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Ein Epos um Gut und Böse, Liebe und Hass - die Vorgeschichte zu Ken Folletts Weltbestseller "Die Säulen der Erde"
England im Jahr 997. Im Morgengrauen wartet der junge Bootsbauer Edgar auf seine Geliebte. Deshalb ist er der Erste, der die Gefahr am Horizont entdeckt: Drachenboote. Jeder weiß: Die Wikinger bringen Tod und Verderben über Land und Leute.
Edgar versucht alles, um die Bürger von Combe zu warnen. Doch er kommt zu spät. Die Stadt wird beinahe völlig zerstört. Viele Menschen sterben, auch Edgars Familie bleibt nicht verschont. Die Werft der Bootsbauer brennt nieder. Edgar bleibt nur ein Ausweg: ein verlassener Bauernhof in einem Weiler fern der Küste.
Während Edgar ums Überleben kämpft, streiten andere um Reichtum und Macht in England. Unter ihnen: der gleichermaßen ehrgeizige wie skrupellose Bischof Wynstan, der idealistische Mönch Aldred und Ragna, die Tochter eines normannischen Grafen ...
Edgar, Ragna, Wynstan, Aldred - ihre Schicksale sind untrennbar miteinander und mit ihrer Zeit verbunden. Ihr Land, das England der Angelsachsen, ist eine Gesellschaft voller Gewalt. Eine Gesellschaft, in der selbst der König es schwer hat, Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen.
Gemeinsam mit Edgar, Ragna, Wynstan und Aldred erleben wir den Übergang von dunklen Zeiten ins englische Mittelalter - und den Aufstieg eines unbedeutenden Weilers zum Ort Kingsbridge, den wir seit "Die Säulen der Erde" kennen und lieben.
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Seitenzahl: 1261
Ein Epos um Gut und Böse, Liebe und Hass – die Vorgeschichte zu Ken Folletts Weltbestseller "Die Säulen der Erde"
England im Jahr 997. Im Morgengrauen wartet der junge Bootsbauer Edgar auf seine Geliebte. Deshalb ist er der Erste, der die Gefahr am Horizont entdeckt: Drachenboote. Jeder weiß: Die Wikinger bringen Tod und Verderben über Land und Leute.
Edgar versucht alles, um die Bürger von Combe zu warnen. Doch er kommt zu spät. Die Stadt wird beinahe völlig zerstört. Viele Menschen sterben, auch Edgars Familie bleibt nicht verschont. Die Werft der Bootsbauer brennt nieder. Edgar bleibt nur ein Ausweg: ein verlassener Bauernhof in einem Weiler fern der Küste.
Während Edgar ums Überleben kämpft, streiten andere um Reichtum und Macht in England. Unter ihnen: der gleichermaßen ehrgeizige wie skrupellose Bischof Wynstan, der idealistische Mönch Aldred und Ragna, die Tochter eines normannischen Grafen …
Edgar, Ragna, Wynstan, Aldred – ihre Schicksale sind untrennbar miteinander und mit ihrer Zeit verbunden. Ihr Land, das England der Angelsachsen, ist eine Gesellschaft voller Gewalt. Eine Gesellschaft, in der selbst der König es schwer hat, Recht und Gerechtigkeit durchzusetzen.
Gemeinsam mit Edgar, Ragna, Wynstan und Aldred erleben wir den Übergang von dunklen Zeiten ins englische Mittelalter – und den Aufstieg eines unbedeutenden Weilers zum Ort Kingsbridge, den wir seit "Die Säulen der Erde" kennen und lieben.
Ken Follett, geboren 1949 in Cardiff, Wales, gehört zu den erfolgreichsten Autoren der Welt. Mit seinen Romanen DIE SÄULEN DER ERDE und der Fortsetzung DIE TORE DER WELT, die beide auch erfolgreich verfilmt wurden, führte er das Genre des Historischen Romans zu neuer Beliebtheit. Nach einigen Thrillern hat er mit STURZ DER TITANEN, WINTER DER WELT und KINDER DER FREIHEIT eine groß angelegte Chronik des 20. Jahrhunderts vorgelegt, in der er die Geschichte von fünf miteinander verbundenen Familien aus Amerika, Deutschland, Russland, England und Wales erzählt. Im September 2017 erschien sein lang erwarteter historischer Roman DAS FUNDAMENT DER EWIGKEIT, eine Fortführung seiner weltbekannten Kingsbridge-Romane. Sein neuer Roman erzählt die Vorgeschichte von DIE SÄULEN DER ERDE.
Ken Follett
KINGSBRIDGE
DER MORGENEINER NEUENZEIT
Historischer Roman
Übersetzung aus dem Englischen vonDietmar Schmidt und Rainer Schumacher
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Dieser Titel ist auch als Hörbuch erschienen.
Titel der englischen Originalausgabe:
»The Evening and the Morning«
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2020 by Ken Follett
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2020/2022 by Bastei Lübbe AG, Köln
Textredaktion: Dr. Helmut Pesch, Köln
Karten und Innenillustrationen: Markus Weber, Guter Punkt, München
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenau
Umschlagmotiv: © dwph/shutterstock; © Whiteway/gettyimages; © Helm: Entworfen und gezeichnet von Daren Cook
eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-7325-9422-1
luebbe.de
lesejury.de
In memoriam
E. F.
Durch den Untergang des Römischen Reiches ging es auch mit England abwärts. Während die römischen Villen verfielen, errichteten die Menschen Holzhütten mit nur einem Raum und ohne Kamin. Die römische Töpferkunst – wichtig zur Lagerung von Lebensmitteln – geriet weitgehend in Vergessenheit. Immer weniger Menschen beherrschten das Lesen und Schreiben.
Man nennt diese Epoche manchmal das finstere Mittelalter, und fünfhundert Jahre lang ging es mit dem Fortschritt kaum voran.
Dann endlich begannen sich die Dinge allmählich zu ändern …
Edgar fand es schwierig, die ganze Nacht lang wach zu bleiben, dabei war es die wichtigste Nacht seines Lebens.
Er hatte seinen Umhang über die Binsen auf dem Fußboden gebreitet und lag nun darauf in seinem knielangen Hemd aus brauner Wolle, das er den ganzen Sommer lang trug, Tag und Nacht. Im Winter hüllte er sich in den Umhang und lag in der Nähe der Feuerstelle. Jetzt aber hatten sie warmes Wetter: Bis zum Mittsommertag war nur noch eine Woche.
Edgar hatte sich schon immer mit den Daten ausgekannt. Die meisten Leute mussten Priester fragen, die Kalender führten. Sein älterer Bruder Erman hatte Edgar einmal gefragt: »Wie kommt es, dass du weißt, wann Ostern ist?«, und er hatte geantwortet: »Weil Ostern am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond gefeiert wird, der auf den einundzwanzigsten März folgt, ist doch klar.« Es war ein Fehler gewesen, das »ist doch klar« anzufügen, denn Erman hatte ihn für seine Frechheit in den Bauch geboxt. Das war Jahre her, Edgar war noch klein gewesen. Jetzt war er erwachsen. Drei Tage nach Mittsommer war sein Geburtstag; achtzehn Jahre würde er alt. Seine Brüder prügelten ihn längst nicht mehr.
Edgar schüttelte den Kopf. Unzusammenhängende Gedanken drohten ihn in den Schlaf hinabzuziehen. Er versuchte, es sich so unbequem wie möglich zu machen, legte den Kopf auf die geballte Faust, damit er wach blieb.
Wie lange musste er noch warten?
Er drehte den Kopf und sah sich im matten Schein der Glut um. Sein Zuhause glich den meisten anderen Häusern in der kleinen Stadt Combe: Bretterwände aus Eiche, ein Strohdach und ein Boden aus gestampfter Erde, der teilweise mit Binsen bedeckt war, welche am Ufer des nahen Flusses wuchsen. Fenster gab es keine. Mitten in dem einzigen Zimmer bildete ein Viereck aus Steinen den Herd. Über dessen Mitte erhob sich ein eiserner Dreifuß, an den Kochtöpfe gehängt werden konnten. Seine Beine warfen spinnenartige Schatten an die Unterseite des Dachs. In alle Wände waren hölzerne Haken geschlagen, an denen Kleidungsstücke, Kochgeschirr und Werkzeuge zum Bootsbau hingen.
Edgar war sich nicht sicher, wie weit die Nacht schon vorgerückt war, denn er mochte zwischenzeitlich schon mal eingenickt sein, vielleicht sogar mehr als einmal. Vorhin hatte er auf die Geräusche der Stadt gehorcht, die sich zur Ruhe begab: zwei Betrunkene, die ein obszönes Liedchen sangen, ein Ehestreit in einem Nachbarhaus mit bitteren gegenseitigen Beschuldigungen, eine knallende Tür, ein bellender Hund und irgendwo in der Nähe eine schluchzende Frau. Jetzt jedoch drang nichts an seine Ohren als das leise Schlaflied der Wellen, die an den geschützten Strand schlugen. Edgar starrte zur Tür, suchte nach den verräterischen Lichtstreifen an den Rändern und sah nur Dunkelheit. Entweder war der Mond untergegangen, dann war die Nacht schon weit, oder der Himmel hatte sich zugezogen. Die Düsternis verriet ihm nichts.
Der Rest seiner Familie lag im Zimmer verstreut auf dem Boden, dicht an den Wänden, wo der Rauch dünner war. Pa und Ma lagen Rücken an Rücken. Manchmal erwachten sie mitten in der Nacht und umarmten sich, flüsterten und bewegten sich gemeinsam, bis sie sich keuchend voneinander lösten; nun aber schliefen sie fest. Pa schnarchte. Erman, mit zwanzig der älteste der drei Brüder, lag in Edgars Nähe, und Eadbald, der mittlere, in der Ecke. Edgar hörte ihren ruhigen, gleichmäßigen Atem.
Endlich schlug die Glocke.
Am anderen Ende der Stadt stand ein Kloster. Die Mönche wussten das Verstreichen der Nacht zu messen. Sie zogen große, mit Markierungen versehene Kerzen, an denen sie die Stunde ablasen, während sie hinunterbrannten. Eine Stunde vor der Morgendämmerung standen sie auf, läuteten die Kirchenglocke und sangen die Frühmette.
Edgar blieb noch einen Moment reglos liegen. Vielleicht hatte die Glocke Ma geweckt, denn sie hatte einen leichten Schlaf. Er ließ ihr Zeit, wieder fest einzuschlummern. Dann endlich erhob er sich.
Lautlos nahm er seinen Umhang, seine Schuhe und den Gürtel, an dem in einer Scheide sein Dolch hing. Auf bloßen Füßen schlich er durch den Raum und wich den wenigen Möbelstücken aus: einem Tisch, zwei Schemeln und einer Bank. Die Tür öffnete sich ohne Geräusch. Edgar hatte die hölzernen Angeln erst gestern sorgfältig mit Schaftalg geschmiert.
Wenn jemand aus seiner Familie erwachte und ihn ansprach, würde er sagen, er müsse mal nach draußen. Er hoffte, dass sie nicht bemerkten, dass er seine Schuhe dabeihatte.
Eadbald gab ein Raunzen von sich. Edgar erstarrte. War Eadbald aufgewacht, oder machte er nur Laute im Schlaf? Edgar wusste es nicht zu sagen. Aber Eadbald war von Natur aus schwerfällig, immer darauf bedacht, Aufsehen zu vermeiden, ganz wie Pa. Er würde keinen Ärger machen.
Edgar verließ das Haus und zog leise die Tür hinter sich zu.
Der Mond war untergegangen, doch der Himmel war klar, und Sterne erhellten den Strand. Zwischen Haus und Spülsaum lag eine Bootswerft. Pa war Bootsbauer, und seine drei Söhne arbeiteten für ihn. Er war ein guter Handwerker, aber ein schlechter Geschäftsmann, und so traf Ma alle Entscheidungen, bei denen es um Geld ging. Vor allem kümmerte sie sich um die Kostenvoranschläge, insbesondere, wenn es um größere Aufträge wie ein ganzes Boot oder Schiff ging. Oft versuchte ein Kunde, den Preis herunterzuhandeln, und während Pa im Zweifelsfall dazu neigte nachzugeben, zwang Ma ihn stets, sich zu behaupten.
Edgar ließ seinen Blick über die Werft schweifen, während er sich die Schuhe band und den Gürtel umlegte. Nur ein Fahrzeug war im Bau, ein kleines Boot, mit dem man flussaufwärts rudern konnte. Daneben stand ein großer und wertvoller Stapel Bauholz: Baumstämme, die in Hälften und Viertel gespalten waren und nur noch zu den Bauteilen eines Bootes geformt zu werden brauchten. Ungefähr einmal im Monat zog die ganze Familie in den Wald und fällte eine ausgewachsene Eiche. Pa und Edgar fingen an, indem sie abwechselnd langstielige Äxte schwangen und geschickt einen Keil aus dem Baumstamm schlugen. Wenn sie sich verausgabt hatten, übernahmen Erman und Eadbald. Nachdem der Baum gefallen war, entfernten sie die Äste, schleiften den Stamm zum nächstgelegenen Wasserlauf und ließen ihn flussabwärts nach Combe treiben. Für das Holz mussten sie natürlich bezahlen: Der Wald gehörte Than Wigelm, an den die meisten Einwohner von Combe ihre Pacht entrichteten, und er verlangte für jeden Baum zwölf Silberpennys.
Außer dem Holzstapel gab es auf der Werft ein Fass Teer, eine Rolle Seil und einen Wetzstein. Bewacht wurde alles von einem Kettenhund, einem Molosser namens Grendel. Er war schwarz und hatte eine graue Schnauze, und er war zu alt, um Dieben besonders gefährlich zu werden, aber bellen konnte er noch. Nun hielt Grendel Ruhe und beobachtete Edgar gleichgültig, den Kopf auf die Vorderpfoten gelegt. Edgar kniete sich nieder und streichelte ihm den Kopf. »Auf Wiedersehen, alter Junge«, murmelte er. Grendel wedelte mit dem Schwanz, ohne sich zu erheben.
Ein fertiges Boot lag in der Werft. Edgar betrachtete es als sein Eigentum, denn er hatte es allein gebaut, nach einem eigenen Plan, der auf einem Wikingerschiff beruhte. Edgar hatte noch nie einen Wikinger gesehen – solange er lebte, hatten sie Combe verschont –, aber vor zwei Jahren war ein Wrack an Land gespült worden, leer und von Feuer geschwärzt. Der Drache am Bug war halb zerstört gewesen, und vermutlich hatte das Schiff seine Schäden in einem Kampf erlitten. Doch selbst in seinem versehrten Zustand war es von einer Anmut, die Edgar seltsam berührte: die geschwungenen Linien, der lange Schlangenhals des Vorderstevens, der schlanke Rumpf. Am meisten beeindruckt hatte ihn der schwere, vorn und hinten hochgezogene Kiel, der über die ganze Länge des Schiffes verlief und – wie er nach einigem Nachdenken begriffen hatte – dem Fahrzeug die nötige Stabilität gab, um das Meer zu überqueren. Edgars Boot war ein kleinerer Nachbau mit zwei Rudern und einem kleinen rechteckigen Rahsegel.
Edgar wusste, dass er eine besondere Begabung besaß. Schon jetzt war er ein besserer Bootsbauer als seine älteren Brüder, und früher oder später würde er auch seinen Vater übertreffen. Er hatte ein Gespür dafür, wie sich unterschiedlich geformte Einzelteile zu einem stabilen Ganzen zusammenfügten. Vor Jahren hatte er mitgehört, wie Pa zu Ma sagte: »Erman lernt langsam, und Eadbald lernt schnell, aber Edgar hat anscheinend alles schon verstanden, bevor ich es ausgesprochen habe.« Das stimmte. Es gab Männer, die konnten ein Musikinstrument in die Hand nehmen, auf dem sie noch nie gespielt hatten, eine Flöte oder eine Leier, und nach ein paar Minuten entlockten sie ihm die erste Melodie. Edgar hatte solch einen Instinkt, was Boote anging und Häuser ebenso. Wenn er sagte: »Das Boot wird nach Steuerbord krängen«, oder: »Das Dach ist bald undicht«, so behielt er stets recht.
Er band sein Boot los und schob es über den Strand. Das Schaben des Rumpfes auf dem Sand wurde vom Rauschen der Wellen verschluckt, die sich am Ufer brachen.
Ein mädchenhaftes Kichern erschreckte ihn. Im Licht der Sterne sah er eine nackte Frau im Sand liegen, auf ihr ein Mann. Edgar kannte sie vermutlich, doch ihre Gesichter waren nicht deutlich zu sehen, und er schaute rasch weg, denn er wollte sie gar nicht erkennen. Er hatte sie wohl bei einem verbotenen Stelldichein überrascht. Die Frau wirkte jung, und vermutlich war der Mann verheiratet. Die Geistlichkeit prangerte solche Verhältnisse in ihren Predigten an, doch die Menschen hielten sich nicht immer an die Gebote. Edgar beachtete das Pärchen nicht weiter und schob sein Boot ins Wasser.
Als er zum Haus zurückblickte, überkam ihn ein Anflug von Reue, und er fragte sich, ob er das einzige Zuhause, an das er sich erinnern konnte, jemals wiedersehen würde. Nur weil man es ihm erzählt hatte, wusste er, dass er in einer anderen Stadt geboren worden war, in Exeter, wo sein Vater für einen Bootsbaumeister gearbeitet hatte. Edgar war noch ganz klein gewesen, als die Familie nach Combe zog, wo Pa mit einem Auftrag für ein Ruderboot begann, seine eigene Werft aufzubauen; aber daran konnte sich Edgar nicht mehr erinnern. Combe war die einzige Heimat, die er kannte, und nun war er im Begriff, sie endgültig zu verlassen.
Er hatte Glück, woanders eine Beschäftigung gefunden zu haben. Die Geschäfte liefen immer schlechter, seit die Wikinger wieder den Süden Englands überfielen – neun Jahre alt war Edgar gewesen, als es erneut losging. Handel und Fischfang waren gefährlich, solange die Seewölfe in der Nähe waren. Nur tapfere Männer kauften Boote.
Drei Schiffe lagen im Hafen, sah er nun im Sternenlicht: zwei Heringsfänger und ein fränkisches Handelsschiff. Auf den Strand gezogen waren ein paar kleinere Fahrzeuge, Fluss- und Küstenboote. Beim Bau eines der Fischerboote hatte er geholfen. Er konnte sich an eine Zeit erinnern, als immer ein Dutzend oder mehr Schiffe im Hafen gelegen hatten.
Von Südwesten kam eine frische Brise; das war hier der vorherrschende Wind. Sein Boot hatte ein Segel – ein kleines, denn sie waren kostspielig: Vier Jahre brauchte eine Frau, um ein Großsegel für ein seetüchtiges Schiff anzufertigen. Allerdings lohnte es sich für die kurze Fahrt durch die Bucht ohnehin kaum, das Tuch aufzuziehen. Edgar ruderte los, eine Arbeit, die ihm kaum etwas ausmachte. Er war muskulös wie ein Schmied. Bei seinem Vater und seinen Brüdern war es genauso. Sechs Tage in der Woche arbeiteten sie von morgens bis abends mit Beil, Dechsel und Bohrer und formten die Planken, aus denen die Bootsrümpfe bestanden. Die Arbeit war schwer und machte Männer stark.
Seine Stimmung stieg. Er war ungesehen entkommen. Nun würde er sich mit der Frau treffen, die er liebte. Hell leuchteten die Sterne, weiß strahlte der Strand, und als seine Riemen durch die Wasserfläche brachen, sah die Gischt aus wie das Haar, wenn es ihr auf die Schultern fiel.
Sie hieß Sungifu, was gewöhnlich zu Sunni verkürzt wurde, und sie war in jeder Hinsicht außergewöhnlich.
Edgar konnte die Plätze am Strand erkennen, wo Fischer und Händler ihre Arbeitsstätten hatten, dazu die Schmiede des Klempners, der Klampen und Beschläge für Schiffe fertigte, die lange Bahn, auf welcher der Reepschläger seine Seile flocht, und den riesigen Ofen eines Pechbrenners, der Fichtenscheite erhitzte, um die klebrige Masse zu gewinnen, mit der Bootsbauer ihre Fahrzeuge abdichteten. Vom Wasser aus gesehen wirkte die Stadt stets größer als von der Landseite: In ihr waren mehrere Hundert Menschen zu Hause, und die meisten lebten direkt oder indirekt vom Meer.
Er schaute über die Bucht zu seinem Ziel hinüber. In der Dunkelheit hätte er Sunni nicht einmal gesehen, wenn sie dort gestanden hätte, doch das tat sie nicht, denn sie hatten abgemacht, sich bei Sonnenaufgang zu treffen. Trotzdem konnte er nicht anders, er musste auf die Stelle starren, wo sie bald sein würde.
Sunni war einundzwanzig, mehr als drei Jahre älter als Edgar. Sie hatte seine Aufmerksamkeit geweckt, als er am Strand saß und das Wrack des Wikingerbootes betrachtete. Vom Sehen kannte er sie natürlich – er kannte jeden, der in der kleinen Stadt wohnte –, aber vorher war sie ihm nicht sonderlich aufgefallen, und er wusste nichts über ihre Familie. »Bist du mit dem Wrack an Land gespült worden?«, hatte sie ihn gefragt. »Du sitzt so still, ich dachte, du wärst ein Stück Treibholz.« Sie musste Fantasie besitzen, wenn ihr sofort ein solcher Vergleich in den Sinn kam. Er hatte ihr erklärt, was ihn an den Linien des Langschiffs so fesselte, weil er das Gefühl hatte, sie würde ihn verstehen. Über eine Stunde lang hatten sie geredet, und er hatte sich in sie verliebt.
Dann hatte sie ihm gesagt, dass sie verheiratet sei, aber da war es schon zu spät.
Ihr Ehemann hieß Cyneric und war dreißig. Sunni hatte ihn mit vierzehn geheiratet. Er besaß eine kleine Herde Milchkühe, und Sunni betrieb die Meierei. Sie war klug und brachte ihrem Mann viel Geld ein. Kinder hatten sie keine.
Edgar hatte schnell begriffen, dass Sunni ihren Mann hasste. Jeden Tag ging Cyneric nach dem Abendmelken in die Bierschenke und betrank sich. Während er dort war, konnte Sunni sich in den Wald schleichen und mit Edgar treffen.
Von jetzt an wäre das Versteckspiel vorbei. Heute würden sie gemeinsam davonlaufen oder, genauer, davonsegeln. Edgar hatte eine Stellung und ein Haus in einem Fischerdorf fünfzig Meilen die Küste hinauf erhalten. Einen Bootsbauer gefunden zu haben, der Leute einstellte, war ein großes Glück. Edgar hatte kein Geld – er hatte nie welches besessen, denn Ma sagte, er brauche keines –, aber in einem Kasten, der fest mit dem Bootsboden verbunden war, lagen seine Werkzeuge. Sie würden ein neues Leben beginnen.
Sobald feststand, dass sie auf und davon waren, würde sich Cyneric eine neue Frau nehmen. Eine Ehefrau, die mit einem anderen Mann durchbrannte, erklärte sich selbst für geschieden. Der Kirche mochte es nicht gefallen, aber so war es Brauch. Nach ein paar Wochen, sagte Sunni, werde Cyneric sich irgendwo auf dem Land eine furchtbar arme Familie mit einer hübschen vierzehnjährigen Tochter suchen. Edgar fragte sich, wozu der Mann eine Frau wollte. Am ehelichen Verkehr hatte Cyneric, Sunni zufolge, wenig Interesse. »Er will jemanden haben, den er herumschubsen kann«, hatte sie gesagt. »Mit mir wurde es schwieriger, als ich alt genug war, um ihn zu verabscheuen.«
Cyneric würde sie nicht verfolgen, nicht einmal, wenn er herausfand, wohin sie geflohen waren, und diese Gefahr bestand zunächst einmal nicht. »Und falls wir uns irren und Cyneric uns findet, prügle ich ihn windelweich«, hatte Edgar gesagt. Sunnis Miene hatte ihm verraten, dass sie das für törichte Prahlerei hielt, und er wusste, dass sie richtiglag. Hastig hatte er hinzugefügt: »Aber so weit wird es gar nicht kommen.«
Als er das andere Ufer der Bucht erreicht hatte, zog er das Boot auf den Strand und vertäute es an einem Felsen.
Er hörte den Gesang der betenden Mönche. Das Kloster war in der Nähe, und das Haus von Cyneric und Sunni stand ein paar Hundert Schritte weiter.
Er setzte sich auf den Sand, sah aufs dunkle Meer hinaus und in den Nachthimmel und dachte an sie. Ob sie sich genauso leicht davonschleichen konnte wie er? Was, wenn Cyneric aufwachte und verhinderte, dass sie ging? Es konnte zum Kampf kommen; sie konnte verprügelt werden. Mit einem Mal war er versucht, den Plan zu ändern, vom Strand zu ihrem Haus hochzugehen und sie abzuholen.
Mit Mühe unterdrückte er den Drang. Sie kam allein besser zurecht. Cyneric lag im tiefen Schlaf des Rausches, und Sunni bewegte sich leise wie eine Katze. Sie hatte geplant, beim Zubettgehen ihr einziges Schmuckstück um den Hals zu tragen, einen kunstvoll verzierten runden Silberanhänger an einer Lederschnur. Im Beutel an ihrem Gürtel hätte sie Nadel und Faden, die immer nützlich waren, und das gestickte Stirnband aus Leinen, das sie zu besonderen Anlässen trug. Wie Edgar würde sie sich in einem stillen Augenblick aus dem Haus stehlen.
Schon bald würde sie hier sein, mit Augen, die vor Aufregung funkelten. Ihr geschmeidiger Körper sehnte sich nach ihm. Sie würden einander umarmen, sich fest drücken und leidenschaftlich küssen; dann würde sie ins Boot steigen, und er würde es ins Wasser schieben, in die Freiheit. Er würde sie ein wenig hinausrudern und sie wieder küssen. Wie lange, bis sie sich lieben konnten? Sie war gewiss genauso ungeduldig wie er. Er könnte um die Landspitze rudern, dann den Stein am Seil auswerfen, den er als Anker benutzte, und sie könnten sich ins Boot legen, unter die Duchten; es wäre ein bisschen unbequem, aber war das wichtig? Das Boot würde leicht auf den Wellen schaukeln, und auf der nackten Haut würden sie die Wärme der aufgehenden Sonne spüren.
Klüger war es vermutlich, das Segel zu setzen und einen größeren Abstand zwischen sich und die Stadt zu bringen, bevor sie es wagten anzuhalten. Wenn der Tag anbrach, wollte er so weit weg sein wie möglich. Der Versuchung zu widerstehen wäre schwierig, wenn sie so nahe bei ihm war, ihn ansah und glücklich lächelte. Wichtiger jedoch war es, ihre Zukunft zu sichern.
Wenn sie ihre neue Heimat erreichten, würden sie sagen, sie wären bereits verheiratet; so war es beschlossen. Bisher hatten sie noch nie eine Nacht zusammen im Bett verbracht. Von heute an würden sie jeden Abend gemeinsam das Nachtmahl einnehmen, die ganze Nacht hindurch in den Armen des anderen liegen und einander am Morgen wissend anlächeln.
Am Horizont entdeckte er einen Lichtschimmer. Bald würde die Sonne aufgehen. Sunni musste nun jeden Augenblick kommen.
Bedauern empfand er nur, wenn er an seine Familie dachte. Auf seine Brüder konnte er ohne Weiteres verzichten; sie behandelten ihn noch immer wie einen dummen Jungen, obwohl sie genau wussten, dass er längst klüger war als sie beide. Vermissen würde er Pa, der ihm sein Leben lang Dinge gesagt hatte, die er niemals vergessen würde, wie etwa: »Ganz gleich, wie gut du zwei Planken verlaschst, die Verbindung bleibt immer die Schwachstelle.« Und der Gedanke, Ma zu verlassen, trieb ihm die Tränen in die Augen. Sie war eine starke Frau. Wenn etwas schieflief, verschwendete sie keine Zeit darauf, ihr Schicksal zu beklagen, sondern machte sich daran, die Dinge ins Lot zu bringen. Vor drei Jahren hatte Pa ein Fieber bekommen und war beinahe gestorben. Ma hatte die Leitung der Werft übernommen – den drei Jungen gesagt, was sie zu tun hatten, Schulden eingetrieben und dafür gesorgt, dass kein Kunde einen Auftrag zurücknahm –, bis Pa sich wieder erholte. Sie war eine geborene Anführerin, und das nicht nur in der Familie. Pa war einer der zwölf Ältesten von Combe, doch es war Ma gewesen, die den Protest der Städter angeführt hatte, als Than Wigelm versuchte, ihnen allen die Pacht zu erhöhen.
Der Gedanke, sie zurückzulassen, wäre unerträglich gewesen, hätte nicht die Aussicht auf eine Zukunft mit Sunni gewinkt.
Im schwachen Licht fiel Edgar weit draußen auf dem Wasser etwas auf. Er hatte gute Augen und war es gewohnt, Schiffe aus der Ferne zu erkennen, einen Rumpf von einer hohen Welle oder niedrigen Wolke zu unterscheiden, doch jetzt war er nicht ganz sicher, was er sah. Er spitzte die Ohren nach jedem Geräusch aus der Ferne, aber er hörte nur das Rauschen der Wellen auf dem Strand direkt vor ihm.
Nach einigen Herzschlägen glaubte er, den Kopf eines Ungeheuers zu sehen, und ihn überfuhr ein kaltes Grausen. Vom schwachen Leuchten des Himmels hoben sich spitze Ohren, große Kiefer und ein langer Hals ab.
Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er etwas sah, das noch schlimmer war als ein Ungeheuer: Es war ein Schiff mit einem Drachenkopf am Ende des langen gebogenen Vorderstevens.
Ein weiteres Schiff kam in Sicht, ein drittes, ein viertes. Ihre Segel waren gebläht vom auffrischenden Südwestwind, und die leichten Fahrzeuge glitten rasch durch die Wellen. Edgar sprang auf.
Die Wikinger – oder Dänen, wie man sie hier meist nannte – waren Räuber, Frauenschänder und Mörder. Sie griffen längs der Küste an und an Flussufern. Sie setzten Städte in Brand, raubten, was sie tragen konnten, und metzelten alles nieder bis auf junge Männer und Frauen, die sie gefangen nahmen und als Sklaven verkauften.
Edgar zögerte noch einen Augenblick.
Er konnte jetzt zehn Schiffe ausmachen. Das hieß, es kamen wenigstens fünfhundert Dänen.
Waren es wirklich Wikingerschiffe? Andere Schiffsbauer griffen die Ideen der Dänen auf und kopierten ihre Fahrzeuge, ganz wie Edgar es auch getan hatte. Doch er sah gleich den Unterschied: Von den skandinavischen Schiffen ging eine tiefe Bedrohlichkeit aus, die noch kein Nachahmer erzielt hatte.
Außerdem, wer sonst sollte sich in solcher Zahl zur Morgendämmerung nähern? Nein, es bestand kein Zweifel.
Die Hölle kam nach Combe.
Er musste Sunni warnen. Wenn er sie rechtzeitig erreichte, konnten sie vielleicht fliehen.
Voll Schuldgefühl erkannte er, dass sein erster Gedanke ihr gegolten hatte und nicht seiner Familie. Sie musste er ebenfalls wecken. Aber sie war am anderen Ende der Stadt. Zuerst musste er Sunni finden.
Er drehte sich um und rannte den Strand entlang. Dabei hielt er den Blick immer auf den Boden gerichtet, um nicht über ein Hindernis zu stürzen, das sich halb vergraben im Sand verbarg. Nach einer Weile blieb er stehen, hob den Kopf und sah auf die Bucht hinaus. Er war entsetzt, wie schnell die Wikinger herankamen. Es näherten sich schon lodernde Fackeln; einige spiegelten sich in der unruhigen See, andere wurden offenbar über Sand getragen. Sie waren bereits dabei zu landen!
Sie machten nur wenig Lärm. Er hörte noch immer die Morgengesänge der Mönche, die nichts von ihrem Schicksal ahnten. Er sollte sie ebenfalls warnen. Nur konnte er nicht jeden warnen!
Oder vielleicht doch. Er blickte zum Turm der Klosterkirche, die sich gegen den heller werdenden Himmel abhob, und entdeckte eine Möglichkeit, Sunni zu warnen und zugleich seine Familie, die Mönche und die ganze Stadt.
Er bog zum Kloster ab. Ein niedriger Zaun ragte im Dunkeln vor ihm auf, und Edgar übersprang ihn, ohne innezuhalten. Er stolperte, als er auf der anderen Seite landete, erlangte sein Gleichgewicht wieder und rannte weiter.
An der Kirchentür warf er einen kurzen Blick über die Schulter zurück. Das Kloster stand auf einer leichten Erhebung, und er konnte die ganze Stadt und die Bucht überblicken. Hunderte von Dänen platschten durch das seichte Wasser auf den Strand und in die Stadt. Das spröde, vom Sommer trockene Stroh eines Daches loderte auf, dann noch eines und ein weiteres. Edgar kannte alle Häuser und ihre Bewohner, doch in dem schwachen Licht vermochte er nicht zu sagen, welches Haus welches war, und er fragte sich grimmig, ob sein eigenes Zuhause schon in Flammen stand.
Er drückte die Kirchentür auf. Das Kirchenschiff wurde von ruhelosem Kerzenlicht erhellt. Der Choral der Mönche stockte, als einige von ihnen ihn zum Turm eilen sahen. Er entdeckte das herabhängende Seil, packte es und zog daran. Zu seinem Entsetzen gab die Glocke keinen Ton von sich.
Einer der Mönche löste sich aus der Gruppe und trat gemächlich auf ihn zu. Die geschorene Kuppe seines Schädels umrahmte ein Ring aus weißen Locken, und Edgar erkannte Prior Ulfric. »Hinaus mit dir, du junger Tor«, sagte der Vorsteher des Klosters indigniert.
Edgar hatte keine Zeit für Erklärungen. »Ich muss die Glocke läuten!«, rief er eilig. »Was stimmt denn nicht mit ihr?«
Der Gottesdienst war unterbrochen, alle Mönche starrten Edgar an. Ein zweiter Mann trat hinzu: der Küchenmeister Maerwynn, ein jüngerer Bursche und nicht so aufgeblasen wie Ulfric. »Was ist denn los, Edgar?«, fragte er.
»Die Dänen sind hier!«, schrie Edgar. Er zog erneut am Glockenseil. Er hatte noch nie zuvor versucht, eine Kirchenglocke zu läuten, und ihr Widerstand überraschte ihn.
»Oh nein!«, rief Prior Ulfric. Seine Miene schlug von strafend zu verängstigt um. »Möge der Herr uns verschonen!«
»Bist du dir sicher, Edgar?«, fragte Maerwynn.
»Ich habe sie vom Strand aus gesehen!«
Maerwynn eilte zur Tür und schaute hinaus. Weiß im Gesicht kam er zurück. »Es ist wahr«, sagte er.
Ulfric kreischte: »Flieht! Flieht allesamt!«
»Wartet!«, unterbrach ihn Maerwynn. »Edgar, zieh weiter am Seil. Du musst mehrmals ziehen, damit die Glocke ins Schwingen kommt. Heb die Füße vom Boden, und setze dein ganzes Gewicht ein. Ihr anderen: Uns bleibt noch ein wenig Zeit, bevor sie hier sind. Nehmt etwas mit, bevor ihr losrennt. Zuerst die Reliquiare mit den Gebeinen der Heiligen, dann die edelsteinbesetzten Kirchengeräte, zuletzt die Bücher – und dann nichts wie ab in den Wald.«
Edgar hielt das Seil gepackt, zog sich vom Boden hoch und hörte im nächsten Moment den dröhnenden Schlag der großen Glocke.
Ulfric ergriff ein silbernes Kruzifix und rannte davon. Die anderen Mönche folgten. Einige nahmen bedachtsam Wertsachen an sich, andere schrien und ruderten vor Panik mit den Armen.
Die Glocke schwang hin und her und schlug wiederholt. Wie besessen zerrte Edgar am Seil, hängte sein ganzes Gewicht daran. Von Anfang an sollte kein Zweifel bestehen, dass hier nicht schlafende Mönche geweckt, sondern die ganze Stadt alarmiert werden sollte.
Nach einer Weile meinte er, genug getan zu haben. Er ließ das Seil baumeln und eilte aus der Kirche.
Erst jetzt wurde ihm der beißende Rauch brennenden Strohs bewusst, der ihm in die Nase stach. Mit entsetzlicher Geschwindigkeit breitete der starke Südwestwind die Flammen aus. Gleichzeitig wurde es heller. In der Stadt rannten Menschen aus ihren Häusern, Säuglinge im Arm, kleine Kinder an der Hand, mit allem beladen, was ihnen kostbar war – Werkzeuge und Hühner und lederne Münzbeutel. Die schnellsten durchquerten bereits die Äcker vor dem Wald. Viele werden entkommen, dachte Edgar, der Glocke sei Dank.
Er eilte gegen die Strömung zu dem Haus, in dem Sunni wohnte, und wich Freunden und Nachbarn aus. Er sah den Bäcker, der um die Zeit schon an seinem Ofen gearbeitet hatte; er rannte mit einem Sack Mehl auf den Schultern aus dem Haus. An der Schenke war es noch ganz still; wer darin war, dürfte sich selbst nach dem Glockengeläut nur langsam aus seinem Bierdunst erheben können. Wyn, der Juwelier, kam auf seinem Pferd vorbei, auf dessen Rücken eine Truhe geschnallt war; das Tier galoppierte panisch, und Wyn hatte ihm die Arme um den Hals geschlungen und hielt sich verzweifelt fest. Ein Sklave namens Griff trug eine alte Frau, seine Eigentümerin. Edgar blickte in jedes Gesicht, das ihm entgegenkam, in der Hoffnung, dass Sunni unter den Fliehenden wäre, aber er sah sie nicht.
Dann begegnete er den Wikingern.
Die Vorhut bestand aus einem Dutzend großer Männer und zwei furchterregend aussehenden Frauen. Sie alle trugen Lederwämser und waren mit Speeren und Beilen bewaffnet. Sie hatten keine Helme auf, und Angst stieg Edgar wie Erbrochenes in die Kehle, als er begriff, dass sie vor den friedliebenden Einwohnern der Stadt auch keinen besonderen Schutz brauchten. Einige hatten schon Beute gemacht: ein Schwert mit juwelenbesetztem Heft, das eindeutig mehr zur Zier als zum Kampf diente, einen Geldsack, eine pelzbesetzte Robe, einen wertvollen Sattel mit Schnallen aus vergoldeter Bronze. Einer führte einen Schimmel am Zügel, der dem Eigner eines Heringsfängers gehörte; einer trug eine junge Frau über der Schulter. Erleichtert sah Edgar, dass es nicht Sunni war.
Er wich zurück, aber die Angreifer kamen näher, und fliehen konnte er nicht, weil er Sunni finden musste.
Einige tapfere Städter leisteten Widerstand. Sie standen mit dem Rücken zu Edgar, sodass er sie nicht erkannte. Die meisten führten Äxte und Dolche, einer hatte Pfeil und Bogen. Mehrere Herzschläge lang sah Edgar zu, gelähmt vom Anblick scharfer Klingen, die in menschliches Fleisch drangen, der Verwundeten, die heulten wie die Tiere, vom Gestank einer Stadt in Flammen. Die einzige Gewalt, deren Zeuge er bisher geworden war, hatte aus Faustkämpfen zwischen streitlustigen Jungen oder betrunkenen Männern bestanden. Das hier war neu: spritzendes Blut, hervorquellende Gedärme, Schreie des Schmerzes und des Grauens. Er war wie erstarrt vor Angst.
Die Händler und Fischer von Combe waren den Wikingern, die von der Gewalttätigkeit lebten, nicht gewachsen. Innerhalb weniger Augenblicke waren die Einheimischen niedergemetzelt, und die Angreifer rückten weiter vor. Hinter der Vorhut folgten noch viele andere.
Edgar kam zur Besinnung und duckte sich hinter ein Haus. Er musste fort von den Wikingern, aber so große Angst, dass er Sunni vergessen hätte, empfand er nicht.
Die Angreifer drangen auf der Hauptstraße vor und verfolgten die Städter, die auf demselben Weg flohen; hinter den Häusern jedoch war es menschenleer. Zu jedem Haus gehörte ungefähr ein halber Morgen Land: Die meisten Leute hatten Obstbäume und einen Gemüsegarten, die reicheren einen Hühnerstall oder einen Schweinekoben. Edgar lief von einem Hof zum anderen und näherte sich Sunnis Haus.
Sunni und Cyneric wohnten in einem Haus wie alle anderen; es unterschied sich nur durch die Meierei. Der Anbau aus Weller, einer Mischung aus Sand, Kieseln, Lehm und Stroh, hatte ein Dach aus dünnen Steinziegeln. Dadurch sollte es im Innern kühl bleiben. Das Bauwerk stand am Rand eines kleinen Feldes, auf dem die Kühe weideten.
Edgar erreichte das Haus, stieß die Tür auf und trat ein.
Cyneric, ein untersetzter, stämmiger Mann mit schwarzem Haar, lag auf dem Fußboden. Rings um seine hingestreckte Gestalt waren die Binsen blutgetränkt, und er rührte sich nicht. Aus der klaffenden Wunde zwischen seinem Hals und seiner Schulter floss schon kein Blut mehr, und Edgar hatte keine Zweifel, dass er tot war.
Sunnis braun-weiße Hündin Brindie stand in der Ecke. Sie zitterte und keuchte, wie Hunde es tun, wenn sie furchtbare Angst haben.
Aber wo war ihre Herrin?
In der Rückwand des Hauses war eine Tür, die zur Meierei führte. Sie stand offen, und als Edgar sich ihr näherte, hörte er, wie Sunni aufschrie.
Er stürzte in die Meierei. Der Rücken eines großen Mannes mit blondem Haar versperrte ihm die Sicht. Ein Kampf war im Gange: Ein Eimer Milch war umgestoßen worden und hatte sich auf den Steinfußboden entleert, und der lange Futtertrog, aus dem die Kühe fraßen, lag auf der Seite.
Einen Augenblick später erkannte Edgar, dass der Nordmann mit Sunni rang. Ihr sonnengebräuntes Gesicht war grimmig vor Wut, ihr Mund stand offen und zeigte weiße Zähne, ihre dunklen Haare flatterten. Der Däne hielt eine Axt in der einen Hand, aber er benutzte sie nicht. Mit der anderen Hand versuchte er, Sunni zu Boden zu drücken, während sie mit einem großen Küchenmesser nach ihm schlug. Ganz unverkennbar wollte er sie lieber gefangen nehmen als töten, denn als gesunde junge Frau erzielte sie einen hohen Preis, wenn er sie in die Sklaverei verkaufte.
Ehe Edgar eine Bewegung machen konnte, traf Sunni den Wikinger mit einem Hieb ihres Messers ins Gesicht, und der Mann brüllte vor Schmerz auf, als ihm das Blut aus der aufgeschlitzten Wange schoss. Wütend ließ er die Axt fallen, packte Sunni an den Schultern und schleuderte sie zu Boden. Sie prallte schwer auf, und Edgar hörte einen widerlichen Laut, als sie mit dem Hinterkopf auf die Steine traf. Reglos blieb sie liegen. Der Wikinger ging auf ein Knie nieder, griff in sein Wams und holte eine Lederschnur hervor. Offenbar beabsichtigte er, sie damit zu fesseln.
Als er den Kopf leicht drehte, bemerkte er Edgar.
Erschrecken malte sich in sein Gesicht, und er griff nach der Waffe, die er hingeworfen hatte. Doch es war zu spät. Edgar packte die Streitaxt einen Augenblick, bevor der Wikinger sie in die Finger bekam. Die Waffe erinnerte Edgar sehr an das Werkzeug, mit dem er Bäume fällte. Er umfasste den Schaft, und ganz nebenbei fiel ihm auf, wie gut Stiel und Axtkopf ausbalanciert waren. Er trat einen Schritt zurück. Der Däne versuchte aufzustehen.
Edgar schwang die Axt.
Schnell, hart und treffsicher ließ er die Waffe niederfahren, in perfektem Bogen. Die scharfe Klinge landete genau auf dem Scheitel des Mannes. Sie zertrennte Haare, Haut und Knochen, drang tief ein und ließ Gehirnmasse spritzen.
Zu Edgars Entsetzen fiel der Wikinger nicht sofort um, sondern schien einen Augenblick lang darum zu kämpfen, das Gleichgewicht zu halten; dann wich das Leben aus ihm wie das Licht von einer ausgedrückten Kerze, und als Bündel aus schlaffen Gliedern sackte er auf dem Boden zusammen.
Edgar ließ die Axt fallen und kniete sich neben Sunni. Ihre Augen waren offen und starr. Er murmelte ihren Namen. »Sprich mit mir«, bat er. Er nahm sie bei der Hand und hob ihren Arm. Er war schlaff. Er küsste sie auf den Mund und bemerkte, dass sie nicht atmete. Gleich unter der Wölbung ihrer weichen Brust, die er vergötterte, tastete er nach ihrem Herz. Er hielt die Hand dort, hoffte verzweifelt auf einen Herzschlag; er schluchzte, als feststand, dass es keinen gab. Sie war tot, und ihr Herz würde niemals wieder schlagen.
Ungläubig stierte er sie an, dann berührte er ihre Lider mit grenzenloser Zartheit – sanft, als fürchtete er, ihr wehzutun – und schloss ihr die Augen.
Langsam sank er nach vorn, bis sein Kopf auf ihrer Brust ruhte und seine Tränen in der selbstgewobenen braunen Wolle ihres Kleides versickerten.
Im nächsten Moment ergriff ihn wilde Wut auf den Mann, der ihr das Leben genommen hatte. Er sprang auf, ergriff die Axt und zerhackte dem toten Wikinger das Gesicht, schlug ihm die Stirn ein, spaltete die Augen, zerteilte das Kinn.
Der Wutanfall dauerte nur kurz, dann begriff Edgar die schreckliche Sinnlosigkeit dessen, was er tat. Als er innehielt, hörte er von draußen Rufe in einer Sprache, die seiner eigenen ähnelte, aber nicht genau dieselbe war. Das brachte ihm unvermittelt die Gefahr vor Augen, in der er schwebte. Gut möglich, dass er gleich das nächste Opfer würde.
Das ist mir egal, dachte er, aber diese Stimmung hielt nur kurz an. Wenn er einem anderen Wikinger begegnete, wurde ihm vielleicht genauso der Schädel gespalten wie dem Mann, der vor ihm lag. Sosehr ihn die Trauer auch gepackt hatte, der Gedanke, totgeschlagen zu werden, entsetzte ihn dennoch.
Was sollte er tun? In jedem Augenblick konnte einer der Angreifer in die Meierei treten, wo die Leiche des toten Dänen nach Rache schrie. Doch wenn er jetzt nach draußen ginge, würde er mit Sicherheit gefangen und vielleicht getötet. Er sah sich hektisch um: Wo konnte er sich verstecken? Sein Blick fiel auf den umgestürzten Futtertrog, ein grob gezimmertes Gebilde aus Holz. Es wirkte groß genug, um ihm als Versteck zu dienen.
Er legte sich auf den Steinboden und stülpte den Trog über sich. Dann hob er dessen Rand noch einmal an, ergriff die Axt und zog sie zu sich hinein.
Durch die Fugen zwischen den Latten drang ein wenig Licht. Edgar lag regungslos da und lauschte. Das Holz dämpfte den Schall ein wenig, aber er hörte von draußen viele Rufe und Schreie. Furchterfüllt wartete er. Jederzeit konnte ein Wikinger hereinkommen, und wenn er neugierig genug war, würde er unter den Trog blicken. In dem Fall würde Edgar versuchen, ihn mit der Axt zu töten; er wäre jedoch ernsthaft im Nachteil, denn er läge am Boden, während sein Gegner vor ihm stand.
Er hörte einen Hund jaulen und begriff, dass Brindie am umgekippten Trog stehen musste. »Geh weg«, fauchte er. Seine Stimme ermunterte die Hündin nur, und das Tier winselte noch lauter.
Edgar fluchte und hob den Rand des Troges, griff nach Brindie und zog sie zu sich hinein. Brindie legte sich neben ihn und verstummte.
Edgar wartete und lauschte auf die schrecklichen Geräusche des Gemetzels und der Verwüstung. Brindie streckte die Zunge heraus und leckte das Gehirn des Wikingers von der Axtklinge.
Edgar wusste nicht, wie lange er so dort lag. Am Ende verebbte der Lärm von draußen, aber er konnte sich nicht sicher sein, dass die Wikinger schon fort waren, und jedes Mal, wenn er überlegte, ob er nachsehen sollte, entschied er sich, sein Leben noch nicht in Gefahr zu bringen. Seine Gedanken gingen dann zu Sunni, und ihm kamen die Tränen.
Brindie döste neben ihm, aber hin und wieder wimmerte die Hündin und zitterte im Schlaf. Edgar fragte sich, ob auch Hunde schlecht träumen konnten.
Edgar hatte in der Vergangenheit selbst manchmal Albträume gehabt. Dann war er auf einem sinkenden Schiff, oder eine Eiche stürzte um, und er konnte ihr nicht ausweichen, oder er floh vor einem Waldbrand. Wenn er aus solchen Träumen erwachte, empfand er eine derart mächtige Erleichterung, dass er darüber weinen wollte. Jetzt überlegte er sich, dass der Wikingerangriff solch ein Albtraum sein konnte, aus dem er jeden Moment erwachen würde, um festzustellen, dass Sunni noch lebte. Nur wachte er nicht auf.
Endlich hörte er Stimmen, die einfaches Angelsächsisch sprachen. Trotzdem zögerte er noch. Die Stimmen klangen besorgt, aber nicht in Panik; eher von Trauer ergriffen als in Angst um das Leben. Das musste heißen, dass die Wikinger fort waren. Wie viele seiner Freunde hatten sie mitgenommen, um sie als Sklaven zu verkaufen? Wie viele Leichen seiner Nachbarn hatten sie zurückgelassen? Hatte er überhaupt noch eine Familie?
Brindie machte einen hoffnungsvollen Laut in der Kehle und versuchte aufzustehen. In der Enge gelang es ihr nicht, aber eindeutig fand sie, dass man sich jetzt ungefährdet rühren konnte.
Edgar hob den Trog. Brindie hetzte augenblicklich hinaus. Edgar rollte sich herum, die Wikingeraxt in der Hand, und ließ den Trog wieder auf den Boden sinken. Er stand auf. Seine Glieder schmerzten von der langen Reglosigkeit. Er steckte sich die Axt in den Gürtel.
Dann warf er einen Blick aus der Tür der Meierei.
Die Stadt war verschwunden.
Im ersten Moment war er nur verdutzt. Wie konnte Combe verschwunden sein? Doch er kannte natürlich die Antwort. Fast jedes Haus war abgebrannt. Einige Ruinen rauchten noch. Hier und dort standen noch steinerne Gebäude, und er brauchte eine Weile, bis er sie erkannte. Das Kloster bestand aus zwei Steinbauten, der Kirche und einem zweistöckigen Bauwerk mit einem Refektorium im Erdgeschoss und einem Dormitorium im ersten Stock. Er sah auch die anderen beiden Steinkirchen. Ein wenig länger brauchte er, bis er das Haus von Wyn dem Juwelier entdeckte, der sich mit Mauerwerk aus Stein gegen Einbrecher schützte.
Cynerics Kühe hatten überlebt und sich ängstlich mitten auf ihrer umzäunten Weide zusammengeschart. Kühe sind wertvoll, überlegte Edgar, aber auch zu groß und zu widerspenstig, um sie an Bord eines Schiffes zu nehmen – wie alle Diebe bevorzugten die Wikinger Geld oder kleine, kostbare Dinge wie Schmuck.
Stadtbewohner standen in den Ruinen. Benommen, kaum eines Wortes fähig, murmelten sie verstört von ihrer Trauer, ihrem Entsetzen, ihrer Fassungslosigkeit.
In der Bucht ankerten noch dieselben Boote, aber die Wikingerschiffe waren fort.
Endlich gestattete er sich, die Leichen in der Meierei anzusehen. Der Wikinger war kaum noch als menschliches Wesen zu erkennen. Edgar fühlte sich seltsam bei dem Gedanken, dass er ihm das angetan haben sollte. Es war kaum zu glauben.
Sunni wirkte überraschend friedlich. Von der Kopfverletzung, an der sie gestorben war, gab es kein äußeres Zeichen. Er kniete sich nieder und fühlte wieder nach einem Herzschlag, obwohl er wusste, dass es töricht war. Sie erkaltete schon.
Was sollte er jetzt tun? Vielleicht konnte er ihrer Seele helfen, den Weg in den Himmel zu finden. Das Kloster stand noch. Er sollte sie in die Kirche der Mönche bringen.
Er nahm sie auf die Arme. Sie zu heben war viel schwieriger als erwartet. Sie war schlank, und er war stark, aber ihr regloser Körper brachte ihn aus dem Gleichgewicht, und als er sich bemühte, sich aufzurichten, musste er sie sich fester an die Brust drücken, als er gewünscht hätte. Sie so eng zu umarmen, ohne dass es sie schmerzte, unterstrich grausam, dass kein Leben in ihr war, und wieder kamen ihm die Tränen.
Er durchquerte das Haus, vorbei an Cynerics Leiche, und ging zur Tür hinaus.
Brindie folgte ihm.
Offenbar war es bereits Nachmittag, auch wenn es schwer zu erkennen war: Asche hing in der Luft, dazu kamen der Qualm der Ruinen und ein abscheulicher Gestank nach verbranntem menschlichen Fleisch. Die Überlebenden sahen sich fassungslos um, als könnten sie kaum begreifen, was geschehen war. Immer mehr kehrten aus dem Wald zurück. Einige trieben Vieh vor sich her.
Edgar ging zum Kloster. Unter Sunnis Gewicht schmerzten ihm bald die Arme, aber er hieß die Pein willkommen. Ihre Augen jedoch wollten nicht geschlossen bleiben, und irgendwie bestürzte ihn das. Er wollte, dass sie aussah, als schliefe sie.
Niemand schenkte ihm große Aufmerksamkeit. Jeder hatte seine eigene Tragödie zu ertragen. Edgar erreichte die Kirche und trat ein.
Er hatte nicht als Einziger diese Idee gehabt. Im ganzen Kirchenschiff lagen Menschen, neben denen Angehörige standen oder knieten. Prior Ulfric kam Edgar entgegen. Er sah verstört aus und fragte bestimmt: »Tot oder lebendig?«
»Das ist Sungifu. Sie ist tot.«
»Tote in den Chor.« Ulfric war zu beschäftigt, zu hektisch, um sanft zu sein. »Verletzte ins Kirchenschiff.«
»Betest du bitte für ihre Seele?«
»Sie wird behandelt wie alle anderen auch.«
»Ich habe Alarm geschlagen«, wandte Edgar ein. »Ich habe dir vielleicht das Leben gerettet. Bitte bete für sie.«
Ohne Antwort zu geben, hastete Ulfric davon.
Edgar entdeckte Bruder Maerwynn, der einem Mann das Bein verband, während der Verletzte vor Schmerz wimmerte. Als Maerwynn sich endlich erhob, bat Edgar ihn: »Betest du bitte für Sunnis Seele?«
»Ja, natürlich.« Maerwynn schlug über Sunnis Stirn das Zeichen des Kreuzes.
»Ich danke dir.«
»Leg sie vorerst im Chor der Kirche ab.«
Edgar ging das Kirchenschiff entlang und am Altar vorbei. Von trauernden Verwandten betrachtet, reihten sich am anderen Ende des Gebäudes zwanzig oder dreißig Tote ordentlich am Boden. Edgar legte Sunni behutsam nieder. Er zog ihre Beine gerade und überkreuzte ihre Arme auf der Brust, dann strich er ihr die Haare glatt. Wäre er nur ein Priester – dann könnte er persönlich für ihre Seele sorgen.
Lange kniete er neben ihr und betrachtete ihr regloses Gesicht, versuchte, sich klarzumachen, dass sie nie wieder seinen Blick mit einem Lächeln erwidern würde.
Schließlich jedoch brachen sich Gedanken an die Lebenden Bahn. Lebten seine Eltern noch? Waren seine Brüder in die Sklaverei verschleppt worden? Nur wenige Stunden zuvor hatte er den festen Vorsatz verfolgt, sie für immer zu verlassen. Jetzt brauchte er sie. Ohne sie wäre er allein auf der Welt.
Er blieb noch eine Weile bei Sunni und verließ die Kirche. Brindie folgte ihm auch jetzt.
Als er draußen war, fragte er sich, wo er beginnen sollte. Edgar entschied sich, nach Hause zu gehen. Das Haus würde natürlich nicht mehr stehen, aber vielleicht fand er dort die Familie oder einen Hinweis, was aus ihr geworden war.
Am schnellsten kam er am Strand entlang nach Hause. Auf dem Weg zum Meer hoffte er, dass er sein Boot am Ufer finden würde. Er hatte es in einiger Entfernung zu den nächsten Häusern auf den Sand gezogen, deshalb bestand eine gewisse Aussicht, dass es nicht verbrannt war.
Bevor er das Meer erreichte, begegnete er seiner Mutter. Sie kam aus dem Wald und ging in die Stadt. Als er ihr starkes, resolutes Gesicht und ihren zielstrebigen Gang erkannte, fühlte er sich derart schwach vor Erleichterung, dass er beinahe gefallen wäre. Mutter trug einen Kochtopf aus Bronze, vielleicht alles, was sie aus dem Haus gerettet hatte. Ihr Gesicht war von Trauer gezeichnet, aber ihr schmaler Mund zeigte grimmige Entschlossenheit.
Als sie Edgar erblickte, wich ihre Miene schierer Freude. Sie schlang die Arme um ihn, drückte ihr Gesicht an seine Brust und schluchzte: »Ach, Junge, oh, mein Eddie, Gott sei gedankt.«
Er umarmte sie mit geschlossenen Augen und war dankbarer für sie als je zuvor.
Als er die Augen wieder öffnete und über ihre Schulter blickte, sah er Erman, dunkel wie Ma, aber weniger entschlossen als vielmehr störrisch, dazu Eadbald, der hell und sommersprossig war. Nur ihr Vater fehlte. »Wo ist Pa?«, fragte er.
»Er hat uns befohlen zu fliehen«, antwortete Erman. »Er ist zurückgeblieben, um die Werft zu retten.«
Und ihr habt ihn zurückgelassen?, wollte Edgar fragen, doch es war nicht der richtige Moment für Vorwürfe – und außerdem war er ebenfalls nicht dort gewesen.
Ma ließ ihn los. »Wir kehren nach Hause zurück«, sagte sie. »Was immer davon übrig ist.«
Sie gingen zum Ufer. Ma schritt rasch aus, ungeduldig, die Wahrheit zu erfahren, ob sie gut war oder schlimm.
»Du bist schnell weg gewesen, kleiner Bruder«, sagte Erman anklagend. »Warum hast du uns nicht geweckt?«
»Ich habe euch geweckt«, entgegnete Edgar. »Ich habe die Klosterglocke geläutet.«
»Du spinnst.«
Es sah Erman ähnlich, in solch einem Moment einen Streit vom Zaun zu brechen. Edgar schaute weg und gab keine Antwort. Ihm war es gleichgültig, was Erman dachte.
Als sie den Strand erreichten, sah Edgar, dass sein Boot fort war. Die Wikinger hatten es mitgenommen. Natürlich, sie erkannten ein gutes Boot, wenn sie es sahen. Und es war mühelos zu transportieren: Sie brauchten es nur ans Heck eines ihrer Schiffe zu binden und in Schlepp zu nehmen.
Der Verlust war bitter, aber Edgar empfand nichts dabei. Verglichen mit dem Tod Sunnis war das Boot belanglos.
Als sie am Ufer entlanggingen, stießen sie auf die Mutter eines Jungen in Edgars Alter, die tot in ihrem Blut lag, und er fragte sich, ob sie bei dem Versuch gestorben war, die Wikinger daran zu hindern, ihren Sohn in die Sklaverei zu verschleppen.
Alle paar Schritte lag eine Leiche. Edgar sah in jedes Gesicht: Sie alle waren Freunde und Nachbarn, aber Pa war nicht unter ihnen, und zaghaft regte sich in ihm die Hoffnung, sein Vater könnte den Überfall überlebt haben.
Sie erreichten ihr Haus. Nur der Herd war davon übrig. Der eiserne Dreifuß stand noch an seiner Stelle.
An einer Seite der Ruine lag Pas Leiche. Ma schrie vor Entsetzen und Trauer auf und sank in die Knie. Edgar kniete sich neben sie und legte ihr den Arm um die bebenden Schultern.
Pas rechter Arm war dicht an der Schulter abgetrennt, vermutlich durch einen Axthieb, und er schien verblutet zu sein. Edgar dachte daran, welche Kraft in diesem Arm gesteckt hatte und welches Können, und er weinte Tränen der Wut über die Vergeudung von Talent und Leben.
Eadbald sagte: »Seht euch die Werft an.«
Edgar stand auf und wischte sich die Augen. Zuerst war er nicht sicher, was er sah, und er rieb sich die Augen noch einmal.
Die Werft war ein Trümmerhaufen. Alles war verbrannt. Das Schiff, das im Bau gewesen war, und das gelagerte Holz bestanden nur noch aus Asche, genauso der Teer und das Seil. Nur der Wetzstein, an dem sie ihre Werkzeuge schärften, hatte die Flammen überstanden. Zwischen den rauchenden Überresten sah Edgar verkohlte Knochen, die für einen Menschen zu klein waren; der arme alte Grendel hatte wohl an seiner Kette bei lebendigem Leib den Feuertod erlitten.
Der ganze Besitz der Familie hatte in der Werft gesteckt.
Sie waren nun nicht nur ohne Werft, begriff Edgar, sie hatten ihren gesamten Lebensunterhalt eingebüßt. Selbst wenn ein Kunde bereit gewesen wäre, bei drei Lehrlingen ein Boot zu bestellen, hätten sie kein Holz, um es zu bauen, keine Werkzeuge, um das Holz zu bearbeiten, und kein Geld, um irgendetwas von dem zu kaufen, das sie brauchten.
Ma hatte vermutlich ein paar Silberpennys im Geldbeutel, aber viel Geld übrig geblieben war nie, und von jedem Überschuss hatte Pa Holz gekauft. Gutes Holz sei besser als Silber, hatte er gern gesagt, denn es sei nicht so leicht zu stehlen.
»Wir haben nichts übrig und können uns unseren Unterhalt nicht verdienen«, sagte Edgar. »Was, um alles in der Welt, sollen wir jetzt machen?«
Bischof Wynstan von Shiring zügelte sein Pferd auf der Kuppe der Anhöhe und schaute hinüber nach Combe. Von der Stadt war nicht viel übrig. Die Sommersonne beschien graue Ödnis. »Schlimmer, als ich erwartet hätte«, sagte er. Im Hafen lagen mehrere unbeschädigte Schiffe und Boote, das einzige Zeichen von Hoffnung.
Sein Bruder Wigelm ritt neben ihn. »Jeder Däne sollte bei lebendigem Leib geröstet werden.« Als Than gehörte er der landbesitzenden Oberschicht an. Er war fünf Jahre jünger als Wynstan mit seinen dreißig Sommern und leicht zu verärgern.
Dieses Mal allerdings war Wynstan mit ihm einer Meinung. »Über kleiner Flamme«, sagte er.
Ihr älterer Halbbruder hörte sie. Wie es Brauch war, trugen die Brüder Namen, die ähnlich klangen, und der älteste hieß Wilwulf. Er war ein Mann von vierzig Jahren und wurde gewöhnlich Wilf gerufen. Als Aldermann von Shiring war er Herr über den Teil Westenglands, zu dem Combe gehörte. »Ihr habt bisher noch keine Stadt nach einem Wikingerüberfall gesehen«, sagte er. »So sieht das dann aus.«
Sie ritten weiter in die verwüstete Stadt. Ein kleiner Trupp Waffenknechte folgte ihnen. Sie boten einen stattlichen Anblick, das wusste Wynstan: drei große Männer in teurer Kleidung auf guten Pferden. Wilf trug ein blaues knielanges Hemd und Lederstiefel, Wigelm war ähnlich gewandet, aber sein Hemd war rot. Wynstan war mit einer schlichten schwarzen knöchellangen Soutane bekleidet, wie es sich für einen Priester schickte, aber der Stoff war fein gewoben. An einer Lederschnur hing ihm ein großes silbernes Kreuz um den Hals. Jeder Bruder trug einen hellen Schnurrbart, doch Wangen und Kinn waren glatt rasiert, wie es unter reichen Engländern modisch war. Wilf und Wigelm hatten dichtes helles Haar, Wynstan trug eine Tonsur wie alle Geistlichen. Sie sahen reich und wichtig aus, und das waren sie auch.
Das Stadtvolk irrte trostlos in den Ruinen ihrer Ortschaft umher, suchte und grub in den Trümmern und häufte die erbärmlichen Fundstücke auf: verbogene eiserne Küchengeräte, vom Feuer geschwärzte Knochenkämme, gesprungene Kochtöpfe und unbrauchbares Werkzeug. Hühner pickten, Schweine schnüffelten nach etwas Fressbarem. Es roch unangenehm nach erloschenen Feuern, und Wynstan atmete nur flach.
Als die Brüder näherritten, sahen die Städter zu ihnen hoch, und Hoffnung leuchtete in ihren Gesichtern auf. Viele kannten die Brüder vom Sehen, und wer sie noch nie erblickt hatte, sah ihrem Äußeren an, dass sie mächtige Männer waren. Einige riefen ihnen Grußworte zu, andere jubelten und klatschten. Alle ließen stehen und liegen, was sie gerade getan hatten, und folgten ihnen. Gewiss, flehten die Gesichter der Menschen, würden solch mächtige Männer sie irgendwie retten können.
Die Brüder zügelten ihre Pferde auf einer freien Fläche zwischen Kirche und Kloster. Jungen stritten sich darum, ihre Pferde halten zu dürfen, als sie abstiegen. Prior Ulfric erschien, um sie zu begrüßen. In seinen weißen Haaren waren schwarze Schmierflecken. »Ihr Herren, die Stadt benötigt verzweifelt eure Hilfe«, sagte er. »Die Menschen …«
»Wartet!« Wynstans Stimme trug über die Menge, die sich zusammengeschart hatte. Seine Brüder blieben gleichmütig: Wynstan hatte ihnen vorher seine Absicht erklärt.
Die Städter verstummten.
Wynstan nahm das Kreuz vom Hals und hielt es hoch über seinen Kopf, dann wandte er sich um und ging gemessenen, zeremoniellen Schrittes auf die Kirche zu.
Seine Brüder schlossen sich ihm an, und alle anderen folgten.
Er betrat die Kirche, schritt langsam das Schiff entlang. Er streifte die Reihen der Verwundeten, die auf dem Boden lagen, mit seinem Blick, aber er drehte nicht den Kopf zu ihnen. Wer konnte, verbeugte sich oder kniete nieder, als er vorbeiging, das Kreuz noch immer hoch erhoben. Er sah mehr liegende Körper am anderen Ende der Kirche, aber das waren Tote.
Als er den Altar erreichte, warf er sich davor zu Boden, lag vollkommen still, das Gesicht auf der Erde, den rechten Arm, mit dem er das Kreuz hochhielt, zum Altar ausgestreckt.
Er blieb dort einen langen Augenblick liegen, während die Menschen schweigend zusahen, bevor er sich auf die Knie erhob. Er breitete flehentlich die Arme aus und fragte laut: »Was haben wir getan?«
Aus der Menge kam ein Laut wie ein kollektiver Seufzer.
»Womit haben wir uns versündigt?«, rief Wynstan aus. »Wie haben wir das verdient? Können wir Vergebung erhoffen?«
Im gleichen Sinne fuhr er fort. Halb war es Gebet, halb Predigt. Er musste den Menschen klarmachen, dass das, was sie getroffen hatte, Gottes Wille war. Den Wikingerüberfall mussten sie als Strafe für ihre Sünden betrachten.
Dennoch gab es praktische Arbeit zu leisten, und was er hier tat, war nur die vorbereitende Zeremonie, also fasste er sich kurz. »Während wir mit dem Wiederaufbau unserer Stadt beginnen«, sagte er zum Abschluss, »schwören wir, uns doppelt so viel Mühe zu geben, fromme, demütige, gottesfürchtige Christen zu sein. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.«
»Amen«, sagte die Gemeinde.
Er stand auf, drehte sich um und zeigte der Menge sein tränenüberströmtes Gesicht. Das Kreuz hängte er sich wieder um den Hals. »Und nun, im Angesicht Gottes, rufe ich meinen Bruder, Aldermann Wilwulf, auf, Gericht zu halten.«
Wynstan und Wilf schritten Seite an Seite das Kirchenschiff herunter, gefolgt von Wigelm und Prior Ulfric. Sie gingen ins Freie, und die Städter folgten ihnen.
Wilf schaute sich um. »Ich werde es gleich hier tun.«
»Sehr gut, Herr«, sagte Ulfric. Mit einem Fingerschnipsen rief er einen Mönch herbei. »Bring den großen Stuhl.« Er wandte sich wieder Wilf zu. »Wünschst du Tinte und Pergament, Aldermann?«
Wilf konnte lesen, aber nicht schreiben. Wynstan verstand sich wie die meisten höheren Geistlichen auf beides. Wigelm war ganz ungelehrt.
Wilf sagte: »Ich glaube kaum, dass wir irgendetwas aufschreiben müssen.«
Wynstan wurde von einer hochgewachsenen Frau um die dreißig abgelenkt, die ein zerrissenes rotes Kleid trug. Trotz der Ascheflecken auf ihren Wangen war sie anziehend. Sie sprach mit leiser Stimme, doch er hörte ihrem Ton an, wie verzweifelt sie war. »Du musst mir helfen, mein Herr Bischof, ich flehe dich an«, sagte sie.
Wynstan erwiderte: »Sprich mich nicht an, du dumme Metze.«
Er kannte sie. Sie hieß Meagenswith, bekannt als Mags. Sie wohnte in einem großen Haus mit zehn oder zwölf jüngeren Frauen – einige Sklavinnen, andere Freiwillige –, die alle gegen Geld mit fremden Männern lagen. Wynstan fuhr fort, ohne sie anzusehen: »Du darfst nicht die Erste sein, der ich in Combe Mitleid zeige.« Er redete leise, aber mit Nachdruck.
»Die Wikinger haben alle meine Mädchen mitgenommen und mein ganzes Geld auch!«
Nun sind sie alle Sklavinnen, dachte Wynstan. »Ich bespreche das später mit dir«, sagte er leise. Wegen der umstehenden Leute erhob er die Stimme. »Geh mir aus den Augen, du schmutzige Hure!«
Sie wich augenblicklich zurück.
Zwei Mönche brachten einen großen Eichenstuhl und stellten ihn auf dem freien Platz vor der Kirche auf. Wilf nahm Platz, Wigelm stand zu seiner Linken, Wynstan zu seiner Rechten.
Während sich die Stadtbewohner versammelten, besprachen sich die Brüder besorgt mit leiser Stimme. Alle drei bezogen sie Einkommen aus Combe. Nach Shiring war sie die zweitwichtigste Stadt im Gau. Jedes Haus zahlte Pacht an Than Wigelm, der den Erlös mit Wilf teilte. Die Menschen zahlten auch ihren Zehnt an die Kirche, wovon Bischof Wynstan einen Anteil bekam. Wilf erhob Zölle auf alle Waren, die im Hafen umgeschlagen wurden. Wynstan hatte Einnahmen aus dem Kloster. Wigelm verkaufte das Holz im Wald. Vor zwei Tagen waren all diese Quellen ihres Reichtums versiegt.
»Es wird lange dauern, bis jemand hier wieder etwas zahlen kann«, sagte Wynstan grimmig. Er würde seine Ausgaben einschränken müssen. Shiring war keine reiche Diözese. Wenn ich der Erzbischof von Canterbury wäre, dachte er, bräuchte ich mir keine Gedanken zu machen. Der ganze Reichtum der Kirche im Süden Englands stände mir zur Verfügung. Aber als kleiner Bischof von Shiring war sein Einkommen begrenzt. Er fragte sich, was er streichen sollte. Der Gedanke, irgendwelchen Dingen entsagen zu müssen, war ihm zuwider.
Wigelm höhnte: »Diese Leute haben alle Geld. Du findest es, wenn du ihnen die Bäuche aufschlitzt.«
Wilf schüttelte den Kopf. »Sei kein Dummkopf.« So etwas sagte er oft zu Wigelm. »Die meisten von ihnen haben alles verloren. Sie haben nichts zu essen, kein Geld, um sich Nahrung zu kaufen, und keine Möglichkeit, etwas zu verdienen. Bei Einbruch des Winters werden sie Eicheln sammeln, um daraus Suppe zu kochen. Wer die Wikinger überlebt hat, wird vom Hunger geschwächt. Ihre Kinder werden krank und sterben; die Alten stürzen und brechen sich die Knochen; die Jungen und Starken gehen fort.«
Wigelm schmollte. »Und was können wir tun?«
»Wir werden so klug sein, unsere Forderungen zu senken.«
»Wir können sie doch nicht ohne Pacht wohnen lassen!«
»Du Narr, Tote entrichten dir gar keine Pacht. Wenn einige Überlebende das Fischen, das Handwerk und den Handel wiederaufnehmen, können sie vielleicht im nächsten Frühjahr wieder zahlen.«