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Fritz Neuhaus aus Berlin-Charlottenburg ist ein echter Lebenskünstler - und einfach viel zu gutmütig. Gerade hat er sich dazu überreden lassen, seinen betrunkenen Freund Ludwig als Grabredner zu vertreten, als ihn schon der nächste „Auftrag“ heimsucht: Frau Stadl, seine Nachbarin aus dem feudalen Vorderhaus, überzeugt ihn mit den Worten „Er ist lieb, aber schwierig“, während einer Geschäftsreise auf ihren Sohn Philip in ihrer Wohnung aufzupassen. Und tatsächlich - der 17-Jährige sitzt dort völlig verstört in einem Schrank, trägt eine Pitbull-Maske und äußert sich nur in Tierlauten. Doch kurz darauf beginnen Fritz’ Probleme erst richtig: Frau Stadl beschimpft ihn wüst am Telefon, seine Wohnung wird mit obszönen Graffitis besprüht und schließlich schießt man auch noch auf ihn. Als zwischen Sohn und Mutter ein mörderischer Zweikampf entbrennt, ist es längst zu spät - Fritz Neuhaus steckt schon mittendrin …
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Seitenzahl: 359
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Jochen Senf
Kindswut
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2010 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 07575/2095-0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2010
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung / Korrekturen: Daniela Hönig, Doreen Fröhlich
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Bildes von Lutz Eberle
ISBN 978-3-8392-3466-2
Der Tag war zwar noch jung, aber Ludwig hatte bereits Schlagseite und Martha hatte sich, wie fast immer, bei ihm untergehakt. Das sah so locker aus. In Wahrheit stützte sie ihn, damit er sich nicht in den eigenen Beinen verfing. Ludwig galt schon lange als talentierter Lyriker, der sein Geld mit Grabreden verdiente. Böse Zungen behaupteten, nach gehaltener Rede sei er schon in manches Grab gefallen. Ludwig war dürr, hatte strähniges, dünnes blondes Haar, eine Nickelbrille und ein ständiges Kasperlelächeln um die große Nase herum. Er trug immer den gleichen, viel zu großen Regenmantel, in dem er nach dem letzten Gedicht suchte, um es den Anwesenden vorzutragen. Er fand das Gedicht nie. Er suchte es immer wieder. Mal leise in den Manteltaschen tastend, als sei das Gedicht ein scheuer Vogel, den es zu erhaschen galt, mal hektisch, als müsse er eine Haselnussmaus fangen. Martha war auffallend hübsch, biegsam und voller Grazie, und sie hatte einen Mund, der in einem fort »Küss mich!« zu flüstern schien. Sie war bedeutend jünger als Ludwig, zehn Jahre mindestens. Wie kam dieser Grabredner, der vor Trunkenheit öfters vom Stuhl fiel oder mit der Stirn vornüber unversehens auf die Tischplatte knallte, zu dieser Frau, fragte ich mich nicht zum ersten Mal. Martha war eine wunderbare, leider erfolglose Malerin, die ihre Leidenschaft in wild lodernden Farben auf großformatigen Leinwänden austobte. Leider sonst nirgends. Bis auf Ludwig. Ihre Augen waren leuchtend und türkisgrün.
Sie standen jetzt an meinem Tisch vor dem ›Dollinger‹. Es war ein sonniger Herbstnachmittag. Die Blätter waren bunt und segelten elegant bei dem leichten Wind von den Ästen, die Spatzen tschilpten, saßen auf den Stuhllehnen und äugten nach Brotkrümeln, und ich hatte mich gerade für frischen Dorsch auf Wurzelgemüse mit Kroketten entschieden. Ludwig grinste verschwommen.
»Wir dürfen doch?« Noch nuschelte er nicht. Ich nickte. Ludwig schaffte es, sich auf den Stuhl zu setzen. Dabei verhedderte er sich. Die Lehne des Stuhles war unter den Mantel geraten und versteifte seinen Rücken. Ludwig fuchtelte mit den Armen und grinste dabei sein Kasperlelachen, was ihm auch jetzt diesen gewissen jungenhaften Charme verlieh, der ihn für Martha so anziehend machte. Martha zog ihn am Mantelkragen wieder hoch. Dabei hingen Ludwigs Arme schlaff herunter. Sein Kopf baumelte wie der einer willenlosen Marionette. Der Mantel spannte unter den Achseln. Das Lachen zog sich immer noch von einem Ohr zum andern. Die Stuhllehne klemmte im Mantel und ließ ihn nicht los. Martha zog heftiger. Doris servierte ein Glas Grauburgunder. Das war Ludwigs Leibgetränk. Martha stellte einen Fuß auf den Stuhl, um endlich ihren Ludwig zu befreien. Ein letzter Ruck, eine letzte rudernde Bewegung von Ludwig mit den Armen, Martha hatte eine erstaunliche Kraft, das volle Glas segelte vom Tisch und Ludwig war frei. Er schwankte leicht auf dem Stuhl und suchte mit den Augen das verschwundene Weinglas. Dabei krabbelte seine linke Hand ziellos über die Tischplatte, als suchte auch sie nach dem Objekt. Ludwig lachte nach wie vor. Er hatte nicht mitbekommen, dass er das Glas vom Tisch gewischt hatte. Doris brachte ein neues. Sie kannte diese Szenen.
»Da bist du ja.« Ludwig nahm das Glas und stürzte es mit einem Zug herunter. »Noch eins.«
Martha wusste, was, wie so oft und immer wieder, gleich passieren würde nach einem weiteren Glas Grauburgunder. Sie nickte trotzdem, als Doris ihr einen Blick zuwarf.
»Du musst es wissen.« Doris ging wieder.
Ludwig hob den Kopf und lächelte mich an. »Alles bestens.« Er versuchte, sich zu erheben. »Muss mal aufs Klo.« Doris brachte ein neues Glas Wein. Ludwig wankte Richtung Toilette.
»Ich kapier dich nicht«, sagte Doris zu Martha, als sie das Glas auf den Tisch stellte. Martha reagierte nicht. Ein Handy klingelte. Es war das von Martha. Sie erhob sich und ging ein paar Schritte weg vom Tisch, um die Unterhaltung zu führen. »Die tickt doch nicht richtig«, schnaubte Doris und ging. Ich schaute auf das volle Glas Grauburgunder. Mir war er zu sauer. Das Schaumgebirge auf meinem Cappuccino war in sich zusammengesunken. Ein schokoladenbrauner, unansehnlicher Teppich. Martha hatte ihr Gespräch beendet und setzte sich mir gegenüber. Doris erschien in der Tür. »Komm mal.« Martha verstand. Sie erhob sich und ging an mir vorbei ins ›Dollinger‹. Sie holte Ludwig von der Toilette. Allein schaffte er es nicht mehr. Wieso macht die das alles?, überlegte ich. Die Gedichte von Ludwig waren nicht schlecht, und in nüchternem Zustand war er ein liebenswürdiger Kerl. Aber meistens war er nicht nüchtern. Martha kam mit Ludwig zurück. Sie bugsierte ihn vor sich her bis zum Stuhl. Er ließ sich auf ihn fallen und nahm sich sofort das volle Glas. Er trank es wieder mit einem Zug leer.
»Frau Maibaum hat eben angerufen.« Ludwig reagierte nicht. Er schaute ins leere Glas und lächelte vergnügt. Jetzt war er nicht mehr verhandlungsfähig. Martha schaute mich an. »Kannst du uns einen Gefallen tun?« Ich hätte besser nein gesagt. »Um was geht’s denn?« In Ludwig kam wieder etwas Leben. »Gute Idee.« Scheinbar wusste er bereits, um welchen Gefallen es sich handelte, um den mich Martha gleich bitten würde. »Sehr gute Idee.«
»Ludwig soll morgen auf einer Beerdigung eine Grabrede halten. Der Mann von Frau Maibaum ist gestorben. In einer Stunde soll die Vorbesprechung für morgen stattfinden. Das schaffen wir nicht, in dem Zustand, in dem Ludwig ist.« Ich ahnte, was ihr Begehr war, sagte aber nichts. »Könntest du das nicht für uns erledigen?«
»Wie stellst du dir das denn vor?«
»Meine Güte, du gehst hin, besprichst alles mit ihr, und morgen hältst du die Grabrede.« Ich wollte nicht. Das sah sie mir an. »Bitte, Fritz, sie ist eine gute Kundin, mit einem riesigen Freundinnenkreis, da sterben ständig die Männer.« Ich verstand. Diese sichere Einnahmequelle sterbender Ehemänner wollte Martha nicht verlieren.
»Ich habe dich schon angekündigt.«
»Du spinnst ja wohl.«
»Sie zahlt gut. 500 Euro.«
»Ich brauche das Geld nicht.«
»Fritz, bitte.«
»Ludwig soll einfach weniger saufen, mein Gott!«
»Du wirst dich bestens amüsieren. Die Witwe ist eine ganz heiße Braut.« Bei mir klingelten sämtliche Alarmglocken. Heiße Braut. Wenn ich das schon hörte.
»Sie wird dir gefallen. Bist du nicht solo?«, strahlte Martha mich an und blinzelte mit den Augen, als wollte sie mich auf der Stelle im ›Dollinger‹ vernaschen. Ludwig lächelte immer noch vergnügt in sein leeres Weinglas. Doris brachte schon das nächste. Nach diesem Glas würde Ludwig vom Stuhl kippen.
»Warum tust du dir das an?« Martha zuckte mit den Schultern. Sie gab mir eine Mappe. »Da steht alles drin.« Ich ließ die Mappe unberührt auf dem Tisch liegen.
»Ich habe noch nie eine Grabrede gehalten.«
»Fritz, das machst du doch mit links.«
»Wieso sterben denen ständig die Männer weg?«
»Das war nur so dahingesagt.« Sie sah mich flehentlich an. Es fiel mir schon immer schwer, nein zu sagen. Ich fürchtete schwersten Liebesverlust. Bestimmt würde mich Martha in Zukunft keines Blickes mehr würdigen. Es könnte mir egal sein. Was hatte sie vorzuweisen? Diesen lächerlichen Ludwig, der seine lange Nase gerade ins volle Weinglas tunkte. Dabei verschluckte er sich. Er hatte den Wein in der Nase hochgezogen. Mir reichte es.
»Fritz. Bitte.«
»Also gut. Wann muss ich da heute hin?«
»Heute Abend um sieben. Die Adresse findest du in den Unterlagen vor dir.«
Ich nahm die Mappe. »Aber nur dir zuliebe.«
»Fritz, du bist ein Schatz. Ruf an, wenn es Fragen gibt.« Ich verabschiedete mich. Doris servierte am Nachbartisch den frischen Dorsch. Er sah köstlich aus.
»Wir kommen auch«, rief mir Ludwig hinterher. »Das wird sehr lustig. Du bist also nicht allein.«
Er lachte.
Über mir wurden drei Wohnungen gleichzeitig saniert. Es herrschte seit Wochen ein Höllenlärm, dessen Ende nicht abzusehen war. Ab acht Uhr morgens dröhnten die Schleif- und Bohrmaschinen. Der Krach war nicht auszuhalten. Meine Nerven flatterten. Ich trieb mich tagsüber in Kinos, Kneipen, Galerien oder bei Bekannten herum. Ich dachte daran, mir auf Kosten des Vermieters ein Hotelzimmer zu besorgen. Ich verwarf den Gedanken. Um die Ecke meiner Wohnung in einem Hotel zu wohnen erschien mir abartig.
Im feudalen Vorderhaus wohnte Frau Stadl. Sie war um die 50 und hatte einen Sohn.
›Er ist lieb, aber schwierig‹, das sagte sie immer, wenn ich sie traf. Völlig unaufgefordert blieb sie stehen, als wären wir alte Bekannte, und begann ein Gespräch. Dabei hatten wir unlängst eine unliebsame Begegnung gehabt. Sie saß frühmorgens im ›Dollinger‹ und las Zeitung. Sie hatte alle verfügbaren Nachrichtenblätter auf einmal beschlagnahmt und vor sich auf den Tisch gestapelt. Ich fragte sie, ob ich eine der Zeitungen haben dürfte.
»Wieso?«
»Sie können doch nicht alle auf einmal lesen.«
»Der Mann belästigt mich«, sagte sie zu Lutz, dem Kellner, und legte ihre Arme auf die Zeitungen, die in Zeitungshefter eingeklemmt waren. Lutz tippte sich nur an die Stirn und warf mir einen entsprechenden Blick zu. Ich hätte Gewalt anwenden müssen, um eines der Blätter unter ihren Armen hervorzuziehen. Sie sah mich herausfordernd an.
Ein paar Tage später sprach sie mich wieder an, als wäre nichts gewesen. Es ging wieder um ihren lieben, aber schwierigen Sohn. Sie erläuterte nicht, was den Sohn so schwierig machte, obwohl er lieb war. Sie schaute merkwürdig verhangen ins Leere, wenn sie von ihrem Sohn sprach. Als schaute sie auf einen Geist, der vorbeischwebte.
»Er ist lieb, aber schwierig.« Mehr sagte sie nicht über ihren Sohn. Den Satz wiederholte sie durchaus mehrmals. Dabei spitzte sie ihren Mund.
Sie war groß und schlank, hatte für ihr Alter eine blendende Figur und ein waches Gesicht unter welligem, kastanienbraunem langen Haar, das sie bisweilen mit einer Kopfbewegung aus der Stirn scheuchte. Ihr Mund war sinnlich. Das Kinn voller Energie. Ihr fehlte nur noch eine Reitgerte, mit der sie dirigierte und befehligte. Und ein hohes Ross zwischen den Schenkeln, die sich in ihrem Hosenanzug schön abzeichneten. Sie war eine Gutsbesitzerin ohne Gut und Gutsbesitzer, die sie beherrschen und verwalten konnte. Genau diese Ausstrahlung hatte sie. Immer eine Spur überdreht. Als müsste sie zehn Dinge gleichzeitig erledigen, es aber nie schaffen. Nie! Immer blieb etwas liegen! Immer Versagerin! Vielleicht ertrug der Sohn seine Mutter nicht?
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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