationshintergrund«, »arabische Großfamilie« oder »die Russen in unserer KiTa« und der Bedeutung von Zuschreibungen und Kategorien für das einzelne Kind.

Diehm und Kuhn (2006) haben die Perspektiven junger Kinder auf Ethnizität untersucht und fragen, »wie und in welchen Situationen und sozialen Kontexten sich diese Unterscheidung in Interaktionen innerhalb der peer-group im Kindergarten Ausdruck verschafft« (ebd., S. 47). Beide Autoren wie auch Kuhn (2011) belegen, wie z. B. in Kinderliedern, im Alltag und in alltäglichen Routinen die Differenzkategorie ›Ethnizität‹ im Kindergartenalltag vermittelt wird.

Aber was soll ich denn dann noch singen dürfen?

»Ich heiße Djénéba. Sag einfach Dina.«

»Mensch, du siehst ja gar nicht wie ein Kevin aus!«

»Artemis ist aber ein schöner Name!«

Alltagsdiskriminierung zeigt sich oft schon darin, dass sich Erwachsene keine Mühe geben, die Namen der Kinder möglichst so auszusprechen, wie sie wirklich klingen. Auch Kommentare zu Personennamen »Was ist denn das für ein Name? Kommst du aus Namibia?« wirken diskriminierend.

Artemis hingegen wird in der Regel nicht gefragt, ob sie Altgriechisch beherrscht.

Die Fachstelle Kinderwelten für vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung hält kurze informative Flyer und Materialien bereit, um sich für Alltagsdiskriminierung zu sensibilisieren, z. B.

https://www.vielfalt-mediathek.de/wp-content/uploads/2020/12/kids201802_namen_vielfalt_mediathek.pdf (03.09.2021) (zitiert nach Chilla & Niebuhr-Siebert, in Druck), und bieten auch eine Liste von Liedern, die Kinder stärken:

https://situationsansatz.de/wp-content/uploads/2019/07/kids_kinderlieder.pdf (03.09.2021).

Formen rassifizierender Praktiken in der frühen Bildung (Lane, 2008)

•  in Interaktionen Macht gegenüber anderen ausüben (vgl. http://www.gespraechsforschung-ozs.de/heft2004/ga-brock.pdf)

•  die Bedeutung von Entscheidungen und Richtlinien für bestimmte Gruppen nicht hinterfragen

•  ethnozentrisches Denken und Nutzung von ethnozentrischen Ressourcen

•  mangelndes Bewusstsein für den kulturellen Hintergrund und die individuellen Lebenswelten eines Kindes

•  mangelnde Bereitschaft, in täglichen Besprechungen, Weiterbildungen oder Meetings rassifizierende Aspekte anzusprechen oder sich gegen rassistische Äußerungen zu wehren

•  fehlende Auseinandersetzung mit neuen Forschungsergebnissen zu Rassismus in Erziehungswissenschaft und pädagogischer Praxis

•  fehlende Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich die Forschungsergebnisse zu Rassismus mit den rechtlichen Rahmenbedingungen und z. B. den Leistungszuweisungen verbinden lassen.

Die Studie von Kuhn (2011) zeigt außerdem, »wie mit ethnisierenden Differenzinszenierungsprozessen eine Homogenisierung der Kindergartengruppe legitimiert wird und wie ethnisch kodierte Differenz mittels didaktischer Inszenierungen auch ohne direkten Bezug auf Individuen (auf einzelne Kinder) realisiert wird« (Panagiotopoulou, 2013, S. 775 f.). Ebenso sind rassialisierende Praktiken in der pädagogischen Praxis unbewusst oder bewusst vorhanden und werden – entgegen allen guten Vorsätzen – auf Bezugsgruppen wie auf Leitungsebene reproduziert (Lane, 2008; Sleeter, 2007). Dies gilt es, im Alltag zu erkennen und zu reflektieren.

Aufgabe

Versuchen Sie bitte, den verschiedenen Punkten aus der Liste von Lane Situationen aus Ihrem Alltag zuzuordnen.

Als Beispiel: »fehlende Auseinandersetzung mit der Frage, wie sich die Forschungsergebnisse zu Rassismus mit den rechtlichen Rahmenbedingungen und z. B. den Leistungszuweisungen verbinden lassen« → In meiner KiTa muss bei allen »Kindern mit Migrationshintergrund« im Alter von fünf Jahren ein Sprachstandstest durchgeführt werden.

Nutzen Sie dazu bitte auch die Alltagsbeispiele aus dem offenen Brief gegen Alltagsrassismus: »Aufforderung zum offenen Umgang mit versteckten Rassismen in Kinderliedern, Spielen, Faschingskostümen usw.«, https://www.verband-binationaler.de/fileadmin/Dokumente/Newsletter/13-05-Offener_Brief_Alltagsrassismus.pdf (03.09.2021).

Weitere Beispiele von Alltagsrassismus im Kindergarten finden Sie in den Beispielen des Beitrages von Serap Sıkcan (2007): Mehrsprachige Kinder in einsprachigen Kindergärten. In: Kinder in Europa, KE 12/07. Online verfügbar unter: http://www.verlagdasnetz.de/zeitschrift/kinder-in-europa/ke-1207/420-mehrsprachige-kinder-in-einsprachigen-kindergaerten.html (07.07.2014).

Pädagogisches Fazit

Kindzentriertheit bedeutet im Kontext von mehrsprachiger Bildung auch, dass sich jede pädagogische Fachkraft ihrer Verantwortung für und ihrer eigenen Vorstellungen gegenüber mehrsprachigen, multikulturellen und multiethnischen Gruppen bewusst wird. Sie reflektiert ihr Wissen und ihre Wissenslücken in Bezug auf die (un-)bewussten alltäglichen Kategorisierungen und Zuschreibungen sowie Zuordnungen. Kompetentes Handeln heißt, sich selbst dahingehend zu beobachten, wo man selbst (unbewusst) soziale und kulturelle Ungleichheit in der KiTa reproduziert. Wenn sichergestellt ist, dass die Fachkräfte den heterogenen Lebenswelten in ihren Einrichtungen begegnen und den unterschiedlichen Lern- und Entwicklungslagen der Kinder gerecht werden wollen, dann können Konzepte der Bildung, Erziehung und Betreuung gefunden werden, die auch die kindliche Mehrsprachigkeit angemessen berücksichtigen (Prengel, 2011).

2.2       Sprachbildung, Sprachförderung oder Sprachenbildung?

Aufgabe

Bitte nehmen Sie sich – am besten mit mehreren Kolleg:innen – ca. zehn Minuten Zeit.

Bitte zeichnen Sie sich eine individuelle Gedächtnislandkarte (»Mindmap«) zum Thema sprachliche Bildung. Assoziieren Sie zunächst frei.

Abb. 1: Mindmap zur sprachlichen Bildung

In einem zweiten Schritt können Sie sich Leitfragen stellen:

•  Verwendet Ihr KiTa-Leitbild den Begriff »sprachliche Bildung«?

•  Wie wird der Begriff in individuellen Entwicklungsplänen gefüllt?

•  Welche Aufgaben sind damit für die pädagogische Fachkraft verbunden?

•  Welche Aufgaben kommen den Eltern zu?

•  Was muss das Kind leisten?

Vergleichen Sie Ihre Mindmap mit der von Kolleg:innen und diskutieren Sie über Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Versuchen Sie bitte, eine eigene Definition von »sprachlicher Bildung« zu generieren.

Die Übung zeigt: Obwohl der Begriff der »sprachlichen Bildung« in aller Munde geführt wird, verbindet doch jede Einzelne ihre je eigenen Assoziationen damit. Dies schlägt sich nicht zuletzt auch in individuellen Vorstellungen darüber nieder, was in Bezug auf Sprache »gelernt«, was »gefördert« oder »unterstützt« werden muss. Dem Begriff der »alltagsintegrierten Sprachförderung« und damit verbunden der Vorstellung von (Selbst-)Wirksamkeit auf den Spracherwerbsprozess von Kindern kommt gerade in der KiTa eine Schlüsselstellung zu.

»So nimmt die Heterogenität in Kindertageseinrichtungen, vor allem in Bezug auf die Familiensprache der Kinder, weiter zu. Das stellt an die KiTa-Landschaft erhöhte Anforderungen, da der Erwerb der deutschen Sprache möglichst früh in der Kindheit erfolgen sollte. Im Bundesdurchschnitt sprachen 2019 22 % der 3- bis unter 6-jährigen KiTa-Kinder zu Hause vorrangig nicht Deutsch; zumindest für diese Kinder ist die Kindertagesbetreuung der Schlüssel zum Erwerb der deutschen Sprache. Die Sprachförderung sowie Diagnostik sind von länderspezifischen Regelungen geprägt, die eine Vergleichbarkeit bzw. eine Ausweisung von Gesamtwerten für Deutschland nicht ermöglichen. Wenn von Tageseinrichtungen erwartet wird, die Kinder in sprachlicher Hinsicht so auf die Schule vorzubereiten, dass sie dem Unterricht in der Grundschule von Anfang an folgen können, dann muss den Rahmenbedingungen von Sprachfördermaßnahmen weiterhin höchste Aufmerksamkeit zukommen« (Nationaler Bildungsbericht kompakt, 2020, S. 6).

Nach der UN-Konvention (United Nations, 1989) haben alle Kinder ein Recht auf Bildung, und dies gilt selbstverständlich auch für Kinder mit Behinderungen (UN-BRK). Bildung ist darauf ausgerichtet, die kindliche Persönlichkeit, ihre Begabungen und ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten voll zur Entfaltung zu bringen (Nutbrown, 2010; Diehm & Panagiotopoulou, 2011). Sprachenbildung in der KiTa ist eine universelle Bildungsaufgabe und betont die soziale Funktion von Sprache und somit die Sicherung von Chancengerechtigkeit (Kammermeyer & Roux, 2013). Doch gerade migrationsbedingte Differenz und Kinder mit Behinderungen finden in den Bildungsplänen der Bundesländer noch immer zu wenig Berücksichtigung. Speziell »Kinder mit Migrationshintergrund« werden systembedingt benachteiligt (vgl. Overwien & Prengel, 2007, S. 26 f.). Diefenbach (2008) schlussfolgert, dass die überwiegende Zahl der Erklärungsansätze die Schlechterstellung von Kindern mit Migrationshintergrund in den Betroffenen selbst und speziell in deren Herkunftskultur, die als defizitär aufgefasst wird, ursächlich begründet liegt. Doch je jünger ein Kind, desto weniger empirisch gesicherte Befunde gibt es, die erklären könnten, warum genau dieses Kind später vom Bildungssystem benachteiligt wird (vgl. Krüger, Deppe & Köhler, 2010, S. 9). Sicher ist, dass ethnische Bildungsungleichheit bereits vor der Schulzeit wurzelt (vgl. Becker & Biedinger, 2010, S. 49), sodass pädagogische Fachkräfte hier besonders wachsam sein sollten. Doch wird weniger das System insgesamt hinterfragt oder hinsichtlich von Bildungsbenachteiligung umstrukturiert. Vielmehr werden die sprachlichen Leistungen der Kinder und später der Schüler:innen dafür verantwortlich gemacht, dass sie im Bildungssystem keine Bildungsabschlüsse erreichen, die ihrem kognitiven Niveau entsprechen. Speziell die Fähigkeiten im Deutschen oder in der »Bildungssprache Deutsch« eines einzelnen mehrsprachig aufwachsenden Kindes werden als defizitär wahrgenommen. Als Konsequenz daraus gibt es viele Bemühungen, die Kinder in ihrem Deutscherwerb zu unterstützen, um sie »fit« für den Schulalltag zu machen.

Aus praktischen Überlegungen und den gesellschaftlichen Anforderungen an gute Deutsch-Kenntnisse einerseits, aber auch aufgrund nur weniger Konzepte zur mehrsprachigen Bildung andererseits findet sich in der KiTa-Praxis eine starke Orientierung und Konzentration auf den Erwerb des Deutschen. Pädagogische Fachkräfte, die selbst monolingual sind, fühlen sich oft nicht in der Lage, alle Sprachen eines Kindes zu berücksichtigen, und fragen sich, wie sie diese in der alltäglichen Planung mit einbeziehen können. Sie beschränken sich dann meist auf die Förderung des Deutschen, erleben diese Tatsache aber als unbefriedigend, da sie verstehen, dass zur sprachlichen Bildung alle Sprachen eines Kindes gehören. Dass migrationssensible mehrsprachige Bildung in der KiTa auch zu einer positiven Haltung von Kindern gegenüber Mehrsprachigen beitragen kann, zeigt unter anderem das LBS-Kinderbarometer ( Abb. 2, LBS-Kinderbarometer, 2016, S. 201). Kinder sollten der Aussage »Ich finde es gut, dass man in Europa unterschiedliche Sprachen spricht« zustimmen. Kinder mit Migrationshintergrund stimmen der Aussage häufiger zu als Kinder ohne Migrationshintergrund (MW = 4,1 vs. MW = 3,8) und in den Bundesländern Sachsen (MW = 3,7), Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Thüringen (je MW = 3,8) stimmen Kinder dieser Aussage signifikant seltener zu als Kinder in Berlin (MW = 4,3).

Abb. 2: Positive Bewertung von Kindern zu unterschiedlichen Sprachen in Europa

Es ist positiv, zu werten, dass das Recht von Kindern mit Migrationshintergrund auf sprachliche Bildung gesehen wird und auch immer mehr an Bedeutung (Diehm & Panagiotopoulou, 2011) gewinnt. Der sprachpädagogische Bildungsauftrag in Krippe und KiTa entspringt aus den sprachlichen Bildungsbedürfnissen des je individuellen Kindes und seinem Recht auf sprachliche Bildung. Institutionalisierte elementare sprachliche Bildung ist kein in sich geschlossenes Feld, sondern bedarf einer Integration verschiedener gesellschaftlicher, sozialer, familiärer und individueller Interessen, wobei die Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft gerade in Bezug auf den Spracherwerb dominant sind. Gleichzeitig müssen individuelle Bildungs- und Entwicklungsvoraussetzungen und kindliche Lebenswelten, die unter Umständen stark von den Vorstellungen der Eltern und erwachsener Expert:innen abweichen, berücksichtigt werden (Chilla & Fuhs, 2013; Lengyel, 2011). In unserem Konzept können pädagogische Fachkräfte zur mehrsprachigen Bildung in der KiTa (Chilla, 2017, 2019; Chilla & Niebuhr-Siebert, in Druck) beitragen, indem sie aktiv Lernräume schaffen, in denen sich Kinder erproben, als kompetente Sprecher:innen erfahren und weiterentwickeln können.

Es ist die pädagogische Fachkraft, die mit ihren professionellen Kompetenzen und vor allem ihrem Engagement, ihren Vorstellungen darüber, welche Rolle ihr im Sprachenerwerb von Kindern zukommt, und ihrem Gestaltungswillen dazu beiträgt, anregende Lernumgebungen für mehrsprachige Bildung zu schaffen. Professionelle Kompetenzen von pädagogischen Fachkräften für die Sprachenbildung lassen sich über Modelle beschreiben (u. a. Mischo & Fröhlich-Gildhoff, 2011; Blossfeld, 2012; Thoma et al., 2011; zur Kritik an der empirischen Evidenz der Modelle vgl. Peters et al., 2020). In den Kompetenzmodellen werden verschiedene Aspekte benannt, wobei die Überzeugungen pädagogischer Fachkräfte zum Thema Sprachenbildung als ebenso wirksam für das konkrete Handeln identifiziert werden wie das eigentliche Fachwissen (vgl. auch Chilla, 2021). Theoriewissen basiert nach Faas (2013) vor allem auf wissenschaftlich begründeten Erkenntnissen mit bereichs- und themenbezogenem Fachwissen, frühpädagogischem Grundlagenwissen und didaktischem Planungs- und Handlungswissen. Das eher implizite und erfahrungsbasierte Praxiswissen wird dagegen über alltägliche Interaktionen generiert (vgl. auch Peters et al., 2020). Für die Sprachenbildung konnten sowohl Zusammenhänge zwischen sprachbezogenem Theoriewissen als auch der Qualität sprachlichen Handelns hergestellt werden (Fried, 2013; Ofner, 2014). Studien zeigen, dass die Einstellungen der pädagogischen Fachkräfte zur Mehrsprachigkeit, das Wissen um mehrsprachige Entwicklung und die Qualität der Bildungseinrichtungen eine bedeutende Rolle für die Berücksichtigung von Mehrsprachigkeit in der KiTa spielen (u. a. Kratzmann et al., 2017), da sich die Einstellungen auf das Denken und das Handeln ausprägen (Fröhlich-Gildhoff et al., 2011; 2014) und im Hintergrund auf das pädagogische Handeln einwirken (vgl. auch Kratzmann et al., 2013; 2017).

Wir nehmen eine pädagogische Perspektive ein, die sich zum Ziel setzt, Kinder dabei zu unterstützen, ihre sprachliche Handlungsfähigkeit in allen ihren Sprachen und ihren »linguistischen Repertoires« (MacSwan, 2019) auszubilden. Das hier vorgestellte Konzept mehrsprachiger Bildung muss sich als pädagogisches Modell in Einrichtungen bewähren, die nicht nur alle Kinder aufnehmen, sondern ihnen auch uneingeschränkte Teilhabe und Gemeinsamkeit innerhalb der Institution garantieren (Prengel, 2011). Wir folgen aktuellen Forschungsergebnissen zum Spracherwerb, die die Rolle der Lernumgebung für den Sprachenerwerb »angehende Mehrsprachige« (Montanari & Panagiotopoulou, 2019, S. 39) betont: Die Kinder erwerben ihre Sprachen gemeinsam und erfahren durch die didaktische Vorbereitung von konkreten Situationen, dass ihr linguistisches Repertoire auch in der KiTa eine wichtige Rolle spielt und im Hinblick auf mehrsprachige Handlungsfähigkeit gewürdigt und erweitert wird. Dies bedeutet, sich unter anderem von den Normvorstellungen im Sinne einer zu erreichenden Altersnorm für bestimmte sprachliche Leistungen zu verabschieden: Mehrsprachige sind nicht einfach zwei Monolinguale in einer Person. Die Spracherwerbswege von mehrsprachigen Kindern in der KiTa sind individuell und können mit monolingualen Testverfahren zwar erhoben, aber nicht bewertet werden, da eine Vielzahl von Faktoren aus der Lernumgebung auf die Testergebnisse einwirkt. Daher wenden wir uns den Forschungsergebnissen zum Sprachenerwerb von Kindern zu, die ihre Sprachen als Heritage-Sprecher:innen erwerben und berücksichtigen darüber hinaus Kinder, die unter den Bedingungen einer Primärbeeinträchtigung mehrsprachig werden. Sie sind ebenso Teil der mehrsprachigen KiTa wie Kinder aus sozial starken Familien oder Kinder aus prekären sozialen Lebenslagen. Der Stand individueller sprachlicher Bildung wird fokussiert und als Ausgangspunkt der Gestaltung von Lernsettings im Sinne von Lernangeboten dienen. Die angenommene Ursache der jeweiligen Unterschiede im Sprachstand wird berücksichtigt, steht aber nicht im Vordergrund. Hattie (2013, 2019) fordert nach einer umfassenden Analyse von schulischen Lehr-/Lernumgebungen und Methoden Lehrkräfte dazu auf: »Wisse, wie du auf deine Schüler:innen wirkst!« Ebenso gilt für die Gestaltung von Bildungsräumen in der KiTa, in der Kinder mehrsprachig sein und werden können: »Kenne deinen Einfluss!« (Hattie & Zierer, 2017). Kratzmann et al. (2017) konnten zeigen: Haben pädagogische Fachkräfte eine positive mehrsprachig-pädagogische Einstellung, dann wird in der KiTa mehrsprachig agiert und das mehrsprachige Handeln unterstützt. Versteht die pädagogische Fachkraft hingegen ihre Rolle vor allem darin, Kinder gut auf die Schule vorzubereiten und/oder alle weiteren Sprachen zugunsten guten Deutscherwerbs zu überwinden, steht dies mehrsprachiger Bildung entgegen (vgl. Kratzmann et al., 2017). Mehrsprachiger Erwerb und mehrsprachige Bildung können unterstützt werden, ohne dass sich die einzelne pädagogische Fachkraft zwischen »Förderung des guten Deutscherwerbs« oder »Förderung des mehrsprachigen Individuums« entscheiden muss. Dies gelingt, indem sich die pädagogische Fachkraft Fachwissen zur Sprachenentwicklung, zur Mehrsprachigkeit und zur Ermöglichung mehrsprachiger Bildung in der KiTa aneignet und dieses reflektiert. So kann der Einfluss erfahrungsbedingter Einstellungen, die einer mehrsprachigen Perspektive entgegenstehen können, minimiert werden. Darüber hinaus ermutigen wir pädagogische Fachkräfte, sich sprachförderliche Herangehensweisen und Strategien anzueignen, um den KiTa-Alltag mehrsprachig und interaktionsfördernd zu gestalten (vgl. auch Egert et al., 2020). Unser Konzept versteht Mehrsprachigkeit im Sinne eines »holistischen« Verständnisses von Bilingualität (Grosjean, 1982; 2010) ( Kap. 3.1.1), mit dem jedes mehrsprachige Kind als einzigartig wahrgenommen wird. Erwerb und Gebrauch mehrerer Sprachen sind geprägt von den verschiedenen Erfahrungen mit den Einzelsprachen und ihren Registern sowie von den Erwerbs- und Gebrauchsbedingungen, und damit auch vom KiTa-Alltag geprägt. Mehrsprachigkeit und Interkulturalität werden so zu »Querschnittsdimensionen institutioneller frühkindlicher Bildung« (Lengyel, 2011). Als Konsequenz reduziert sich sprachliche Bildung für mehrsprachige Kinder nicht nur auf den Erwerb von zwei Lautsprachen. Sie ist Bildung auch für Kinder, die ihre Sprachen unter den Bedingungen von Primärbeeinträchtigungen, in verschiedenen Modalitäten oder bei Sprachentwicklungsstörungen erwerben. Damit wird eine Trennung von sprachlicher Bildung für alle einerseits, Sprachförderung als Prävention und Kompensation »potentiell schädigender Effekte von Entwicklungs- und Sozialisationsrisiken« für »Risiko-Kinder« andererseits und letztlich »nur noch« die Möglichkeit einer »Sprachtherapie« für Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen, wie von Fried (2006, S. 173) vorgeschlagen, obsolet (vgl. auch Diehm & Panagiotopoulou, 2011).

2.3       Möglichkeiten und Grenzen der sprachlichen Bildung im institutionellen Kontext: Evidenzbasierung, Deutsch als Zweitsprache und Mehrsprachigkeit in der KiTa

Mit dem Wunsch danach, in der KiTa gute sprachliche Bildung zu ermöglichen, ist die Vorstellung verbunden, »das Richtige« tun zu können. Dabei verändert sich oft scheinbar von einem Tag auf den anderen, was vonseiten der pädagogischen Expert:innen, der Wissenschaft oder von Eltern als »richtig« oder »sinnvoll« gewertet wird. Denn wie die sprachliche Bildung mehrsprachig in der Migration aufwachsender Kinder gelingen kann, ist Gegenstand aktueller Forschungen und Diskussionen. Viele Faktoren können die Gestaltung von Lernarrangements in der KiTa beeinflussen, sodass oft gefordert wird, die »pädagogische Qualität« und die »Evidenzbasierung pädagogischen Handelns« zu verbessern. Die Frage »Woher weiß ich, was wie wirkt?« stellt sich im sprachpädagogischen Alltag täglich neu. In der Praxis haben sich meist gut erprobte Materialien aus der Förderung des Deutschen als Fremd- oder Zweitsprache bewährt, doch konkurrieren diese positiven Erfahrungen oft mit den Ergebnissen des sehr aktiven Forschungsfeldes Mehrsprachigkeit.

»Weitgehend Konsens herrscht mittlerweile darüber, dass formale Lernprogramme kaum das richtige Instrument sind. ›Es bringt nichts, den Kindern Kärtchen vorzulegen und sie Begriffe nachsprechen zu lassen‹, sagt Heidi Keller vom Niedersächsischen Institut für Frühkindliche Bildung und Entwicklung. Eine Sprache lerne man beim ständigen Zuhören und Sprechen, wofür der KiTa-Alltag durchaus genug Anlässe biete. Die Erzieher müssten sie jedoch nutzen« (Spiewak in: Die Zeit 36/2012).

Gerade im Kontext mehrsprachiger Bildung gibt es fast täglich neue Förderempfehlungen oder Materialien, die den KiTa-Alltag bereichern sollen. Doch wie kann der:die Erzieher:in entscheiden, welcher Anlass welche Gelegenheit bietet und wie diese optimal genutzt werden kann? Zunächst gilt es zu prüfen, welches Material für welchen Anlass entwickelt wurde (Kany & Schöler, 2010). Mit der nachfolgenden Tabelle 1 ( Tab. 1) wird versucht, die große Vielzahl von Sprachförder- bzw. Sprachbildungsansätzen im Überblick und prägnant zu systematisieren (vgl. auch Schneider et al., 2012). Bildungs- und Förderangebote werden im Hinblick auf Organisation, Adressaten, Inhalt und Methodik eingeordnet. Bezüglich der Organisation wird unterschieden, ob Kinder additiv und damit außerhalb der Angebote für die ›Regelgruppe‹ oder alltagsintegriert und somit mit allen Kindern gemeinsam, sprachpädagogisch angesprochen werden. Ganzheitliche Sprachförderkonzepte stehen in der Tradition des Situationsansatzes und knüpfen an aktuelle Bedürfnisse des Kindes an. Sie stellen eher Rahmenkonzepte dar, geben aber keine isolierten konkreten Inhalte vor. Während sich bestimmte (sprachliche) Handlungen an alle Kinder richten und die individuellen – also auch die sprachlichen – Bedürfnisse individuell beantwortet werden, richten sich kompensatorische Maßnahmen oft an bestimmte abzugrenzende Zielgruppen, z. B. Kinder mit spätem Zweitspracherwerb und Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen. Die eigentliche Methodik der Sprachförderung kann auf diese Weise eher festgelegt und strukturiert in festen Abfolgen von Sprachfördereinheiten sein; ein Vorgehen, wie es Programme oft bereithalten oder individuell und flexibel handhaben.

Abb. 3: Früher Zweitspracherwerb?

Tab. 1: Überblick von Sprachförderprogrammen

Pädagogische Fachkräfte bevorzugen Förderkonzepte, die wenig vorbereitungsintensiv sind und stattdessen beispielsweise die phonologische Bewusstheit sowie Sprachregeln betonen (vgl. Schweitzer, Biesinger & Edelbrock, 2008). Oder sie verwenden strukturierte Einheiten mit Materialien, die weniger sprachwissenschaftlich begründet sind, aber dafür bunt gestaltet und offensiv vermarktet werden (vgl. Roth, 2007). In einem umfangreichen Forschungsverbund wird gegenwärtig der Frage nachgegangen, wie wirksam Sprachförderung in der KiTa ist (BiSS-Initiative, 2014). Grundgerüst dieses Forschungsvorhabens ist die wissenschaftliche Erkenntnis, dass man nicht nur zu wenig darüber weiß, welche Förderprogramme wirken, sondern auch darüber, wie die:der Erzieher:in solche Förderprogramme zur Sprachbildung in der KiTa einsetzt. Die Evidenzbasierung bzw. die Bewertung davon, was »wirkt«, kann dabei auf verschiedenen Ebenen erfolgen (vgl. auch Schneider et al., 2012; Robey, 2004; Hartmann, 2013).